crescendo 1/2012, Ausgabe Februar / März 2012

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Foto: privat

k ü nstler

Clara Schmelter de Escobar

Gute Choreografie Eine neue Dokumentation zeigt das wahre Leben des Thomanerchors. Ist der Film eher für Kinder oder Erwachsene? Wir baten unsere Autorin Antoinette Schmelter de Escobar sich das Werk mit ihrer 12-jährigen Tochter anzusehen.

Unterricht bis in den Nachmittag hinein, danach Hausaufgaben, Vokabelnbüffeln und vor Prüfungen Wiederholung des Stoffs: Die Tage deutscher Gymnasiasten sind so prall gefüllt, dass Zeit für Hobbys und Freunde knapp ist. Insofern fällt meiner Tochter Clara und mir die Vorstellung schwer, dass in 24 Stunden noch mehr Programm Platz haben könnte. Doch es gibt Steigerungen, wie uns der Dokumentarfilm „Die Thomaner“ beweist. 113 Minuten lang schildert er als Zusammenschnitt dessen, was Paul Smaczny­und Günter Atteln ein Jahr lang an 50 Drehtagen beobachtet haben, dass alle 94 Mitglieder des 2012 genau 800 Jahren alten Knaben­chores nicht nur die Thomasschule­in Leipzig besuchen. Sondern dass sie zusätzlich täglich für jene Konzerte proben, die sie regelmäßig sowohl in ihrer Heimatstadt als auch auf Tourneen rund um den Globus geben, wenn sie nicht gerade Stimmbildung oder Instrumentalunterricht haben. Vor allem für die Neuen, die immer nach den Sommerferien aufgenommen werden, ist diese Kombination eine anstrengende Herausforderung. Hat sich die erste Aufregung gelegt, müssen sich die Neun- bis Zehnjährigen nämlich einerseits mit der straff durchgetakteten Doppelbelastung arrangieren, andererseits zum ersten Mal in ihrem Leben ohne die Eltern zurecht kommen. An deren Stelle treten außer Lehrern und Erziehern ältere Thomaner, die Verantwortung für die jüngeren übernehmen – angefangen beim pünktlichen Aufstehen bis hin zur oft problematischen Bettruhe, wenn miteinander geredet und gerauft wird statt zu schlafen. Auch ansonsten ist der Umgang mit der Gemeinschaft eine der wichtigsten Lektionen für die Jungen, die sichtlich hin- und hergerissen sind zwischen der Begeisterung, nonstop mit Freunden zusammen zu sein, und dem Problem, als Internatsschüler 8

Spannungen und Streitigkeiten ohne Rückzugsmöglichkeit aushalten zu müssen. Während meine Tochter glaubt, dass „man da mit der Zeit rein wachsen kann“, hat sie mehr Probleme mit dem zweiten Hauptaspekt im Thomaner-Alltag: „musica sacra“ von Johann Sebastian­Bach. Kantor Georg Christoph Biller brennt zwar sichtlich für entsprechende Kompositionen seines illustren Vorgängers, die das Gros im Repertoire seines Chores ausmachen. Dessen Sänger hingegen haben an Gameboys und MP3-Playern mit HipHop- oder Hard Rock-Songs mindestens so viel Interesse wie an Motetten und Kantaten, vom katholischen Glauben ganz zu schweigen, den nicht jeder Junge teilt. Entsprechend groß sind die Zweifel meiner Tochter, „ob alle diese kirchlichen Sachen freiwillig singen.“ Nachdem sie selbst Teil einer Chorklasse ist und schon mehrfach vor Publikum aufgetreten ist, weiß sie aber auch, wie viel Spaß gemeinsames Singen, wie stolz und glücklich Applaus machen kann. Insofern findet sie es nicht übertrieben, wenn einer der porträtierten Thomaner nach dem Auftritt im Teatro Colon von Buenos Aires schwärmt, dass genau dieses Hochgefühl durch nichts zu toppen und ein Ausgleich für die ganze Arbeit zuvor sei. Interessanterweise hätte es Clara gut gefallen, mehr über eben ­diese Mühe und den normalen Tagesablauf der Thomaner zu erfahren, statt sich die ihrer Ansicht nach „zu vielen“ wechselnden Themen und „schwer verständlichen“ Ausführungen von Erwachsenen anzuschauen. G ­ äbe es ein Pendant für Mädchen, würde sie aber trotzdem nicht in die Fußstapfen eines Thomaners treten wollen. „Schule, so viel Singen und ständig mit anderen zusammen zu sein, das wäre mir zu viel.“ Den Film hat sie dennoch ­genossen. n www.crescendo.de

Februar / März 2012


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