Class: aktuell 4 2017

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CLASS : aktuell Association of Classical Independents in Germany

Klassik ganz groß Ein halbes Jahrzehnt

Klassik: XL Lennart Felix Peter Feuchtwanger Portrait

Mozart Piano Quartet entdeckt Georg Hendrik Witte

Hans-Christoph Rademann Dirigiert Bachs Meisterwerk

Tianwa Yang und Gabriel Schwabe

Frank Peter Zimmermann

Neues von Camille Saint-Saëns

J.S. Bach: Violinkonzerte

Brandenburger Symphoniker mit Peter Gülke Franz Schuberts „Große“ Sinfonie Nr. 8


«Trans Limen ad Lumen »

«Tenebrae» bedeutet Dunkelheit und fasst die lateinischen Responsorien zusammen, welche früher in den Nächten von Gründonnerstag bis Karsamstag das Geschehen der Passion reflektierten: Einsamkeit, Aufbegehren, aber auch unbändige Kraft.

Ueber die Schwelle zum Licht

Roman Rutishauser

*1960 « Tenebrae »

The Hilliard Ensemble Paul Giger *1952 « Pert Em Hru » Paul Giger, Violine & Violino d‘amore Marie-Louise Dähler, Cembalo & Chororgel Pudi Lehmann, Percussion, Gongs & Buk Norbert Schmuck, Große Domorgel Collegium Vocale & Tablater Konzertchor Leitung: Domkapellmeister Hans Eberhard

Roman Rutishauser verwendet sieben Texte aus dieser umfangreichen Sammlung und komponiert ein ungewöhnliches Klangbild, indem er eine A-cappella-Besetzung, wie sie in der Renaissance üblich war – Altus, zwei Tenöre, Bariton und tiefen Baß – mit einer einzigen Violine kombiniert. Seine Musik spannt einen überraschenden Bogen von meditativen Klangwelten bis zu Elementen voller rhythmischer Spannung und freier Improvisation.

DIVOX CDX-21702

Ersteinspielungen erhältlich als CD & Download

P. Giger

v.l.n.r.: Paul Giger & Hilliard Ensemble

lP 180g Vinyl

Antonio Vivaldi « Le quattro Stagioni »

R. Rutishauser

Paul Gigers Musik kommt seit jeher von weither. Sie trägt mittelalterliche Mystik ebenso in sich wie Jazzrhythmen, fernöstliche Ragas und barocke Kontrapunktik. In „Pert Em Hru“ nun schlägt sie einen weiteren Bogen zwischen abendländischer und morgenländischer Musik und Theologie. „Pert Em Hru“ ist ein Begriff aus dem altägyptischen Totenbuch, übersetzbar etwa mit „Vom Heraustreten der Seele ins volle Tageslicht“. Der Altus verkörpert diesen Seelenweg in zwei Soli und im Finale. In den bis zum Zerreissen gespannten Tonsprüngen, endlos schei­nenden Melodiebögen und eingestreuten Vierteltönen lässt sich das Gewaltige dieses lichtvollen Heilsversprechens versinnbildlicht hörend erahnen. Den Musikern gelingt mit dieser überwältigenden Einspielung eine Aufnahme jenseits aller Stilschubladen.

DIVOX freut sich, diese beeindruckenden Live-Aufnahmen von Swiatoslaw Richters Konzerten in Tokio im Dezember 1980 und Juni 1981 wieder zu präsentieren, nachdem sie mehrere Jahre vergriffen waren.

So elektrisierend frisch und locker und in einem perfekten audiophilen Klangbild hat man Vivaldis Jahreszeiten noch nie gehört. Und das auf Vinyl in 180 g - Qualität – Chapeau!

Giuliano Carmignola, violino solo & Sonatori de la Gioiosa Marca

2 CD-Set

auf historischen Instrumenten DIVOX LPX-71601 (Vinyl 180 g)

Sergej Prokofiew Piano Sonata No. 6, A major, Op. 82 (1939/40), Piano Sonata No. 9, C major, Op. 103 (1947), Piano Pieces from the Ballet «Cinderella» (1942/44), Légende Op. 12 No. 6 (1913), Visions fugitives Op. 22 (1915/17), Danza Op. 32 No. 1 (1918), Valse Op. 32 No. 4 (1918), Pensées Op. 62 No. 3 (1932), Sonatine pastorale Op. 59 No. 3 (1933) und viele weitere

eine Liebeserklärung an die Kammermusik www.divox.com | Vertrieb Deutschland: SONY MUSIC

Sviatoslav Richter DIVOX CDX-25252/53 (2 CDs)


CLASS : aktuell

Beim Komponieren von Musik verbraucht das Gehirn eine Menge Energie. Komponisten müssen daher gut essen. Wer monate- oder jahrelang an einem Orchester- oder Bühnenwerk arbeitet, braucht ökonomische Absicherung für Magen und Gehirn. In der Vergangenheit waren viele Komponisten deshalb gezwungen, nebenbei als Kapellmeister, Kirchenmusiker oder Musiklehrer zu wirken. Es sei denn, sie hatten eine reiche Mäzenin oder zahlkräftige Auftraggeber. Heute sind es meistens Orchester, Firmen, Filmstudios und Musikwettbewerbe, die Kompositionsaufträge erteilen.

Hätte, hätte, Klarinette! Kompositionsaufträge können mit konkreten Erwartungen und Herausforderungen verbunden sein, die die Kreativität des Komponisten in bestimmte Bahnen lenken sollen. Bach hätte wohl nie ein sechsstimmiges Ricercare geschaffen, hätte ihn Friedrich II. von Preußen nicht dazu provoziert. Ohne einen bezahlten Auftrag hätte Mozart kein Requiem geschrieben und Beethoven keine Oper. Mendelssohn hätte nicht so schöne Stücke für die Klarinette komponiert ohne die hervorragenden Rahmstrudel aus der Küche des Virtuosen Heinrich Baermann. Und ohne Anfragen aus den USA hätten sich weder Richard Strauss noch Claude Debussy auf das Saxofon eingelassen. Die europäische Musikgeschichte ist auch eine Geschichte der Auftraggeber und Inspiratoren. Gängige Musiklexika tragen dem viel zu wenig Rechnung. Wir korrigieren das jetzt. Zum Beispiel Haydn. Sein Brotherr, ein Fürst von Esterházy, besaß eine besondere Vorliebe für Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Ohne diesen Stachel wäre Haydn nie die Idee gekommen, einen Sinfonien-Zyklus zum Thema „Die Tageszeiten“ zu komponieren. Auch wäre sein berühmtes Trompetenkonzert niemals entstanden, hätte nicht der Trompeter Anton Weidinger ein werbewirksames Stück für seine neu erfundene Klappentrompete gebraucht. Und ohne einen Auftrag vom Wiener Hof hätte Haydn natürlich keine Kaiserhymne geschrieben. Bei offiziellen Staatsanlässen der Bundesrepublik Deutschland und vor Länderspielen der DFB-Auswahl erklänge daher womöglich noch heute eine der westdeutschen Behelfshymnen von 1949 – vielleicht „Heidewitzka, Herr Kapitän“. Oder nehmen wir Igor Strawinsky. Der schrieb seine berühmteste Musik – die frühen Ballettwerke – im Auftrag des Tanztheater-Impresarios Sergej Djagilew in Paris. Ohne Djagilew – kein „Feuervogel“! Auch später in Amerika waren diverse Auftraggeber an der Mitgestaltung von Strawinskys Gesamtwerk beteiligt. Hätte nicht der Kunstmäzen Robert Bliss seinen 30. Hochzeitstag mit einer extravaganten Musikvorstellung feiern wollen, wäre Strawinskys Kammerkonzert „Dumbarton Oaks“ nie entstanden. Ohne einige Strawinsky-Fans in der Jazzband von Woody Herman gäbe es auch kein „Ebony Concerto“. Und hätte nicht der weltberühmte Zirkus von Ringling-Barnum-Bailey eine ganz besondere Tanzmusik gebraucht, hätte Strawinsky nicht die entzückende kleine „Circus Polka“ komponiert. 50 Tänzerinnen und 50 junge Elefanten führten sie gemeinsam auf. Die Primaballerina der Vierbeiner hieß Modoc. Ihr Foto gehört in jedes Musiklexikon. Herzlichst Ihr Hans-Jürgen Schaal

Class: aktuell 4 / 2017 Inhalt 4 Johann Sebastian Bach Frank Peter Zimmermann 6 Camille Saint-Saëns Violin- und Cellokonzerte mit Tianwa Yang und Gabriel Schwabe 7 Bohuslav Martinu˚ Ersteinspielung sämtlicher Cellokonzerte Petr Nouzovský, Cello und Pilsen Philharmonic, Tomáš Brauner 8 Georg Hendrik Witte Raritäten entdeckt vom Mozart Piano Quartet 9 Meister trifft auf Meisterwerk Bachs Weihnachtsoratorium unter Hans-Christoph Rademann 10

Bartok, Frühling, Hosokawa, Jolivet, Karg-Elert & Schubert beim Rendezvous mit Helen Dabringhaus und Sebastian Berakdar

11 Peter Feuchtwanger Ein Portrait von Lennart Felix 12 George Enescu Leuchtendes Debut von Sina Kloke 13 Pjotr Iljitsch Tschaikowsky Eine Hörbiografie mit Musikbeispielen 14 30 Jahre Naxos Rückblick auf eine Erfolgsgeschichte 15 Franz Schuberts „Große“ Sinfonie Nr. 8 Brandenburger Symphoniker mit Peter Gülke 16 Musik ist ein Geschenk Weihnachtsempfehlungen von CLASS: aktuell 20 Klassik ganz groß Ein halbes Jahrzehnt Klassik: XL 26 Im Blickpunkt Neuheiten vorgestellt von CLASS: aktuell

Impressum Herausgeber/Verlag:

CLASS e.V. Association of Classical Independents in Germany Bachstraße 35, 32756 Detmold Tel. 05231- 938922 class@class-germany.de Redakteur (v.i.S.d.P): Dr. Rainer Kahleyss Anzeigen: Gabriele Niederreiter Grafische Gestaltung: Ottilie Gaigl Druck: Westermann Druck, Braunschweig Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers, nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

P.S.: http://dangerousminds.net/comments/circus_polka_ stravinskys_ballet_for_elephants_1942

Druckauflage: 120.900 Exemplare 3. Quartal 2017 ISSN: 2195-0172 Titel-Foto: Irene Zandel

geprüfte Auflage

Alle Tonträger dieser Ausgabe finden Sie auch unter www.bielekat.de

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Immer auf Anfang Frank Peter Zimmermann spielt Bach

Frank Peter Zimmermann mit Sohn Serge im Studio

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ergsteiger oder kletterfreudige Radfahrer wissen: In ungewohnten Höhen sind Höchstleistungen gefragt. Denn je dünner und klarer die Luft, desto größer die lauernden Gefahren. In der Musik ist es ähnlich, besonders bei Johann Sebastian Bach: Seine Klang-Welten breiten sich so selbstverständlich, mit so viel Klarheit vor dem Hörer aus, dass man ihre Tücken kaum erkennt. Gerade Geiger wissen um die Faszination des Panoramas, das Solo-Sonaten und Partiten bereithalten und um die Mühen, die es braucht, um diesen BachGipfel zu erklimmen. Sozusagen als Vorstufe zu diesen Höhen, hat Geiger Frank Peter Zimmermann nun Violinkonzerte von Bach aufgenommen, mit den Berliner Barock Solisten und – im Falle des d-Moll-Doppelkonzertes BWV 1060 – mit Serge Zimmermann, seinem Sohn. Es ist die erste gemeinsame Vater-Sohn-Aufnahme! „Es war ähnlich wie beim Münchner MozartProjekt. Aus gemeinsamen Konzerten mit den Berliner Barock Solisten ist die Idee zu diesen Bach-Aufnahmen entstanden. Die Ursprünge liegen schon rund zehn Jahre zurück.“ Einige der Musiker kennt Zimmermann bereits seit Jahrzehnten: „Raimar Orlovsky habe ich als Neunjäh-

Johann Sebastian Bach Violinkonzerte Frank Peter Zimmermann Serge Zimmermann Berliner Barock Solisten hänssler CLASSIC HC17046

rigen 1974 bei ‚Jugend musiziert‘ kennengelernt, Rüdiger Liebermann hat, wie ich auch, bei Saschko Gawriloff studiert. Ich fühle also nicht nur musikalisch, auch menschlich hier sehr wohl.“ Ende der 1980er Jahre hatte Zimmermann zum ersten Mal Bachs Konzerte aufgenommen, doch zwischen dieser frühen und der neuen Produktion liegen interpretatorisch Lichtjahre. Damals war Zimmermann noch von Schallplatten der 50er und 60er Jahre geprägt, von Heifetz, Henryk Szeryng & Co. Das ist lange her.

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„Mit Bach fängt man jedes Mal neu an. Bach braucht Ausdauer und Geduld. Außerdem weiß man nie genau, wie diese Musik klingen soll. Es gibt so unglaublich viele Möglichkeiten, Bach zu interpretieren.“ Zumal die historisch orientierten Aufführungsformen unsere heutigen Spiel- und Hörgewohnheiten kontinuierlich verändert haben. Diese sind natürlich auch an Frank Peter Zimmermann nicht spurlos vorübergezogen. „Inzwischen gehe ich immer mehr dazu über, kaum noch Vibrato zu verwenden dafür fast alles


Fotos: © Irene Zandel

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Aktuelle Konzerte: Johann Sebastian Bach: Violinkonzerte

Wolfgang Amadeus Mozart Violinkonzerte Nr. 1, 3, 4 Rondo K. 373, Adagio K. 261 Kammerorchester des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Radoslaw Szulc hänssler CLASSIC HC98.039

Wolfgang Amadeus Mozart Violinkonzerte Nr. 2 & 5 Sinfonia Concertante Antoine Tamestit Kammerorchester des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Radoslaw Szulc hänssler CLASSIC HC15042

mit dem Ausdruck des Bogens.“ Noch vor gut zehn Jahren, als er Bachs Sonaten mit Klavier aufgenommen hat, war das anders. Entscheidende Impulse auf diesem Weg erfolgten durch die Arbeit mit Dirigenten wie Frans Brüggen oder Andrew Manze, vor allem aber durch sein eigenes Streichtrio mit den beiden jüngeren Kollegen, Bratscher Antoine Tamestit und Cellist Christian Poltéra. Gemeinsam feilen sie seit einigen Jahren an einer Bearbeitung der „Goldberg-Variationen“. „Der schönste und reinste Klang bei Bach entsteht, je weniger man mit der linken Hand macht.“ So ist eine Aufnahme der Bach-Konzerte entstanden, die ungemein zart und transparent klingt und dennoch warm. Der „Lady Inchiquin“ sei Dank, jener Stradivari-Geige, die Zimmermann durch abenteuerliche politbedingte Winkelzüge erst abgeben musste und inzwischen zurückerhalten hat. Solist und Instrument bilden eine Einheit. „Wichtig ist, dass diese Konzerte wie Kammermusik klingen, denn die Solo-Stimme wirkt eher wie eine Erste Geige als Teil eines kleinen Ensembles.“ Die Berliner Barock Solisten spielen mit je vier Geigen, zwei Bratschen sowie Cello und Bass. Bach im Kleinformat. Da ist für Romantisierungen ohnehin kein Platz. Ein Sonderfall auf dieser neuen Einspielung bildet das Konzert BWV, ein Doppelkonzert, meistens wird es mit Geige und Oboe gespielt. „Aber man weiß nicht, ob es wirklich und ausschließlich für diese Besetzung gedacht war.“ So fiel die Wahl auf zwei Geigen, „die sich auf ganz andere Art mit dem kleinen Orchester mischen und neue Möglichkeiten eröffnen“. Auf dieser CD spielt Serge die zweite Solo-Geige. Auf der Bühne und bei den Aufnahmen wird das Vater-SohnVerhältnis der Zimmermanns in den StandbyModus versetzt. „Dann sind wir Kollegen. Ich Ausgabe 2017/4

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03. 12. 2017 Brüssel, Bozar Music Palais des Beaux-Arts 04. 12. 2017 Köln, Kölner Philharmonie 05.12. 2017 Berlin, Philharmonie 06. 12. 2017 München, Prinzregententheater 07. 12. 2017 Düsseldorf, Tonhalle 20. + 21. 12. 2017 Hamburg, Elbphilharmonie Kleiner Saal

habe schon öfter mit ihm konzertiert und versuche dann sehr neutral zu sein“, sagt der Senior. Den ersten Bach-Gipfel haben Zimmermann und die Barock Solisten nun erklommen. Begeisterung hat sie erfasst. Inzwischen planen sie bereits eine zweite Tour de Bach! Manuela Neumann

Edition Staatskapelle Dresden – Volume 40 (von Weber, Beethoven, Brahms) Frank Peter Zimmermann, Violine Staatskapelle Dresden, Bernard Haitink Profil Edition Günter Hänssler PH09036


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45 CD

Viel mehr als nur „Der Schwan“ Gächinger Kantorei • Rundfunkchor Leipzig Chamber Choir of Europe • Gewandhausorchester Leipzig Bach-Collegium Stuttgart • Heidelberger Sinfoniker Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Kurt Masur • Nicol Matt • Helmuth Rilling Thomas Fey - u.v.a.

Die umfangreichste Edition des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Symphonien • Streicher Symphonien Klavierkonzerte • Violinkonzerte Klavierquartette • Klavierquintette Streichquartette • Streichquintette Sonaten für Violine, Cello und Klavier Orgelwerke • Serenade • Duette • Lieder Ouvertüren • Ein Sommernachtstraum Der Onkel aus Boston • Heimkehr aus der Fremde Die erste Walpurgisnacht • Athalia Elias • Paulus • Psalmen • Geistliche Chormusik Lieder ohne Worte • Klavierwerke

8 CD

Camille Saint-Saëns’ Werke für Cello und Violine und Orchester in zwei aufregenden Neuerscheinungen.

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ass Camille Saint-Saëns, einer der produktivsten und wichtigsten französischen Romantiker des 19. Jahrhunderts, heutzutage immer noch zuallererst mit den drei Minuten des „Schwan“ aus dem „Karneval der Tiere“ in Verbindung gebracht wird, ist einer der bittersten Treppenwitze der Musikgeschichte. Kaum ein anderes Ensemble hat sich in den letzten 40 Jahren mit der Orchestermusik Saint-Saëns’ so ausführlich beschäftigt, wie das Malmö Sinfonieorchester unter seinem fran­ zösischen Dirigenten Marc Soustrot. Nach der Gesamteinspielung der Sinfonien auf Referenzniveau und den drei Klavierkonzerten folgen nun zwei Alben mit Werken für Violine bzw. Cello und Orchester. Tianwa Yang an der Violine und Gabriel Schwabe am Violoncello übernehmen die Soloparts. Gabriel Schwabe gehört ohne jeden Zweifel zu den talentiertesten Cellisten seiner Generation. Seine unaufdringliche Art stellt die Musik in den Mittelpunkt, er konzentriert sich lieber auf sein makelloses Spiel als auf vordergründige Show-

einlagen. Sein weicher, warmer Sound passt perfekt zur facettenreichen, bildhaften Klangsprache des Pariser Romantikers. So meistert Schwabe beispielsweise die verspielt eloquenten Solopassagen des ersten Cellokonzerts in a-Moll aber auch die kraftvollen, geradezu körperlich anstrengenden virtuosen Sequenzen des zweiten Cellokonzerts in d-Moll mit Bravour. Dass Tianwa Yang ein besonderes Talent dafür hat, romantische Violinkonzerte mit Funken sprühender Virtuosität und makelloser Technik zu veredeln, weiß man spätestens seit ihren wegweisenden Sarasate-Einspielungen. Diese Eigenschaften kommen ihr auch bei Saint-Saëns zugute, dessen auf dem vorliegenden Album zusammengefassten Orchester-Trouvaillen oft ein dezidiert iberisch-exotisches Timbre besitzen. Mit dem „Introduction et Rondo capriccioso“ enthält es sogar das erste Stück, das Saint-Saëns dem Violinvirtuosen Pablo de Sarasate widmete. Der Kreis zur Sarasate-Expertin schließt sich. Das Malmö Sinfonieorchester und sein musikalischer Leiter Marc Soustrot bestätigen auf beiden Alben einmal mehr, dass sie sich mit geradezu poetischer Natürlichkeit in die Klangwelt der französischen Romantik versetzen können. Dies sind zwei essenzielle Erweiterungen der Saint-Saëns-Diskografie.

Salvatore Pichireddu Camille Saint-Saëns Cellokonzerte Nr. 1 & 2 Gabriel Schwabe Malmö Symphony Orchestra, Marc Soustrot Naxos 8.551385

Camille Saint-Saëns Werke für Violine und Orchester Tianwa Yang, Gabriel Schwabe Malmö Symphony Orchestra, Marc Soustrot

881488170696

Erhältlich im Fachhandel

Profil

Naxos 8.551392

Edition Günter

Hänssler

Profil Medien GmbH & Hänssler Classic · www.haensslerprofil.de Vertrieb: Haenssler Alliance Distribution

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Fotos: © Irene Zandel (T. Yang), Giorgia Bertazzi (Gabriel Schwabe)

881488160529


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Pilsener Philharmoniker Tomáš Brauner Bohuslav Martinu˚

Wanderer zwischen den Welten Erstmals alle Cellokonzerte von Martinu˚ eingespielt

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aum zu glauben: Tatsächlich zum ersten Mal sind Bohuslav Martinu˚s konzertante Kompositionen für Violoncello hier auf einer Doppel-CD versammelt. Neben den beiden Cellokonzerten widmen sich Petr Nouzovský und die Pilsener Philharmoniker unter Tomáš Brauner auch dem Concertino und der Sonata da Camera – ein vielfarbiges Portrait des Komponisten, dessen spielerischer Umgang mit der Musik auch heute noch fasziniert. Tief verwurzelt in der böhmischen Musiktradition, treffen in Martinu˚s Kompositionen

Bohuslav Martinu˚  (1890 -1959) Sämtliche Werke für Cello und Orchester Petr Nouzovský, Cello Pilsen Philharmonic, Tomáš Brauner, Ltg.

rhythmische Raffinesse, volkstümliche Motive und klassisches Formverständnis aufeinander. Seine konzertanten Werke sind vom barocken Concerto grosso ebenso inspiriert wie vom romantischen Virtuosenkonzert. Und natürlich Paris: Der französische Neoklassizismus rund um Strawinsky und die Groupe des Six hat deutliche Spuren hinterlassen. Seine französische Wahlheimat für knapp zwei Jahrzehnte musste Martinu˚ nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 verlassen. Auf Umwegen gelangte er nach Amerika, wo er sich – anders als viele andere euro­ päische Emigranten – künstlerisch und wirtschaftlich erfolgreich etablieren konnte. Und so blieb er

http://czechcellist.com/en/

MDG 601 2041-2 (2 CDs)

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auch nach dem Krieg ein Wanderer zwischen den Welten, mit Lehrtätigkeiten in Tanglewood, Princeton, Rom, Nizza und Philadelphia. Vom frühen Concertino – Martinu˚s erste konzertante Komposition überhaupt – bis zum zweiten Cellokonzert, dessen Uraufführung der Komponist nicht mehr erlebte, spannen Petr Nouzovský und die Pilsener Philharmoniker einen spannenden Bogen über ein ausgefülltes Künstlerleben. Lyrisch-pastoraler Stimmung be­gegnen wir dabei ebenso wie rhythmischer, geradezu tänzerischer Vitalität: Ein kurzwei­ liges Komponistenportrait von höchstem Unterhaltungwert! Klaus Friedrich

Foto ©: Daniel Havel (P. Nouzovsky), Ondrej Melecky (T. Brauner), Lukáš Potu˚cˇek (Pilsen Philharmonic)

http://www.plzenskafilharmonie.cz/en/


CLASS : aktuell Foto: © Josep Molina

www.m-p-q.de

Aktuelle Konzerte: 16. 11. 2017 München

Neue Hörerfahrung

17. 11. 2017 Berlin 18. 11. 2017 Neuenhagen

Das Mozart Piano Quartet auf Raritätenjagd

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ierzig Jahre lang hat der in Utrecht geborene Georg Hendrik Witte die musikalischen Geschicke der Stadt Essen bestimmt. Bedeutende Ereignisse fielen in diese fruchtbare Ära, unter denen die überwältigende Uraufführung von Gustav Mahlers schicksalhafter 6. Sinfonie besonders herausragt. Über Wittes unbestrittene Verdienste als Kapellmeister und Orchestermanager ist sein kompositorisches Schaffen in Vergessen geraten. Das Mozart Piano Quartet hat sich mit Freunden zusammengetan und mit dem Klavierquartett und dem Hornquintett zwei Kammermusikwerke aus der Leipziger Frühzeit des Komponisten eingespielt, die einen hochtalentierten, offensichtlich hervorragend ausgebildeten Künstler zeigen, der seinen eigenen Weg zu gehen weiß. „Vom Musik-Institut zu Florenz preisgekrönt“ ließ der junge Witte voller Stolz auf das Titelblatt des Klavierquartetts drucken. Die Auszeichnung ist nicht unverdient: Schon der Anfang nimmt den Hörer unmittelbar gefangen. Wohl ausgewogen in der klassischen Form – in Leipzig wurde man an den Vorbildern Mendelssohns und Schumanns geschult – überrascht das Werk doch immer wieder mit unerwarteten Modula­

tionen und kraftvollen Melodien, die sogar die belcantoverwöhnten Italiener überzeugten. Von ganz eigentümlichem Reiz ist das dreisätzige Hornquintett. Witte hatte es Johannes Brahms, mit dem er eine langjährige Korrespondenz pflegte, zur Beurteilung geschickt. Der war offensichtlich irritiert von der kühnen Idee, das Horn über weite Strecken klanglich mit den vier Streichern verschmelzen zu lassen, anstatt eine solistische Bravourpartie abzuliefern. Wie dann aber ab dem zweiten Satz das Horn von Variation zu Variation die Steigerung in Tempo und Dramatik vorantreibt, ist überaus hörenswert. Mit Radovan Vlatkovic haben die Streicher des Mozart Piano Quartets für das Hornquintett den wohl besten Kammermusikpartner gewinnen können, der sich finden lässt. Den häufig undankbaren Pedaltönen verleiht Vlatkovic einen berührend zurückhaltenden Schmelz, aus dem sich immer wieder gestalterische Initiativen entwickeln. Cornelia Gartemann fügt sich perfekt in das Ensemble ein, das besonders in der dreidimensionalen Wiedergabe dieser Super Audio CD eine ganz neue Hörerfahrung bietet. Fazit: ein erfreulich gelungener Raritätenfund. Klaus Friedrich

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Georg Hendrik Witte (1843-1929) Klavierquartett op. 5 Hornquintett op. post. Cornelia Gartemann, Violine Radovan Vlatkovic, Horn Mozart Piano Quartet MDG 943 2046-6 (Hybrid-SACD)

Weitere Einspielungen: Johannes Brahms (1833 -1897) Klavierquartett op. 25 Robert Schumann (1810 -1856) Klavierquartett op. 47 MDG 943 1712-6 (Hybrid-SACD)

W. A. Mozart (1756 -1791) Klavierquartette g-Moll KV 478 und Es-Dur KV 493 MDG 943 1579-6 (Hybrid-SACD)

Camille Saint-Saëns (1835 -1921) Klavierquartette MDG 943 1519-6 (Hybrid-SACD)

Ludwig van Beethoven (1770 -1827) Eroica op. 55 (arr. für Klavierquartett von Ferdinand Ries) Klavierquartett Es-Dur op. 16 MDG 643 1454-2

Mel Bonis (1858 -1937) Klavierquartette Nr. 1 op. 69 & Nr. 2 op. 124 Soir, Matin op. 76 MDG 643 1424-2

Richard Strauss (1864 -1949) Klavierquartett op. 13, Ständchen, Festmarsch, Liebesliedchen, Arabischer Tanz MDG 643 1355-2


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Joy to the World Famous Christmas Songs

Johann Sebastian Bach Weihnachtsoratorium Christmas Oratorio BWV 248 Regula Mühlemann, Sopran Anna Lucia Richter, Sopran Wiebke Lehmkuhl, Mezzosopran Sebastian Kohlhepp, Tenor Michael Nagy, Bass Gaechinger Cantorey Hans-Christoph Rademann

Meister trifft auf Meisterwerk Überzeugende Interpretation des Weihnachtsoratoriums

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-d-d-d-A – das sind die fünf Töne des vielleicht berühmtesten Pauken-Solos der Musikgeschichte, denn mit diesen eröffnet Johann Sebastian Bach den Eingangs­ chor „Jauchzet, frohlocket“ zum ersten Teil seines Weihnachtsoratoriums. Dass sich die Komposition einmal zum wohl berühmtesten Chorwerk der Weihnachtszeit entwickeln würde, hatten sicherlich weder Bach noch die Leipziger Bevölkerung erwartet, wo sie doch zunächst „lediglich“ als Liturgiemusik konzipiert war. Als „Oratorium auf die Heilige Weyhnacht“ hatte Bach das Werk für die Gottesdienste zwischen dem 25. Dezember und 6. Januar 1734/35 konzipiert und führte es in der Thomaskirche sowie in der Nikolaikirche auf. Nachdem der letzte Teil des Oratoriums dann am Dreikönigsfest 1735 verklungen war, schlummerte dieses Meisterwerk beinahe vergessen für knapp hundert Jahre in den Archiven der Berliner SingAkademie, bis es die Königliche Bibliothek 1854 erwarb. 1857 erfolgte dann erstmals wieder eine vollständige Aufführung im Konzerthaus der Neuen Wache. Seither ist das Werk ein nicht wegzudenkender Teil der Advents- und Weihnachtszeit, allenthalben erklingt es in Konzert-

Carus CAR-83312 (2 CDs)

sälen und Kirchen, interpretiert von Laien- oder Profimusikern. Genau hierin liegt die phänomenale Meisterschaft Bachs: Egal durch welches Medium, egal durch welchen Interpreten, seine Werke beeindrucken schlichtweg immer. Unter der Vielzahl an Aufnahmen des Weihnachtsoratoriums, die auf dem Markt zu finden sind, sticht die Einspielung von Hans-Christoph Rademann besonders hervor, etablierte sich dieser in den letzten Jahren doch als formidabler Bach-Meister, seine Aufnahme der H-Moll-Messe wurde von der Fachwelt begeistert aufgenommen, ebenso die der Kantaten 126 & 79. So ist es nur folgerichtig, dass auch diese Interpretation diskografische Maßstäbe setzen wird. Zum einen, weil die Sänger und Instrumentalisten der Gaechinger Cantorey derart präzise und fulminant agieren, zum anderen dank Solisten wie Regula Mühlemann oder Sebastian Kohlhepp, die mit ihrem geschmeidigen Gesang der Komposition die vokale Krone aufsetzen.

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CD 900521

Der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Rundfunkorchester präsentieren eine musikalische Weltreise mit bekannten internationalen Weihnachtsliedern unter der Leitung von Howard Arman.

Chor des Bayerischen Rundfunks Münchner Rundfunkorchester

Chen Reiss · Howard Arman Ebenso erhältlich:

CD 900506

Martin Bail

Im Vertrieb von Naxos Deutschland

9 br-klassik.de/label

Erhältlich im Handel und im BRshop: br-shop.de


CLASS : aktuell

Temperamentvolles Rendezvous Flöte und Klavier in brillanter Wiedergabe

Toshio Hosokawa

Sigfrid Karg-Elert

Franz Schubert

bewegliche Agieren und die hörbare Spielfreude der beiden Interpreten, das auch Bartoks Suite über ungarische BauernAndré Jolivet lieder (1920) so spannend macht: Von den elegischen „traurigen Liedern“ über Carl Frühling das Scherzo zu den alten Tänzen wechseln die Charaktere auf engstem Raum und das Album, in dessen Zentrum Schuberts Intro- geben Futter für rhythmische Präzision und duktion, Thema und 7 Variationen über „Trockne klangliche Brillanz. Blumen“ steht. Das Werk nimmt schon allein auf Sozusagen als „Zugabe mittendrin“ spielt Grund seines Umfangs eine Sonderstellung im Helen Dabringhaus die „Chaconne“ von Sigfrid Flötenrepertoire ein und ist zweifellos ein echter Karg-Elert, und wie sie allein mit dem großen Prüfstein für alle Flötisten – und spätestens in Klang und weiter Dynamik ihrer Flöte den Raum der 2. Variation auch für den Pianisten, dessen in der Abtei Marienmünster füllt, ist schon in kernige Oktavläufe wie das gesamte Stück mit stereo wunderschön. Besonders beeindruckend glänzender Virtuosität erfreuen. kann man das aber natürlich in der dreidimenMit Toshio Hosokawas im Jahr 2007 für einen sionalen Wiedergabe dieser Super Audio CD Wettbewerb in den USA komponierten „Lied“ genießen – in alle Richtungen ein echt bereibewegen sich die beiden jungen Künstler in cherndes Rendezvous. Lisa Eranos klanglich völlig anderen Sphären: Aus dem Nichts kommend, in der Unendlichkeit des Nichts verklingend, fordert das Stück bisweilen wie selbstverständlich Glissandi, Flatterzunge, Multiphonics, Airsounds… und öffnet – dabei immer wohlklingend – gleichsam Horizonte zwischen fernöstlicher und westlicher Kultur. Es ist dieses „Rendezvous“ Werke für Flöte und Klavier von Béla Bartók, Carl Frühling, Sigfrid Karg-Elert, André Jolivet, Toshio Hosokawa & Franz Schubert Helen Dabringhaus, Flöte Sebastian Berakdar, Klavier

Helen Dabringhaus und Sebastian Berakdar

MDG 903 2043-6 (Hybrid-SACD)

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www.helendabringhaus.de

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ein anderer als Linos brachte Orpheus, dem antiken Urvater aller Sänger, die Töne bei, bevor er von seinem eifersüchtigen Vater Apoll getötet wurde... André Jolivets hochexpressiver Klagegesang „Chant de Linos“ entstand als klanglich virtuoser Wettbewerbsbeitrag und beschließt eindrucksvoll eine kurzweilige Portrait-SACD, die die Flötistin Helen Dabringhaus gemeinsam mit ihrem Klavierpartner Sebastian Berakdar zusammengestellt hat. Schuberts „Trockne Blumen“ und Bartoks „Suite paysanne hongroise“ sind weitere ebenso beliebte wie anspruchsvolle Höhepunkte der Flötenliteratur. Zusammen mit den moderat modernen Zauberklängen Hosokavas und der Ersteinspielung von Carl Frühlings romantischer „Fantasie“ ergibt sich ein abwechslungsreiches Programm mit Finesse und höchstem Anspruch. Carl Frühling stand als Klavierbegleiter mit Pablo de Sarasate und Bronislav Hubermann auf der Bühne, er wusste genau, wie man sein Publikum begeistert. Große Melodiebögen, hochexpressive Linien und virtuose Partien seiner „Fantasie“ sorgen für einen attraktiven Einstieg in

Foto: © Juergen Wahnschaffe (Dabringhaus | Berakdar), F. Hoffmann-La Roche Ltd. (T. Hosokawa)

Bela Bartok


Foto: © Franziska Goetzke (L. Felix), Stefan Blido (Portrait P. Feuchtwanger)

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„Es gibt viele Arten Klavier zu spielen, aber nur eine natürliche“ (Peter Feuchtwanger)

www.lennart-felix.com

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ls Klavierpädagoge hat Peter Feucht­ wanger Generationen von Pianisten geprägt; mit seiner individuellen, auf kompromissloser Natürlichkeit basie­ renden Technik verhalf er der jungen Martha Argerich zum Durchbruch. An fernöstlicher und indischer Kultur überaus interessiert, kompo­ nierte er immer wieder auch für ausgefallene Besetzungen; im Auftrag des unvergessenen Yehudi Menuhin entstand „Dhun“, das dieser gemeinsam mit Ravi Shankar uraufführte. Lennart Felix, einer von Feuchtwangers jüngsten Schülern, hat seinem 2016 verstor­ benen Lehrer nun ein ganz besonderes Epitaph gesetzt: Feuchtwangers Werken stellt er die Paganini-Variationen von Johannes Brahms ge­ genüber – mehr Ehrerbietung geht nicht! Um die enormen technischen Höchst­ schwierigkeiten der Klavierliteratur mit mög­ lichst natürlichen Bewegungsabläufen zu be­

wältigen, gab Feuchtwanger seinen Schülern von Zeit zu Zeit eigene Werke als Übungsstücke an die linke wie rechte Hand. Immer wieder entwickelten sich aus diesen Studien aparte Stücke von fremdländischem Reiz: Eindrucks­ voll, wie nahe der Konzertflügel in „Tariqa“ dem persischen Santur sein kann! Sitarähnliche Klänge wiederum entstehen in der Klavierfassung von „Dhun“, das zudem auf einer Raga, einem indischen Melodiesystem,

beruht. Feuchtwangers Hauptwerk auf dieser Super Audio CD bilden die „Variations on an Eastern Folktune“, die den Brahmsschen Varia­ tionen in punkto Virtuosität keineswegs nach­ stehen. Feuchtwanger selbst hat diesen Zyklus oft im Konzert gegeben. Lennart Felix setzt mit dieser Einspielung eine Traditionslinie fort, die von Brahms über Feuchtwangers Lehrer Edwin Fischer, Walter Gieseking und vor allem Clara Haskil aus der goldenen Zeit des deutschen Klavier­ spiels bis in unsere Tage reicht. „Peter Feuchtwangers Klaviermu­ sik hat mich sehr beeindruckt auf­ grund ihrer Tiefe, großen Frische und Originalität“, schreibt Martha Argerich über die Werke ihres frühen Mentors. Dem ist nichts hinzuzufügen. Klaus Friedrich

Peter Feuchtwanger (1939-2016) Johannes Brahms (1833-1897) „A Lesson with Peter Feuchtwanger“ Lennart Felix, Klavier MDG 904 2047-6 (Hybrid-SACD)

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Leuchtendes Debüt Sina Kloke mit Klavierwerken von George Enescu

George Enescu (1881-1955) Pièces Impromptues op. 18 Suite Nr. 2, Regrets Sina Kloke, Klavier

Foto: © Ulrich Pölert, Hesterbrink

M

it den „Pièces Impromptues“ und der Suite Nr. 2 hat sich Sina Kloke für ein äußerst anspruchsvolles Debütprogramm entschieden: George Enescu ist kaum in eine stilistische Schublade einzusortieren – das macht seine Klaviermusik so besonders und interessant. Natürlich gibt es immer wieder Anklänge an die rumänische Heimat, aber auch französischer Einfluss ist unüberhörbar, was nach Studien bei Massenet und Fauré nicht überrascht. Enescu kam mit 7 Jahren zum Studium nach Wien, in die Klangwelt von Brahms und Wagner, wo er mit 12 Jahren schon seinen Abschluss mit Auszeichnung am Konservatorium machte. Obwohl von Haus aus Geiger, komponiert Enescu mit bewundernswerter Sicherheit für das Klavier und zündet ein Feuerwerk an Klangfarben. Dabei verlangt er Pianisten Einiges ab: Vollgriffige Akkorde, bis ins Feinste verästelte Polyphonie und komplexe Rhythmen fordern eine souveräne Klaviertechnik und ein besonderes Gespür für die Valeurs der folkloristischen Anklänge. Gregorianische Melodien, mit Mixturklängen harmonisiert, werden im „Carillon Nocturne“ von entfernten Glocken umrahmt, die an Ravels „Vallée des cloches“ erinnern; ausgelassene Spielfreude prägen die „Bourrée“, die schon im Titel den neoklassizistischen Einschlag verrät;

MDG 904 2039-6 (Hybrid-SACD)

Fazit: Das Album präsentiert eine Auswahl, die Enescus Vielseitigkeit als Komponist aufzeigt, welche die junge Pianistin mit feinem Gespür für die besonderen Farben und phänomenaler Virtuosität präsentiert. Der Steinway-Konzertflügel „Manfred Bürki“ aus dem Jahr 1901 ist hier in seinem Element, und die sensibel eingesetzte Tontechnik bringt Sina Klokes Klangkultur auf dieser für Stereo und Mehrkanalhörer optimal ausbalancierten Super Audio CD aufs Vorteilhafteste zum Leuchten. Lisa Eranos Aktuelle Konzerte: 26. 10. 2017 Hamburg

duftende Arpeggien begleiten die „Mélodie“, mit der die „Pièces Impromptues“ eröffnen. Als Zugabe und absoluter Neuentdeckung dieser Einspielung „Regrets“ – ein Werk, das unmittelbar nach seinem op. 1 in schwärmerisch spätromantischer Reminiszenz an Wagner und Liszt entstanden ist. Vielleicht passt dieser Schluss direkt aus dem Manuskript gespielt besonders gut zu Enescus sprichwörtlicher Bescheidenheit, die ganz im Gegensatz zur klanglichen Opulenz seiner Werke steht.

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15. 11. 2017 Live bei WDR Tonart 16. 11. 2017 Köln 01. 12. 2017 München 28. 01. 2018 Gehrden 02. 02. 2018 Bern I Schweiz 03. 03. 2018 Kitzingen 18. 03. 2018 Altena 25. 03. 2018 Bilthoven I Niederlande 31. 03. 2018 Marne www.sina-kloke.com


WERGO

CLASS : aktuell

Jetzt neu bei WERGO Pjotr Iljitsch Tschaikowsky Der Wille zum Glück Eine Hörbiografie von Jörg Handstein Udo Wachtveitl, Stefan Wilkening Symphonie Nr. 6 & Die Nachtigall Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons

WER 67802 (CD)

neu in der studio re ihe

BR Klassik 900915 (4 CDs)

Tschaikowskys Lebensweg durch Glück und Unglück Eine lebendig erzählte Hörbiografie mit zahlreichen Musikbeispielen

Arnold Schönberg Serenade, op. 24

Louis-Jacques Rondeleux / Guy Deplus / Louis Montaigne / Paul Grund / Paul Stingl / Luben Yordanoff / Serge Collot / Jean Huchot / Pierre Boulez

Udo Wachtveitl

Stefan Wilkening

Zitaten aus Tagebüchern, Briefen und Biografien. Untermalt von etlichen Musikbeispielen wird die Lebensgeschichte des Genies Tschaikowsky in seiner ganzen Menschlichkeit und Widersprüchlichkeit nacherzählt. In der Rolle des Erzählers glänzt Udo Wachtveitl, den TV-Zuschauern als Münchener Tatort-Kriminalhauptkommissar Franz Leitmayr bestens bekannt; Stefan Wilkening ist mit dem Sprechpart des Komponisten selbst zu hören. Tschaikowsky wurde mit bemerkenswerter Disziplin, nicht wenigen Selbstzweifeln und depressiven Phasen und einem unauslöschlichen Willen zum Glück zu einem auch heute noch massenwirksamen Mythos. Seine verborgen ausgelebte Homosexualität spielte zwar keine geringe Rolle in seinem Leben, es war aber vor allem die Sehnsucht nach Anerkennung und die Liebe zur Musik, die ihn immer wieder antrieb. „Der Wille zum Glück“ erzählt das Leben Tschaikowskys quasi als große, romantische und nicht ganz zu entschlüsselnde Sinfonie. Folgerichtig befindet sich auf der vierten CD, quasi im Anhang des Albums, eine herrlich aufwühlende Interpretation der „Pathétique“ in einer Einspielung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons sowie, als Bonus und erstmalig auf CD, eine Aufnahme des 1889 entstandenen A-CapellaLiedes „Die Nachtigall“ mit dem BR-Chor. Der musikalische Anhang bildet den perfekten Abschluss einer gelungenen Hörbiografie, die die Legende vom Leben des Komponisten trennt und die überaus aufschlussreiche und spannend erzählte Einblicke in die facettenreiche Persönlichkeit des bedeutendsten russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts gewährt.

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Wilhelm Killmayer Sommersneige – Summer’s End Eichendorff-Lieder / Hölderlin-Lieder / TraklLieder I / Schweigen und Kindheit Markus Schäfer / Siegfried Mauser mit Ersteinspielungen

WER 73702 (CD)

Fotos: © Thomas Becker

K

eine andere Epoche der Musikgeschichte ist so sehr mit Klischees überfrachtet wie die Romantik. Das tragische Schicksal einiger Protagonisten nährte die Mär einer Ära voll todunglücklicher Komponisten, die auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität unter dramatischen Umständen vom Tode dahingerafft wurden. Auch Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Leben bot reichlich Anlass für romantisierende Verklärungen und Legenden. Fundierte Informationen tun da not. Jörg Handsteins Hörbiografie „Der Wille zum Glück“ verbindet belegbare Erkenntnisse über Vita und Werk des Komponisten mit zahlreichen

WER 73512 (CD) Koproduktion: BR

Tonaufnahmen von 1963. Remastered in DSD 2012

John Cage | Tom Johnson

Chess Pieces / Four Dances / Rational Melodies / Counting Duets Trio Omphalos mit Ersteinspielungen

Salvatore Pichireddu

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Fordern Sie bitte unseren Katalog an! WERGO, Weihergarten 5, 55116 Mainz, Deutschland service@wergo.de | www.wergo.de


Fotos: © Naxos

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Klaus Heymann und Remy Franck

Klaus Heymann, Matthias Lutzweiler, Dr. Florian Drücke u.a. beim Jubiläumskonzert

30 Jahre NAXOS Das erfolgreichste Klassik-Label der Welt setzt zum Ende des Jubiläumsjahres noch einmal zum Schlusssprint an und blickt zurück auf drei Jahrzehnte Erfolgsgeschichte. Klaus Heymann

N

axos wird 1987 als Low-Budget-Label von Klaus Heymann in Hongkong gegründet. Die Grundidee: Klassik-CDs zum Mini-Preis, aber in bestmöglicher Klang- und Interpretationsqualität. Mit dieser Idee erobert Naxos im Handstreich große Anteile des Weltmarkts. Bis heute sind viele frühe Naxos-Aufnahmen legendär. Kaum eine Aufnahme wurde je aus dem inzwischen fast 9.000 Einspielungen umfassenden Katalog gestrichen. Bewährtes bleibt zeitlos! Naxos machte sich von Beginn an die Welt des Internets rasant zu Nutze: 1996 wurde die erste Naxos-Website geschaltet und noch heute ist Naxos.com mit einer viertelmillion Klicks monatlich die meistgelesene Adresse zum Thema Klassische Musik im Internet. Der nächste logische Schritt war, das gigantische Musikangebot auch per Internet zum Streaming zur Verfügung zu stellen. In einer Zeit, in der die deutsche Sprache das Wort „Musikstreaming“ noch gar nicht kannte, stellte die Naxos Music Library 2004 als erster Dienst dieser Art eine veritable Medien-Revolution dar! In den letzten Jahren setzte Naxos neben den musikalischen „Veteranen“ vermehrt auf junge Künstler im Programm.

30 Jahre NAXOS – Die Jubiläumsedition Mit Takako Nishizaki, Marin Alsop, Tianwa Yang, JoAnn Falletta, Maria Kliegel, Henning Kraggerud, Gabriel Schwabe, Leonard Slatkin, Antoni Wit, Idil Biret u. v. m. NAXOS 8.503293 (30 CDs)

Besonders hervorzuheben ist dabei die Violinistin Tianwa Yang, die 2014 und 2015 als NaxosExklusivkünstlerin gleich zweimal nacheinander mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet wurde. Ebenso freut sich das Label seit 2015 über Veröffentlichungen mit Boris Giltburg. Der sympathische Israeli russischer Abstammung stieg nach dem Gewinn des renommierten Klavierwettbewerbs Concours Reine Elisabeth in Windeseile zu einem der gefragtesten Pianisten auf und spielt heute mit den wichtigsten Orchestern der Welt. Auch er steht für die konsequent qualitäts­orien­ tierte Künstlerpolitik des

Labels. Nicht zu vergessen sind der viel gelobte Cellist Gabriel Schwabe, der aktuell sein bereits zweites Album bei Naxos veröffentlicht, Pianist Nicholas Rimmer, der als Duopartner von Yang und Schwabe eine Bestbesetzung ist und selbstverständlich Violinist Henning Kraggerud, der sich soeben seinen eigenen ECHO in der Elbphilharmonie abholen konnte. Auch auf die Diversifizierung des medialen Angebots zugunsten hochauflösender Multi-Media Formate reagierte Naxos kurzfristig mit der Gründung seiner eigenen audiovisuellen Abteilung. Das Jubiläumsjahr wurde natürlich dem Anlass entsprechend gefeiert! Bei einem GalaKonzert in München vor 250 geladenen Gästen spielten Naxos-Exklusivkünstler und Klaus Heymann wurde mit dem „Special Achievement Award“ des ICMA geehrt. Ein rundum gelungener Geburtstag! René Brinkmann

H. I. F. Biber: Missa Salisburgensis Claudio Monteverdi: Geistliche Werke Collegium Vocale 1704 Collegium 1704, Václav Luks NAXOS 2.110394 (DVD) / NBD0066 (BD)

Sergei Rachmaninow Klavierkonzert Nr. 2, Études-Tableaux Boris Giltburg, Royal Scottish National Orchestra, Carlos Miguel Prieto

Tianwa Yang, Boris Giltburg, Nicholas Rimmer und Gabriel Schwabe

NAXOS 8.573629 (CD)

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Im luxuriösen 3-D-Sound Fotos: © Daniel Wandke

Schuberts „Große“ in einer Neueinspielung mit Peter Gülke

Aktuelle Konzerte: 24. + 25. 11. 2017 Brandenburg

Die Brandenburger Symphoniker

(Smetana, Janácˇek, Dvorˇ ák)

F

ranz Schuberts C-Dur-Sinfonie trägt ihren Beinamen zu Recht: Die „Große“ sprengt schon allein mit 1 Stunde Spielzeit so ziemlich alle Dimensionen des bisher Dagewesenen. Peter Gülke deckt mit „seinen“ Brandenburger Symphonikern verborgene und weniger verborgene Anspielungen auf und stellt das ungekürzt im prallen SACD-Klang aufgezeichnete Riesenwerk damit in einen bislang kaum beachteten überraschenden Kontext. Dabei wäre diese Komposition beinahe in den weiten Falten der Musikgeschichte ver­ loren gegangen, hätte nicht Schumann die Partitur eher zufällig in einer Nachlasskiste des Bruders Ferdinand gefunden und zur Aufführung an Mendelssohn im Leipziger Gewandhaus gesendet: Ursprünglich war die Sinfonie von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien als zu schwer und zu lang abgelehnt worden – was für eine Enttäuschung für den gerade 30jährigen, der sich sicher war hiermit seinen Weg zur großen Sinfonie gefunden zu haben… Und ganz offensichtlich sucht Schubert in diesem Kraftakt den direk-

ten Vergleich mit den Werken des knapp 30 Jahre älteren Beethoven. Besonders zu Beethovens Siebter gibt es auffällige Parallelen: Ähnliche Bewegungsformen bei vergleichbar knappem thematischen Material, Tonartenbezüge zwischen den Sätzen, stockendes Voranschreiten im Trauermarsch – unter Gülkes kundiger Anleitung werden die vielfältigen Bezüge deutlich. Unerwartet dabei: Viel konsequenter als Beethoven führt Schubert die motivische Arbeit zu einem – oft unerbittlichen – Ende. Was für eine perfekte Formbeherrschung – und dabei hatte Schubert nie eine Aufführung seiner Sinfonie gehört… Und dann das schon damals berühmte „Ode an die Freude“-Thema: Als wollte er sei-

Franz Schubert (1797-1828) Sinfonie Nr. 8 C-Dur Brandenburger Symphoniker Peter Gülke, Ltg. MDG 901 2053-6 (Hybrid-SACD)

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18. + 19. + 20. 01. 2018 Brandenburg (Joseph Joachim, Haydn, Brahms)

28. 01. 2018 Potsdam (Joseph Joachim, Haydn, Brahms)

22. + 23. + 24. 02. 2018 Brandenburg (Weber, Dukas, Gilbert Vinter, Beethoven)

15. + 16. + 17. 03. 2018 Brandenburg (Wolf, Schönberg, Mahler, Mozart)

07. + 08. + 09. 06. 2018 Brandenburg (Beethoven, Bruckner)

www.brandenburgertheater.de

nem großen Kollegen zeigen, wie man es richtig macht, baut Schubert die „Europa-Hymne“ ganz selbstverständlich als motivische Entwicklung für wenige Takte in einen klassischen Sinfoniesatz ein – als hätte es Beethovens Zweifel zum Abschluss der Neunten nie gegeben, und einen Chor brauchte er dafür schon gar nicht… Peter Gülke zeigt mit dieser Einspielung und einem spannenden Begleittext einmal mehr, warum er mit höchsten musikalischen und wissenschaftlich-literarischen Auszeichnungen geradezu überhäuft wurde. Pünktlich zum 200jährigen Jubiläum des Brandenburger Theaters präsentiert er sich mit seinem Orchester in Bestform. Dem festlichen Anlass – und der herausragenden Bedeutung des Werkes – angemessen, erklingt Schubert: Sinfonie C-Dur im luxuriösen 3D-Sound – wahrhaft große Musik im großartigen Klanggewand! Lisa Eranos


CLASS : aktuell

Musik

Musik ist ein Geschenk

Following the river Musik entlang der Donau von Bartok, Constantinescu, Liszt, Paladi, Schubert, Todut˛aˇ Florian Mitrea

Dieser unergründliche Fluss verbindet Menschen von Zentral- und Osteuropa mitsamt ihren Geschichten, Liedern, Tänzen, Freuden und Leiden. Die Musik der Menschen, die am Ufer der Donau leben, ist faszinierend in ihrer Ausdrucksfülle. Acousence ACO-CD 13317

Johann Sebastian Bach Goldberg Variations BWV 988 Jean Muller, Klavier

Jean Muller hat sich mit Bach und den Goldberg-Variationen intensiv beschäftigt und legt mit diesem Album seine konzentrierten Einsichten vor. „Geradezu monolithisch ragen die Goldberg-Variationen aus Bachs Oeuvre als einziges Werk dieser Gattung heraus.“ hänssler CLASSIC HC17059

augustes auspices Bach & Westhoff à violino solo J. S. Bach: Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001–1006) J. P v. Westhoff: 6 Suites, 1696

Rachel Harris, Violine

Zwei Violinvirtuosen einander gegenüber gestellt, zwei Gipfel der Soloviolinliteratur des Barock. Die CD »augustes auspices« erzählt ihre spannenden Entstehungsgeschichten und stellt die Frage: Was wäre gewesen, wenn der junge Bach den älteren Westhoff in Weimar nicht getroffen hätte? Ist es Westhoff, dem wir verdanken, dass es Bachs Sonaten und Partiten gibt? Eine erstmalige Kombination der beiden Sammlungen ist jetzt auf 3 CDs zu hören. ambitus amb 96987 (3 CDs)

Wolfgang Amadeus Mozart Komplette Sonaten für Klavier und Violine Dimitry Sitkovetsky, Violine Antonio Pappano, Violine Konstantin Lifschitz, Klavier

„Wärmstens zu empfehlen!“ Fanfare „Die Klarheit der Gedanken, die schlanke Tongebung bei dosiertem Vibrato - Gebrauch, das Schnörkellose. Zusammen mit Antonio Pappano zeichnet Sitkovetsky ein lebendiges, zeitloses Mozartbild.“ FonoForum hänssler CLASSIC HC17013 (4 CDs)

Les Accords Nouveaux IV Esaias Reusner Suiten aus „Delitiae Testudinis“, 1667 und „Neue Lautenfrüchte“, 1676 Sigrun Richter, Laute

Esaias Reusner Junior gilt als erster bedeutender deutscher Meister der Lautensuite. Seine musikalische Sprache, die Farbigkeit der Harmonien und auch das Cantabile verbindet er mit der Eleganz des französischen Stils. Auch Reusner verwendet neue Stimmungen (Accords nouveaux) und unterschiedlichen Tonlagen der Laute, um durch besondere Klangfarben den Ausdruck seiner Musik zu vertiefen. ambitus amb 96970

Es war einmal… Märchenerzählungen von Robert Schumann und Jörg Widmann Jörg Widmann, Klarinette Tabea Zimmermann, Viola Dénes Várjon, Klavier

Wie viele Komponisten der Romantik fand Robert Schumann seine Inspiration in fantastischen Geschichten und Märchen. Jörg Widmann, unterstützt von Tabea Zimmermann und Dénes Várjon, zeigt zudem seine eigene, zeitgenössische Sichtweise auf das Thema. myrios classics MYR020

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Arien für Nancy Storace Marie-Sophie Pollak, Katharina Ruckgaber Accademia di Monaco, Joachim Tschiedel

„Sie entzückte ganz Wien.“ Nancy Storace hieß die aus London stammende Primadonna, die die Musikmetropole um 1785 beeindruckte; und die Liste der Komponisten, die speziell für ihre herausragende Stimme Arien schrieben, liest sich durchaus eindrucksvoll: Antonio Salieri, Giuseppe Sarti, Giovanni Paisiello, Vicente Martín y Soler – und besonders natürlich Mozart. Coviello Classics COV 91715


CLASS : aktuell

Bach Konzerte für 2 Cembalos Pierre Hantaï, Aapo Häkkinen

„Niemand geringeren als Pierre Hantaï hat sich der Finne Aapo Häkkinen an die Seite geholt, um auf dem gerade erschienenen Album seine international gefeierte Serie der Bach‘schen Cembalokonzerte mit den Konzerten für zwei Cembali fortzusetzen.“ Aeolus AE-10087

Raunächte LaCappella

Raunächte sind die zwölf kalten und dunklen Nächte nach Weihnachten, die gerade in Nordeuropa stark von Mythen, Spiritualität geprägt sind. Die Ensemble-Familie LaCappella hat Kompositionen ausgewählt, die diese ganz besondere Stimmung einfangen. Rondeau CD ROP6149

Franz Schubert Klavierwerke Gerhard Oppitz

Oppitz weiß, dass er immer das Woher und Wohin der Musik im Auge behalten muss, um die Spannung zu erhalten. „Ich muss mich einerseits der Musik ausliefern, mit und in ihr träumen und gleichzeitig einen kühlen Kopf für ihren Aufbau und ihre Zusammenhänge bewahren.“ hänssler CLASSIC HC16062 (12 CDs)

François Dufaut Werke für die Laute André Henrich

Vielfalt und Einfallsreichtum charakterisieren die sehr selten zu hörenden Lautensuiten François Dufauts. Seine Tonsprache wirkt wenig voraushörbar und hält das Ohr des Hörers wach, ganz im Sinne des rhetorischen Verständnisses von französischer Musik des Frühbarock. Aeolus AE-10296

Giuseppe Verdi La Traviata Marta Torbidoni, Mihail Mihaylov, Anton Keremidtchiev National Philharmonic Choir Sofia Philharmonic Orchestra Ljubka Biagioni

Felix Mendelssohn Bartholdy Komplette Sinfonien Heidelberger Sinfoniker Thomas Fey

Ljubka Biagoni legt mit dieser LiveEinspielung der von ihr inszenierten Oper „La Traviata“ ihr Debüt auf CD vor. Die Dirigentin zählt in München und in Sofia, wo sie seit 2013 Chefdirigentin der Sofia Symphonics ist, zu den prägenden, musikalischen Größen.

Seit vielen Jahren schon gilt Thomas Fey als einer der profiliertesten Interpreten der „Wiener Klassik“. CD-Einspielungen mit den Heidelberger Sinfonikern, darunter die Aufnahmen der Sinfonien von Mendelssohn, erhielten internationale Auszeichnungen.

Profil Edition Günter Hänssler PH16050 (2 CDs)

hänssler CLASSIC HC16098 (6 CDs)

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Henri Marteau – Lieder Vesselina Kasarova, Mezzosopran Galina Vracheva, Piano Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton Solo Musica SM 263

Wiederentdeckte Kostbarkeiten Dietrich Fischer-Dieskau (1925 -2012), als „Jahrhundertsänger“ und „klingendes Nationalheiligtum“ betitelt und vergöttert, hat nicht nur mit seinen Einspielungen des Standardliedrepertoires Maßstäbe gesetzt. Für die Musikwelt nicht weniger bedeutsam ist seine geradezu enzyklopädische Erschließung vor allem des deutschsprachigen Liedguts. Dazu darf man nun auch die bisher unveröffentlichten Fünf Schilflieder für Bariton op. 31 von Henri Marteau (1874 -1934) zählen, welche der Verwaltungsleiter der Internationalen Musikbegegnungsstätte Haus Marteau, Dr. Ulrich Wirz, im Schallarchiv des NDR entdeckt hat. Mit zwei weiteren von der Züricher Opernlegende Vesselina Kasarova und der Pianistin Galina Vracheva im Studio des SRF neu aufgenommenen Liedzyklen (op. 19c und op. 28) des zu Lebzeiten weltweit als Geigenvirtuose gefeierten Deutsch-Franzosen ist diese Rarität jetzt beim Label Solo Musica auf CD erschienen. Bei op. 19c handelt es sich um eine Welterst­ einspielung, denn dieses Werk war Jahrzehnte vergessen und fehlte auch in Marteaus Werkverzeichnis. 2016 wurde es zufällig in einem Berliner Musiknachlass entdeckt. Als Liedkomponist war Marteau bis dato nie mehr als ein Geheimtipp, der zu Lebzeiten immerhin den jungen Heinrich Rehkemper (1848 - 1949) als Interpreten seiner Lieder gewinnen konnte. Marteaus nur sechs Jahrzehnte währendes Leben war märchenhaft und hochdramatisch. Vor dem Ersten Weltkrieg avancierte er schnell vom Wunderkind zum nicht zuletzt an vielen Fürstenhöfen gefeierten Weltstar. Von 1900 -1907 in Genf und von 1908 -1914 als Nachfolger von Joseph Joachim in Berlin wirk­te er außerdem als höchst angesehener Violinpädagoge. Im Ersten Weltkrieg wurde sein Künstlertum im deutsch-französischen Anta­go­ nismus fast zerrieben. Die Klang­sprache dieser Kompositionen macht dieses persönliche Drama spürbar. Christian Porsch


CLASS : aktuell

Musik

Musik ist ein Geschenk

O Sanctissima – O du fröhliche Weihnachtslieder aus Deutschland und aller Welt – Vol. 2 MDR Rundfunkchor, Philipp Ahmann, Ltg.

Je mehr man sich in die wunderbaren Sphären der Weihnachtslieder begibt, desto tiefer möchte man eintauchen. Umso erfreulicher, dass der MDR-Rundfunkchor unter Philipp Ahmann auf seine erste, erfolgreiche CD mit weihnachtlichen Liedschätzen aus aller Welt diese zweite folgen lässt. GENUIN CLASSICS GEN 17484

Visions Caroline Adomeit, Violine Nadiya Kholodkova, Klavier

Werke von Transkriptionen von original Klavierkompositionen, u.a. elf neue Bearbeitungen von Caroline Adomeit, darunter drei neue Transkriptionen von Prokofiev und Werke von Barock, Klassik, Romantik und Impressionismus bis zum 20. Jahrhundert von Henry Purcells „Hornpipe“ bis Sergei Rachmaninovs „Italian Polka“. Thorofon CTH2639

Klassik für Kleine - Die besten Weihnachts-Chöre für kleine Ohren Dresdner Kreuzchor, Thomanerchor Leipzig, Wiener Sängerknaben, Tölzer Knabenchor

Sie gehören zu den im wahrsten Sinne klassischen Weihnachtsboten: Die deutschen Knabenchöre. Weihnachtsplatten der berühmten Knabenchöre gehören zu den Feiertagen wie Marzipan und Lebkuchen, und mit dem auf dieser CD enthaltenen Repertoire sind sie vor allem auch gut für die Weihnachtsuntermalung in den Kinderzimmern der Republik geeignet. Denn hier singen Kinder für Kinder. Igel Records IGELCD486

Avner Dorman *1975 Spices, Perfumes, Toxins! Konzert für zwei Schlagzeuger und Orchester Paul Dukas  (1865 - 1935) Der Zauberlehrling (L´Apprenti Sorcier) Daniel Townsend, Aron Leijendeckers Nordwestdeutsche Philharmonie Markus Huber

Avner Dormans Komposition ist eine Berei­cherung des Schlagzeug-Repertoires, ein unverkrampft komponiertes Stück, welches das Publikum an die Hand nimmt und auf einer faszinierenden instrumentalen Reise begleitet. ARS 38 234

„Des Königs Zauberflöte“ Mozarts Oper in einer Inszenierung von Enoch zu Guttenberg Orchester KlangVerwaltung, Chorgemeinschaft Neubeuern

Mit dieser Inszenierung greift Enoch zu Guttenberg eine Tradition des hohen Adels aus dem 19. Jahrhundert wieder auf: Man spielte Klassiker selbst! Die aristokratischen Akteure: Ludwig II. (Sarastro), Kaiser Franz Joseph (Tamino), seine Mutter Sophie (Königin der Nacht), die Kaiserin Elisabeth (Pamina) und andere Vertreter der damaligen politischen Elite. Farao D 108094 (2-DVD-Set) Farao A 108095 (Blu-ray Disc)

Alexander Maria Wagner The Moscow Recording Tschaikowsky Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll Op. 23 A. M. Wagner Sinfonie Nr. 2 Alexander Maria Wagner, Klavier RTV Symphony Orchestra Moscow Alexei Kornienko, Ltg.

Alexander Maria Wagner (*1995) hat das berühmteste Klavierdrama der Romantik ausgewählt, um es seiner eigenen zweiten Sinfonie als besonders harten Kontrast gegenüberzustellen. Seine Konzertinterpretation ist von ebenso unerhörter Reife wie seine Komposition. TYXart TXA 17096

The King’s Singers – Christmas Presence Werke von Lassus, Praetorius, Poulenc, Howells u.a. The King’s Singers

Die King’s Singers feiern nächstes Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Aus seinem ‚Wohn­ zimmer‘, der Kapelle des King’s College in Cambridge, präsentiert das legendäre Vokalensemble adventliche und weihnacht­ liche Werke aus sechs Jahrhunderten vom gregorianischen Choral bis Bob Chilcott. signum CLASSICS SIGCD 497

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Carl Nielsen (1865-1931) Konzert für Violine und Orchester op. 33 Kolja Blacher, Violine Duisburger Philharmoniker Giordano Bellincampix

Als einer der bedeutendsten skandinavischen Komponisten konnte Carl Nielsen an das Erbe von Niels Wilhelm Gade, Edvard Grieg und Johan Svendsen anknüpfen. Doch gehört er zu den Komponisten, die es in ihrer ganzen Bedeutung noch zu entdecken gilt.

Heinrich Heine, Robert Schumann Das lyrische Intermezzo Klemens Sander, Bariton Cornelius Obonya, Rezitation Uta Sander, Klavier

Ein spannendes, genreübergreifendes CDProjekt, das die Musik von Robert Schumann und die Gedichte von Heinrich Heine auf eine ganz neue Weise beleuchtet. ARS 38547

Solo Musica SM 273

Acousence ACO-CD 22115

Samuel Capricornus Jauchzet dem Herrn alle Welt Capricornus Ensemble Stuttgart Henning Wiegräbe

In der Nachfolge von Heinrich Schütz öffnete sich die deutsche Musik stärker italienischen Einflüssen – Musterbeispiel dafür ist Samuel Capricornus: Schütz‘ strenge Wortvertonung entwickelt er zu flüssiger Deklamation und fast schon schwelgerischer Klangentfaltung weiter, die Raum für eine zuvor ungeahnte sänge­ rische und spieltechnische Virtuosität schafft.

„Schubert müssen wir machen!“

„Awakening“ – Aufbruch und Erwachen Jugendwerke von Hugo Wolf, Richard Strauss, Alban Berg und Viktor Ullmann Äneas Humm, Bariton Judit Polgár, Klavier

Das CD-Debüt des 22-jährigen Äneas Humm, der trotz seines jungen Alters auf den Bühnen Europas und Amerikas sowie in Funk und Fernsehen große Erfolge feiert. Rondeau CD ROP6143

Coviello Classics COV 91721

Maria Callas Primadonna assoluta Puccini – Tosca; Bellini – Norma; Donizetti – Lucia Di Lammermoor; Verdi – La Traviata;Cherubini – Medea

In Dulci Jubilo - Werke von Dietrich Buxtehude und Freunden Theatre of Voices, Paul Hillier

Paul Hillier und sein Chor Theatre of Voices zählen unbestritten zu den welt­weit führenden Vokal-Ensembles. Mit In dulci jubilo erscheint nun etwas, auf das Fans der Gruppe schon gewartet haben: Ein herrliches Weihnachtsalbum des mit zwei Grammys ausgezeichneten Dirigenten und seinem ebenfalls Grammy-prämierten Chor. DaCapo 6.220661

Franz Schubert Symphonie Nr. 4 in c-Moll „Tragische“ Symphonie Nr. 7 in h-Moll „Unvollendete“ fertiggestellt von Mario Venzago Münchner Smphoniker, Kevin John Edusei (Ltg.)

„Wer sich auf die grandiose Gesangskunst der Callas einlässt, wird von ihr buchstäblich hinweggerissen.“ Maria Callas in legendären Aufnahmen und Partien. Arien, Raritäten und Kuriositäten ergänzen die hochwertig restaurierten Live-Einspielungen. Profil Edition Günter Hänssler PH17058 (12 CDs) Schicken Sie uns eine Weihnachtskarte und sagen Sie uns, in welcher Zeitschrift Sie CLASS: aktuell entdeckt haben. Unter allen Einsendungen verlosen wir von jeder Empfehlung drei Stück.

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… forderte der Chefdirigent der Münchner Symphoniker, Kevin Edusei, euphorisch vor einiger Zeit seine Musiker auf. Und jetzt ist das Ergebnis da: Franz Schuberts Symphonien Nr. 4 und 7 auf CD, die Tragische und die Unvollendete. Im Falle der 4. Symphonie darf man dem Beinamen keine übertriebene Bedeutung beimessen; was erscheint einem Neunzehnjährigen, und so alt war Schubert 1816, als er die Sinfonie vollendete, nicht alles tragisch! Wichtiger ist Edusei, dass Schubert, der ein großer Bewunderer Beethovens war, dennoch eine eigene Handschrift für seine Symphonie fand, wie die kühne harmonische Anlage des Werkes zeigt. Die Unvollendete allerdings trägt ihren Namen zu Recht. Ihr Schicksal liest sich wie ein romantischer Künstlerroman. Mehrere Anläufe unternahm Schubert. Bis 1822 waren ihm lediglich zwei Sätze gelungen, obwohl er offenbar weitere Sätze im Sinn hatte, wie ein spektakulärer Fund belegt. In einem Archiv des Wiener Männergesangsvereins entdeckte Christa Landon 1968 eine Partitur-Skizze mit zehn Takten eines dritten Satzes. Viele Musiker haben seitdem gewagt, das Werk zu ‚vollenden‘, „weil der Phantomschmerz so misslich ist“, sagt Edusei. Seine Einspielung folgt der „kreativen wie pragmatischen“ Version des Schweizer Dirigenten Mario Venzago, die sich auf die Erkenntnisse des britischen SchubertForschers George Grove stützt. Der zufolge war die erste Zwischenakt-Musik in h-Moll aus Schuberts Bühnenmusik „Rosamunde“ ursprünglich als Finalsatz zur h-Moll-Symphonie vorge­ sehen. Mit weiterem ‚Schubert Material‘ ergänzte Venzago auch die Skizze zum dritten Satz. „Wir konnten nicht widerstehen!“ lacht Edusei und freut sich auf die Veröffentlichung. Teresa Pieschacón Raphael


CLASS : aktuell

Klassik ganz groß Bereits zum fünften Mal veranstalten Class e.V. und klassik.tv Klassik:XL, das Konzert für Kenner und Liebhaber am Vorabend der „ECHO Klassik“-Gala – diesmal live gestreamt aus der St. Michaelis Kirche in Hamburg

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s ist das alljährlich wiederkehrende Mega-Ereignis der Klassikszene: Wenn sich die Crème de la Crème der klassischen Musik zur großen Gala anlässlich der Verleihung des „ECHO Klassik“ versammelt, wird an Glanz und Glamour nicht gespart. Und sie kommen alle über den hollywoodmäßig ausgerollten roten Teppich in den prachtvollen Bau der Hamburger Elbphilarmonie, chauffiert in dunklen Limousinen eines Großsponsors, vorbei am Blitzlichtgewitter dutzender Journalisten, Autogramme hier, Selfies dort: Jonas Kaufmann, Joyce DiDonato, Daniel Hope und Maurizio Pollini sind dieses Jahr unter den Ausgezeichneten; aus den Händen von Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert, Meret Becker, Katja Riemann oder Till Brönner nehmen die Geehrten die begehrten Edelstahltrophäen in Empfang, launig von Entertainer-Allzweckwaffe Thomas Gottschalk durch den kurzweiligen Abend geleitet. Und dass alle Ausgezeichneten wirklich ausgezeichnet zu musizieren verstehen, ist auch zu erleben: Jede und jeder, die oder der in der vom ZDF leicht zeitversetzt übertragenen Show seinen Pokal überreicht bekommt, darf eine kurze, wenige Minuten dauernde Kostprobe seines Könnens geben. Und so beschleicht mich jedes Jahr das Gefühl: Das kann doch nicht alles sein? So viel Show für ein kleines bisschen Musik? Schon die Tatsache, dass von 54 Preisträgern in diesem Jahr nur 11 ihren kleinen großen Auftritt vor laufenden Kameras haben, stimmt nachdenklich. Und so ist es gut, dass nur einen Steinwurf ent-

fernt der „ECHO“ aus anderer Perspektive zu erleben war. Diesmal in der keineswegs weniger prachtvollen Hauptkirche St. Michaelis, von Hamburgern wie Gästen liebevoll nur „Michel“ genannt, veranstaltete CLASS e.V., die Vereinigung unabhängiger Klassiklabels und Klassikvertriebe in Deutschland gemeinsam mit klassik.tv, dem Internetportal für klassische Musik „Klassik:XL“. Bereits zum fünften Mal konzertierten am Vorabend des großen Spektakels Preisträger aus diesem, aber auch vergangenen Jahren. Das Ereignis hat sich inzwischen vom Geheimtipp zum hochrangigen Konzertereignis gemausert. Der Titel ist überaus passend: Dass hier die Musik im Mittelpunkt steht, macht schon der Programmzettel deutlich. Mehr als eineinhalb Stunden pure Musik stehen drauf, statt Häppchenkost gab es zumeist komplette Werke zu hören, meisterhaft dargeboten von ebenfalls ausgezeichneten Künstlern, die zudem auf ihre Gage zu Gunsten der sozialen Arbeit der Kirchengemeinde St. Michaelis verzichteten. „Hausherr“ und Michel-Kirchenmusikdirektor Christoph Schoener eröffnete den vielfarbigen Abend angemessen festlich. Max Reger hat fünf von Bachs sieben Cembalotoccaten auf die Orgel übertragen. Dabei ging der Klangzauberer aus der Oberpfalz keineswegs zimperlich zu Werke: Nicht nur ergänzte er Vorschriften zur Artikulation und Dynamik, machte detaillierte Angaben zur Registrierung, er fügte dem Notentext – passend zu den Möglichkeiten der großen romantischen Orgel – auch weitere Stimmen hinzu. Das ist schon manchem von Regers Zeit-

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genossen sauer aufgestoßen. Doch für „trockene Holzköpfe“ und „phantasiearme Buchstaben­ gelehrte“ hatte Reger ohnehin nur beißenden Spott übrig. Für die gewaltige Orgelanlage des Michel ist Regers Neuschöpfung wie geschaffen. Die große Steinmeyer-Orgel auf der Westempore, die nach dem kriegsbedingten Verlust des Walcker-Instruments in den 1960er Jahren entstand, kann nach umfangreicher Restaurierung auch über eine gigantische fünfmanualige zentrale Spieleinrichtung mit der hochromantischen „Konzertorgel“

Axel Brüggemann


Christoph Schoener

ist: Mit siebzehn Registern steht oben im Michel eine voll ausgebaute Orgel, größer als manches Hauptinstrument in kleineren Kirchen. Durch die indirekte Übertragung der Orgeltöne über den Schallkanal entsteht der Eindruck eines sehr weit entfernten Klanges, den Schoener in Bach/Regers D-Dur-Toccata nach BWV 912 aufs überzeugendste einzusetzen weiß. Schon dieser Auftakt zeigte: Für Klassik:XL hätte es kaum eine bessere Wahl des Konzertortes geben können. Und ein weiterer Glücksgriff gelang den Veranstaltern: Axel Brüggemann führte durch

Cora Irsen

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das abwechslungsreiche Programm, und wie er es fertigbrachte, durch geschickte Interviews mit den beteiligten Künstlern nicht einfach nur den nächsten Programmpunkt anzukündigen, sondern überaus kundig und anspielungsreich die verschiedenen Darbietungen in Beziehung zueinander zu setzen, hatte ganz große Klasse. So folgte ihm das zahlreich erschienene Publikum auch mühelos von den Emporen der großen Kathedrale in den privaten Salon, welcher durch den Konzertflügel im Altarbereich markiert wurde. Marie Jaëll war zu Lebzeiten eine gefragte Pianis-

Fotos: © www.sinissey.de - Sinisa Wagner

aus dem Hause Marcussen von 1914 gemeinsam gespielt werden. Neben der schier unendlichen Fülle an Klangfarben entfalten die Instrumente im gemeinsamen Spiel eine frappante Raumwirkung – ist doch die „Konzertorgel“ auf der seitlichen Nordempore positioniert. Nochmals verstärkt wird dieser Effekt durch ein erst jüngst nach Walcker-Vorbild auf dem Dachboden errichtetes Fernwerk, dessen Klang über einen zwanzig Meter langen Schallkanal erst durch eine Rosette in der Decke ins Kirchenschiff gelangt. Wobei der Begriff „Fernwerk“ etwas irreführend


CLASS : aktuell

Thomas Fritzsch

tin, Camille Saint-Saëns widmete ihr sein erstes Klavierkonzert, und mit Franz Liszt, Johannes Brahms und Anton Rubinstein stand sie in regem Austausch. Besonders als Pädagogin – Albert Schweitzer gehörte zu ihren Schülern – leistete sie Pionierarbeit: Als eine der ersten erforschte sie die physiologischen Abläufe in Hand und Arm beim Klavierspielen und baute darauf ihre Unterrichtsmethode auf. Cora Irsen hat Marie Jaëll als Komponistin wiederentdeckt. Und folgerichtig wurde die Gesamtaufnahme ihrer Klaviermusik auf vier CDs beim deutschen Label querstand in diesem Jahr mit dem ECHO für die herausragende editorische Leistung ausgezeichnet. Parallel dazu hat Cora Irsen auch eine Monografie über Leben und Werk Marie Jaëlls vorgelegt. Bei „Klassik:XL“ brachte sie eine Auswahl aus Jaëlls umfangreichem Schaffen aufs Podium. Anfängliche Bedenken des Rezensenten wegen akustischer Unzulänglichkeiten – schließlich ist das Klavier nicht unbedingt das nächstliegende Instrument für die große Kirche – zerstreute Cora Irsen schon mit den ersten Anschlägen. Technisch brillant und so fein und nuanciert gelang ihr die Präsentation der gehaltvollen Miniaturen, dass man sich trotz des großen Raumes in die intime Atmosphäre des Pariser Salons versetzt wähnte. Worauf gleich die nächste Überraschung folgte: Denn von belangloser Salonunterhaltung ist Jaëlls Musik weit entfernt. Schon im Titel eines ihrer Klavierzyklen – 18 Pièces d´après la lecture de Dante – der sich auf Dantes „Göttliche Komödie“ bezieht, offenbart sie einen hohen Anspruch. Wie sich die ostinaten Tonwiederholungen in

Eva van Grinsven und Lars Niederstrasser

„Appel“ ins Ohr bohren, lässt die eindringlichvisionären Klangbilder eines noch weit entfernten Ravel vorausahnen. Dass Jaëll auch die große Form beherrschte, zeigte ein Ausschnitt aus der Sonate in C-Dur, die Lust darauf macht, mehr von dieser bislang viel zu wenig beachteten Komponistin zu erfahren. Dass Georg Philipp Telemann zu wenig beachtet wäre, kann man nun nicht gerade behaupten. Und dennoch gibt es bei ihm, der so unglaublich produktiv war, immer wieder Neues zu entdecken. Lange als „Vielschreiber“ apostrophiert, begeistert Telemann immer wieder mit der konstant außergewöhnlich hohen Qualität seiner Werke. Seine zwölf Fantasien für Viola da Gamba galten als verschollen; erst 2016 entdeckte Thomas Fritzsch nach langer Recherche und Hinweisen eines französischen Kollegen ein Exemplar des seinerzeit im Eigenverlag publizierten Zyklus in einem Privatarchiv. Die Gambe war zu Telemanns Zeiten eigentlich schon nicht mehr up to date; Violoncello und Violine haben dem Lieblingsinstrument der Aristokratie den Rang abgelaufen. Dass Telemann dennoch einen gleich zwölfteiligen Zyklus komponiert und diesen auch noch auf eigene Kosten verlegt, deutet auf ein besonderes Anliegen hin. Zwei Fantasien gab Thomas Fritzsch an diesem Abend zu Gehör, und man verstand sofort, warum sich die Gambe lange so unglaublicher Beliebtheit erfreute. Die Verbindung von gesanglichem Spiel, wie es den Streichinstrumenten eigen ist, mit den harmonischen Möglichkeiten zum Beispiel einer Gitarre in einem Instrument ist so nur auf der Viola da

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Gamba zu verwirklichen. Ihr leicht nasal-silbriger Klang erinnert etwas an die menschliche Stimme – wie geschaffen für alle möglichen Formen des sehr persönlichen Ausdrucks. Für das Spiel im privaten Kreis konzipiert, machte sich der Rezensent Sorgen um die Wahrnehmbarkeit im weiten Rund der Michaeliskirche. Aber Thomas Fritzsch verstand es, sein Publikum in den Bann zu ziehen: Kein Husten und Rascheln störte den feinen Vortrag, der von tänzerischer Leichtigkeit bis zu tief empfundenem Ausdruck reichte, und der zarte Ton des Instruments füllte den weiten Raum mit zauberhaften Klängen. Da verzieh man es leicht, dass das „Wiederherstellen der göttlichen Ordnung“, wie das sorgfältige Stimmen der sechs Saiten bei den Gambisten von alters her genannt wird, anfangs einige Zeit in Anspruch nahm. Wenn schon die Orgeln im Raum weit verteilt sind, so haben sich die Veranstalter gedacht, könnte man doch auch die anderen Ensembles an verschiedenen Stellen der Kirche positionieren. Und so dauerte es einige Zeit, bis der Rezensent den Moderator Axel Brüggemann sehr hoch oben auf der Südempore entdeckte. Dort, in der Nähe der vierten Michel-Orgel (die Carl-PhilippEmanuel-Bach-Orgel kann, da sie nicht gleichschwebend gestimmt ist, nicht mit den anderen Instrumenten gemeinsam gespielt werden), unterhielt er sich mit der Saxofonistin Eva van Grinsven, und ihrem Partner Lars Niederstrasser über ihre besondere Beziehung zu Russland. Für ihr „Rendez-vous Russe“ mit verschiedenen kammermusikalischen Besetzungen erhielt van


CLASS : aktuell

Dogma Chamber Orchestra

Grinsven in diesem Jahr den begehrten „ECHO“ – und manch privates Detail erfuhr man obendrein. Für Klassik:XL wählten die Beiden zunächst eine Reihe kurzer Duos von Béla Bartók, übertragen für zwei Baritonsaxofone nach den Duos für zwei Violinen und kleinen Klavierstücken. Es war ein beeindruckendes Erlebnis, wie diese beiden Ins­ trumente mit ihrer volltönenden dynamischen Bandbreite und feinsten Vibratowirkungen die Kirche bis in den letzten Winkel sonor zu füllen vermochten. Besonders im berühmten „Mückentanz“ erhielten „Stiche“ der Plagegeister quasi

naturidentische Intensität. Wenngleich, bedingt durch das Register der Instrumente, vielleicht „Hummelflug“ angemessener gewesen wäre … Freuen konnte man sich jedenfalls schon auf ein Wiederhören im zweiten Teil des Programms. Auf der gegenüberliegenden Chorempore, auf der im Michel auch die großen Oratorien aufgeführt werden, hatte sich inzwischen das Dogma Chamber Orchestra positioniert. Das sechzehnköpfige Streicherensemble spielt traditionell ohne Dirigent; Leiter und spiritus rector Mikhail Gurewitsch hält vom Pult des Konzert-

Harald Vogel

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meisters alle Fäden in der Hand. Wie gut das funktioniert, zeigte die Darbietung von Benjamin Brittens „Simple Symphony“, die, anders als der Titel vermuten lässt, allerhöchste Anforderungen an die Ausführenden stellt. In vier Sätzen verarbeitet Britten Erinnerungen an seine Kindertage. Die anspielungsreichen Satztitel folgen einem alliteratorischem Prinzip: „Boisterous Bourrée“, „Playful Pizzicato“, „Sentimental Sarabande“ und „Frolicsome Finale“ beziehen sich einmal auf historische Formen, bezeichnen aber gleichzeitig sehr bildhaft den angestrebten Charakter jedes Teils. Mit dynamischer Wucht eröffnete das junge Ensemble die Bourrée, und die enormen Kontraste von kraftvollem Fortissimo und fast verschwindend leisem Pianissimo sollten die Darbietung auch im Weiteren prägen. Dazwischen gab es verblüffend präzises Zusammenspiel im gefürchteten Pizzicato-Satz, zu bewundern in dem tatsächlich kein einziger Ton gestrichen wird. Und dann die schmerzlich-süße Intensität der im wörtlichsten wie besten Sinne „sentimentalen“ Sarabande zu genießen. Kitsch? Vielleicht. Wunderschön allemal… Mit einem Fortissimoschlag wurde das laut Bravo rufende Publikum nach immerhin bereits gut anderthalb Stunden in die Pause entlassen. Vielleicht ist das die Gelegenheit sich über CLASS zu informieren. Durch die Kooperation von CLASS und klassik.tv wird die Veranstaltung nun schon zum fünften Mal durch einen Live­ stream im Internet übertragen – Schnitte, wie bei der „ECHO Klassik“-Gala aus der Elbphil­ harmonie durch die zeitversetzte Übertragung


CLASS : aktuell

Thomas Günther

üblich, sind damit natürlich ausgeschlossen; dass sie auch nicht notwendig sind, zeigte auch dieser Abend wieder einmal überzeugend: Das Konzert-Video ist weiterhin auf der Website von klassik.tv unter dem Link www.klassik.tv/live/ klassikxl-2017/ nachzusehen. Zudem wurde der Ton in aufwändiger Mehrkanal­technik aufgezeichnet – auf die audiophile Umsetzung der sagenhaften Raumwirkung des Michel darf man sich schon jetzt freuen. Der zweite Teil des Konzerts begann wie der erste mit Orgelmusik – und doch so ganz anders. Harald Vogel ist der Nestor des historischen Orgelspiels. Ungezählt sind die Instrumente, deren Restaurierung er angestoßen oder begleitet hat, Generationen von jüngeren Organisten holten sich beim ihm Rat, und mit dem Organeum im ostfriesischen Weener hat er dem auch touristischen Interesse an Orgeldenkmälern ein institutionelles Zentrum gegeben. Die norddeutsche Orgeltradition steht – wer möge es dem in der Nähe Bremens Geborenen verdenken – im Mittelpunkt seines Interesses. Dafür steht wie kaum ein anderer Dietrich Buxtehude, der viele Jahre an der Lübecker Marienkirche wirkte. Johann Sebastian Bach machte sich zu Fuß auf nach Lübeck, um den bereits hochbetagten Buxtehude zu hören und wohl auch bei ihm Unterricht zu nehmen. Für Klassik:XL wählte Vogel die Toccata D-Dur BuxW 139, eine damals beliebte Battaglia-Komposition, in der weniger die Schlacht an sich als vielmehr Dank für den Frieden und Gedenken an die Opfer zu Ausdruck kommt, wie der Organist kenntnisreich

Henning Kraggerud und Clare Hammond

im Interview mit Axel Brüggemann erläuterte. Vor allem der zweite Teil mit seinen signalartigen Trompetenfanfaren ließ noch Assoziationen an das Kampfgetümmel aufkommen, während ein ergreifendes Lamento kurz vor Schluss an die Gefallenen und Verwundeten erinnert, bevor das Werk in glanzvollem D-Dur endet. Überraschend an Vogels Darbietung: Wie „barock“ die große romantische Orgel unter kundiger Registrierung doch klingen kann! Einen großen Sprung nach vorn gab es nun zu überbrücken: Thomas Günther erhielt in diesem Jahr einen „ECHO Klassik“ für seine vier Super Audio CDs umfassende Einspielung von Werken russischer Futuristen. Diese Gruppe von Komponisten, zu denen Arthur Lourié, Aleksandr Mosolov oder Nikolaj Roslavets gehörten, knüpften an das Spätwerk Aleksandr Skrjabins an, der auf seine Weise die Tonalität des späten 19. Jahrhunderts überwand. Ab 1909 kam der Einfluss italienischer Futuristen hinzu, mit denen sich die russischen Künstler durchaus kritisch auseinandersetzten. Für die Italiener um Filippo Marinetti standen die Verherrlichung von Gewalt, Krieg, Geschwindigkeit und Rücksichtslosigkeit, mithin die Überwindung alles Überkommenen, vor allem der Moral ganz oben auf der Agenda. Das passte hervorragend ins vorrevolutionäre Russland und wurde – als Begründung einer neuen Tonsprache – begeistert aufgenommen. Dass sich die Revolution dann ganz anders entwickelte und spätestens mit Stalins Gewaltherrschaft die großen Utopien zugunsten einer ziemlich rückwärtsgewandten Kunst des Sozialis­ti­schen

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Realismus abserviert wurden, führte zu gebrochenen Künstlerpersönlichkeiten; im Falle Mosolovs, der gar eine Zeit lang schwerste Zwangsarbeit im Gulag verrichten musste, zu einer grundsätzlichen Kehrtwende und zu ausgedehnten Reisen an der Peripherie des sowjetischen Riesenreiches, um fernab der kulturellen Zentren die Musik der ländlichen Bevölkerung zu studieren. Thomas Günther präsentierte zwei Werke von Arthur Lourié und eines von Aleksandr Mosolov, die – vielleicht durch den Abstand von gut hundert Jahren – ihren zerstörerischen Schrecken verloren zu haben schienen. Das ganz Neue erschließt sich aus dem historischen Kontext: Klangliche Statik ersetzt harmonische Entwicklung, das momentane Ereignis steht vor der thematischen Feinarbeit. Alles in Allem scheint die Tonsprache jedoch sofort verständlich – sicher auch ein Verdienst Thomas Günthers, der als ausgewiesener Experte für neue und neueste Musik auch zahlreiche Klavierstücke aus der Taufe gehoben hat. Veränderung der ganz anderen Art hatte Ole Bull im Sinn, als er Mitte des 19. Jh. seine norwegische Heimat in Richtung USA verließ. Der äußerst begabte Geiger hatte sich Paganinis Tricks abgeschaut und experimentierte mit Manipulationen an der Violine, zum Beispiel einem extrem flachen Steg, um polyphones Spiel zu erleichtern. In den USA wollte er die norwegische Musik etablieren – der Erfolg blieb mäßig. Bulls „Melancholie“ kostete Henning Kraggerud gemeinsam mit dem Dogma Chamber Orchestra voll aus: Das herzzerreißende Stück komponierte Bull zur Bewältigung des Todes seiner


CLASS : aktuell

Leo van Doeselaar

ersten Ehefrau. Das schluchzt und fleht, dass es eine Freude ist – und die Tränen kommen. Kraggerud und Dogma fanden genau den richtigen Ton für diese kleine Miniatur: Ein bisschen mehr, und es wäre unerträglich schmalzig, ein bisschen weniger, und es wäre öd und leer gewesen. So aber wurde das Publikum zutiefst angerührt von einer Stimmung, die den Verlust unmittelbar nachfühlen lässt. Da bedurfte es einiger Überleitungskunst zu einem erneuten Auftritt des Saxofonduos van Grinsven/Niederstrasser. Vier Stücke aus Mozarts „Zauberflöte“ hatte sich das Paar aufs Pult gelegt: „Bei Männern, welche Liebe Fühlen“, „Der Vogelfänger bin ich ja“, „O Isis und Osiris“ und „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ wurden im bläserischen Kleinformat präsentiert – ein typisches Zugabenprogramm, das seine Zugkraft aus der Bekanntheit der Melodien ebenso bezieht wie aus der souveränen Performance der beiden Niederländer. Und so huschte ein Schmunzeln über manches Gesicht im Michel – schwer zu sagen, ob es die klammheimliche Freude über den jugendlich-unverfrorenen Umgang der Künstler mit der berühmten Vorlage war, ein Schritt, den man selbst zu gehen nie gewagt hätte, zu groß der Respekt vor dem „göttlichen Mozart“ – spätestens bei der „Ra­ che“-Arie löste sich die Spannung angesichts dieser großartig-absurden Vorstellung. Für seine Einspielung mit Mozarts Violinkonzerten erhielt Henning Kraggerud seinen diesjährigen „ECHO“. Der norwegische Geiger greift selbst auch gerne zum Bleistift, um zu

komponieren. Selbstverständlich stammen die Kadenzen zu Mozarts Konzerten aus seiner Feder. Für Klassik:XL präsentierte Kraggerud drei Werke aus dem 24teiligen Zyklus „Equinox“. Sein Landsmann und Erfolgsautor Jostein Gaarder lieferte ihm 24 Texte zu den 24 Zeitzonen der Erde, und Kraggerud machte daraus 24 Stücke in 24 unterschiedlichen Tonarten, so wie Bach es mit dem „Wohltemperierten Klavier“ vorgemacht hatte. Gaarders Text, der inzwischen auch in englischer Übersetzung nachzulesen ist, verbindet Orte rund um die Welt mit Empfindungen und Seelenzuständen, die Kraggerud wiederum – ganz in barocker Tradition – bestimmten Tonarten zuordnet. Und so erklang die Imitation eines Balalaika-Orchesters, tanzende Kinder waren zu hören, ein Greis, der angesichts der Jugend über die Vergänglichkeit des Lebens sinniert, und ein japanischer Mönch, der von der Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit in den Suizid getrieben wird. Clare Hammond übernahm souverän, einfühlsam und unaufgeregt den Klavierpart – keine leichte Aufgabe, ist „Equinox“ doch ürsprünglich für die Begleitung mit großem Orchester vorgesehen. Das große Orchester kam dann ganz zum Schluss noch einmal zum Einsatz: Leo van Doeselaar spielte auf den drei Orgeln des Michel den dritten und vierten Satz aus Mendelssohns „Reformatiossymphonie“ in der Übertragung von William Thomas Best. Drei Tage vor dem Jahrhundertereignis, dem Gedenken an den 500. Jahrestags des Beginns der Reformation in Deutschland, war dies eine naheliegende und Ausgabe 2017/4

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zugleich kaum zu übertreffende Wahl. Denn van Doeselaar erschuf mit den 145 Registern, die ihm zur Verfügung standen, eine Symphonie an Klangfarben, die über die Imitation eines Orchesters weit hinausgingen. Der tief-roman­ tische Klang des Marcussen-Werks vermochte die Atmosphäre des wie eine Einleitung zum grandiosen Finale wirkenden dritten Satzes hervorragend einzufangen. Und als dann beim Einsatz des Chorals „Ein feste Burg ist unser Gott“ die Melodiestimme von der Großen Orgel an die Konzertorgel und wieder zurück gegeben wurde, schien der ganze Kirchraum von Luthers Statement erfüllt. Da verzieh man Mendelssohn, dass er die rhythmische Kraft und spätmittel­ alterliche Harmonik von Luthers originaler Melodie zugunsten eines gefälligen Vierviertels und eines heroisch-reinen Dur gebändigt hatte. Die komplexe Struktur des fugierten Finalteils erhielt durch Doeselaars Registrierung eine durchsichtige Transparenz – und der Organist die Bewunderung des Publikums, denn die vielen Stimmen und Farben in zwei Hände und zwei Füße zu bekommen, erfordert nicht nur größte Fingerfertigkeit, sondern auch höchste intellektuelle Präsenz. Der Schluss der Symphonie mit dem Choral in grandioser Vergrößerung ist im Original schon großartig; im gewaltigen Plenum der drei Orgeln und der fantastischen Akustik der St. Michaeliskirche ging das im wahrsten Sinne unter die Haut. Lang anhaltender Beifall belohnte den krönenden Abschluss eines extra-langen, erfüllten und erfüllenden Musikabends. Klaus Friedrich


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Kammermusik

Felix Mendelssohn Bartholdy Werke für Cello und Klavier

Konzertante Variationen D-Dur op. 17 Sonate Nr. 1 B-Dur op. 45 Sonate Nr. 2 D-Dur op. 58 Romance sans paroles D-Dur op. 109 Assai tranquillo (Albumblatt) h-Moll (1835)

Christian Poltéra, Cello Ronald Brautigam, Fortepiano BIS-SACD-2187

Dass Felix Mendelssohns Schwester Fanny eine hoch talentierte Musikerin war, ist bekannt. Weniger bekannt sind zwei andere Geschwister der beiden: Rebecka, eine begabte Sängerin und Paul, der ein sehr kompetenter Amateur­ cellist war (seine Brötchen verdiente er in einer Bank). Ihm sind wohl die meis­ ten Cellowerke aus Felix‘ Feder zu ver­ danken. Für deren Einspielung benutzt Brautigam denselben Pleyel-Flügel von 1830, mit dem er bereits die „Lieder ohne Worte“ aufgenommen hatte. Und Poltéra hat sein Stradivari-Cello von 1711 mit Darmsaiten bezogen, wie sie zu Mendelssohns Lebzeiten üblich waren.

Im authentischen Klanggewand So gelingt es beiden Musikern, einen zugleich beweglichen, transparenten und kräftigen Klang zu erzeugen, ideal für Mendelssohn und ideal für uns heu­ tige Hörer, denn das Klangbild lässt uns erahnen, wie diese Werke wohl zu ihrer Zeit in den Salons zu hören waren.

Niccolò Paganini 24 Capricen für Violine solo Sueye Park, Violine

W.A. Mozart (1756 - 1791) Frühe Streichquartette Vol. 3 KV 158, 160, 171 & 172 Leipziger Streichquartett

BIS-SACD-2282

MDG 307 2044-2

Robert Fuchs (1847-1927) Sämtliche Streichquartette op. 58, 62, 71 & 106 Minguet Quartett MDG 603 2050-2

Abschluss einer sehr besonderen Edition: Mit vier weiteren Werken be­ schließt das Leipziger Streichquartett die Reihe der frühen Streichquartette, die Wolfgang Amadeus Mozart im Alter von 16 Jahren auf Reisen nach Mailand und Wien komponierte. Damit ist auch die Leipziger Gesamtschau der Mozart­ schen Quartette komplett, und man fragt sich, warum diese jugendfrischen Stücke so im Schatten der zehn be­ rühmten „großen“ Quartette stehen.

Klassisches Musikvergnügen Den Zwängen der Salzburger Enge entronnen, saugt der junge Mozart be­ gierig auf, was gerade angesagt ist: In Mailand wird die dreisätzige italienische Sinfonia zum Vorbild, in Wien ist es die viersätzige Sonate der beginnenden Wie­ ner Klassik. Und Mozart belässt es nicht bei der gekonnten Stilkopie: Einfalls­ reich variiert er das modische Modell. So erhält der Kopfsatz von K 171 eine langsame Einleitung, die als Coda des Satzes wieder auftaucht... Mit filigraner motivischer Arbeit hält sich der Komponist nicht auf. Dafür ist der Einfallsreichtum an Themen und Melodien viel zu groß, dafür bekommt das Publikum aber auch ständig Neues geboten. Und manch langsamer Satz scheint vor Spannung gar zu bersten! Historisch informiert und mit Bögen aus der Entstehungszeit der Quartette begibt sich das Leipziger Streichquartett auf die Suche nach einem zeitgemäßen Klang, der Ideen der Klangrede ebenso aufnimmt wie den großem Bogen und singende Kantilenen. So wirken Mozarts Jugendquartette entschlackt, ohne an klanglicher Raffinesse zu sparen: Ein im besten Sinne „klassisches“ Musik­ vergnügen!

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Paganinis Capricen gehören zu den wenigen Werken, die nicht nur im Be­ reich der Klassik sich höchster Beliebt­ heit erfreuen, sondern auch in der Un­ terhaltungsmusik eine Heimat fanden. Denn das Thema wurde u.a. von Benny Goodman und Andrew Llyod Webber verwendet. Und bis heute sind die Capricen ein Prüfstein für alle Geiger, denn Paganini setzt die ganze Palette der Violintechniken ein, und das auch noch in Kombinationen, Techniken, die zu seiner Zeit als nahezu unspielbar betrachtet wurden.

Nahezu unspielbar Dabei sind sie zugleich von un­ gewöhnlicher musikalischer Schönheit und Sensibilität. Die 2000 geborene koreanische Geigerin Sueye Park stellt sich auf ihrer ersten Veröffentlichung dieser Herausforderung. Park studiert seit 2009 in Berlin und traf auf Paganini zum ersten Mal im Alter von 11 Jahren, als sie das 1. Violinkonzert Paganinis in der Komischen Oper Berlin spielte.

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Als die Orchester immer größer, die Instrumentierungen immer raffinierter und die Klänge immer bombastischer wurden, komponierte Robert Fuchs – Streichquartette. In der wohl intellektu­ ellsten Gattung der Musik stellte er dem auf Äußerlichkeiten schielenden Musik­ betrieb sein intimes Bekenntnis gegen­ über. Als aufstrebend-junge Formation hat das inzwischen vielgefragte Minguet Quartett Fuchs´ vier Quartette dem Dorn­ röschenschlaf entrissen; die neu aufge­ legte Sonderedition bereitet auch heute noch ungetrübtes Hörvergnügen.

Großmeister Denn Fuchs hat durchaus etwas zu erzählen. Nicht umsonst gingen die Avantgardisten bei ihm in die Lehre: Gustav Mahler, Richard Strauss und Hugo Wolf gehörten zu seinen Schülern, außer­ dem Alexander von Zemlinsky, Erich Wolfgang Korngold und Franz Schreker. Dass Fuchs das Experimentieren seinen Schülern überließ, zeigt die wahre Größe des Meisters. Das Minguet Quartett trifft den Wiener Tonfall dieser zu Unrecht vernachläs­ sigten Kompositionen perfekt. Fuchs´ klare Formensprache und verschwen­ derischer Motivreichtum sind bei den vier Kölnern in den besten Händen. Es hat auch sein Gutes, wenn jemand nicht alle Moden mitmacht – für so viel Schön­ heit, wie in diesen vier Quartetten steckt, kann man eigentlich nur dankbar sein!


Kammermusik

Amanda Maier Werke Vol. 2 Sonate h-moll für Violine und Klavier 9 Stücke für Violine und Klavier Vier Lieder Sabina Bisholt, Sopran Cecilia Zilliacus, Violine Bengt Forsberg, Klavier dbProductions DBCD182 (Ersteinspielung)

Immer noch und immer wieder hält die Musikgeschichte ungehobene Schätze und Überraschungen bereit. Das schwedische Label dbProductions nimmt sich jetzt der Werke von Amanda Maier an. Die war verheiratet mit Julius Röntgen (einem Komponisten und Vet­ ter des berühmten Physikers Wilhelm Conrad Röntgen) und eine enge Freun­ din von Edvard Grieg, Johannes Brahms, Anton Rubinstein, Joseph Joachim und vielen anderen Größen ihrer Zeit.

Erfolgreiche Geigerin Die junge Schwedin (ihr Vater, Carl Eduard Maier, stammte aus Riedlingen) erhielt eine Ausbildung an Geige und Klavier und studierte schließlich in Leipzig als Privatstudentin von Engel­ bert Röntgen, Carl Reinecke und Ernst Friedrich Richter. Nach der sehr erfolg­ reichen Uraufführung ihres Violinkon­ zerts in Halle an der Saale (1875) mit ihr selbst als Solistin folgten ausgedehnte Konzerttourneen. Nach ihrer Heirat 1880 trat sie nicht mehr als Violinistin auf, komponierte aber weiterhin. In Amsterdam, wohin sie mit ihrem Mann übersiedelt war, führte sie einen sehr beeindruckenden musikalischen Salon.

Das Cello in Kriegszeiten Debussy, Bridge und Fauré: Sonaten Webern: Drei kleine Stücke Saint-Saëns: Der Schwan Parry: Jerusalem Novello: Keep the home-fires burning Trad: God save the King God save the King Steven Isserlis, Cello und Trench Cello Connie Shih, Klavier BIS-SACD-2312

Dieses Album ist eine Zeitreise – zurück in die Zeit des 1. Weltkriegs. Isserlis beginnt das Programm mit drei Sonaten, die in diesen Jahren kompo­ niert wurden. Doch dann tauscht er seine „Marquis de Corberon“-Stradivari gegen ein Instrument, das einst in den Schützengräben vor Ypern gespielt und gehört wurde: ein sogenanntes Trench Cello. Harold Triggs, der Besitzer des Instruments, brachte es aus Flandern nach England mit. Die Idee: Der Kor­ pus ist zugleich die Schachtel, in der Griffbrett und Wirbel, Stachel und Steg sowie der Bogen transportiert werden können. Nach etwa fünfminütigem Auf­ bau wird so aus der Kiste ein spielbares Cello. Andere Soldaten bauten sich auf ähnliche Weise Geigen oder Flöten aus allem Material, das sie halt auf den Schlachtfeldern finden konnten.

NEU BEI ONDINE

Im Blickpunkt

CLASS : aktuell

OLLI VIRTAPERKO Romer's Gap Multikolor Ambrosian Delights Perttu Kivilaakso Jonte Knif Joonatan Rautiola Jyväskylä Sinfonia Ville Matvejeff Das einzigartige Konzert „Romer's Gap for amplified cello and sinfonietta“ und weitere außergewöhnliche Werke des Komponisten Olli Virtaperko. Solist bei „Romer's Gap“ ist Perttu Kivilaakso, bekannt als Mitglied der Cello-MetalBand Apocalyptica.

ODE1305-2

Kunst in schlimmer Zeit Diese Instrumente legen so ein sehr bewegendes Zeugnis ab von der un­ stillbaren Suche der Menschen nach Schönheit und Freude, selbst auf die­ sen fürchterlichen Schlachtfeldern. Mit der einfühlsamen Unterstützung durch Connie Shih (selbst Klaviere fanden den Weg in die Schützengräben!) entführt uns Steven Isserlis auf ein Schlachtfeld nahe Ypern während einer kurzen Feuer­ pause zu Soldaten, die ausruhen, nach Hause schreiben oder Karten spielen und mit Hilfe der Musik von einem an­ deren Leben an anderem Ort träumen.

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Im Vertrieb der NAXOS Deutschland GmbH www.naxos.de · www.naxosdirekt.de


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Kammermusik

Moments Musicaux Werke von Schubert und Janequin Thélème

Barockmusik

Alte Musik

Amor Y Locura Los Temperamentos

Johann Sebastian Bach

Arcantus arc 17005

Coviello CLASSICS COV 91724

„Clément Janequin und Franz Schu­ bert haben einander natürlich nicht gekannt, aber dennoch stellen wir uns hier vor, wie sie gemeinsam die Freu­ den des Gesprächs und der Musik ge­ nießen.“ Das Ensemble Thélème zeigt überraschende Parallelen zwischen zwei Meistern ganz unterschiedlicher zeit­ licher und geografischer Provenienz: Der Wiener Frühromantiker Schubert wählte zu Beginn des 19. Jahrhunderts oft ähnliche Sujets der Liebe oder der Kontemplation wie sein französischer Kollege Janequin fast 300 Jahre früher. Es war also nicht nur die chronische Geldnot, die beide gemeinsam hatten, sondern auch ein musikalischer Gestus von ungewöhnlicher Frische.

Seelen­ verwandtschaft über Jahrhunderte Beide Komponisten sind hauptsäch­ lich für ihre Lieder bzw. Chansons be­ kannt. Auch die besonders sorgfältige Textbehandlung, die durchdachte Aus­ wahl der Autoren und die raffinierte Vertonung der Texte mit detailliert aus­ gearbeiteter Begleitung sind weitere Gemeinsamkeiten. „Moments Musicaux“ sind die Essenz dieser Lieder – das Ensemble macht in seiner sensiblen In­ terpretation die Epochengrenzen über­ windende Seelenverwandtschaft der Komponisten spürbar.

Liebe und Wahnsinn – diesem Spannungsfeld widmet sich die neue Veröffentlichung des Ensembles Los Temperamentos. Und schon der Anfang überrascht. Fast zaghaft schleichen sich die ersten Töne der Barockgitarre in das Gehör – hat es schon angefangen oder ist es nur eine Illusion von Musik? Dann aber geht es mit dem barocken Gassenhauer „La Folia“ in einer ganz eigenen Version des Ensembles richtig los. Der Titel der CD könnte nicht besser dargestellt werden als in der Vokalkom­ position „La Pazza“ des neapolitanischen Komponisten Pietro Antonio Giramo. Sie erzählt vom Unglück einer Frau, die über die Liebe zu einem Mann den Ver­ stand verliert. Dies wird so anschaulich vertont, dass man den Eindruck hat, einer Oper im Miniaturformat beizu­ wohnen – es wird gesungen, getanzt, ge­ flucht, geschrien und – letztendlich mit viel Humor – der Wahnsinn gepriesen.

Die Liebe Hand in Hand mit dem Wahnsinn Spannend musiziert und klug zu­ sammengestellt mit Unbekannten Lie­ bes­liedern und aufregenden Solowerken kommt die CD mit einer Tarantella in einer wilden Improvisation zu einem nur scheinbar fulminanten Ende. Die CD klingt aus, wie sie begonnen hat – zaghaft gezupfte Klänge von Cello und Gitarre. Wer genau hinhört, hört am Ende noch mal den Wahnsinn um die Ecke gucken.

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Musikalisches Opfer, BWV 1079 Aria aus d. Goldberg-Variationen, BWV 988 XIV Kanons über das Soggetto der Goldberg-Variationen, BWV 1087 Sonate G-Dur für Flöte, Violine und B.c., BWV 1038

Masaaki Suzuki, Cembalo Mitglieder des Bach Collegium Japan BIS-SACD-2151

Bachs Besuch bei Friedrich II in Potsdam am 7. Mai 1747 ist das best­ dokumentierte Ereignis im ansonsten so unspektakulären Leben des Komponisten. Der König gab Bach ein sehr schwer zu behandelndes Thema für eine Fuge auf. Und Bach setzte sich ans Cembalo und improvisierte. Der König war höchst be­ eindruckt; Bach selbst weniger, und so arbeitete er, nach Leipzig zurückgekehrt, das Thema schriftlich noch einmal aus. Als Ergebnis erschien einige Monate spä­ ter das „Musikalische Opfer“ im Druck, eine Sammlung von 13 Stücken in di­ versen Genres: Fugen, Kanons und eine Triosonate, die alle das „königliche Thema“ zur Grundlage haben.

Vollender des Kontrapunkts Neben der „Kunst der Fuge“ ist dies eine weitere Sammlung, in der Bach sein ganzes Wissen und Können im Bereich des Kontrapunkts zusammenfasst und lehrhaft darstellt. Dem „Musikalischen Opfer“ folgt bei dieser Aufnahme ein weitere Kanonsammlung: erst 1974 wurde eine handschriftliche Ergänzung Bachs zu den Goldberg-Variationen ge­ funden, die in Bachs eigener Druck­ ausgabe lag: die 14 Kanons über das Goldberg-Thema. Die haben alle die ersten acht Baßnoten der einleitenden Aria zur Grundlage.

Ausgabe 2017/4

Jean Marie Leclair (1697-1764) Triosonaten op. 4 Musica Alta Ripa MDG 309 0428-2

Im Januar 1992 durch Musica Alta Ripa aufgenommen, waren die Leclair Triosonaten op. 4 bei ihrer LP-Erstver­ öffentlichung 1993 eine gefragte Erst­ einspielung. Schon damals benutzten die MDG-Tonmeister modernste Digitaltech­ nik, so dass die Aufnahme aus dem ba­ rocken Festsaal von Schloss Nordkirchen bruchlos und mit feinsten Raumnuancen auf CD übertragen werden konnte. Leclair gehörte zu den besten Violinis­ ten seiner Zeit. Es wird berichtet, dass er sich in Kassel dem musikalischen Wettstreit mit Locatelli stellen musste – eine seinerzeit höchst beliebte Form musikalischer Unterhaltung. Der Chro­ nist beschreibt sein „teuflisches“ Spiel im Gegensatz zum engelgleichen des italienischen Rivalen. Seine Triosonaten glänzen mit pfiffigen Erfindungen und harmonischen Finessen.

Aktenzeichen Immer wieder zog es den Virtuosen und Komponisten nach Paris, wo er schließlich als ungelöster Fall auch noch in die Kriminalgeschichte eingehen sollte: Seine Ermordung am 22. Oktober 1764 ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Musica Alta Ripa hat sich an der Seite von MDG seit Jahren als eines der gefragtesten Ensembles für Alte Musik etabliert, ihre Einspielungen sind inter­ national vielfach ausgezeichnet und ma­ chen in ihrer lebendigen Spielfreude einfach Spaß beim Zuhören.


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Alte Musik

Johannes Martin Doemming (1703 - ca. 1760) Kantate und Concerti

Concerto F-Dur für zwei Cornu de Chasse, Oboe, Violine, Viola und B.c. Concerto A-Dur für Oboe d’amore, Traversflöte, Violine, Viola und B.c. „Ich senke mich in deine Liebe“. Kantate für Altus, zwei Blockflöten, Oboe und B.c. Trio F-Durfür Viola und zwei Violoncelli Concerto G-Dur für Oboe d’amore, zwei Traversflöten, zwei Violinen und B.c.

Kai Wessel, Altus Concert Royal Köln Musicaphon M56979 (CD/SACD stereo / Binaural 3D)

Doemming, am 30. September 1703 in Milz (Thüringen) geboren, war am Ho­ fe der Grafen zu Bentheim-Tecklenburg in Limburg unter Graf Moritz Casimir angestellt. Über sein Leben ist so gut wie gar nichts bekannt; laut eines Pro­ tokolls vom 24. November 1731 wurde der Hofangestellte und Küchenmeister zum Directore Musices der dortigen Hof­ kapelle ernannt. Zu seinen Aufgaben gehörte nun „...auf die Zeit und Stunde, wann es uns gnädigt gefällt, bey der music zu führen.“ Er hatte sich um das gesamte Musikleben bei Hofe zu küm­ mern, komponierte selbst, leitete die Proben und Konzerte und schaffte um­ fangreiches Notenmaterial herbei.

Vom Küchenmeister zum Directore Musices Bei dieser Einspielung mit Werken Doemmings handelt es sich um einen breit gefächerten Querschnitt seines Schaf­ fens. Bei den instrumentalen Concerti stehen die Bläser im Mittelpunkt, Travers­ flöten und Oboe bzw. Oboe d‘amore. Stilistisch finden wir bei Doemming eine Bandbreite, die von Buxtehude (Kantate) über den Hochbarock bis zur Empfindsamkeit, fast im Stil eines Carl Philipp Emanuel Bach reicht. Eingespielt vom Ensemble Concert Royal Köln, das für seine Aufnahmen mit Werken von Johann Wilhelm Hertel und Johann Georg Linike bereits mit einem ECHO Klassik ausgezeichnet wurde.

William Byrd Consort-Musik Sunhae Im bFive Recorder Consort Coviello CLASSICS COV 91725

Der britische Spätrenaissancekom­ ponist Willam Byrd war, wie er selbst sagte, fasziniert von dem Prozess, Worte zu vertonen – gleichzeitig war er aber im Hauptberuf Organist, also auch mit komplexen polyphonen Strukturen der Musik seiner Zeit vertraut. Byrd ist einer der wichtigsten Vertreter dieser Epoche, und obwohl nur ein kleiner Teil seiner Werke schriftlich erhalten ist; die Vielfalt der Sujets und die musikalischen Ein­ flüsse in seinen Vokalwerken reichen von volkstümlichen Elementen aus sei­ ner englischen Heimat über die antike Sagenwelt bis zur Hommage an seinen berühmten Lehrer Thomas Tallis.

Vielfarbige SpätrenaissanceFlöten mit Sopran Neben seinen Werken für Tastenins­ trumente schreiben viele Kompositio­ nen als Besetzung ein „Consort“, also eine Gruppe mehrerer, meist ähnlich klingender Instrumente vor, ohne dass die Zusammensetzung genau bestimmt wäre: um 1600 war es durchaus üb­ lich, dass diese Stücke von einer Grup­ pe von Gamben ebenso wie von Block­ flöten gespielt werden konnten. Das bFive Recorder Consort und Sopranis­ tin Sunhae Im tauchen ein in eine heute alles andere als alltäglich klingende, erstaunlich vielfarbige Klangwelt.

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Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Gitarre / Laute

Eine Laute von Sixtus Rauwolf Französische und deutsche Barockmusik Esaias Reusner: Padoana François Dufault: Prelude; Allemande; Courante ‘La Superbe’; Courante; Sarabande; Gigue Charles Mouton: Prelude ‘La promenade’; Allemande ‘Le dialogue des graces …’; Canaries ‘Le Mouton’; Courante ‘La Changeante’; Gaillarde ‘La Bizarre’; Sarabande ‘La Malassis’; Menuet ‘La Ganbade’ David Kellner: Campanella; Courante; Sarabanda; Aria; Giga; Gavotte ‘Mr Pachelbel’ (wahrsch. Johann Pachelbel) Allemande ‘L’Amant mal content’; Courante ‘L’Amant soulage’; Sarabande ‘L’Amant soupirant’; Gigue ‘Raillerie des amans’ Silvius Leopold Weiss: Prelude; Allemande; Courante; Bourrée; Sarabande; Menuet; Gigue; Ciacona

Jakob Lindberg, Laute BIS-SACD-2265

Um 1590 herum hat der Lautenma­ cher Sixtus Rauwolf dieses Instrument geschaffen. Gut 100 Jahre später, 1715, wurde die Laute umgebaut, um den An­ forderungen und dem Geschmack des Barock zu entsprechen. Jakob Lindberg hat für diese Aufnahme Werke ausge­ sucht, die zum Repertoire des (wahr­ scheinlich deutschen) Besitzers aus der Zeit dieser Umgestaltung gehört haben könnten. Für die deutschen Lautenisten war ab Mitte des 17. Jahrhunderts der französische Geschmack Vorbild.

le goût français Als Ende dieses Jahrhunderts die Laute ganz plötzlich und unerwartet in Paris außer Mode kam, wanderten die französischen Lautenisten aus und hatten in deutschsprachigen Ländern großen Erfolg. Natürlich brachten sie ihre Musik und Traditionen des Lauten­ spiels mit und gaben diese weiter, wie man an den Werken der hier vorge­ stellten deutschen Komponisten sehr schön beobachten kann.

Klavier

Cello

Johannes Brahms (1833 - 1897) Sämtliche Klaviertrios Vol. 2 Trio op. 8 (Version 1854) Trio c-Moll op. 101 Wiener Klaviertrio

#celloreimagined Bach, Mozart, Haydn Daniel Müller-Schott L’arte del mondo Werner Ehrhardt

MDG 942 2008-6 (Hybrid-SACD)

Orfeo C920171

Welch ein Glücksfall! Sämtliche Skizzen, Entwürfe, Frühfassungen und viele Werken hat Johannes Brahms ei­ genhändig vernichtet – nur das H-DurTrio op. 8 überlebte den Feuersturm. Und so erlaubt der Vergleich zwischen der jugendlich-romantischen ersten Ver­ sion und der verdichteten Spätfassung dieses Meisterwerks einen überaus inte­ ressanten Einblick in Brahms´ künstleri­ sche Entwicklung. Zusammen mit dem c-Moll-Trio op. 101 vervollständigt diese Aufnahme die Gesamtschau des Wiener Klaviertrios, mit der die Klaviertrios des Titanen nun erstmals vollständig in modernster dreidimensionaler Super Audio CD-Qualität vorliegen. Dass dem gereiften Brahms, der immer mehr auf die Reduktion auf das formal wirklich Notwendige achtete, die ausschweifende Gestik des Jugendwerks zu weit ging, scheint nachvollziehbar; und doch bedauerten auch Zeitgenossen wie Clara Schumann die Eingriffe – möglicherweise galten die jetzt von Brahms eliminierten Anspielungen auf Beethovens „Ferne Geliebte“ ja ihr… Das c-Moll-Trio ist später Brahms in Reinkultur: Höchste künstlerische Verdichtung trifft auf Volkstümliches aus der k.u.k-Monarchie: Großartiger hat das niemand hinbekommen! Da ist das Wiener Klaviertrio natürlich in seinem Element: Einfach mitreißend, wie die drei Vollblutmusiker das Wienerische wie das Ungarische zum Schwingen bringen! Perfekt ausbalanciert auch die hoch­ auflösende Super Audio CD, die neben glasklarem Stereosound ein atembe­ raubendes Hörerlebnis in dreidimensi­ onaler Mehrkanaltechnik bietet – für Musikgenuss auf höchstem Niveau!

Der kantable und melodiebetonte, damals aufregend neue Stil Carl Philipp Emanuel Bachs, der vom Vater der Wiener Klassik Joseph Haydn aufgegriffen und vom Wunderkind der Epoche Wolfgang Amadeus Mozart perfektioniert wurde, steht im Mittelpunkt des neuen Albums „Cello Reimagined“ von Daniel MüllerSchott. „Reimagined“, also „neu ausge­ dacht“, weil es keine originalen Cello­ konzerte enthält, sondern Transkriptionen bekannter Konzerte für Cembalo, Violine und Flöte. Obwohl sich das Violoncello im Barock, zumindest in Italien, als konzertantes Instrument durchsetzen konnte, blieb es diesseits der Alpen in der zweiten Hälfte des 18. und bis weit ins 19. Jahrhundert ein solistischer Exot. Daniel Müller-Schott belegt mit seinen mutigen und klugen Bearbeitungen, dass es keinesfalls musikalische Gründe gab, das Cello in der Klassik zu ignorie­ ren. Denn wichtiger als die Klangfarbe des eigentlichen Instruments war bei den Konzerten jener Zeit die virtuose und quasi sangliche Stimmführung des Solo­ instruments. Hier kommt Daniel MüllerSchotts weicher, flüssiger und überaus eloquenter Celloklang voll zur Geltung. L’arte del mondo unter Werner Ehrhardt erweisen sich dabei als tänzerisch leichte, flinke und wendige Begleiter.

Orgel

J. S. Bach (1685-1759) Fantasia und Fuge BWV 542 Triosonate BWV 529 Sinfonia BWV 29, Partita BWV 768 Ben van Oosten, Grote Kerk Breda (NL) MDG 316 0127-2

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Für seine Einspielungen französi­ scher Orgelromantik wurde Ben van Oosten mit Auszeichnungen und Ehrun­ gen regelrecht überhäuft, sogar den Ritterschlag hat er erhalten. Umso inte­ ressanter ist ein inzwischen geradezu historisches Klangdokument, das MDG jetzt erstmals auf CD veröffentlicht: Vier Orgelwerke von Johann Sebastian Bach, die der niederländische Virtuose mit gerade einmal 28 Jahren an der Orgel der Grote Kerk zu Breda für die Lang­ spielplatte aufgenommen hat.

Pfeffersäcke Mit Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542 hat van Oosten einen wahrhaft prachtvollen Anfang gewählt. Man kann sich vorstellen, dass die Berufungskom­ mission der Hamburger Jacobikirche erschüttert war, als Bach selbst das Werk zur Bewerbung um die dortige Organistenstelle spielte. An der „Kaffee­ wasserfuge“ lag es sicher nicht, dass Bach die Stelle nicht antrat – er zog seine Bewerbung zurück, als er erfuhr, dass die geschäftstüchtige Hamburger Bürger­ schaft bei Amtsantritt die Zahlung einer größeren Geldsumme erwartete… Die Triosonaten gehören zu den abso­ luten Höhepunkten in Bachs umfangrei­ chem Werk. Und dann wird es doch noch ein wenig französisch: Marcel Dupré hat die Sinfonia der „Ratswahlkantate“ auf die Orgel übertragen. Unter Ben van Oostens flinken Händen wird daraus ein echtes Orgelkonzert, dessen beein­ druckender Energiestrom nie enden zu wollen scheint. Die viermanualige Orgel der Grote Kerk zu Breda, die aus der Kombination mehrerer historischer Or­ geln entstanden ist, tut das Ihrige dazu.


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Konzert

Leonard Bernstein: Serenade Joseph Haydn: Violinkonzert Nr. 1 Kolja Blacher Württembergisches Kammerorchester Heilbronn Coviello CLASSICS COV 91711

Für beide Komponisten war es nicht das hauptsächliche Betätigungsfeld – und damit ist diese inspirierte Neuein­ spielung von Kolja Blacher und dem Württembergischen Kammerorchester Heilbronn einmal mehr ein überzeugen­ der Beweis dafür, wie lohnend Neben­ wege im Musikbetrieb immer wieder sind: Leonard Bernstein, der begnadete Dirigent und Musik-Entertainer, schrieb einige sinfonische Werke, aber keines, das ausdrücklich den Titel „Konzert“ trägt. Seine Serenade aus dem Jahr 1954 basiert auf Platons Text Symposion.

Lohnende Nebenwege Jeder Anwesende bei diesem Gast­ mahl sollte eine Lobrede auf den Eros halten, die dann diskutiert wurde; Bern­ stein weist der Solovioline die Rolle des jeweiligen Hauptredners beim Gespräch zu. Joseph Haydn schrieb zwar einige Konzerte für verschiedene Soloinstru­ mente, in seinem umfangreichen Schaf­ fen spielen sie aber eine eher geringe Rolle gegenüber den Sinfonien. An der Schwelle zur klassischen Form steht sein erstes Violinkonzert, fast 200 Jahre vor Bernsteins Werk entstanden; wieder ein­ mal erweist sich Haydn hier als stilbil­ dend für die beginnende Wiener Klassik.

Orchester

Maurice Ravel Klavierkonzert & Valses nobles et sentimentales Claude Debussy Images Band I Volodymyr Lavrynenko argovia philharmonic Rune Bergman Coviello CLASSICS COV 91726

Die beiden Hauptexponenten des französischen Impressionismus werden in dieser Neueinspielung auch in ihrer Gegensätzlichkeit sichtbar: Claude Debussy, der große Maler eindringlicher musikalischer Stimmungsbilder, für die er in den „Images“ nur ein einziges Kla­ vier braucht, im Gegensatz zu Maurice Ravel und seiner stärker rhythmisch vorwärtsdrängenden Energie, die von Anfang an sein Klavierkonzert be­ stimmt. Die typische brillant-farbige Instrumentierung tut ein Übriges für den mitreißenden Effekt dieses Werks.

Impressionismus von eindringlich bis mitreißend Neben den für Solist wie Orchester technisch höchst anspruchsvollen Eck­ sätzen kommt im Mittelsatz die lyrische Seite Ravels zum Leuchten. Seine suiten­ artige Sammlung von sieben ineinander übergehenden „noblen und sentimenta­ len Walzern“ interpretiert und verfremdet den Walzerrhytmus auf seine typisch eigenwillige Art und rundet den Klang­ kosmos der beiden großen Zeitgenossen ab. Der jüngst mit dem BerenbergPreis ausgezeichnete ukrainische Pianist Volodymyr Lavrynenko und das argovia philharmonic unter Rune Bergman prä­ sentieren ihn brillant.

Bernd Alois Zimmermann und das symphonische Spätwerk Konzert für Violoncello und Orchester als Form von Pas de trois (1965/66) Musique pour les soupers du Roi Ubu (Ballett noir) (1962-1967) Stille und Umkehr – Orchesterskizzen (1970) Bernhard Kontarsky, Sascha Reckert, Jan-Filip Tupa, Philipp Marguerre, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Bernhard Kontarsky Elke Heidenreich sowie Aufnahmen mit der Original­ stimme des Komponisten Cybele Records CYBKIG008 (3 SACDs)

Ausgezeichnet mit dem Jahrespreis des PDS begründet die Jury dies wie folgt: „Mit ‚Künstler im Gespräch‘ hat das Label Cybele in den letzten Jahren eine Serie geschaffen, die sich den üblichen Kriterien entzieht: Exemplari­ sche Neueinspielungen paaren sich mit historischen Klangdokumenten, Inter­ views und bisweilen auch Literatur zu einem jeweils in sich geschlossenen Komponisten-Portrait voller Überra­ schungen. Dies gilt zumal für diese Produktion, die (…) nachdrücklich ein Ausrufungszeichen setzt für dessen (Zimmermanns) Vorstellung, Vergangen­ heit und Zukunft in der musikalischen Gegenwart zu vereinen. Umgesetzt wird dies in geradezu herausragender Weise durch die klanglich wie an interpreta­ torischer Intensität Maßstäbe setzenden Interpretationen von Jan-Filip Tupa, Violoncello, und dem von Bernhard Kontarsky geleiteten Radio-Sinfonieor­ chester Stuttgart des SWR.“ (Für den Jah­ resausschuss des Preises der deutschen

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Schallplattenkritik: Dr. Michael Kube) Neben dem musikalischen Part ist ein „modernes Märchen“ von Elke Heidenreich zu hören, das von der Autorin eigens für diese Veröffentli­ chung eingesprochen wurde. Ein Ge­ spräch des Komponisten und letzten Zimmermann-Schülers York Höller mit Mirjam Wiesemann rundet das span­ nende Portrait rund um Leben und Werk des Komponisten ab. Ganz im Geiste der Reihe Künstler im Gespräch ist der Komponist in ei­ nem speziell für die SACD-Edition res­ taurierten Gespräch von 1968 (O-Ton) der Meinung: „… dass all diese Dinge, die ja sehr komplexe Vorgänge sind, so angelegt sind, dass jeder Hörer, ganz gleichgültig, welcher intellektuellen und sozialen Schicht er angehört, irgendwo gepackt wird.“ (B. A. Zimmermann) Eine vieldimensionale Edition, die dem Hörer/Leser einen tiefen Einblick in die Künstlerpersönlichkeit Bernd Alois Zimmermanns ermöglicht.


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Neue Musik

Lieder

Chor

Franz Schubert Winterreise Neufassung von Gregor Meyer Daniel Ochoa, Cristian Peix Vocalconsort Leipzig Gregor Meyer

Steffen Schleiermacher (*1960) Sound and Colour Ensemble Avantgarde Sonic.Art Saxophonquartett Wolfgang Heisig, Phonola

Hanns Eisler (1898 -1962) Lieder Vol. 2 Lieder und Balladen 1948-1962 Holger Falk, Bariton Steffen Schleiermacher, Klavier

MDG 613 2005-2

MDG 613 2040-2

Zerbrechliches Pianissimo, packen­ der Rhythmus, große melodische Geste, brachialer Lärm: Steffen Schleiermachers Werke loten klangliche Extreme aus. An­ geregt von Meisterwerken der bildenden Kunst, findet der weltgewandte Komponist zu einer überaus sinnlichen Ausdrucks­ vielfalt, die in der zeitgenössischen Mu­ sik ihresgleichen sucht. Gemeinsam mit dem Ensemble Avantgarde, dem Sonicart Saxophon Quartet und Wolfgang Heisig am mechanischen Klavier schafft Steffen Schleiermacher ein hörenswertes Selbst­ portrait, das einfach begeistert. Über reine Vertonung der bildlichen Vorlage gehen Schleiermachers Kom­ positionen weit hinaus. Hans Hartungs wilde Striche in „Taches“, Emil Noldes sanft verschwimmende Farben in „Aqua­ rell“ oder die unerhörte Expressivität eines Max Beckmann im „Portrait mit Saxophon“, das alle bekannten Grenzen des Instruments zu sprengen scheint – stets sind es die besonderen Aspekte, die den Klangkünstler inspirieren. Für das mechanische Klavier, hier von Wolfgang Heisig mit der Phonola ausge­ führt, hat Schleiermacher den aberwitzi­ gen „Treppentänzer“ in Anlehnung an Oskar Schlemmer gesetzt. Von ganz be­ sonderem Reiz sind die „Klangketten“, die sich auf Alexander Calders fragile kine­ tische Skulpturen und Mobiles beziehen. Wie zufällig changiert die Fläche aus Flöte, Vibrafon und Klavier, ein Windhauch treibt die Bewegung sachte in eine andere Richtung, und doch bleibt das ganze Ge­ bilde in einem beweglichen Gleichge­ wicht. „Schwankendes Gleichgewicht“ ist für das Saxofonquartett bei Paul Klee nur mühsam zu halten, immer wieder sind eruptive Ausgleichsaktionen erforderlich, bevor mit dem fulminanten Schlusspunkt die Erdung erreicht wird.

1948 kehrte Hanns Eisler nach Europa zurück aus dem amerikanischen Exil, in das er vor dem Nationalsozialismus geflo­ hen war. Das Deutschland, das er 1937 verlassen hatte, war nicht mehr wieder­ zuerkennen. Den Schmerz darüber ver­ arbeitete Eisler in zahlreichen feinsinni­ gen Liedern, aus denen Holger Falk und Steffen Schleiermacher für die zweite Fol­ ge ihrer Werkschau eine repräsentative und spannende Auswahl getroffen haben. Darin kommt eine tiefempfundene Liebe zu Deutschland zum Ausdruck, die man dem überzeugten Kommunisten wohl so nicht zugetraut hätte. Wie mit wenigen Tönen Gänsehaut erzeugt wird, zeigen die Künstler in der „Pappel vom Karlsplatz“, die den schrecklichen Hungerwinter 1945/46 überlebt hat, trotz Brennholz­ mangel. Natürlich darf die „National­ hymne der Deutschen Demokratischen Republik“ nicht fehlen, und auch Brechts „Kinderhymne“, „Anmut sparet nicht noch Mühe“, die kurzzeitig als Hymne des wiedervereinten Deutschlands gehan­ delt wurde, ist dabei. Eislers letztes Lied schließt diese Sammlung ab: „Bleib gesund mir, Krakau!“ klagt der Dichter Mordechai Gebirtig, ein herzzerreißender Abschied von der geliebten Heimatstadt, am Vorabend seiner Deportation… „Mutterns Hände“ nach Tucholsky ist eine ganz besonderen Liebeserklärung. Das berlinert so wunderbar lakonisch, dass man die inzwischen erwachsenen Kinder in unendlicher Dankbarkeit rund um die Mutter stehen und ihre Hände halten hört: Große Kunst im ganz Kleinen! Und ganz großartig die Wiedergabe durch einen Sänger, der behutsam unterstützt durch den Kla­ viersatz die Stimme und die Ausdrucks­ werte je nach Erfordernis unendlich wie ein Chamäleon wechseln kann.

Coviello CLASSICS COV 91723

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Franz Schuberts Winterreise ist un­ bestritten einer der Höhepunkte des romantischen Liedschaffens, in Umfang und Ausdruckvielfalt ein Meilenstein für jeden Interpreten. Die menschlichen Re­ gungen – Hoffnungen, Enttäuschungen, Kummer, Schmerzen, Zweifel, Freude, Sehnsüchte –, die den Protagonisten bewegen, werden meisterhaft umgesetzt und machen diesen Zyklus zu einem eigenen musikalischen Kosmos von zeitloser Wahrheit. In der Neufassung von Gregor Meyer erreicht er eine neue Dimension: Er stellt dem Solo-BaritonPart neben dem Klavier zusätzlich eine stilistisch vielfältige und atmosphärisch dichte Chorbegleitung zur Seite. Der Chor übernimmt oder wiederholt Text­ passagen des Soloparts, aber auch mu­ sikalische Elemente des Klavierparts.

Neue Facetten mit Chor Ergebnis der zusätzlichen Ebene ist eine überaus erfrischende Neuinterpre­ tation des zeitlosen Repertoirewerks, das neben vielen Deutungsmöglichkeiten im Zusammenspiel von Text und Musik auch interpretatorisch neue Facetten gewinnt. Bariton Daniel Ochoa und Pianist Cristian Peix wissen sie gemeinsam mit dem Vocalconsort Leipzig trefflich zu nutzen.

Ausgabe 2017/4

Oper und Oratorium

Georg Friedrich Händel Theodora Hana Blažiková, Nohad Becker, Christian Rohrbach, Georg Poplutz, Daniel Ochoa Bachchor Mainz Bachorchester Mainz, Ralf Otto Coviello CLASSICS COV 91732

Sein vorletztes großes Oratorium hatte es von Anfang an schwer: Nur fünf mäßig besuchte Aufführungen erlebte Theodora in London, für den erfolgs­ verwöhnten Georg Friedrich Händel ein Desaster. Bis heute gehört das Werk zu den weniger populären des Komponis­ ten, obwohl er selbst es für sein bestes Oratorium hielt. „Schwache Charakter­ zeichnung“ und zu wenig Dramatik hat man ihm vorgeworfen; tatsächlich geht es hier mehr um die inneren Dramen der Protagonisten und explizit um die schwierige Situation der frühen Christen, die ihre Religion im römischen Reich nur gegen Widerstände leben konnten.

Entertainment and Education Gerade die eher leise Innerlichkeit zeichnet Theodora besonders aus; nir­ gendwo sonst hat Händel sie in Tempo, Tonartendisposition und Instrumentie­ rung in so scharfen Kontrast zur hedo­ nistischen Lebensfreude der römischen Machthaber gesetzt. Die gegenüber dem dreistündigen Original deutlich gestraffte Fassung von Ralf Otto lässt diesen Kon­ trast in seiner Neueinspielung mit Bach­ chor und Bachorchester Mainz nebst illustrem Solisten-Ensemble um Hanah Blasžikowá noch intensiver erleben.


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