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English National Ballet – Aaron Watkin

Der neue Künstlerische Leiter des English National Ballet Aaron Watkin

Der 52-jährige Kanadier wird als neuer Künstlerischer Leiter beim English National Ballet im August 2023 die Nachfolge von Tamara Rojo antreten, die das ENB im November 2022 verlässt, um die Leitung des San Francisco Ballet zu übernehmen.

“Die Vielfalt der Menschen und des Repertoires stehen im Mittelpunkt meiner Vision”, sagt Aaron Watkin, der in den vergangenen 16 Jahren die Position des Künstlerischen Leiters des Semperoper Ballett in Dresden innehatte und zuvor beim Ballett Frankfurt von William Forsythe, beim Niederländischen Nationalballett und beim National Ballet of Canada getanzt hat. Vor 30 Jahren war er zwei Spielzeiten lang im Ensemble des ENB - eine Erfahrung, die ihm in Erinnerung geblieben ist. “Ich liebe den Pioniergeist des ENB. Man wird wirklich zu einer Familie. Auch wenn ich nur kurz dort war, sind die Freundschaften, die ich geschlossen habe, lebenslang geblieben.”

Die Compagnie, in die Watkin nach drei Jahrzehnten nun an deren Spitze zurückkehrt, hat sich stark verändert und sehr modernisiert, aber er habe nicht die Absicht, Rojos Arbeit radikal zu ändern oder rückgängig zu machen, sondern sie fortzusetzen. “Ich habe eine sehr ähnliche Vision wie Tamara”, sagt er. “Mir geht es darum, sowohl die Tradition zu bewahren als auch Innovationen zu schaffen.” Mit anderen Worten: die klassische Vergangenheit des Balletts zu bewahren und gleichzeitig zeitgenössische Bewegungen zu erforschen.

Aaron Watkin ist der festen Überzeugung, dass das klassische Ballett nach wie vor seine Gültigkeit hat und für die Entwicklung von Tänzern unerlässlich ist. Er beabsichtigt, mindestens eine große klassische Produktion pro Spielzeit auf die Bühne zu bringen, sieht sich selbst zwar nicht als Choreograph, hat aber große Ballette wie “Schwanensee”, “Dornröschen” und “Der Nussknacker” aufgefrischt. Weiters wird er sich darauf konzentrieren, Choreographen zu engagieren, die im Vereinigten Königreich nicht oft zu sehen sind, und neue kreative Talente innerhalb und außerhalb des Ensembles zu finden.

Das Wichtigste für Watkin ist die Pflege der Unternehmenskultur: “Ein offenes, kreatives und kollaboratives Arbeitsumfeld, in dem die Menschen fühlen, dass sie eine Stimme haben”. Zu Beginn von Tamara Rojos Amtszeit gab es einige Unruhen unter den Tänzern, als die Compagnie Veränderungen durchlief, aber das English National Ballet hat seitdem hart daran gearbeitet sicherzustellen, dass die Tänzerinnen und Tänzer ihre Meinung sagen können und unterstützt werden. Watkin möchte, dass sie sich ermächtigt fühlen, Denker zu sein und nicht nur technische Könner. Ihm geht es um die Menschen hinter den Schritten.

“Die meisten Menschen sind keine Ballett-Experten, und wenn man ins Theater geht, fühlt man sich von einer Persönlichkeit, von Musikalität oder von einer bestimmten Qualität angezogen.“ Er sei nicht an Uniformität interessiert und finde die Idee einer identischen, superschlanken Ästhetik “altmodisch”. “Ich möchte, dass jeder im Publikum in der Lage ist, sich mit dem, was auf der Bühne passiert, in irgendeiner Weise zu identifizieren. Es handelt sich also nicht um eine elitäre Kunstform für eine exklusive Bevölkerungsgruppe.“

Die Körperform sei eines der heißen Themen in der aktuellen Diskussion über die Ballettkultur im Allgemeinen, neben Rasse, Geschlecht und Entkolonialisierung des Repertoires, meint Watkin. Ob es um die Diskussion über männliche oder nichtbinäre Tänzer gehe, die traditionell weibliche Rollen spielen, oder um den Umgang mit beleidigenden Stereotypen in Balletten aus dem 19. Jahrhundert – Watkin sieht, dass sich die Dinge schnell ändern. “Es fühlt sich an wie ein Generationswechsel alle zwei Jahre”, sagt er. “Ich habe 17- und 18-Jährige, die ins Ensemble kommen, und die Tänzer, die 25 sind, sagen: ‘Oh, diese junge Generation, die ist so anders!’ Man muss sensibel sein für alles, was um einen herum passiert, man muss sich weiterentwickeln und mithalten.”

Aaron Watkin wird die Leitung des ENB offiziell erst im August 2023 übernehmen und freut sich auf die Rückkehr nach London. Er ist positiv gestimmt, was den Wechsel vom stark subventionierten deutschen Theatersektor in die prekärere Kulturlandschaft des Vereinigten Königreichs angeht und ist vom Arts Council England sehr beeindruckt. “Wenn ich mir deren 10-Jahres-Strategien durchlese, dann sind das alles Dinge, an die ich glaube.” Er weiß, dass Tamara Rojo “große Schuhe” hinterlässt, die er ausfüllen muss, “aber das gefällt mir, ich werde mich der Herausforderung stellen, um das English National Ballet in ein aufregendes neues Kapitel zu führen.”

AARON WATKIN © IAN WHALEN