crescendo Premium 06/2017

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AUSGABE 06/2017 OKTOBER – NOVEMBER 2017

www.crescendo.de 7,90 EURO (D/A)

PREMIUM AUSGABE inkl.

CD

JUAN DIEGO FLÓREZ Warum man mit Waschbrettbauch besser singen kann

FIGURENTHEATER Marionetten und Puppen erobern die Bühnen der Welt

Cecilia Bartoli Disziplin, Arbeit, Passion – das Erfolgsrezept des Weltstars BENEFIZKONZERT KLASSIK:XL B47837 Jahrgang 20 / 06_2017

Am 28. Oktober präsentieren sich ECHO KLASSIK Preisträger im Hamburger „Michel“


ECHO KLASSIK 2017 SONNTAG, 29. OKTOBER ELBPHILHARMONIE MODERATION THOMAS GOTTSCHALK TV-AUSSTRAHLUNG 29.10.2017 | 22:00 UHR | ZDF #ECHOKLASSIK2017

www.echoklassik.de

Fotocredit (von oben links): Brooke Shaden | Caroline de Bon | Marco Borggreve | Sarah Wijzenbeek | Cosimo Filippini, Deutsche Grammophon | Gavin Evans, Deutsche Grammophon | Giorgia Bertazzi | Anna Hult | Marco Borggreve | Matthias Heide | Nancy Horowitz | Felix Broede, Sony Music Entertainment | Oran Greier | Uwe Arens | Dominik Odenkirchen | Gregor Hohenberg | Uwe Arens, Sony Classical | Tibor Bozi, Deutsche Grammophon | Gregor Hohenberg | Philippe de Magnée | Irène Zandel | Nancy Horowitz | Simon van Boxtel | Marco Borggreve | Francesco Ferla | Marco Borggreve | Annelies van der Vegt | Kaupo Kikkas | Holger Hage | Marco Borggreve | Dan Carabas | Simon Fowler | Irène Zandel | MDG-Archiv | Norbert Bolin, musikforum | Hans van der Woerd, Deutsche Grammophon | Javier del Real | Christian Steiner | IMAGEM | Bruce Bennett | Marco Borggreve | Dario Acosta, Deutsche Grammophon | Elke Schmidt | Simon Fowler | Simon Fowler, DECCA | Simon Fowler | Irène Zandel | Uwe Arens, D-artagnan | Elisa Caldana | Sarah Wijzenbeek | André Mailänder | Quatuor Molinari | Guido Werner | Daniel Maria Deuter | Rosa Frank | Marco Borggreve | Sony Classical | Sony Classical | Swanhild Kruckelmann | Julian Hargreaves.


P R O L O G

ECHO-GLANZ UND PUPPENWELT Liebe crescendo-Leser, Herbstzeit ist ECHO KLASSIK-Zeit. Wir freuen uns sehr, wie in den Vorjahren wieder offizieller Partner dieses „Oscars der klassischen Musik“ zu sein. Natürlich sind wir auch bei der großen Gala am 29. Oktober in der Hamburger „Elphi“ vor Ort, die ab 22 Uhr im ZDF übertragen wird. Viele der prämierten Künstler lernen Sie in dieser Ausgabe kennen (ab S. 27), darunter Sängerin, Regisseurin und Intendantin Brigitte Fassbaender, die den Preis für ihr Lebenswerk erhält. Außerdem dabei sind unter anderem Sängerin des Jahres Joyce DiDonato, Sänger des Jahres Matthias Goerne und Dirigent des Jahres Kent Nagano. Star-Geiger und crescendo-Kolumnist Daniel Hope gewann den ECHO für sein Album „For Seasons“ in der Kategorie „Klassik ohne Grenzen“.

WINFRIED HANUSCHIK Herausgeber

Die Puppe ist zurück! In den letzten Monaten ist uns aufgefallen, wie präsent plötzlich Marionetten und andere Figuren auf den Opern- und Konzertbühnen waren, etwa in der Moses in Ägypten-Produktion im Rahmen der Bregenzer Festspiele oder in Oberon bei den Münchner Opernfestspielen. Wir haben uns die kleinen und großen Kerlchen einmal genau angesehen und festgestellt, dass Figuren eine ganz besondere Magie haben und die Zuschauer auf eigentümliche und intensive Weise berühren. In unserem Themenschwerpunkt „Figurentheater“ erfahren Sie Erstaunliches über die Geschichte der Puppen vom Schattenspiel im alten China bis zum überdimensionierten Kunststoff-Dämon des 21. Jahrhunderts und bekommen Einblicke in aktuelle Trends und Produktionen. Außerdem sprachen wir mit Cecilia Bartoli über Mezzosopran-Metamorphosen und ihr neues Projekt mit Cellistin Sol Gabetta (S. 14), mit Vesselina Kasarova über Botox und Bulgarien (S. 22) und mit Juan Diego Flórez über den Zusammenhang von Waschbrettbauch und Stimmstärke (S. 16). Parallel zur Bundestagswahl hatten wir Sie in unserem letzten Heft dazu aufgerufen, über unser Weihnachtsthema abzustimmen. Die Wahlbeteiligung war hoch, die Vielfalt der Präferenzen und Vorschläge groß. Mit knappem Vorsprung haben Sie sich vor „Filmmusik“ und „Musik und Bildende Kunst“ für das Thema „Operette“ entschieden. Freuen Sie sich also schon jetzt auf die kommende Ausgabe mit diesem Thema!

F OTO S TITE L : ES T H E R H A A S E / D ECC A ; G U I DO W E R N E R

Einen schönen Herbst wünscht An dieser Stelle ist keine Abo-CD vorhanden? Sie sind Premium-Abonnent, aber die CD fehlt? Dann rufen Sie uns unter 089/85 85 35 48 an. Wir senden Ihnen Ihre Abo-CD gerne noch einmal zu.

Ihr Winfried Hanuschik ONLINE PREMIUM-SERVICES: TRETEN SIE EIN!

Ihre Abo-CD In der Premium-Ausgabe finden Sie nicht nur doppelt so viel Inhalt: mehr Reportagen, Porträts, Interviews und Hintergründe aus der Welt der Klassik – in einer besonders hochwertigen Ausstattung –, sondern auch unsere crescendo Abo-CD. Sie ist eine exklusive Leistung unseres crescendo Premium-Abonnements. Premium-Abonnenten erhalten sechs Mal jährlich eine hochwertige CD mit Werken der in der aktuellen Ausgabe vorgestellten Künstler. Mittlerweile ist bereits die 68. CD in dieser crescendo Premium-Edition erschienen.

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Ok tober – November 2017

* Als Premium-Abonnent registrieren Sie sich beim ersten Eintritt mit Ihrer E-Mail-Adresse und Ihrer Postleitzahl. Alle anderen crescendo Premium-Käufer oder -Leser brauchen für die erstmalige Registrierung den Registrierungscode. Dieser lautet für die aktuelle Ausgabe: Registrierungscode:

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P R O G R A M M

CHOR DES BAYERISCHEN RUNDFUNKS HOWARD ARMAN FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY

PSALMEN Der Chor des Bayerischen Rundfunks und renommierte Solisten, darunter Julian Prégardien, präsentieren Mendelssohns selten gespielte Werke unter der Leitung von Howard Arman in bestechend klarer Interpretation und fein abgestimmtem Klangbild.

CD 900519

EBENSO ERHÄLTLICH:

06 HOCHALPINER KULTURTURM Mit dem Julierturm ist in der Schweiz auf 2.300 Metern Höhe ein temporärer Kunstbau entstanden.

26 CAMILLE THOMAS Die junge französische Cellistin liebt Science-Fiction und große Emotionen.

67 WILHELM TELL Die skandalträchtige Inszenierung von Rossinis Meisterwerk am Royal Opera House ist nun auf DVD erhältlich.

STANDARDS

KÜNSTLER

HÖREN & SEHEN

12 EIN KAFFEE MIT … Christian Brückner 14 CECILIA BARTOLI Metamorphosen einer Mezzosopranistin 16 JUAN DIEGO FLÓREZ „Werden Sänger dick, wird auch ihre Stimme dick“ 20 BARBARA HANNIGAN Warum sie ihre Steuererklärung lieber nicht singt 22 VESSELINA KASAROVA Von Botox, Bühnenbösewichtern und Bulgarien 24 CHRISTINA PLUHAR Grenzüberschreiterin: Alte Musik meets Jazz 26 CAMILLE THOMAS „Mein Cello ist ein Raumschiff!“ 27 ECHO KLASSIK SPEZIAL Alles rund um die Preisträger 2017

59 DIE WICHTIGSTEN EMPFEHLUNGEN DER REDAKTION 60 ATTILAS AUSWAHL Gipfelwerke in neuem Licht 71 UNERHÖRTES & NEU ENTDECKTES Große ungarische Sinfonik mit László Lajtha

03 PROLOG Der Herausgeber stellt die Ausgabe vor 06 BLICKFANG Kultur-Ufo mit Bergblick 08 OUVERTÜRE Dr. Goeths Kuriosa Der Schumann-WieckThriller Ein Anruf bei … Georg Hermansdorfer Ensemble Mit unseren Autoren hinter den Kulissen Klassik in Zahlen Playlist Kevin John Edusei 58 MELDUNGEN Christoph Adt, Kirill Serebrennikow NACHRUFE Brenda Lewis, Siegfried Köhler 64 IMPRESSUM 72 RÄTSEL & UMFRAGE 114 HOPE TRIFFT … Christopher Hope

2 CD 900520

Im Vertrieb von Naxos Deutschland br-klassik.de

Erhältlich im Handel und im BRshop / br-shop.de

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F OTO S: O R I G E N F ES TI VA L / B OW I E V E R SC H U U R E N ; DA N C A R A B A S ; C L I V E B A R DA

Eine spannende Kombination von vier groß besetzten Psalmen mit Solisten, Chor und Orchesterbegleitung und dem berühmten Martin-Luther-Gebet „Verleih uns Frieden gnädiglich“.

32 BRIGITTE FASSBAENDER Sie erhält den ECHO KLASSIK für ihr Lebenswerk www.crescendo.de

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F OTO S: K AU P O K I K K A S ; H OTE L M O D E R N ; TO U R I S M U S S A L ZB U RG G M B H

WILLKOMMEN IN BERLIN ROBIN TICCIATI!

81 KLASSIK:XL ECHO KLASSIK-Preisträger präsentieren im Hamburger „Michel“ ein atemberaubend vielfältiges Konzertprogramm.

83 SCHWERPUNKT FIGURENTHEATER Die große Welt der kleinen Figuren: Wie Puppen die Opern- und Konzertbühnen erobern.

105 REISE SPEZIAL Von Maltas Kulturhauptstadt über Linzer Medienzauber und Salzburger Winteridyll bis zu Kulturgenuss auf hoher See.

ERLEBEN

SCHWERPUNKT

LEBENSART

73 DIE WICHTIGSTEN TERMINE UND VERANSTALTUNGEN IM HERBST 80 VIENNALE Gesellschaftsrelevante Spiel- und Dokumentarfilme beim Festival in Wien 81 KLASSIK:XL Von Gambe über Orgel bis Saxophon-Duo: ECHO KLASSIK-Preisträger im Konzert 82 NEUE STIMMEN Junge Sänger starten durch: der Wettbewerb mit Langzeitwirkung

CKD 550

Die erste CD des jungen Dirigenten mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. Linn Records feiert den neuen DSO-Chef Robin Ticciati mit einer Aufnahme von Debussys La mer und einer Weltersteinspielung der Ariettes oubliées, arrangiert von Brett Dean, gesungen von Magdalena Kožená.

86 FIGURENTHEATER 104 WEINKOLUMNE Von chinesischem John Axelrod fand für uns Schattenspiel bis zu den Pinocchio unter den Strawinskys Puppentanz Weinen 90 MODERNES 105 REISE SPEZIAL FIGURENTHEATER Aus Europas reichem Ein Interview mit Expertin Kulturerbe von Valletta Annette Dabs (FIDENA) bis Linz 92 SALZBURGER MARIONETTENTHEATER Von der hohen Kunst der Bewegung am Faden 94 KOMMENTAR Axel Brüggemann über Fantasie und Puppenspiel 96 PUPPEN IN DER OPER Die Macht der Figur in EXKLUSIV aktuellen MusiktheaterFÜR ABONNENTEN produktionen Hören Sie die Musik zu unseren Texten auf der 99 WOHER KOMMT crescendo Abo-CD – EIGENTLICH … ... Meister Pedro aus exklusiv für Abonnenten. de Fallas Marionettenoper? Infos auf den Seiten 3 & 113 100 LINDAUER MARIONETTENOPER Marionettenmagie am Bodensee 102 BUNRAKU Kurtisane und Harakiri – Puppenspielkunst in Japan 5

Im Vertrieb von NAXOS Deutschland www.naxos.de www.naxosdirekt.de www.linnrecords.com


O U V E R T Ü R E

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Archaisches Kultur-Babylon

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F OTO: O R I G E N F ES TI VA L / B OW I E V E R SC H U U R E N

Wie ein blutrotes Riesenbauklötzchen vom anderen Stern thront der Julierturm in 2.300 Meter Höhe auf dem gleichnamigen Pass im Schweizer Kanton Graubünden. Drei Jahre lang wird der im Juli eröffnete 30 Meter hohe Turm außergewöhnlichen Opern-, Tanz- und anderen Kunstprojekten eine Heimat bieten. Hinter dem Projekt steckt das Origen-Festival, das abseits aller Konventionen mit archaischen Theaterformen experimentiert, extreme Landschaftsräume für sich erobert, neue Beziehungen von Kultur und Natur schafft. Theologe, Theatermann und Origen-Gründer Giovanni Netzer lässt dafür auch mal Räume auf Stauseen und Dorfplätzen entstehen, spielt in Bauernhöfen oder mittelalterlichen Burgen. Zum Julierturm wurde Origen von der biblischen Geschichte des Turmbaus zu Babel inspiriert – der Legende von der Entstehung der Mehrsprachigkeit in der Welt.


O U V E R T Ü R E

Dr. Goeths Kuriosa

BÖSER VATER: DER SCHUMANN-WIECK-TERROR Sie waren das Traumpaar der Musikgeschichte: Clara und Robert Schumann. Clara Josephine Wieck, das Klavier-Wunderkind, ist noch keine neun Jahre alt, als sie den doppelt so alten Robert kennenlernt. „Du warst damals ein kleines Mädchen mit einem Trotzkopf, einem Paar schönen Augen, und Kirschen waren Dein Höchstes“, erinnert sich Robert. Clara ist 16, Robert 25, als es dann endgültig funkt. Doch das schmeckt Vater Wieck, der seine Tochter von klein auf zum vergötterten Tasten-Star drillt und Höheres für sie im Sinn hat, überhaupt nicht. Er verbietet jeglichen Kontakt und Briefwechsel, entzieht ihr die Tinte, schickt Clara auf endlose Tourneen, organisiert einen Spitzel zu ihrer Beschattung. Was folgt, ist ein mehrjähriger Schumann-WieckThriller: Clara schreibt Robert heimlich – im Stehen und nachts. Roberts direkte Konfrontationen mit Papa Wieck führen stets zur Katastrophe: „Diese Kälte, dieser böse Willen, diese Verworrenheit, diese Widersprüche; [...] er stößt einem das Messer mit dem Griff in

ZITAT DES MONATS

HÄTTEN SIE’S GEWUSST?

„Es ist grausam, dass Musik so schön ist. Sie hat die Schönheit von Einsamkeit und Schmerz, von Stärke und Freiheit. Die Schönheit von Enttäuschung und nie erfüllter Liebe. Die grausame Schönheit der Natur und die ewige Schönheit der Monotonie.“

Ludwig van Beethoven verlor ab seinem 26. Lebensjahr zunehmend sein Hörvermögen. Wussten Sie, dass er eine Zeit lang einen Stab in den Mund nahm, der am Klavierkorpus endete, da sich so die Schwingungen direkt auf seine Hörknochen übertragen konnten? Außerdem ließ er sich vier „Hörmaschinen“ von einem großen Tüftler seiner Zeit fertigen: Johann Nepomuk Mälzel, dem Erfinder des Metronoms. Ab 1818 halfen auch diese nicht mehr. Beethoven konnte nur noch mittels Konversationsheften und Lippensprache kommunizieren.

BENJAMIN BRITTEN

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das Herz“, verzweifelt Robert. Nicht einmal der Nachweis von Roberts geregeltem Einkommen in Höhe von 1.000 Talern vermögen den Tyrannen umzustimmen. In ihrer Verzweiflung wenden sich die jungen Liebenden an die Behörden, wobei Robert hörbar sein Jurastudium zugutekommt. Er wortzwirbelt: „Was daher Herrn Wieck abhält, diesem Bunde seine Zustimmung zu geben, kann lediglich eine persönlich feindselige Gesinnung gegen den Mitunterzeichneten sein, der doch seinerseits allen Pflichten, die man dem Vater seiner erwählten zukünftigen Lebensgefährtin schuldig ist, nachgekommen zu sein glaubt. Wie dem sei, wir sind nicht willens, deshalb von unserem wohlerwogenen Entschlusse abzustehen, und nahen uns daher dem Hohen Gerichte mit der ergebensten Bitte: Hochdasselbe wolle Herrn Wieck zur Erteilung seiner väterlichen Zustimmung zu unserem ehelichen Bündnis veranlassen oder dieselbe nach Befinden anstatt seiner uns zu erteilen hochgeneigtest geruhen“. Am 12. September 1840 heiraten Clara und Robert: per Gerichtsbeschluss!

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O U V E R T Ü R E

KLASSIK IN ZAHLEN

3.600

Anzahl der Werke, die Georg Philipp Telemann in seiner 75 Jahre langen Schaffenszeit geschrieben hat. Manche davon in nur einer Stunde.

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Stunden ist die Zeit, die die Techniker zusammen mit dem Lucceser Dirigenten Andrea Colombini benötigt haben, um den Roboterdirigent „YuMi“ für La donna è mobile und O mio babbino caro zu trainieren. Er hat sich danach als sehr beweglich, jedoch nicht als sehr flexibel erwiesen.

3,4

Millionen Dollar hat ein anonymer Bieter für das Klavier aus der berühmten Barszene mit Humphrey Bogart aus dem Film Casablanca bezahlt. „Spiel’s noch einmal, Sam!“

639

Jahre dauert die Aufführung des Stückes ORGAN2/ASLSP von John Cage in der Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt. Bei der Uraufführung 1989 war das Stück, deutlich schneller gespielt, in 29 Minuten zu hören.

NEWSTICKER Innovationsförderung: Das Programm „Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland“ der Bundesregierung fördert in der ersten Runde 31 innovative Projekte von öffentlich finanzierten Orchestern mit insgesamt 11,1 Millionen Euro für Musikvermittlung, Digitalisierung und internationale Zusammenarbeit. +++ Orgelnachwuchs: Der Gewinner des mit 7.000 Euro dotierten Gottfried-Silbermann-Orgelwettbewerbs ist der 18-jährige Johannes Krahl aus Bautzen in Sachsen. +++ Home sweet home: Sir Simon Rattle startet kurz vor Ende seines Engagements in Berlin in seinen nächsten Job als Chefdirigent des London Symphony Orchestra (LSO). Zum Einstand dirigiert er die Konzertreihe „This is Rattle“ mit einem Schwerpunkt auf britischer Musik. +++ Neue Gesichter in Berlin: Neben dem Rundfunk-Sinfonieorchester mit Vladimir Jurowski bekommt auch der RIAS Kammerchor einen neuen Chef. Am 15.9. hat der Brite Justin Doyle im kürzlich eröffneten Pierre-Boulez-Saal sein Antrittskonzert dirigiert. +++ Doppelpack: Die Hugo-Wolf-Medaille für besondere Verdienste um die Kompositionen Hugo Wolfs wurde mit Thomas Hampson und Wolfram Rieger zum ersten Mal an ein Duo verliehen. 9


O U V E R T Ü R E

Der Raritätenfänger Ein Anruf bei Georg Hermansdorfer, der alljährlich eine vergessene Oper aufspürt, spielfertig macht und mit Künstlern aus der Region Rosenheim zur Aufführung bringt – ehrenamtlich, denn eigentlich ist er Realschullehrer. verschollen sein soll“, und ließ es mir trotzdem schicken. Ich crescendo: Herr Hermansdorfer, mit Ihrem Verein „erlesebin schon erschrocken, konnte dann aber da und dort einen ne oper e. V.“ graben Sie unbekannte Werke aus und brinSchatten erkennen. Ich bin über drei Jahre drangesessen, aber gen diese zurück auf die Bühne. Wie kam es dazu? ich habe es rausgekriegt: Man liest sich ein, findet Tricks. Aber Georg Hermansdorfer: Das begann vor 38 Jahren. Eine Sängees war extrem! rin wollte vor ihrem ersten Kind noch einmal Mozarts Und Sie haben vom reinen Lesen schon die perfekte Bastien und Bastienne singen. Heute kennt man die Tonvorstellung? Oper, aber damals waren wir Exoten: „Wie, MoEs ist immer ein Abenteuer! Man kennt das Werk ja zart hat etwas außer Zauberflöte und Don Giovannicht, es gibt keine Einspielung, keine Orientierung. ni geschrieben?“ Wir suchten einfach Ensemble Manchmal muss ich sogar den Klavierauszug selbst und Orchester zusammen. Danach machten wir machen, weil es keinen gibt. Erst bei der ersten weiter mit Werken und Komponisten, die heute Sitzprobe weiß ich wirklich, wie es „tut“. ganz vergessen sind, und die Besetzung wurde Was treibt Sie an? immer größer, auch mit Chor und Ballett … Unsere Leidenschaft ist es auch, Leute in die Oper Wie gehen Sie bei der Suche vor? zu bringen, die bisher keine Fans sind. Deshalb Ich lese Musik- und Operngeschichten. Wenn mir wählen wir immer Werke in deutscher Sprache und etwas interessant erscheint, vermerke ich es in einem eher mit lustigen Handlungen, wobei mir Abwechslung Karteikasten. Früher habe ich die Ferien immer in wichtig ist. Es kommen zum Beispiel die Nachder Bayerischen Staatsbibliothek verbracht, um Für Georg Hermansdorfer ist die barn des Chors, der mit ambitionierten LaiHandschriften durchzusehen. Hilfreich ist, dass Suche nach unbekannten Opern en besetzt ist. Es spricht sich rum. Außerdem heute sehr viel digitalisiert ist. besser als jede Abenteuerreise. schauen wir, dass wir immer sehr viele Kinder Trotzdem gibt es Fälle wie Die lustigen Weiber aus Windsor von Carl Ditters von Dittersdorf, das schlimmste Werk, und Jugendliche bekommen: Dieses Jahr haben wir 600 Kinder kosdas ich jemals ausgegraben habe. Es hatte einen Wasserschaden, und tenlos eingeladen. Das schönste Lob für mich ist, wenn Leute sagen: die Sächsische Landesbibliothek sagte: „Vergessen Sie’s, da können „Ich war noch nie in der Oper, aber es war sowas von toll!“ ■ Sie nichts mehr lesen.“ Infos zu Georg Hermansdorfers Produktionen finden Sie unter Ich dachte mir: „Das kann nicht sein, dass dieses Werk für immer www.erlesene-oper.de.

HINTER DER BÜHNE Die Welt von crescendo lebt von den Künstlern und Mitarbeitern, die sie mit Leben füllen. Deshalb der gewohnte Blick hinter die Kulissen der Produktion.

Seit über 20 Jahren ist Günther Egger als selbstständiger Fotograf tätig. Dabei jagt eine Auszeichnung die nächste: So wurde der Österreicher unter anderem 2015 und 2017 zum europäischen Fotografen des Jahres für „Produkt und Fashion“ gewählt und wird vom Lürzer’s Archive als einer der 200 besten Werbefotografen der Welt geführt. Egger ist auch Liebhaber der Oper und des Tanztheaters, fotografiert für Plakate und porträtiert Opernstars. Wir haben uns in seine Bilder von Brigitte Fassbaender verliebt, die dieses Jahr den ECHO KLASSIK für ihr Lebenswerk erhält (S. 32). www.guentheregger.at

ALEXANDER RAPP Er ist ein Multitalent. Im ersten Werdegang Physiker, spielt Alexander Rapp leidenschaftlich gerne Blockflöte, fotografiert, filmt, schreibt und pendelt dafür zwischen München, Berlin und Rotterdam. Gerade schließt er berufsbegleitend sein Musikwissenschaftsstudium ab. Zum Glück für crescendo muss er dafür ein Praktikum absolvieren. Für diese Ausgabe traf er sich unter anderem mit Cellistin Camille Thomas und der Alte-Musik-Revolutionärin Christina Pluhar. Außerdem betreute er die Rubrik Hören & Sehen. 10

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F OTO S: P R I VAT; W I N K L E R , B A D E N DO R F ; G Ü N TH E R EGG E R

GÜNTHER EGGER


PLAYLIST Seit drei Jahren ist Kevin John Edusei Chefdirigent der Münchner Symphoniker, seit zwei Jahren leitet er zudem das Konzert Theater Bern. Uns ließ er in seine persönliche Playlist hineinhorchen.

1. J.-P. Rameau: Ouvertüre zu Les Indes galantes, Orchestra of the 18th Century, Frans Brüggen Diese Aufnahme des Orchestra of the 18th Century unter Frans Brüggen ist eine meiner liebsten CDs. Rameaus Musik hat eine reiche Spannweite von Zartheit bis zu echtem Feuer.

ALPHA 371 1CD

2. Schubert: Die Nebensonnen, Christoph Prégardien, Andreas Staier Christoph Prégardien und Andreas Staier liefern eine atmosphärisch dichte Interpretation. Jedes Wort, jeder Akkord hat mehrere Bedeutungsebenen zwischen endloser Melancholie, Todesnähe und Hoffnung! „Im Dunkeln wird mir wohler sein.“ Das traurigste A-Dur der Welt.

Die Kontra-Altistin Delphine Galou präsentiert ein Rezital mit Werken aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die stark vom damals immer populärer werdenden Operngenre beeinflusst sind. Vivaldis berühmte Arie’ Agitata infido flatu’ aus ‘Juditha Triumphans’ wird ergänzt durch die Arie einer anderen ‘Judith’ aus einem Oratorium von Jommelli, Stradellas ‘Lamentationes’ und einer herrlichen Motette von Popora. Dieses Programm mit vielen unveröffentlichten Werken wird von Ottavio Dantone mit seiner exzellenten Accademia Bizantina dirigiert.

F OTO: M A RCO B O RGG R E V E

3. Brahms: Sonate für Viola und Klavier Es-Dur op. 120, Kim Kashkashian, Robert Levin Der zweite Satz der Es-Dur-Sonate schwankt zwischen stürmischen Wellen und zaghaften Annäherungen und gelangt im Sostenuto zu einer majestätischen ernsthaften Ruhe. Das strahlt Kraft und innere Ruhe aus. 4. Michael Wollny Trio: Be Free, a Way Düstere Cover-Version der Alternativ-Formation Flaming Lips. Die Begleitfigur in der Bassdrum kippt überraschend in eine metrische Modulation, die viel frischen Wind aufkommen lässt.

VIVALDI PORPORA JOMMELLI STRADELLA CALDARA...

5. Schubert: Symphonie Nr. 4, Münchner Symphoniker, Kevin John Edusei Diese Sinfonie des jungen Schubert ist so ganz anders, als man in der BeethovenNachfolge vermuten würde. Nach einer dichten langsamen Einleitung schert sich Schubert im Allegro nicht um KonventiKonventi onen, sondern deutet gefühlvoll entlegene harmonische Räume aus. Die Münchner Symphoniker und ich eröffnen hiermit unun seren Schubert-Zyklus.

ARIE, MOTTETTI E CANTATE

DELPHINE GALOU CONTRALTO ACCADEMIA BIZANTINA

OTTAVIO DANTONE

Franz Schubert: „Symphonie Nr. 4 ,Tragische‘, Symphonie Nr. 7 ,(Un)vollendete‘“, Münchner Symphoniker, Kevin John Edusei (Münchner Symphoniker)

11 WWW.ACCADEMIABIZANTINA.IT

Note 1 Music gmbh Carl-Benz-Str. 1 - 69115 Heidelberg Tel 06221 / 720226 - Fax 06221 / 720381 info@note1-music.com - www.note1-music.com


K Ü N S T L E R

Auf einen Kaffee mit …

CHRISTIAN BRÜCKNER

F OTO: N I CO L A S SC H N E L L E R

VO N C H R I S TA H A S S EL H O R S T

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Christian Brückner (*1943 in Waldenburg/Schlesien) ist ein deutscher Schauspieler und Synchronsprecher. Berühmt wurde er als feste Synchronstimme von Robert De Niro und als Sprecher in Dokumentarfilmen und Hörbüchern.

crescendo: Wieso haben Sie mit fast 74 Jahren nun zu singen angefangen? Christian Brückner: Ich kenne gar keine Zeit! Bin ich 74? Oder 474? Manchmal denke ich, schon mit den Dinosauriern über die Erde gewandert zu sein, fühle mich uralt in meinem eigenen Erleben. Anders gesagt: Als man mich fragte, wann ich denn in Pension gehe, sagte ich, wieso, ich habe doch noch gar nicht angefangen! Also warum jetzt singen? Sie haben Ihr neues Album „BrücknerBerlin“ mit Liedern und Texten als Ihr „Herzensprojekt“ bezeichnet … … weil es eine ganz nahe Verwandtschaft zwischen Sprache und Musik gibt. Mir wurde schon immer gesagt, meine Art mit Sprache umzugehen, sei musikalisch. Und es reizte mich seit Langem, Musik an ihrem Ursprung zu machen. Mit den beiden „Knaben“, Tim Isfort für die Musik und Antek Krönung für den Text, arbeite ich schon seit 20 Jahren zusammen. So entwickelten wir gemeinsam dieses Projekt.

„MANCHMAL DENKE ICH, SCHON MIT DEN DINOSAURIERN ÜBER DIE ERDE GEWANDERT ZU SEIN“ Man sitzt abends bei einem guten Rotwein und dann? Text und Musik habe ich den beiden komplett überlassen. Aber es sollte etwas mit mir zu tun haben und mit Berlin, wo ich seit über 40 Jahren lebe. Der Inhalt der zehn Songs ist pseudobiografisch, aber fast alle Lieder sind mir ganz nahe, haben durchaus mit meinem eigenen Erleben zu tun. Sie erzählen sehr viel vom Dasein – und auch von meinem Seelenzustand. Der Sound changiert zwischen Balladeskem und Bar-Musik? Etwas Balladenhaftes hat es. Aber wir drei sind alle große Jazz-Aficionados. Daher hoffe ich, dass die Jazz-Seele in etlichen Songs genug durchschimmert, trotz des opulenten Streichquartetts. Das Ganze sollte einen ganz eigenen Sound haben, einen unangestrengten, lässig-plaudernden Singsang. Also ja, zwischen Bar und Ballade ist okay! Sie leben seit Jahrzehnten – mit kurzem USA-Intermezzo Mitte der 1980er-Jahre – in Berlin. Wie hat sich die Stadt seit dem Mauerfall verändert? Total! Das alte Westberlin hatte durch seine Eingeschlossenheit einen Verlust an Offenheit, war etwas beschränkt. Direkt nach der Wende wurde es dann erst mal sehr ungemütlich, das merkte man sogar im Supermarkt. Dann kamen der recht schnelle Umbruch und die Wiedergeburt als Metropole. Warum zieht es jetzt so viele internationale Künstler an? Weil die Entwicklung hier am frischesten ist und am wenigsten abgeschlossen – bis auf die Architektur, da ist bislang nix Weltbewegendes passiert. In

Deutschland können meine Frau und ich nur in Berlin leben. Deswegen für mein Musik-Debüt der Titel „BrücknerBerlin“, ist doch eine ganz schöne Verbindung, auch wenn es ein wenig nach Zille klingt. Wie ist Ihr Verhältnis zu den Berlinern? Diese typische Schnoddrigkeit hat für mich immer noch etwas Preußisch-Militantes, Schneidendes. Dieses „Mir kann keener“! Ich fände es schön, wenn sich die „Ur-Berliner“ zwei Scheibchen abschneiden würden von der freundlichen Höflichkeit beispielsweise der New Yorker. Das Stichwort, denn dort lebt auch Robert De Niro. Sie sind seit vielen Jahren seine deutsche Synchronstimme, auch von Robert Redford und Harvey Keitel. Doch Brückner/De Niro wurde berühmt. Hat Sie das irgendwann genervt? Schließlich waren Sie auch als Schauspieler vor der Kamera, haben mit Ihrem eigenen Hörbuchverlag viele ambitionierte literarische Projekte realisiert. Oh ja, das ging mir sehr auf den Keks. Aber das ist lange vorbei. Diese Synchronisierungen sind letztlich Routine und keine große Herausforderung – bis auf Einzelfälle. Robert De Niro synchronisiere ich bis heute – auch die zahlreichen schlechten Filme, die er leider gemacht hat. Sein neuester Film The Comedian gehört wieder zu den besseren. Synchron konnte mich nie genug fesseln. Aber für Literatur hatte ich schon immer eine große Liebe. Und diese Aufnahmen für meinen eigenen Verlag, das war viel kreativer, vielfältiger in den Anforderungen. Sie wurden vielfach ausgezeichnet für Ihre Interpretationen, gelten als berühmtester deutscher Sprecher, kurz und ehrfürchtig „The Voice“ genannt. Macht Sie das stolz? Das ist ein Ehrentitel! Übrigens heißt der Synchronsprecher im Englischen „Voice Actor“, das trifft es meiner Meinung nach viel besser. Werden Sie im Restaurant oder beim Bäcker an Ihrer markanten Stimme erkannt? Egal, wo ich hinkomme, ich werde immer erkannt. Viele nennen auch meinen Namen, das finde ich ungewöhnlich, ist aber doch eine schöne Form der Anerkennung. Bald kann man „The Voice“ ganz real singend erleben, für Sommer 2018 sind Bühnenauftritte geplant? Das ist gerade noch in der Entwicklung … In einem der Lieder singen Sie vom Ort „Jottwede“, ein typischer Berliner Begriff. Wo ist Ihr privates „Jottwede“, wenn Sie vor die Tür gehen? Ich muss gar nicht vor die Tür, ich blicke von meiner Dachwohnung in Charlottenburg in den Berliner Himmel, das ist mein Lieblingsort! ■ „BrücknerBerlin“ (Argon) 13


K Ü N S T L E R

STRAHLENDE VERWANDLUNGSKÜNSTLERIN Für ihre Rollen schlüpft sie in Männerkleidung oder transformiert sich in eine Skulptur. Als Festspieldirektorin weiß Cecilia Bartoli dagegen genau, was sie will: Gute Führung heißt für sie emotionale Einbindung. VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL

Auf ihrem aktuellen Album „duelliert“ sich Cecilia Bartoli mit Star-Cellistin Sol Gabetta

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F OTO: ES TH E R H A A S E / D ECC A

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OH MEIN GOTT, ICH SEHE AUS WIE DER KLEINE BRUDER VON JOHNNY DEPP! ICH KÖNNTE EINE ZWEITE KARRIERE ALS MANN ANFANGEN

rau Bartoli, Sie machen wirklich alles mit. Mal sind Sie als kahlköpfiger Kleriker zu sehen wie auf dem Album „Mission“, dann verwandeln Sie sich in eine nackte, androgyne Marmorstatue wie bei „Sacrificium“. Und jetzt tragen Sie auch noch einen Bart … Cecilia Bartoli: Und einen wirklich langen Bart! Ich spiele die Titelpartie in Händels Ariodante, einer seiner schönsten Opern überhaupt neben der Alcina. Es ist nicht meine erste Hosenrolle. Mit 20 sang ich Mozarts Cherubino, später den Isolier in Rossinis Comte Ory. Einen so maskulinen Charakter wie Ariodante hatte ich allerdings noch nie. Als ich die Bilder sah, dachte ich mir: Oh mein Gott, ich sehe aus wie der kleine Bruder von Johnny Depp! Ich könnte eine zweite Karriere als Mann anfangen. Wollten Sie Ihrem Mann, ebenfalls einem Bartträger, Konkurrenz machen? Bei ihm ist der Bart ja weiß, sodass wir gar nicht in Konkurrenz stehen. Und: Mein neues Album kommt ganz ohne Bärte aus. Und ist auch ein Duell … Ein dolce duello, zwischen einer Blonden und einer Brünetten. Und einer Cellistin und einer Sängerin. Der Celloklang dürfte der menschlichen Stimme in seiner Mezzofarbe am nächsten sein. Ich bin eine große Bewunderin von Sol Gabetta, sie hat sehr viele Barock-Projekte gemacht. Und eines Tages fragte ich sie, ob sie nicht Lust hätte, etwas mit mir zu machen. Obwohl wir damals dachten, dass es nicht so einfach werden würde, Repertoire für diese Besetzung zu finden. Sie sind ja bekannt für Ihre musikalischen Entdeckungen. Diesmal haben wir einen Musikwissenschaftler beauftragt. Wir waren so erstaunt, wie viel es gibt! Wir haben wunderbare Arien von Antonio Caldara (1670–1736) gefunden. Er war selbst ein großer Cellist, wie auch Domenico Gabrielli (1659–1690). Außerdem Werke von Vivaldi, Händel und Albinoni. Das war unglaublich spannend. Ich habe sehr viel gelernt. Spielen Sie ein Instrument? Ja, Klavier. Der Lehrer hat Ihnen bestimmt immer wieder gesagt, Sie sollten auf dem Instrument „singen“. Aber für einen Sänger gilt genau das Gegenteil. Das habe ich von Sol lernen können. Etwas anders zu phrasieren und ihre Stimme zu imitieren. Das war gar nicht einfach, sozusagen „instrumental“ zu denken, um in den Dialog mit ihr zu treten. Seit 2012 sind Sie künstlerische und sehr erfolgreiche Direktorin der Pfingstfestspiele in Salzburg. Was liegt alles in Ihrer Verantwortung? Ich trage die künstlerische Verantwortung. Für jedes Jahr gilt es, ein Thema zu finden. Das kommt beim Publikum gut an. Diese Suche ist immer sehr aufregend für uns. Die Pfingstfestspiele sind recht kurz, weshalb wir uns genau überlegen müssen, welche Oper, welche Konzerte, welche Künstler wir in diesem Zeitraum unterbringen. Im nächsten Jahr werden wir uns mit dem Jahr 1868 beschäftigen. Es ist der 150. Todestag von Gioachino Rossini und zugleich ein Jahr der „Zeitenbrüche“. 1868 war Jacques Offenbach am Höhepunkt seiner Karriere. Anton Bruckner komponierte seine Motette Pange lingua, zudem

haben wir eine kammermusikalische Fassung von Johannes Brahms’ Deutschem Requiem. Und viel mehr. Ich bin aufgeregt und hoch motiviert. In Ihrer ersten Saison erlebten Sie gleich den Supergau einer Direktorin: Anna Netrebko sagte wegen Krankheit ab. Oh ja! Das war sehr schwierig, doch ich konnte Anna verstehen. Ich bin ja selbst Sängerin und kenne das. Ich sagte damals zum Intendanten Alexander Pereira, es gebe nur zwei Möglichkeiten: Entweder er würde singen oder ich. Wie lange laufen normalerweise die Planungen? Wir brauchen mindestens zwei Jahre, um alles zu organisieren. Gute Künstler sind sehr beschäftigt. Man muss schnell sein. Manche haben Termine bis in das Jahr 2025! Rolando Villazón wird diesmal kommen, Daniel Barenboim und Jonas Kaufmann. Und viele andere. Die Chefin singt auch … Ja. Ich werde die Isabella in Rossinis Oper L’italiana in Algeri singen. Neben der Position bei den Pfingstfestspielen sind Sie weiterhin freischaffende Künstlerin. Welche Unterschiede gibt es? Das Angebot vor sechs Jahren, die künstlerische Leitung der Pfingstfestspiele von Riccardo Muti zu übernehmen, kam genau zur richtigen Zeit. Ich singe seit vielen Jahrzehnten, habe viel Bühnenerfahrung, in unterschiedlichsten Projekten mitgewirkt. Ich bin die erste Frau in einer solchen Position in Salzburg, die vor Maestro Muti Herbert von Karajan innehatte. Das ist eine große Ehre, aber auch eine große Verantwortung. Was heißt „führen“ für Sie? Ich versuche, alle in das Projekt emotional zu involvieren, bin selbst leidenschaftlich dabei. Von Anfang an, jeden Tag. Viele Dinge erlebe ich jetzt aus einer Perspektive, die ich als Künstlerin nicht kannte. Dinge in der Organisation, dem Budget, der Technik. Man muss integrativ wirken! Wir sind mittlerweile zu einem sehr professionellen Team zusammengewachsen, es macht großen Spaß! Wir haben jetzt auch ein Originalklangensemble, Les Musiciens du Prince aus Monaco, das ich mit Unterstützung von Fürst Albert und Prinzessin Caroline gegründet habe. 2016 brachten Sie die Westside Story auf die Bühne, ein Traum von Ihnen. Haben Sie als künstlerische Direktorin mehr Freiheit? Für mich ist Westside Story eines der größten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts, eine Stil-Fusion aus Oper und Musical. Es war nie in Salzburg auf die Bühne gebracht worden. Der Regisseur hatte die blendende Idee, mich im Hintergrund singen zu lassen, während die Protagonistin Maria im Vordergrund agierte. Im letzten Jahr bin ich 50 geworden, die perfekte Zeit, um solche Flashbacks zu machen. Wenn Sie Ihre imposante Karriere in drei Worten umschreiben müssten … … Disziplin, viel Arbeit. Passion. Und immer noch das Gefühl, dass Gott in der Musik ist. ■ „Cecilia & Sol: Dolce duello“, Cappella Gabetta, Andres Gabetta (Decca)

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Eine besondere Diät hält die Stimme von Juan Diego Flórez fit

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ES IST DIE MELANCHOLIE IN MEINER STIMME. DAS HILFT, WENN MAN ROLLEN WIE DEN ROMEO SINGT

MOZART WAR SCHULD Der peruanische Tenor Juan Diego Flórez ist auf dem Zenit seiner Karriere: berühmt und gefeiert für seine Klang-Eleganz, seine Phrasierung und die Brillanz seiner hohen Töne. Uns verrät er, was das mit Mozart, Käse und einem Waschbrettbauch zu tun hat. VON BARBARA SCHULZ

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ie gelten derzeit technisch als der beste Tenor der Welt. Macht das Druck? Juan Diego Flórez: Ich glaube nicht, dass ich der beste Tenor der Welt bin. Aber ja, ich konzentriere mich sehr auf meine Arbeit: gut zu singen, immer besser im Ausdruck zu werden, besser zu phrasieren, besser zu intonieren. Und ich bin sehr selbstkritisch. Das ist das eine. Das andere ist, dass ich mich darauf freue, mein Repertoire zu erweitern. Auch, weil es eine Herausforderung ist. Traviata, Norma … So viele neue Titel! Es ist aufregend! Ihre musikalische Karriere begann mit Pop, Rock und lateinamerikanischer Musik. Wann haben Sie gespürt, dass Sie Klassik singen wollen? Eigentlich war Mozart schuld! Als ich am Gymnasium war, hörte ich Rock und Pop, schrieb eigene Songs, gab Konzerte, alles mit meiner Gitarre. Ich war 15 oder 16. Danach ging ich aufs Konservatorium, weil ich etwas über Musik lernen wollte. Wie man sie aufschreibt, wie man sie liest und wie man besser singt. Der Gesangsunterricht schult natürlich die Opernstimme. Was ist passiert? Ich habe gemerkt: Wow, ich mag das! Und so hab ich angefangen, die Stimme zu schulen. Sie wurde lauter, bekam mehr Vibrato – meine Freunde haben über mich gelacht. Aber ich mochte diese Art zu singen immer mehr. Und Sie konnten es … Ja, mehr oder weniger. Und dann ist es passiert: Ich habe angefangen, diese Musik zu lieben – vor allem Mozart. Während meines ersten Jahres am Konservatorium war ich im Chor. Als ich 18 war, haben wir in der Zauberflöte mitgewirkt – ein unglaubliches Erlebnis. Da habe ich beschlossen, Opernsänger zu werden und die Popmusik hinter mir zu lassen. Ich war begeistert, aber auch

unsicher. Ich fragte alle Leute: „Glaubst du, dass ich ein Opernsänger werde? Denkst du, dass ich Talent habe?“ Und sie haben geantwortet: „Ach ja, wenn du fleißig bist und übst.“ Also habe ich drei Jahre lang in Lima studiert, dann in Amerika. War von Anfang an klar, dass Sie ein Belcanto-Tenor sind? Ich habe bereits im zweiten Jahr angefangen, Arien mit viel Koloraturen zu singen – La Clemenza di Tito, später Händel, Rossini. Ja, irgendwie war es klar. Auch als ich Ernesto Palacio traf, meinen Agenten, sagte der, ich solle Rossini singen. Nicht, dass es einfach gewesen wäre – Rossini ist nie einfach –, aber ich konnte es! Ohne zu krächzen, ohne mich umzubringen. Man sagt Ihnen „Tränen in der Stimme“ nach … Das ist geschrieben worden, als ich den Werther gesungen habe. Ich weiß, dass ich vor allem in tragischen Rollen gut bin. Orphée, La sonnambula, Werther … Es ist die Melancholie in meiner Stimme. Das hilft, wenn man Rollen wie den Romeo singt. Zugleich ist sie warm und hell … Ja, und wohl auch ergreifend – die Leute müssen weinen. Gestern, am Ende der Lucrezia Borgia (Salzburger Festspiele 2017, Anm. d. Red.), als Gennaro stirbt: ein sehr berührender Moment. Ich konnte von der Bühne aus sehen, dass die Leute weinen. Natürlich ist man da auch selbst berührt – man hat das ja provoziert. Von Rossini und Meyerbeer haben Sie gesagt, die würden Ihrer Stimme passen wie ein Handschuh. Jetzt machen Sie ein Mozart-Album – auch ein Handschuh? Ja, es ist ähnlich. Aber viele fragen sich, warum ich Mozart noch nie auf der Bühne gesungen habe. Das liegt daran, dass ich meist Belcanto singe. Und Belcanto ist üblicherweise für den König abonniert. Bei Mozart gibt es Könige aber nur in La Clemenza di 17


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Tito und Idomeneo. Die großen Rollen sind bei ihm meist dem Probleme mit ihrer Stimme. Sie kennen das nicht? Sopran oder Mezzo vorbehalten, der Tenor ist eine eher kleine Stimmen sind unterschiedlich. Manche Menschen haben ein sehr Figur wie Ottavio, Fernando … Sie haben schöne Arien, aber auf empfindliches Instrument, manche ein sehr starkes. Meines ist die Frage, ob ich den Barbiere oder Così fan tutte singen will, sage zum Glück seit fast 22 Jahren sehr stark. Aber ich hatte auch nie ich: den Barbiere. Dennoch habe ich Mozart konzertant immer gut Angst darum. Plácido Domingo hat ein sehr starkes Instrument. gesungen und war öfter knapp davor, in einer neuen Inszenierung Und ich glaube, auch Kaufmann. Aber es gibt nun mal diese mitzuwirken. Irgendwann werde ich es tun. Phasen, in denen man ständig krank wird. Singen Sie Mozart jetzt erst, weil sich Ihre Stimme langsam Es heißt, Sie essen der Stimme zuliebe keinen Käse? verändert? Na ja, wenig. Tatsächlich müssen wir Sänger aufpassen, was wir Nicht unbedingt. Aber ja: Mozart ist sehr zentral und nicht hoch, essen. Meine Frau kocht eine spezielle Diät für mich. Was aber sitzt sozusagen in der Mitte. Das Zentrum meiner Stimme ist jetzt viel wichtiger ist: Ich mache viel Sport. Schließlich benutzen wir größer. Das hilft bei Mozart. ja unsere Muskeln sehr viel. Werden Sänger nämlich dick, wird Also auch eine Alterssache? auch ihre Stimme dick. Pavarotti sagte einmal: „Wenn dir jemand Ein bisschen vielleicht. Aber ich hätte ihn auch schon früher singen erzählt, dick zu sein wäre gut für deine Stimme, dann lügt er.“ Ist können. Mozart ist leicht, hat keine hohen Töne. Wie gesagt: Es aber alles hart wie ein Waschbrett, dann ist die Stimme gut. Nicht sitzt alles in der Mitte. Manche Mozartrollen könnten sogar von umsonst gibt es heute so viele Sänger, die fit aus sehen, schlank einem Bariton gesungen werden. sind und dabei große Stimmen haben. Wir müssen uns wie Haben Sie Angst davor, dass Ihre Athleten sehen, wir brauchen viel Stimme altert? Luft, viel Muskeln – da sollten wir Meine Stimme hat sich ja schon verdurchtrainiert sein. Auch ich habe ändert. Ich habe kürzlich meine mich schon mal schwergetan mit Tenorarien von Lucrezia Borgia von Koloraturen. Was war los? Ich 2007 gehört. Das ist einfach eine hatte Bauch angesetzt. Also habe andere Stimme, nicht besser, nicht ich weniger gegessen, der Bauch schlechter – einfach anders, dunkwar weg, und schon war die ler, runder. Das Gute daran: Ich Leichtigkeit in den Koloraturen treffe die hohen Töne immer noch. wieder da. Die Muskeln müssen Sie klingen anders, aber immer bei Koloraturen extrem flexibel noch gut und hell. Und ich kann sein. immer noch Rossini singen. Das ist Gibt es ein Vorbild? ein Glück. Denn oft ist es so, dass Als ich auf dem Konservatorium man das leichte Repertoire nicht angefangen habe, hatte ich mich mehr singen kann. noch nicht so viel mit klassischer Ihre Stimme scheint keine MüdigMusik beschäftigt, bekam aber eine keit zu kennen. Kassette von Pavarotti. Ich war tief Oh, danke! Aber ja, ich bin einer der beeindruckt, wie man so singen wenigen Sänger, die jedes Konzert kann. Ich wollte wie er sein. allein machen. Ich gebe LiederSie engagieren sich auch sozial, abende, an denen ich bis zu 25 Stü„IST ALLES HART WIE EIN WASCHBRETT, vor allem für Nachwuchs bei den cke singe, meist Opernarien. Aber Sängern in Peru, wofür Sie den DANN IST DIE STIMME GUT“ ich bin es gewöhnt und fühle mich Crystal Award bekommen haben. am Ende immer noch frisch. Ich Ja, ich war erstaunt, dass das so glaube, man macht irgendetwas schnell wahrgenommen wird. Ich falsch, wenn die Stimme ermüdet. Natürlich wird man insgesamt hatte gesehen, wie gut das System in Venezuela funktioniert: Seit müde, aber man sollte weitersingen können, noch eine Arie und 45 Jahren werden dort Kinder aus armen Verhältnissen in die noch eine und noch eine … Dazu muss man seine Stimme einfach Chöre und Orchester geholt. Genau das wollte ich in Peru machen. gut behandeln. Sie ist keine Violine oder so etwas. Sechs Jahre gibt es diese Einrichtung nun, 7.000 Kinder, 21 Zentren Und wie tun Sie das? in verschiedenen Teilen Perus. Und die Kinder sind so glücklich. Wenn ich zwischen Konzerten oder Auftritten zwei, drei Tage Weil sie etwas zu tun haben! Sie haben die Musik, sie haben Werte Pause habe, dann singe ich nicht. Ich schone meine Stimme und und sie haben eine große Familie. Das macht die Welt ein bisschen spreche ganz normal. Falls ich etwas üben muss, tue ich das ohne besser. zu singen, dann lese ich die Musik nur und trällere. Das ist Pesaro oder Wien – wo wohnen Sie lieber? ungemein wichtig. Denn wenn man Proben hat, dann singt man Es ist die Kombination! Ich liebe Wien, es ist die Stadt, in der ich jeden Tag mit voller Stimme. Das ist zu viel. am liebsten lebe auf der Welt. Wir sind seit 2015 da, die Kinder Sie sind grundsätzlich sehr interessiert an Stimmen, vor allem gehen dort in die Schule. Aber natürlich: Italien im Sommer, an der Technik … Strand, Meer … In Kombination mit Wien, mit seiner Kultur, dem Ja, weil sie so etwas Besonderes, so individuell ist. Verschiedene Theater, den Konzerten – besser geht’s nicht! ■ Sänger tun ganz verschiedene Dinge. Ich bin neugierig und „Mozart“, Juan Diego Flórez, Orchestra La Scintilla, beobachte meine Kollegen. Es interessiert mich zu sehen, was sie Riccardo Minasi (Sony) tun, während ich mit ihnen singe. In allen steckt etwas Gutes – nur Termine: 2.11. Zürich (CH), Opernhaus; 6.11. Berlin, Philharmonie; so lernen wir. 22.11. Wien (AT), Konzerthaus Viele Sänger, auch Jonas Kaufmann, haben immer wieder 18

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MEINE KLASSIK Die Verismo-Diva mit ihrem ersten Studio-Recital seit sechs Jahren angela-gheorghiu.eu

Lustvolle Improvisation über Händel mit Valer Sabadus, Núria Rial und dem Jazz-Klarinettisten Gianluigi Trovesi christina-pluhar.de Madrigale, Comedian Harmonists & Paul Simon: The Sound of The King’s Singers auf 3 CDs

Philippe Jarousskys erstes Händel-Album mit Raritäten und Entdeckungen philippe-jaroussky.de

Die neue Stimme der Trompete: Luciennes Debüt von Barock bis Broadway feat. Rolando Villazón & Erik Truffaz luciennetrumpet.com

Premiere mit romantischen Seelenlandschaften: Fazıl Says erstes Chopin-Album fazil-say.de

Maria Callas – neu erlebt! Remastered Live Recordings – Limited Deluxe-Edition maria-callas.de

warnerclassics.de

MEINE KLASSIK


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EIN BABY KANN JA AUCH SECHS STUNDEN AM STÜCK SCHREIEN, OHNE SICH SELBST ZU SCHADEN

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OLYMPISCHE STIMMBÄNDER Die kanadische Sopranistin und Dirigentin Barbara Hannigan stürzt sich unerschrocken und mit kompromissloser Energie in ihre musikalischen Projekte. Dabei befeuern sich ihre unterschiedlichen Talente gegenseitig.

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VO N K AT H ER I N A K N EE S

ie Lulu-Suite von Alban Berg haben Sie schon oft selbst dirigiert und nun für Ihr neues Album aufgenommen. Inspiriert die Arbeit als Dirigentin Ihr Spiel als Lulu auf der Opernbühne und andersherum? Barbara Hannigan: Oh ja, natürlich. Lulu ist eine kontinuierliche Entdeckung, wird es immer sein. Bei so einem Meisterwerk ist man nie damit fertig, etwas Neues zu lernen – über die Musik, über Alban Berg, über das Menschsein, über Beziehungen – es steckt das ganze Leben darin. Sogar auf der Bühne, während ich spiele, entdecke ich Lulu immer wieder neu und bleibe nicht einfach bei dem, was ich mir vorgenommen habe. Als Dirigentin und als Sängerin beschäftige ich mich immer wieder mit der Partitur, denn die ist Lulus DNA. Ich bin dann Wissenschaftlerin und Psychiaterin zugleich. Ich versuche, Lulu immer mehr zu ergründen, mache dabei neue Entdeckungen. Dadurch ändert sich meine Perspektive auf Lulu immer wieder. Ich hätte die Rolle niemals mit unter 30 spielen wollen. Und wenn ich die Oper eines Tages irgendwann mal dirigiere, werde ich auch nach Sängern gucken, die unbedingt mit ihrer Lebenserfahrung die Rollen ausfüllen können. Man kann nichts spielen, wenn man nichts erlebt hat. Was waren wichtige Impulse von außen, die Ihre Karriere als Sängerin geprägt haben? 1994 und 1996 war ich zum Studium im kanadischen Banff, das war eine wunderbare Zeit. Mein Lehrer Richard Armstrong gehörte zur Roy Hart Theater Group, die sich intensiv damit auseinandergesetzt hat, die stimmlichen Möglichkeiten zu erweitern, ohne der Stimme dabei zu schaden. Da habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, dass man in jeder Probe immer 100 Prozent emotionalen und physischen Einsatz bringen muss, auch wenn das Adrenalin fehlt, das man auf der Bühne hat. Man schadet nicht der Stimme, indem man die falsche Musik singt, sondern nur, wenn man müde oder nicht ganz bei der Sache ist, denn dann hat man nicht die volle Spannung. Ein Baby kann ja auch sechs Stunden am Stück schreien, ohne sich selbst zu schaden. Und kann das am nächsten Morgen gleich wiederholen. Einfach, weil es mit Leib und Seele dabei ist. Beim Singen ist das genauso. Sie singen gerne Stücke, die musikalisch und körperlich extrem sind, wie zum Beispiel Berios Sequenza III for voice. Gibt es da ein besonderes Rezept für den Umgang mit der Stimme? Ich singe nun schon 25 Jahre lang professionell und habe glücklicherweise ein sehr gesundes Instrument. Wenn Spezialisten meine Stimmbänder sehen, sind sie oft überrascht, in welch einem guten Zustand sie trotz meines Alters und der kontinuierlichen enormen Belastung sind. Sie sind ein bisschen länger als gewöhnlich für jemanden meiner Größe und auch ein bisschen breiter als üblich. Ein Arzt sagte mal, ich hätte olympische Stimmbänder. Wenn man

etwas gerne macht, dann ist es gar nicht anstrengend. Ich bin so dankbar für die Möglichkeiten, die ich habe. Normalerweise reicht das schon aus, um mich mit der Energie zu erfüllen, die ich brauche. Sie müssten mich aber mal sehen, wenn ich meine Steuererklärung mache. Puh, wenn ich meine Steuererklärung singen müsste, wäre ich dabei sicher müde und gelangweilt und müsste aufpassen, dass ich meiner Stimme nicht schade. In Sachen Oper haben Sie in letzter Zeit mit Andreas Kriegenburg, Sasha Waltz, Katie Mitchell, Christoph Marthaler und Krzysztof Warlikowski gearbeitet. Wie sieht eine gelungene Arbeit zwischen Regisseur und Sänger aus? Das kann ganz unterschiedlich sein. Mit Andreas Kriegenburg habe ich gar nicht so viel gesprochen, und trotzdem ist etwas ganz Besonderes entstanden. Mit Christoph Marthaler ist es sehr angenehm und amüsant, wir haben viel gelacht. Jetzt habe ich zwei Sommer hintereinander die Melisande gesungen. Einmal in Aix-en-Provence mit Katie Mitchell und dann in diesem Jahr bei der Ruhrtriennale mit Warlikowski. Ich arbeite oft mit den beiden, und manchmal überlappen sich die Produktionen dann irgendwie. Es ist spannend, sie haben einen so unterschiedlichen Stil. Krzysztof zeigt viel und Katie beobachtet sehr viel mehr. Für mich ist es toll, sie beide in meinem Leben zu haben. Wir kennen uns mittlerweile sehr gut. Ich würde sagen, wir sind nicht mehr in der Dating-Phase, sondern führen eine echte Beziehung. Ist das Ludwig Orchestra, mit dem Sie das Album „Crazy Girl Crazy“ aufgenommen haben, auch so ein musikalischer Glücksfall, bei dem Sie sofort ein gutes Bauchgefühl hatten? Oh ja! Wir arbeiten schon seit 2012 zusammen. Mit Ludwig habe ich 2014 mein Debüt im Concertgebouw in Amsterdam gegeben, und das Konzert war einfach verrückt. Es war ein unfassbares Erlebnis. Wenn Sie ein Kartenspiel haben, dann gibt es da immer einen Joker. Und Ludwig ist ein ganzes Ensemble voller Joker. Jeder, der dort mitspielt, ist mit ganzem Herzen dabei. Das Orchester ist wie ein Phönix. Nachdem viele Orchester in Holland durch finanzielle Kürzungen aufgelöst wurden, haben sich die besten Musiker dort versammelt. Wenn ich in ihre Gesichter schaue, dann sehe ich darin wie in einem Spiegel mein eigenes. Das ist fantastisch. Wir können so weit gehen und so viele Dinge ausprobieren, weil wir so gerne zusammenarbeiten. Gemeinsam das Album mit Berg, Gershwin und Berio aufzunehmen, war die Erfüllung unserer gemeinsamen Träume. Es sind die persönlichsten Aufnahmen, die ich je gemacht habe. ■ „Crazy Girl Crazy“, Barbara Hannigan, Ludwig Orchestra (Alpha) Termine: 30.10. Wien (AT), Konzerthaus 21


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MUT ZUR WAHRHEIT! Von ihrer bodenständigen Kindheit in Bulgarien sang sich Vesselina Kasarova auf die großen Bühnen der Welt. Heute verkörpert sie nicht nur Rollen von Jüngling bis Femme fatale, sondern redet auch Klartext darüber, was sie von Botox spritzenden Kolleginnen und dem Druck des Kulturbetriebs hält.

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VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL

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WENN MAN IN EINEM SO ARMEN LAND AUFGEWACHSEN IST, HAT MAN VIEL MEHR FANTASIE

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uf der Bühne die große Diva, voller Pathos, Abgründe der eigenen Stimme gehen kann; ich hätte nie die Dimensionen und Leidenschaft. Doch sobald der Vorhang fällt, eine geahnt, die dies annehmen würde.“ Ein Festvertrag führte sie 1989 fragil wirkende Frau, die scheu ihren Applaus entgegennimmt. Kein direkt in den Westen an das Opernhaus Zürich. Dann ging alles Widerspruch, sondern die wahre Vesselina Kasarova. Posen sind sehr schnell. Nachdem sie 1992 Marilyn Horne in Rossinis Tanihr fremd, narzisstische Zurschaustellung noch mehr, sie hat etwas, credi bei den Salzburger Festspielen vertrat, war der internationale das vielen Künstlern im modischen Star-Geflatter oft abgeht: das Durchbruch gelungen. Heute hat sie über 50 Rollen in ihrem Wissen um die eigene Würde – weshalb sie nicht müde wird, die Repertoire, die vom pubertierenden Jüngling bis zur Femme fatale Zustände im Musik- und Opernbetrieb anzuprangern. Als ober- reichen. Händel, Mozart, Rossini sind die Säulen, doch auch das flächlich, selbstverliebt, mitunter auch rücksichtslos empfindet sie italienische Belcanto-Fach, Donizetti und Bellini sowie die Prinihn, und nicht erst, seitdem sie die 50 überschritten hat – das kriti- zessin Eboli in Verdis Don Carlos. Französische Partien wie Bizets sche Alter für Sänger, in dem mancher gerne dazu neigt abzurech- Carmen und die Titelrolle in Offenbachs La belle Hélène hat sie nen. Nein, seit Beginn ihrer Karriere, die Anfang der 1990er-Jahre sich erarbeitet wie auch die Hosenrollen von Richard Strauss sowie ihren spektakulären Lauf nahm, spricht sie aus, was Kollegen nur ein umfassendes Lied- und Konzertrepertoire. hinter vorgehaltener Hand sagen: dass man für den Erfolg, für den Behutsam geht sie bis heute jede Partie an, mit sanfter BeharrGlanz einen hohen Preis zahle – körperlich, seelisch und im Priva- lichkeit und kritischem Bewusstsein. Die kluge Ökonomik im ten. Das war seinerzeit mutig und ist es im Zeitalter des gnadenlo- Umgang mit Stimme und Ausdrucksmittel hat ihr das lange Sängersen Wettbewerbs umso mehr. leben ermöglicht. Viele Karrieren endeten heute nach zehn oder 15 Und trotzdem gelang ihr – wie Cecilia Bartoli – eine große Jahren, beklagt sie. Die Schuld sieht sie im Betrieb: „Hauptsache, Karriere, die immer noch anhält, was man von vielen anderen nicht man funktioniert.“ Junge Stimmen werden oft überlastet, Interprebehaupten kann. „Einmal gehört und nie vergessen“, schrieb einst ten „singen sich krank“, haben bereits mit Anfang 30 ernsthafte Proein Journalist über Kasarovas Mezzo, ein einziges Wunderwerk an bleme. Operationen werden heute als „normal“ betrachtet. Sie dunklen und immer noch dunkleren, glühenden Farben, das kenne Kolleginnen, die sich Botox in die Stimmbänder haben spritzugleich hell tönen kann wie eine Glocke. Wer zen lassen. „Ich war absolut sprachlos, schosie auf der Bühne erlebt, ist fasziniert von ihrer ckiert. Welchen Sinn soll das haben? Wenn VIELLEICHT BIN ICH schauspielerischen Intensität, die von unschulman Knoten oder andere Probleme hat, kann MANCHMAL diger Mädchenhaftigkeit bis hin zur Bösartigman oft mit richtigen Übungen die Stimmbänkeit einer Xanthippe reicht. „Ich habe immer der wieder entspannen. Dazu braucht es aber ZU EHRLICH für eine neue Gestaltung auf der Bühne Zeit, und die Gesellschaft gibt diese Zeit nicht.“ gekämpft. Bei meiner Ausbildung in Bulgarien Und auch das „Fitspritzen“ mit Kortison, wie legte man sehr großen Wert auf den schauspielerischen Aspekt. im Sport, scheint kein Tabu mehr zu sein, wie man liest. Sehr intensiv war das. Man braucht erst eine enorme Sicherheit Zeit hat sich Kasarova für ihr neues Album mit Liedern des beim Singen, bis man es schafft, dass Ausdruck und die nötige kör- deutsch-französischen Violinvirtuosen, Musikpädagogen und perliche Sprache im Einklang sind. Die Technik muss hundertpro- Komponisten Henri Marteau (1874–1934) genommen, darunter die zentig da sein, man darf nicht denken: Wie soll ich das singen? Das erst 2016 entdeckten Lieder für Gesang und Klavier op. 19c und die ist ein sehr langer Weg.“ Acht Gesänge mit Klavierbegleitung op. 28. Sie war überrascht, wie Der Weg begann im bulgarischen Stara Zagora. Hier wurde sehr die impressionistisch angehauchten Gesänge sie in Anspruch sie 1965 geboren. Und sie ist davon überzeugt, dass sie ihre Kraft nahmen – trotz ihrer gut 30-jährigen Erfahrung. „Das war viel und Bodenständigkeit ihrer glücklichen Kindheit in Bulgarien Arbeit, wir haben viel ausprobiert, Dynamik, Tempi, nichts war festverdankt. „Wenn man in so einem armen Land aufgewachsen ist, gelegt. Kaum jemand hatte sich wohl getraut, sie aufzunehmen. Und hat man viel mehr Fantasie. Und der Wille herauszukommen, ist ich dachte mir: typisch Vesselina!“ Sie lacht. Ja, sie wäre nicht sie sehr viel größer. Man hat auch mehr Mut.“ Dankbar sei sie dafür, selbst, wenn sie sich nicht darauf eingelassen hätte, auf diese mühdass sowohl ihre Mutter, eine Sekretärin und studierte Ökonomin, same Suche nach jenen Farben, die Emotionen existenziell wahrhafwie auch der Vater, der eine Autofirma besaß, sehr schnell verstan- tig erscheinen lassen. „Vielleicht“, räumt sie in einem Moment unseden, dass sie musikalisches Talent hat. Sie ließ sich zunächst als res Gesprächs ein, „bin ich manchmal zu ehrlich. Dabei will ich gar Konzertpianistin ausbilden und darauf eine fünfjährige Gesangsnicht arrogant wirken. Doch die Menschen lieben ausbildung folgen: „Ich habe mit Sängern gearbeitet, sie begleitet die Wahrheit nicht. In der Musik aber kann ich und mich mit der Frage beschäftigt, wie man mit der Stimme erst recht keine Kompromisse machen.“ ■ umgeht. Ich habe mich gefragt: ‚Warum sind die manchmal Henri Marteau: „Lieder“, Vesselina Kasarova, Galina Vracheva, unsauber, warum zu tief oder zu hoch?‘ Ich habe sozusagen aus Dietrich Fischer-Dieskau (Solo Musica) Neugier angefangen zu singen. Ich wollte wissen, wie weit ich mit 23


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GRANDIOSE FUSION Christina Pluhar verbindet Stücke des Barock mit Jazzimprovisationen. Der neue Sound ist ihr Markenzeichen geworden – ein endgültiges Label mag sie sich jedoch nicht aufstempeln lassen.

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VON ALEXANDER RAPP

spezifische Sound der Musik nicht herausbilden können. azz trifft Alte Musik. Sie sind eigentlich Lautenistin Für das aktuelle Album haben Sie bewusst zwei Ensembles und unterrichten Harfe. Wie kamen Sie auf die Idee zur nebeneinandergestellt, die diese verschiedenen Sprachen Fusion dieser beiden Stile? sprechen: Die „Barock-Combo“ L’ Arpeggiata und eine JazzChristina Pluhar: Über die ostinaten Bässe aus der italienischen Combo. Wie finden die zusammen? und spanischen Musik kann man wunderbar improvisieren. Dafür Bei mir dauert es immer jahrelang, bis ein Projekt auf CD ist. Das nimmt man Stücke, die nach Art der Ciaccona, der Follia oder der Bergamasca aufgebaut sind, also quasi die ganzen Standards des 17. muss reifen. Man kann so ein Projekt nur mit sehr viel Ernsthaftigkeit, Achtsamkeit und Respekt Jahrhunderts. 2003 hat der vor der Musik angehen. Sonst Jazzklarinettist Gianluigi HÄTTE MAN ZWEI VON DEN BEATLES ZU kann man sehr leicht ins Trovesi mit uns darüber Kitschige abrutschen oder die improvisiert, daraus entstand DEN ROLLING STONES GESTECKT, Musik völlig zerstören. Wir das Album „All’improviso“. HÄTTE SICH DER SPEZIFISCHE SOUND probieren viel aus und finden die Zehn Jahre später kam dann DER MUSIK NICHT HERAUSBILDEN KÖNNEN. passenden Stücke, die sich für „Purcell – Music for a while“ diese Art zu musizieren eignen. und jetzt ganz aktuell das Mir ist auch wichtig, den Input Album „Händel goes wild“ dazu. Durch die lange Zusammenarbeit mit den gleichen Jazzmusi- der Gastmusiker mit reinzubringen. Das ist das Spannende bei den Gästen. Der Pianist zum Beispiel, Francesco Turresi, hat eine kern hat sich eine eigene musikalische Sprache entwickelt, und unglaublich subtile Art, die Harmonien anzupassen und zu zwar nicht nur in der Interpretation der barocken Musik, sondern verändern und von der einen Sprache in die andere zu wechseln, auch im Jazz. weil er eben beide Sprachen sehr gut kennt. Ich lasse meinen Die Ornamentik in der Alten Musik hat aber einen ganz Musikern generell gerne kreative Freiheit. Jeder hat einen wirklich anderen Ausdruck als im Jazz. solistischen Platz. Ich glaube, dass zehn Köpfe schlauer sind als Die musikalischen Sprachen sind natürlich verschieden, aber die einer. Wenn jeder seine eigenen Ideen einbringt, ist es einfach musikalische Grundidee ähnelt sich sehr: die Improvisation über schöner, kreativer und auch lustiger. Wenn Musik machen keinen Ostinatobässe und die Freiheit der Sänger und Instrumentalisten, Spaß macht, muss man einen anderen Beruf ergreifen. die Melodie kunstvoll zu verzieren. Das gibt dann eine Art neue Was dabei entsteht, ist etwas Neues. Keine reine Jazzmusik, Musik aus einem alten Thema. keine reine Barockmusik … Nicht nur über die Zusammenarbeit mit Jazzmusikern haben Es ist die Frage, ob man ein Label braucht. Tatsächlich sind solche Sie einen eigenen Klang geschaffen. Mit L’ Arpeggiata haben Sie Schubladen etwas, womit man sich als Künstler sehr ungern ein Ensemble, das sehr flexibel und doch wiedererkennbar ist. auseinandersetzt. Stellen Sie sich mal vor, ein Picasso hätte das In der Alten Musik ein Ensemble zusammenzustellen und einen Label bekommen: Der malt nur in der blauen Phase. Eine graueneigenen Sound zu entwickeln, ist schwierig, weil die Musiker in hafte Vorstellung. Die Labels machen immer die anderen Leute, nie vielen verschiedenen Ensembles in ganz Europa spielen und sich dadurch der Klang angleicht. Deshalb ist es mir wichtig, über lange der Künstler selber. Der Künstler versucht, etwas Neues zu schaffen, was sehr viel Zeit und Kraft kostet. Man schöpft aus Zeit mit den gleichen Musikern zu arbeiten. Wenn man zwei von seinem Inneren, es entsteht etwas, das dann nachträglich in den Beatles zu den Rolling Stones gesteckt hätte, hätte sich der 24

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Lautenistin Christina Pluhar wagt sich an einen jahrhunderteübergreifenden Stilmix

irgendwelche Schubladen gepackt wird. Von Journalisten zum Beispiel … Von Journalisten oder von Plattenfirmen, auch von Plattengeschäften. Auch im Konzertleben gibt es dieses Schubladendenken. Gewisse Säle machen nur eine Art von Musik, und wenn ein Saal der Klassik mal World Music macht oder Jazz, dann findet man im Programmheft Klassik rot und Jazz blau, damit die Leute sich auch ja auskennen. Ich glaube, dass das Publikum diese Orientierung braucht. Schreibt man irgendwo „Oper“ drauf, wissen die Leute, da singt jemand auf eine bestimmte Art und Weise. Wir sind heute gewohnt, auf iTunes oder in ein Geschäft zu gehen und in den Kategorien zu suchen, die uns angeboten werden, egal ob bei Film oder bei Musik. Aber als Künstler denkt man einfach anders, wenn man etwas Neues erschaffen will. Ich denke nicht: „Jetzt brauche ich etwas für Schublade X.“ Man arbeitet mit der Musik, der Materie, mit seinen Ideen, mit den Musikern und Sängern, mit denen man Lust hat zu arbeiten. Das sind die Kriterien, die dann ein Projekt ausmachen. Haben Sie eine Vorstellung von den Menschen, die Sie mit ihrer Musik erreichen wollen? Es war mir von Anfang an ein Bedürfnis, dass die Musik, die ich so liebe und mit der ich mich so intensiv mein ganzes Leben lang

beschäftigt habe, mehr Menschen erreichen kann als zu der Zeit, als ich angefangen habe. Damals war der Alte-Musik-Zuhörerkreis relativ beschränkt und hat sich hauptsächlich auf Alte-MusikFestivals konzentriert. Nach und nach kam die Alte Musik dann in größere Säle und in die Oper. Vor allem mit Opernsängern wie Cecilia Bartoli, die dann plötzlich in die Kategorie Alte Musik gefallen sind, hat sich das Publikum erweitert. Aber das Bedürfnis, dass sich das auch außerhalb des Klassikpublikums bewegt, war eigentlich immer schon da bei mir. Ich denke da vor allem auch an junge Leute. Ich finde nichts schöner, als wenn mir jemand schreibt: meine dreijährige Tochter tanzt zu Ihren CDs. Wenn ich mit meiner Musik ein Kind ansprechen kann, das so völlig emotional und jenseits intellektueller Überfrachtung ist und nur über den Klang auf die Musik zugeht. Oder wenn Teenagern, die sonst nur Techno und Hip-Hop hören, plötzlich eines unserer Stücke gefällt. Letztens hatten wir eine Masterclass in Frankreich. Da haben wir für einen Nachmittag eine Gruppe von 250 13-Jährigen eingeladen. Die hatten noch nie etwas von dieser Musik gehört, und am Schluss haben alle getanzt, die Handys gezückt und uns gefilmt. ■ „Händel Goes Wild“, L’Arpeggiata, Christina Pluhar (Erato) Termine: 14., 27.10., 6., 13., 16.11. Linz (AT), Musiktheater 25


F OTO: J E A N - B A P TI S TE M I L LOT

K Ü N S T L E R

CELLIVERSUM Am liebsten würde die junge Cellistin Camille Thomas ihre Hörer in eine Galaxis intensivierter Gefühle entführen – und nebenbei ein paar Komponistenklischees vom Tisch fegen! V O N A L E X A N D E R R A P P „Mein Cello ist ein Raumschiff “, sagt Camille Thomas und er ein Komponist, der große Gefühle vermitteln kann. Les larlächelt. „Ich mag Science-Fiction-Filme, in denen man mit mes de Jacqueline ist ein sehr berührendes Stück mit einer Newcomer unglaublich schönen Cello-Melodie. Ich wollte am Beispiel einem Raumschiff durch den Weltraum fliegt, wie in Interstellar oder Gravity, die mir ein eigenes Universum zeigen, dieser beiden Komponisten zeigen, wie wichtig es ist, genau wie die Musik.“ Aber nicht nur aus Filmen schöpft die 29 zuzuhören und nicht einem Klischee zu verfallen, besonders in Jahre alte Französin ihre Inspiration, sie nennt auch Literatur, dieser Zeit, wo Äußerlichkeiten so wichtig genommen werden.“ Malerei und Schauspiel. „Ich beziehe alles auf die Musik, und es ist Wer Camille Thomas zuhört, genießt auch das ganz besondere Instrumir wichtig, wie in der Literatur Geschichten zu erzählen.“ Das illust- ment, das sie spielt. Es wurde 1788 von Fernando Gagliano gefertigt riert sie anhand der Programme ihrer Einspielungen: Ihr erstes und ihr vom Winzer Bernard Magrez zur Verfügung gestellt. Wieso Album, „A Century of Russian Colors“ mit Musik von Rachmaninow, dieses Instrument für ihr Spiel so wichtig ist, erklärt Camille Thomas Kabalevsky und Auerbach, handelt von den politischen Wendungen so: „Ein Sänger hat seine Stimme, aber als Instrumentalisten spielen in Russland. Das Album „Réminescences“, mit dem ECHO KLASSIK wir etwas, das einen Klang produziert, der unser Klang werden muss. 2017 ausgezeichnet (siehe S. 46) und hauptsächlich französischer Mit einem so tollen Instrument kann man immer neue Klangfarben Musik gewidmet, bezieht sich auf Marcel Prousts Roman Auf der finden und das ist gerade für die französische Musik sehr wichtig. Ich Suche nach der verlorenen Zeit und die Macht der Erinnerung und der glaube, dass man diese Musik mit den Klangfarben strukturieren und Musik, die darin so virtuos beschrieben sind. ihre Bedeutung finden kann.“ Ihr neuestes Album erzählt ihre eigene Geschichte: „Ich wollte Den Prozess vergleicht die preisgekrönte Musikerin mit der einerseits französische Musik einspielen, aber auch meine Verbin- Arbeit eines Schauspielers: „Wenn ich ein Musikstück spiele, tauche dung zu Deutschland zum Ausdruck bringen. Diese beiden Länder ich wie ein Schauspieler so in die Musik ein, dass ich nicht mehr ich sind für mich sehr wichtig. Ich bin in Frankreich aufgewachsen, aber bin, sondern ganz aufgehe in dem, was ich spiele. Ich glaube, jeder Ton ich habe in Deutschland studiert, und Offenbach ist für mich der bedeutet etwas. Entweder ein Gefühl, eine Farbe, ein Bild, einen deutscheste Pariser. Es ist ein Album voller jugendlicher Freude am Geruch, eine Erinnerung. Ich wünsche mir, dass meine Zuhörer das Musizieren. Ich bin eine romantische Person, und meine ersten zwei auch empfinden. Aber ich mache keine Comédie, versuche nicht, Alben zeigen die melancholische Seite der Musik. Jetzt dachte ich: etwas vorzuspielen, sondern die Geschichte, die der Komponist Heute will ich den Menschen gute Laune geben! Ich wollte Sonne geschrieben hat, mit meinen eigenen Worten zu erzählen und jeden haben, nicht immer nur Wolken.“ Abend so zu spielen, als wäre es das erste Mal. Ich möchte die MenDie Sonne findet Camille Thomas in der Verbindung von Leich- schen an Orte mitnehmen, wo die Gefühle um 100 Prozent größer tigkeit und Emotion in der französischen Musik, die die Auswahl der sind und wo man das Leben schöner und mit Inspiration sieht. VielStücke auf ihrem neuen Album bestimmt. Neben Freude an der Musik leicht liebe ich deswegen Weltraumreisen und will sie den Hörern auch eine Erkenntnis mitgeben: „Von Saint-Saëns Raumschiffe.“ ■ hört man oft, er sei zu akademisch. Natürlich ist die Struktur bei ihm Camille Thomas, Saint-Saëns, Offenbach, Orchestre National de Lille perfekt, aber das ist nicht alles. Es gibt Momente, in denen sich plötz(Deutsche Grammophon) lich das Herz öffnet. Das wirkt so stark, weil es ganz unerwartet pasTermin: 16.11.Weimar, Weimarhalle siert. Von Offenbach denken viele, er sei zu oberflächlich. Für mich ist 26

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Ok tober – November 2017


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ECHO SPEZIAL Eine Würdigung der großen Sängerin Brigitte Fassbaender (ab Seite 32). Die Preisträger im Porträt (ab Seite 38) | Kent Nagano, der Dirigent des Jahres im Interview (Seite 49).

FOTO: SVEA PIETSCHMANN

MODERATOR DER DIESJÄHRIGEN ECHO KLASSIK-VERLEIHUNG IN BERLIN THOMAS GOTTSCHALK

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Macht die Leidenschaft sichtbar! VON A XEL BRÜGGEMANN

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FOTO: MICHAEL ZAPF

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Lösungsansätze auf den Tisch kommen. Der ECHO zeigt, dass die enn das jährliche Schaulaufen der Klassik-Branche kleine Branche der klassischen Musik nicht gegeneinander, sondieses Mal in der Elbphilharmonie in Hamburg dern miteinander Visionen entwickelt. stattfindet, scheint alles wie immer zu sein: Die groVon all dem ist für die Öffentlichkeit oft viel zu wenig zu ßen Künstler der großen Labels schreiten über den sehen. Die Preisverleihung wirkt zuweilen wie ein Ritual aus verroten Teppich, Thomas Gottschalk wird die Gäste an den Fernsehgangenen Zeiten. Ein Schaulaufen der eh bekannten Klassikapparaten begrüßen und dann werden sie auftreten – einer nach Stars, eine Dauerwerbesendung der Glitzerwelt der Musik. Dabei dem anderen. Laudatoren werden ihre Laudatios halten, und die ist die Klassik – und das zeigen auch dieses Jahr wieder viele Musiker werden sich bedanken. Alles so wie immer. Preisträger – gerade dort am spannendsten, am innovativsten Sicher, Klassik bedeutet Kontinuität. Aber letztlich unterliegt und am aufregendsten, wo geschwitzt wird, wo Künstler hinabdas Klassik-Geschäft den gleichen Regeln wie die Interpreten steigen in vergessene Archive, wo sie mit alten Instrumenten selbst: Das Besondere an ihrer Kunst ist es, eine Brücke aus der experimentieren, wo sie Komponisten und Werke ausVergangenheit in die Gegenwart zu schlagen – und, wenn graben, die wir so nicht kennen. Es wäre existenmöglich, dabei sogar noch eine Zukunftsvision ziell wichtig, den Spot auf genau dieses Bergvorzuschlagen. Wie klingen Bach, Beethoven werk der Töne zu richten, das meist im und Brahms heute? Wie gehen wir mit den Schatten der öffentlichen Aufmerkalten Partituren um? Was ist für uns samkeit liegt. Genau das versucht noch aktuell? Welche Gedanken über dieses Sonderheft von crescendo unser Zusammenleben, unsere zum ECHO KLASSIK. Gefühle und unsere Sehnsüchte Der ECHO KLASSIK Die klassische Musik ist können wir in ihnen aufstöbern? immer auch ein Spiegel jener Diesen Fragen muss sich jeder hat die Möglichkeit, Zeit, in der sie gemacht wird. Musiker stellen. das Neue, Das macht ihren Charme aus. Und diesen Fragen muss Die Klassik ist stets eine Vergesich auch die Klassik-Branche das Begeisternde und wisserung unserer Zeit mit generell immer wieder stellen. das Innovative einem Blick in die VergangenBereits jetzt wird klar, dass ein der Klassik-Branche heit. Und tatsächlich ähnelt sie „Weiter-so-wie-immer“ nicht vielen politischen, gesellschaftwirklich erfolgreich sein wird. sichtbar werden lichen oder medialen MechanisWer stehen bleibt, wird abgezu lassen men unserer Zeit. Einer Zeit, die hängt. Andere Kunst-Genres Sicherheit zu suchen scheint, die haben sich in den letzten Jahrzehnsich gern durch das Feiern des Besteten – unter anderem auf Druck der henden selbst vergewissert, die in einer Digitalisierung und neuer NachfrageWelt im Wandel selbst kaum Interesse am Mechanismen – vollkommen neu erfunden. Wandel hat. Der Buchmarkt etwa, aber auch die Bildende Aber die klassische Musik war immer auch Kunst, die versucht, neue Formate zu finden, die das Vordenker des Neuen. Meist wurde dieses Vordenken vom alte, gemalte Bild in neue Kontexte hängt und neue Medien in Alten inspiriert. Denken wir nur an die Renaissance der Alten den Kunstprozess aufnimmt. Die Klassik scheint bei alldem etwas Musik, die mit der gleichen Akribie betrieben wurde wie die träger zu sein. Neue Musik, denken wir an radikale und durchaus kontroverse Es wäre aber auch ein Missverständnis zu glauben, dass eine Neudeutungen klassischer Komponisten, an Inszenierungen Erneuerung auf Biegen und Brechen erfolgreich wäre, eine Revound Interpretationen, die uns schocken, weil sie so unmittelbar lution jenseits des Publikums. Und dennoch: Veranstaltungen wie sind, weil sie unsere Erwartungen zunächst einmal enttäuschen, der ECHO KLASSIK sind immer auch ein Abbild der Branche und weil sie uns herausfordern, das Alte neu zu denken. damit existenziell wichtig für die Außenwahrnehmung. All das findet auch auf dem ECHO KLASSIK statt. ZahlreiFür jeden, der die Veranstaltung nicht allein im Fernsehen che Künstler, die genau das im vergangenen Jahr getan haben, verfolgt, sondern live vor Ort ist, der die After-Show-Party besucht, werden für ihren Mut mit dem Preis ausgezeichnet. Viele Verantdie Veranstaltungen rund um den ECHO, der versteht, dass die wortliche der Klassik-Branche zerbrechen sich hinter den KulisKlassik längst im Wandel ist. Hinter den Kulissen treffen sich Labelsen den Kopf über Zukunftsstrategien. Vielleicht sollten wir wieManager, Künstler und Journalisten und feilen an neuen Konzepder den Mut finden, all diese Fragen, das Neue, das Radikale auch ten, an innovativen Aufführungsformen, an der multimedialen auf die Bühne zu hieven. Denn die Welt der klassischen Musik ist Aufarbeitung der Musik, an innovativen Strategien, an neuen Vernoch immer lebendig, erstickt nicht im alten Ritual – gerade in triebswegen. Vor allen Dingen aber: Die Künstler selbst scheinen dieser schwierigen Zeit zeichnet sie sich dadurch aus, Rituale zu sich nach Möglichkeiten zu sehnen, ihre Begeisterung, ihre Leidenhinterfragen und mit ihnen zu brechen. Das sichtbar zu machen, schaft und ihr Wissen sichtbar werden zu lassen, es zu teilen. ist die Aufgabe einer Veranstaltung wie des ECHO KLASSIK: er Der ECHO KLASSIK ist nach wie vor eines der wichtigsten muss das emotionale, leidenschaftliche und begeisternde SpiegelTreffen der Branche, eine Möglichkeit, dass jeder mit jedem ins bild einer vitalen und lebendigen Branche sein. Gespräch kommt, dass neue Ideen, alte Probleme und verrückte 29


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Die Gewinner Von der Würdigung des Lebenswerks bis zum Preis für Nachwuchsförderung: Hier sind alle Preisträger des diesjährigen ECHO KLASSIK auf einen Blick. Würdigung des Lebenswerkes Brigitte Fassbaender Seite 32

Instrumentalist des Jahres | Geige Christian Tetzlaff Brahms: The Violin Sonatas Ondine (Naxos) S. 50

Sängerin des Jahres Joyce DiDonato In War & Peace Erato (Warner) S. 42

Dirigent des Jahres Kent Nagano Richard Strauss: Eine Alpensinfonie FARAO classics S. 48

Sänger des Jahres Matthias Goerne Mahler, Berio: Sinfonia. 10 frühe Lieder Harmonia Mundi S. 38

Ensemble | Orchester des Jahres Boston Symphony Orchestra Shostakovich: Symphonies Nos. 5, 8, 9 Deutsche Grammophon

Instrumentalist des Jahres | Trompete Gábor Boldoczki Oriental Trumpet Concertos Sony Classical S. 55 Instrumentalist des Jahres | Cello Johannes Moser Rachmaninov, Prokofiev: Works for Cello & Piano Pentatone (Naxos) S. 54 Instrumentalist des Jahres | Klavier Maurizio Pollini Chopin: Late works opp. 59-64 Deutsche Grammophon Instrumentalistin des Jahres | Akkordeon Ksenija Sidorova Carmen Deutsche Grammophon

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Ensemble | Orchester des Jahres RIAS Kammerchor Da Pacem dhm (Sony) S. 44 Ensemble | Orchester des Jahres Wiener Klaviertrio Brahms: Sämtliche Klaviertrios Vol. 1 MDG S. 41 Nachwuchskünstler des Jahres | Klavier Lucas Debargue Bach, Beethoven, Medtner Sony Classical S. 52 Nachwuchskünstler des Jahres | Dirigat Yoel Gamzou Mahler: Symphony No. 10 Wergo (Schott) S. 46

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Nachwuchskünstler des Jahres | gem. Ensemble Notos Quartett Hungarian Treasures RCA Red Seal (Sony) Nachwuchskünstler des Jahres | Kontrabass Dominik Wagner Gassenhauer – Gassenbauer Berlin Classics (Edel) Nachwuchskünstlerin des Jahres | Gesang Pretty Yende A Journey Sony Classical S. 45 „Klassik ohne Grenzen“-Preis Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker Hora Cero Sony Classical S. 51 „Klassik ohne Grenzen“-Preis Daniel Hope For Seasons Deutsche Grammophon „Klassik ohne Grenzen“-Preis Sebastian Knauer, Arash Safaian ÜberBach Neue Meister (Edel) S. 39

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Sinfonische Einspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. L‘Achéron Johann Bernhard Bach: Ouvertures Ricercar (Outhere) S. 44 Sinfonische Einspielung des Jahres | Musik 19. Jh. Constantin Trinks, Mozarteumorchester Salzburg

Hans Rott: Symphony No. 1 Profil Edition Günter Hänssler S. 45 Sinfonische Einspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. Neeme Järvi, Orchestre de la Suisse Romande

Neeme Järvi conducts Ibert Chandos (Note 1) S. 55 Konzerteinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

Telemann Alpha (Outhere) Konzerteinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. Kristian Bezuidenhout, Freiburger Barockorchester

Mozart: Piano Concertos K. 413, 414, 415 Harmonia Mundi S. 52 Konzerteinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. Henning Kraggerud, Norwegian Chamber Orchestra

Mozart: Violin Concertos Nos. 3, 4 & 5 Naxos S. 51 Konzerteinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. Jan Lisiecki

Chopin: Works for Piano & Orchestra Deutsche Grammophon Konzerteinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. Sebastian Manz

Weber: Complete works for clarinet Berlin Classics (Edel) S. 39 Konzerteinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. Linus Roth

Shostakovich, Tchaikovsky: Violin concertos Challenge Classics S. 55 Konzerteinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. Renaud Capuçon, Wiener Symphoniker, Philippe Jordan

Rihm, Dusapin, Mantovani Erato (Warner) S. 50 Konzerteinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. Piano Duo Genova & Dimitrov

Béla Bartók, Victor Babin: Concerto for Two Pianos & Orchestra cpo (jpc) S. 39

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Konzerteinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. Maria Sournatcheva, Göttinger Symphonie Orchester, Christoph-Mathias Mueller Russian Oboe Concertos MDG S. 41 Chorwerkeinspielung des Jahres Chorus Musicus Köln, Das Neue Orchester, Christoph Spering Bach: Lutherkantaten dhm (Sony) Operneinspielung des Jahres | Oper bis inkl. 17./18. Jh. Pisaroni, Karg, Yoncheva, Hampson, Nézet-Séguin Mozart: Le nozze di Figaro Deutsche Grammophon Operneinspielung des Jahres | Oper 20./21. Jh. Trekel, Schwanewilms, Graf Alban Berg: Wozzeck Naxos S. 51 Solistische Einspielung des Jahres | Musik bis inkl. 17./18. Jh. | Klavier Fazil Say Mozart: Complete Piano Sonatas Warner Classics S. 40 Solistische Einspielung des Jahres | Musik 19. Jh. | Klavier Daniil Trifonov Transcendental Deutsche Grammophon Solistische Einspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. | Klavier Thomas Günther Klavierwerke um den Russischen Futurismus Vol. 1-4 Cybele Records (Klassik Center Kassel) Solistische Einspielung des Jahres | Gesang | Duette/Opernarien Marianne Crebassa Oh, Boy! Erato (Warner) S. 54 Solistische Einspielung des Jahres | Gesang | Arien/Rezitale Aida Garifullina Aida Garifullina DECCA (Deutsche Grammophon) Solistische Einspielung des Jahres | Gesang | Lied Ian Bostridge Shakespeare Songs Warner Classics S. 50 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 17./18. Jh. | gem. Ensemble Nils Mönkemeyer, Julia Fischer, Sabine Meyer, William Youn Mozart with Friends Sony Classical

Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. | gem. Ensemble Camille Thomas, Julien Libeer Réminiscences La dolce volta (Harmonia Mundi) S. 46 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik bis 19. Jh. | Streicher Quartetto di Cremona Beethoven: Complete String Quartets Vol. 7 Audite S. 40 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. | Bläser Eva van Grinsven Rendez-vous Russe MDG S. 41 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. | gem. Ensemble Linos Ensemble Franz Schmidt: Quintet in A major for Piano left-hand, Clarinet & String Trio cpo (jpc) S. 39 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. | Streicher Quatuor Molinari György Kurtág: Complete String Quartets Atma Classique (New Arts International) Editorische Leistung des Jahres querstand Marie Jaëll: Complete Works for Piano. querstand (Klassik Center Kassel) Welt-Ersteinspielung des Jahres Thomas Fritzsch Telemann: 12 Fantaisies pour la Basse de Violle Coviello Classics (MBM) S. 44 Audiophile Mehrkanaleinspielung des Jahres MDG Mahler: Lieder. Gerhild Romberger, Alfredo Perl MDG S. 41 Musik-DVD-/Blu-ray-Produktion des Jahres | Oper Purcell: The Indian Queen Sony Classical

Musik-DVD-/Blu-ray-Produktion des Jahres | Dokumentation Mission Mozart Sony Classical Preis für Nachwuchsförderung TONALi S. 47

Bestseller des Jahres Jonas Kaufmann Dolce Vita Sony Classical S. 53

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FOTO: GÜNTHER EGGER

„MAN SAGT DOCH IMMER, DASS EINEN ETWAS ERREICHT ODER NICHT ERREICHT. UND WENN ICH ES SCHAFFE, DASS ICH JEMANDEN ERREICHE, DANN LEGE ICH KEINEN WERT DARAUF, OB ES PERFEKT GESUNGEN IST.“

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WÜRDIGUNG DES LEBENSWERKES

Ganz nah am Nerv der Musik Den ECHO KLASSIK für ihr Lebenswerk erhält BRIGITTE FASSBAENDER . Thomas Voigt traf die Künstlerin.

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s war Anfang der 1970er-Jahre, als ich alle drei kennenlernte, Vater, Mutter und Kind – nicht persönlich natürlich, sondern durch die Medien. Den Vater, Willy Domgraf-Fassbaender, in der Titelrolle von Mozarts Figaro in der legendären Glyndebourne-Aufnahme unter Fritz Busch. Die Mutter, Sabine Peters, im Film „Die vier Gesellen“ mit Ingrid Bergman. Und Tochter Brigitte in der Gesamtaufnahme von Flotows Martha mit Anneliese Rothenberger. Und ich werde nie diesen allerersten Eindruck von Brigitte Fassbaender vergessen. Endlich wieder eine Sängerin, die in der Tiefe ein Fass aufmachen konnte. Eine derart sonore Tiefe kannte ich bis dato nur von Martha Mödl, der Callas und den großen italienischen Mezzos. Und wie diese sang Fassbaender mit einer Prägnanz des Ausdrucks, die einem die Figur plastisch vor Augen führte. Dass sie auch im Studio Phrasen riskierte, die über den Rahmen vokaler Ebenmäßigkeit hinausgingen, das unterscheidet sie von vielen Sängerinnen, die vor dem Mikrofon nicht annähernd so aufregend klingen wie live. Brigitte Fassbaender agierte im Studio mit derselben Intensität wie auf der Bühne. Bestes Beispiel: ihr Orlofsky in der schwungvollen Fledermaus-Aufnahme unter Willi Boskovsky. Das ist pures Kopfkino in Technicolor. Gerade bei dieser Figur muss man mehr riskieren, als nach den Regeln der klassischen Gesangskunst vielleicht ratsam ist. Nicht, weil eine sogenannte Hosenrolle auch herbe, „androgyne“ Farben verträgt, sondern weil Orlofsky ein extremer Charakter ist, der sich im Ton deutlich vom Rest der Ballgesellschaft abheben muss. Wie sehr sie differenzierte, wenn sie die Hosen anhatte, zeigen Fassbaenders Live-Aufnahmen des Rosenkavalier. Da nutzt sie die ganze Palette ihrer Stimmfarben, von lyrisch-zärtlich in den Dialogen mit der Marschallin und Sophie bis herbdrastisch in den Travestieszenen und in der Konfrontation mit dem Herrn Baron. So bedauerlich es ist, dass sie nie Gelegenheit bekam, ihre zentrale Opernfigur im Studio aufzunehmen, so froh können wir sein, dass der wunderbare Münchner Rosenkavalier von Otto Schenk und Carlos Kleiber 1979 aufgezeichnet wurde; die Szenen

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mit Fassbaender und Lucia Popp (Sophie) gehören zum Schönsten, was es im Opernkatalog gibt. „Natürlich wollte ich immer so schön wie möglich singen, doch die Wahrhaftigkeit der Aussage war mir letztlich wichtiger als der reine Schöngesang. Man sagt doch immer, dass einen etwas erreicht oder nicht erreicht. Und wenn ich es schaffe, dass ich jemanden erreiche, dann lege ich keinen Wert darauf, ob es perfekt gesungen ist.“ Mit diesen Worten hat Brigitte Fassbaender die Frage nach „Grenzpartien“ wie Azucena, Eboli und Amneris beantwortet. Sie hat diese Rollen mit Verve und Leidenschaft gesungen und dabei mehr gewagt, als nach den klassischen Regeln der Gesangstechnik „erlaubt“ war. Gerade das war es, was ihr eine ungeheure Ausdruckskraft gab – nachzuhören auch in vielen ihrer Liedaufnahmen, allen voran in Schuberts Winterreise mit Aribert Reimann. Gibt es eine ähnlich konsequente, ähnlich dringliche Darstellung des Zyklus auf Platten, so weit entfernt vom Kammersängerton, so nah am Nerv der Musik? Dieses Sich-Trauen, etwas Wagen war wahrscheinlich die größte Hürde, die sie als Sängerin überwinden musste. „Ich war derart schüchtern und gehemmt, dass ich mich nicht getraut habe, meinem Vater vorzusingen. Stattdessen habe ich ihm nach Nürnberg, wo er damals Oberspielleiter an der Oper war, ein Band geschickt: Hör dir das bitte mal an, ob es sich lohnt für ein Gesangsstudium. Und als Antwort kam zurück: Komm zu mir, ich bilde dich aus. Sich sängerisch zu

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offenbaren, ist eine sehr intime Angelegenheit, und singen lernen ist auch ein Akt menschlicher Entwicklung. Deshalb brauchen wir Sänger ja eigentlich keinen Psychotherapeuten: Wir sind von Berufs wegen gezwungen, unsere Hemmungen zu überwinden. Und das ist mit das Beste am Sängerberuf: Durch die Beherrschung des Handwerks können wir lernen, unsere Nerven in den Griff zu kriegen, loszulassen, uns hinzugeben und zu befreien.“ 33 Jahre dauerte ihre Bühnenkarriere: Am 1. April 1961 trat sie ihren Anfängervertrag mit der Bayerischen Staatsoper an, 1994 gab sie ihre letzte Opernvorstellung (Klytämnestra an der Met) und ihren letzten Liederabend. Über drei Jahrzehnte mit eindringlichen Rollenporträts (Wozzeck-Marie, Brangäne, Amneris, Charlotte neben Plácido Domingo als Werther), mit unvergessenen Liederabenden und Konzerten, mit exemplarischen Aufnahmen und TV-Produktionen, darunter Hänsel und Gretel mit Edita Gruberova. In den Jahren danach, als Regisseurin und Intendantin, hat sie womöglich noch härter gearbeitet als zuvor. An die 50 Stücke hat sie seit 1990 inszeniert, darunter Brittens Midsummer Night Dream (Amsterdam und Tel Aviv), Tristan und Isolde (Braunschweig und Innsbruck), La Cenerentola und Don Pasquale in München – und natürlich den Rosenkavalier. Wie die Regisseurin wurde auch die Intendantin Fassbaender, in Braunschweig und Innsbruck wie auch bei den Richard-Strauss-Festspielen in Garmisch, als wohltuende Ausnahme empfunden, als Indivualistin, die weder Mainstream noch Sensationslust bediente. Von der Nachricht, dass ihr Lebenswerk mit dem ECHO KLASSIK 2017 ausgezeichnet wird, am 29. Oktober in der Elbphilharmonie Hamburg, war sie „absolut überwältigt“. Das Kapitel „Intendantin“ ist abgeschlossen, das der Lehrerin und Regisseurin noch lange nicht: Brigitte Fassbaender unterrichtet nach wie vor, und als nächste Inszenierungen sind Hänsel und Gretel in Braunschweig, Capriccio in Frankfurt und Rossinis Barbiere in Bregenz geplant. Vermisst sie das Singen? „Überhaupt nicht. Nach meinem Abschied von der Opernbühne haben manche versucht, mich zu einem Comeback zu überreden. Zum Beispiel hat mir Joan Holender die Pique-Dame-Gräfin für Wien angeboten. Aber das habe ich konsequent abgelehnt. Rezitation von Melodramen wie Enoch Arden oder Schillings Hexenlied – sehr gerne. Aber ich möchte kein Comeback als Sängerin. Außerdem eigne ich mich überhaupt nicht für Altersrollen.“

Von links nach rechts: Als Eboli in Giuseppe Verdis Don Carlos, Prinz Orlofsky in der Fledermaus von Johann Strauss, Octavian im Rosenkavalier von Richard Strauss, Amneris in Giuseppe Verdis Aida und als Olga mit Partner Fritz Wunderlich in Eugen Onegin von Tschaikowsky

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FOTOS: GÜNTHER EGGER; JENNIFER SELBY

BRIGITTE FASSBAENDER IN IHREN ROLLEN:


DIE HAMBURGER ELBPHILHARMONIE

FOTO: IWAN BAAN

Dank seiner „Weinberg-Architektur“ ist in der ­Hamburger Elbphilharmonie kein Sitzplatz weiter als ­ 30 Meter vom Dirigenten entfernt. Ein ideales Setting für die Gala zur Verleihung des ECHO KLASSIK 2017


JONAS KAUFMANN

12 CELLISTEN DER BERLINER PHILHARMONIKER

Der Tenor wird das Publikum mit seiner feinen Stimme nach Italien entführen.

Ganz besondere Arrangements für ein ganz besonderes Ensemble.

JOYCE DIDONATO Der Ausnahmesopran mit Ausnahmeausstrahlung wird die große Opernbühne öffnen.

Die Stars auf der großen Bühne MAURIZIO POLLINI Der Großmeister am Klavier wird zeigen, dass Klassik immer auch Klugheit bedeutet.

LUCAS DEBARGUE PRETTY YENDE Die Sopranistin aus Südafrika singt Arien der großen europäischen Oper.

Pianist und Genie. Er hat die Jury des Tschaikowsky-Wettbewerbs gespalten und vereint sein Publikum in Begeisterung.

FOTOS: GREGOR HOHENBERG; UWE ARENS; BROOKE SHADEN; ANNA HULT; CAROLINE DE BON; TIBOR BOZ; SIMON FOWLER; ARNAUD ROBERTI; GAVIN EVANS; FELIX BROEDE; COSIMO FILIPPINI

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KENT NAGANO

MATTHIAS GOERNE

Den ECHO KLASSIK hat er für seine Alpensinfonie bekommen. Nun leitet er die Hamburger Philharmoniker durch das Programm.

Ein Bariton als Geschichtenerzähler. Schubert-Experte und Lied-Exeget.

Dieses sind die ECHO KLASSIK-Preisträger, die in der großen Gala am 29. Oktober in der Elbphilharmonie Hamburg auftreten und auch in der Übertragung des ZDF um 22 Uhr zu sehen sein werden. Moderiert wird der Abend von Thomas Gottschalk. Große Stimmen, große Solisten werden gemeinsam mit den Hamburger Philharmonikern unter Kent Nagano auftreten.

DANIEL HOPE Der Tausendsassa-Geiger tritt eine Zeitreise mit seinem Instrument an.

KSENIJA SIDOROVA Das Akkordeon neu entdeckt. Die Musik aus Bizets Carmen als One-Woman-Show.

CAMILLE THOMAS Das Cello als Leidenschaft. Die Französin reist nach Frankreich und Russland.

AIDA GARIFULLINA Shooting-Star aus Russland. Die Sängerin kommt ohne Diva-Allüren aus und verkörpert Charakter mit ihrer Stimme.

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SÄNGER DES JAHRES

Im Sog der Innerlichkeit MATTHIAS GOERNE ist

Sänger des Jahres – auch, weil er es wie kaum ein anderer schafft, die Vielfältigkeit des Ausdrucks zu bündeln und sein Publikum zu elektrisieren. Eine der ausdrucksstärksten Stimmen unserer Zeit.

FOTO: CAROLINE DE BON

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anchmal scheint es, als würde Matthias Goerne einfach unglaublich viel im Kopf herumgehen. Dann sieht man ihm an, dass das Denken bei ihm während des Sprechens noch weitergeht, immer tiefer, in immer neue Richtungen, so, dass bloß kein Gedanke, keine Möglichkeit, keine Idee auf der Strecke bleibt. Aber wenn er dann allein auf einer Bühne steht, neben ihm lediglich ein Flügel, wenn das Licht ausgeht, das Publikum nur noch erahnbar ist und Matthias Goerne die ersten Noten eines Schubert-Liedes singt, wird die Sprache plötzlich klar, eindeutig, komprimiert, so als würden alle Gedanken und Ideen, alle Reflexionen und Gefühle, alle Äußerlichkeiten und Intimitäten, die in dieser Musik mitschwingen, in einer Energie gebündelt werden. Und vielleicht macht genau das die Stimme von Matthias Goerne aus: Sie schafft es, die Vielfältigkeit zu bündeln, der Innerlichkeit Ausdruck zu verleihen und die andauernde Spannung widerstreitender Interpretationsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten. Ein Liederabend mit Matthias Goerne ist selten ein unterhaltsamer Genuss: Das, was einem da aus seinem Mund entgegenkommt, ist gleichsam Herausforderung, Offenbarung und Statement, ist nie eindeutig, sondern stets vielschichtig. Es ist schwer, die Stimme von Matthias Goerne zu beschreiben. Klar, ein dunkler, tiefer Bariton, der durchaus auch glänzen kann. Vielleicht kommt man mit dem Wort „Konzentrat“ weiter: Man glaubt zu spüren, dass Goerne alle Möglichkeiten der Interpretation durchgespielt hat – und dass er am Ende, wenn er ein Lied für sich durchdrungen hat, alle möglichen Aussagen in einem vokalen Kraftfeld bündelt, das nur darauf wartet, herauszukommen und in der Welt zu sein. Kein Wunder, dass es Goerne wichtig war, für seine Einspielung der Schubert-Lieder beim Label harmonia mundi France alle Stücke auch einmal auf der Bühne gesungen zu haben: vielleicht, weil der Sänger in seinen Konzerten genau auf die Reaktionen des Publikums horcht, vielleicht, weil er sich vergewissern will, dass seine Interpretation wirkt, vielleicht, weil er einfach ein Perfektionist ist und will, dass jedes Lied, jede Nuance, jedes Abwägen von Wort und Klang sitzt. Und das tut es bei ihm. Anders als viele seiner Kollegen operiert Goerne nicht mit einem einzigen Pianisten, sondern hat sich sieben unterschiedliche „Begleiter“ für sein Schubert-Projekt gesucht, unter anderem Helmut Deutsch, Christoph Eschenbach und Elisabeth Leonskaja. Das Verblüffende ist, dass der Zyklus dennoch einheitlich klingt. Nicht, weil die Pianisten Goerne willenlos folgen, eher, weil sie unweigerlich in das Spannungsfeld seiner Interpretationen gesogen werden, hinein in das, was wir so gern „Innerlichkeit“ nennen. Wie flexibel Goernes Stimme ist, zeigen nicht nur die Aufnahmen des Barock, jene der romantischen Lieder oder die Opern, an denen er beteiligt ist, sondern auch die fulminante Einspielung der

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Zehn frühen Lieder von Gustav Mahler, die von Luciano Berio orchestriert wurden. Goerne positioniert sich in den schillernden Klangfarben des BBC Orchestras mit einem üppig strömenden Ton. Goerne, Sohn eines Intendanten, Schüler von Legenden wie Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau, hat es in seiner Karriere geschafft, die große Tradition des Liedes auf ureigene Art in unserer Gegenwart neu zu beleben. Mit dem Lied hat seine Karriere begonnen, es folgten aufsehenerregende Auftritte in der Oper, angefangen mit dem legendären Papageno in Salzburg 1997 und immer wieder als Wozzeck in Alban Bergs Oper. Seine Schubert-Lieder-Edition auf zwölf CDs ist aber keine Rückkehr in die Vergangenheit, sondern eine Konsequenz aus dem kontinuierlichen Zusammenspiel von Oper und Lied. „Lied und Oper sind für mich gleichwertig“, sagt Goerne – das eine komprimiert die Kunst des anderen. So ist es nur logisch, dass der Bariton seine nächste Aufnahme, die im November erscheint, wieder der Oper widmen wird: Gemeinsam mit dem Swedish Radio Symphony und Daniel Harding wird er für „The Wagner Project“ Vorspiele und Szenen aus Der fliegende Holländer, Tannhäuser, Rheingold, Walküre, Parsifal, Meistersinger und Tristan aufnehmen, außerdem ist gerade erst ein Album mit Bach-Kantaten zusammen mit dem Freiburger Barockorchester erschienen. Jede dieser Einspielungen lässt den Ausnahmesänger am Zenit seines Schaffens strahlen.

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Aktuelle CD: „The Wagner Project“, Matthias Goerne, Swedish Radio Symphony Orchestra, Daniel Harding (Harmonia Mundi) — Verlags-Sonderveröffentlichung / Anzeigen zum ECHO KLASSIK 2017


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KAMMERMUSIKEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 20./21. JH. | GEM. ENSEMBLE

EINE HAND, VOLLER KLANG

KLASSIK OHNE GRENZEN & KONZERTEINSPIELUNG | MUSIK 19. JH.

BACH OHNE BACH UND WEBER HAUTNAH ARASH SAFAIN legt seinen Blick

die Romantik.

üppigen, warmen Klang vor, durch den dieses ausgefallene Werk ein ganz eigenes, inneres Leben entwickelt. Das Label cpo zeigt mit dieser Einspielung, dass auch historische Trouvaillen der Kammermusik durchaus für sinnliche Begeisterung sorgen können.

KONZERTEINSPIELUNG | MUSIK 20./21. JH.

Das Konzept ist genial: Kann man Bach hören, ohne Bach zu hören? Der Komponist Arash Safain beweist, dass das durchaus möglich ist. Er mischte Choräle, Orchester-, Orgel- und Klavierwege zusammen und komponierte daraus fünf vollkommen eigene Konzerte für Piano, Vibrafon und Kammerorchester. Als der Pianist Sebastian Knauer von diesem Projekt hörte, war er begeistert: „Ich dachte, Bach zu hören, und gleichsam war alles irgendwie moderner.“ Auch das Zürcher Kammerorchester und der Percussionist Pascal Schumacher sind mit an Bord bei dieser außergewöhnlichen Aufnahme, mit der das Label „Neue Meister“ der Firma Edel nun den ECHO KLASSIK gewonnen hat. Auf dem Label Berlin Classics, ebenfalls bei Edel, durfte der junge Klarinettist Sebastian Manz, Gewinner des ARD-Wettbewerbs und Solo-Klarinettist beim SWR, einen Traum verwirklichen: Als Jugendlicher hörte er die Einspielung des Zweiten Klarinettenkonzerts von Carl Maria von Weber in der verjazzten Version von Benny Goodman. Ein bleibendes Erlebnis. Nun legt Manz seine eigene Version aller von Weber komponierten Werke für sein Instrument vor. Und zwar historisch informiert und mit großer Spielfreude. Manz hat sich am Notentext von Heinrich Joseph Baermanns orientiert, der als Klarinettenvirtuose eng mit Carl Maria von Weber zusammengearbeitet hat. Ge meinsam mit dem SWR Radiosinfonieorchester unter Antonio Méndez ist ein grandioses Doppelalbum entstanden, das sich hautnah mit dem Sound der Romantik auseinandersetzt.

DAS KLAVIER ALS SCHLAGINSTRUMENT GENOVA & DIMITROV entdecken Konzerte

für zwei Klaviere von Bartók und Babin. Genau genommen ist das Klavier ein Schlaginstrument. So richtig zur Geltung gebracht hat das Béla Bartók. Wenn das Klavierduo Genova & Dimitrov nun sein Konzert für zwei Klaviere interpretiert, wird die Komposition des ungarischen Pianisten, Volksmusikforschers, Herausgebers und Pädagogen zu einem begeisternden, rhythmischen Abenteuer. Ebenso wirkungsvoll ist das Konzert für zwei Klaviere von Victor Babin, das nun in einer Weltersteinspielung mit dem Bulgarian National Radio Symphony Orchestra unter Yordan Kamdzhalov vorliegt. Der 1972 verstorbene US-Amerikaner Babin war – gemeinsam mit seiner Frau – selbst Pianist eines berühmten Klavierduos. Babin studierte bei Franz Schreker und Arthur Schnabel. Der Neoklassizismus seines FOTO: IRENE ZANDEL

FOTO: GREGOR HOHENBERG; MARCO BORGGREVE

auf den Barockmeister vor, SEBASTIAN MANZ erobert

Nachdem der Pianist Paul von Wittgenstein im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, begann der Komponist Franz Schmidt, der damals Professor an der Wiener Musikakademie war, ihm drei Quintette zu komponieren, in denen der Klavierspieler nur mit der linken Hand zu spielen brauchte. In dem längsten der drei Konzerte, dem einstündigen A-Dur-Konzert , deklinierte Schmidt, ein eingefleischter Spätromantiker, der stets außerhalb der Zweiten Wiener Schule stand, eine Art musikalisches Glaubensbekenntnis: Transparenz mit poetischen Soli, betörenden Motiven und immer wieder versteckten Zitaten. So wird im Finale ein Thema von Josef Labor, dem einstigen Lehrer Wittgensteins, variiert, und es erklingt das all’ungherese, mit dem sich der geborene Ungar Schmidt in sein eigenes Werk eingeschrieben hat. Das Linos Ensemble ist bekannt für sein Einfühlungsvermögen, und gemeinsam mit der Pianistin Konstanze Eickhorst legen Rainer Müller van Recum (Klarinette), Winfried Rademacher (Violine), Matthias Buchholz (Viola) und Mario Blaumer (Cello) einen

FOTO: ANDRE MAILÄNDER

Das LINOS ENSEMBLE und KONSTANZE EICKHORST mit Franz Schmidts Klavier-Quintett für linke Hand.

Werkes verweist auf die Tradition der russischen Motoriker Strawinsky und vor allem Prokofjew und be sticht durch seinen heitergrotesken Charakter und seinen ausgefallenen Melodien- und Rhythmen-Reichtum. Genova & Dimitrov lernten das Werk in Miami durch Loretta Dranoff kennen, selbst Mitglied des bekannten US-amerikanischen Duos Murray und Loretta Dranoff. Sie wünsche sich persönlich, dass dieses Werk auf CD eingespielt und so vielleicht zum ständigen Bestandteil des Konzertrepertoires wird. Genova & Dimitrov haben mit ihrer Aufnahme den Grundstein dazu gelegt. Ihre Interpretation ließ die Wiener Zeitung schwärmen: „Perfekt aufeinander eingespielt, als wäre es ein einziger Körper mit vier Armen.“

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FOTO: ELISA CALDANA

KAMMERMUSIKEINSPIELUNG | MUSIK BIS 19. JH. | STREICHER

DER GANZE VIELFÄLTIGE BEETHOVEN Das QUARTETTO DI CREMONA legt mit der siebten Folge aller Beethoven-Quartette das Spannungsfeld von Wiener Klassik und neuer Klangwelt frei. Vor 17 Jahren hat sich das Quartetto di Cremona gegründet, und was es seither auf die Beine gestellt hat, wie es der Musik begegnet und wie sich die Stimmungen vollkommen unterschiedlicher Epochen – von Beethoven bis Nono – gegenseitig befruchten, sucht seinesgleichen. Nun wird das Ensemble für die siebte Folge der Einspielung aller Streichquartette von Ludwig van Beethoven beim Label Audite endlich mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet. Das liegt auch an der individuellen Klasse der einzelnen Musiker: Cristiano Gualco und Paolo Andreoli an den Geigen versprühen ungebremste Lebendigkeit, Giovanni Scaglione am Cello sorgt für die coole, ja zuweilen eiskalte Erdung, und Simone Gramaglia an der Viola ist so etwas wie das harmonische Bindeglied.

Bereits die ersten Folgen der BeethovenQuartette waren bei ihnen nicht der Idee geschuldet, auf Biegen und Brechen das Gesamtwerk vorzustellen, sondern es gleichsam musikalisch in die unterschiedlichen Kompositionsstadien und ihren historischen Geist einzuordnen. Nun liegen das Quartett G-Dur aus op. 18 und das abschließende Quartett aus op. 59 vor. Während Beethoven für das frühere Quartett noch weitgehend den bürgerlichen oder adeligen Musikliebhaber im Blick hatte, führte er das Genre mit den Rasumowsky-Quartetten auf eine vollkommen neue Ebene: Allein die extrem virtuose Fuge zeigt, dass dieses Werk explizit für hochprofessionelle Musiker der Meisterklasse geschrieben wurde.

Beim Quartetto di Cremona wirkt all das nie aufgesetzt virtuos, sondern bleibt natürlich. Die fast kühle, zuweilen ironisch-trockene Interpretation lässt die Spannung des Werkes, mit dem Beethoven die Klangzone der Kammermusik in neue Dimensionen ausgeweitet hat, greifbar werden. In der siebten Folge vereint sich der ausgehende Geist der Wiener Klassik mit dem Betreten einer vollkommen neuen musikalischen Welt.

Aktuelle CD: „Beethoven Complete String Quartets. Vol. VIII“, Quartetto di Cremona (Audite) Track 1 auf der crescendo Abo-CD: Allegro aus: Streichquartett D-Dur op. 18 Nr. 3

SOLISTISCHE EINSPIELUNG | MUSIK BIS INKL. 17./18. JH. | KLAVIER

FLEISCH. BLUT. MOZART. Selten klang Mozart so lebendig wie bei FAZIL SAYS Gesamteinspielung aller Sonaten.

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FOTO: MARCO BORGGREVE

Fazıl Say ist wie ein allgegenwärtiger, strahlender Schatten bei dieser ECHO-Preisverleihung. Auf zahlreichen Alben taucht Musik von ihm auf – in der Regel interpretiert von anderen Künstlern. Er selbst erhält allerdings auch einen Preis, und zwar als Pianist, der etwas wagt, was nur noch wenige seiner Kollegen in Angriff nehmen: die Gesamteinspielung aller Mozart-Sonaten auf sechs CDs. Der türkische Pianist hält diese Einspielung für die „vielseitigste und bedeutendste“ seiner bisherigen Aufnahmetätigkeit. Das mag verwundern, denn Fazıl Say ist allein schon als Pianist ein Berserker mit einem erstaunlichen Katalog. Hinzu kommt sein Engagement als politischer Aktivist, dem es darum geht, mehr Demokratie und musikalische Vielfalt in seiner Heimat, der Türkei, auf die Beine zu stellen. Außerdem ist er als Komponist tätig, der wie kaum ein anderer Orient und Okzident miteinander verbindet. Trotz all dieser anstrengenden Tätigkeiten klingt sein Mozart nun hellwach! Er ist so etwas wie die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln, zu jener Musik, die zur Erweckung des Musikers Fazıl Say geführt hat. Ziemlich schnell wird deutlich, dass www.crescendo.de

Mozart für Say einen kompletten musikalischen Kosmos vorstellt. Dass er ihn nicht als hübschen Klassik-Komponisten anpackt, sondern als musikalischen Existenzialisten. Say macht sich Mozart zu eigen und setzt dabei besonders auf die Körperlichkeit des Meisters aus Wien: Der Pianist behandelt sein Klavier zuweilen wie ein Schlagwerkzeug, er kratzt und schnarrt, schnaubt und stöhnt, aber er lehnt sich immer wieder auch zurück, löst das Gefühl für Zeit auf und überführt Mozarts Musik ins Überirdische. Vielleicht ist diese radikale Vielfalt das Besondere an Says Mammutwerk: Es stellt nicht den einen Mozart vor, sondern die unterschiedlichen Perspektiven des Komponisten, seine betörende Gutmütigkeit, seinen Schalk, seine Verliebtheiten, seinen Glauben, aber eben immer wieder auch seine Radikalität als Vorbote Beethovens. Fazıl Say braucht kein historisches Instrument, um einen Mozart aus Fleisch und Blut zu formen. Ihm reicht dafür ein ganz normaler Konzertflügel – und die wohlüberlegte Improvisation und Offenheit mit seinem Gegenüber.

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Die Freiheit des großen Klangs Das Label MDG lässt seinen Künstlern viel Freiraum und räumt damit gleich vier ECHO KLASSIK-Preise für ganz unterschiedliche musikalische Abenteuerreisen ab.

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1. ENSEMBLE | ORCHESTER

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2. KONZERTEINSPIELUNG | MUSIK 20./21. JH.

3. KAMMERMUSIKEINSPIELUNG | MUSIK 20./21. JH. | BLÄSER

FOTOS: NANCY HOROWITZ; MDG-ARCHIV; SARAH WIJZENBEEK; ROSA FRANK; MARCO BORGGREVE

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Johannes Brahms war selten zufrieden. Immer wieder hat er seine Klaviertrios an Clara Schumann geschickt. In der Regel lobte die Freundin den Freund, war begeistert – aber Brahms warf viele seiner Skizzen am Ende dennoch ins Feuer. Kaum abzuschätzen, was für ein musikhistorischer Schatz in der Werkstatt des Komponisten zu Asche verbrannte. Was von den Klaviertrios geblieben ist, das hat nun das WIENER KLAVIERTRIO zusammengetragen und auf einer ersten Aufnahme verewigt. Sie bildet den Anfang einer Reihe mit Brahms’ Klaviertrios und kommt dabei angenehm unaufgeregt daher, analytisch im Detail, ausgeglichen in der Form, informiert und klanglich begeisternd in der Umsetzung. Projekte wie diese, in denen Musikern erlaubt wird, ihren Faibles zu frönen, hinabzusteigen in die Forschung der Musikgeschichte, um mit unverbrauchten, neuen Eindrücken ins Studio zu gehen und wirklich große Dinge aufzunehmen – all das ist selten geworden in unserer Zeit. Und es gibt nur wenige Labels, die das spielerische Moment in der Musik derart ernst nehmen und die Ausgrabung des Besonderen zum Markenkern erhoben haben. Genau für diese Philosophie, den Mut und den damit verbundenen Erfolg wird das Label MDG, Dabringhaus & Grimm auch dieses Jahr wieder mit ganz unterschiedlichen ECHO KLASSIK-Preisen ausgezeichnet. Gleich zwei Einspielungen widmen sich einem für uns ungewohnten Blick auf Russland. Die Oboistin MARIA SOURNATCHEVA bedient nicht das übliche Russland-Klischee, sondern lässt uns den Soundtrack des aktuellen Ostens hören, indem sie – gemeinsam mit dem wunderbar aufspielenden Göttinger Symphonie Orchester unter Christoph-Mathias Mueller – drei Konzerte unterschiedlicher zeitgenössischer Komponisten ausgewählt hat: Valeri Kikta (*1941), Andrey Rubtsov (*1982), Andrei Eschpai

4. AUDIOPHILE MEHRKANALEINSPIELUNG DES JAHRES

(1925–2015) lassen einen modernen, aber stets der Volksmusik und der Sinnlichkeit verpflichteten Stil hören, legen Wert auf Zugänglichkeit und Klangfarben. Sournatcheva holt das akustische Bild einer Komponistengeneration aus der vermeintlichen OboenNische, in dem der Glaube an die Musik als Mittel der Erzählung noch immer aktuell ist. Eine ganz andere Russlandreise unternimmt EVA VAN GRINSVEN in ihrem Album „Rendez-vous Russe“ für MDG. Nachdem sie mit „Saxofolk“ ein fulminantes Debütalbum hingelegt hat, macht sich die Saxofonistin nun auf die Suche nach jener Seele, die es angeblich nur in Russland zu finden gibt: melancholisch, singend, betörend. Mit der Zerbrechlichkeit und Erzählkunst der menschlichen Stimme reist van Grinsven durch die Klangwelten von Prokofjew, Schostakowitsch, Gubaidulina und Skrjabin und eröffnet damit vollkommen unterschiedliche Aspekte der russischen Seele. Was all diese Aufnahmen – neben ihrer künstlerischen und musikhistorischen Qualität – auszeichnet, ist die akribische Aufnahmetechnik, etwa der Surround-Sound, der auch den kammermusikalischen Einspielungen wie dem Brahms-Zyklus ein vollkommen neues Hören ermöglicht. Es ist also nicht verwunderlich, dass auch der ECHO KLASSIK für die Audiophile Mehrkanaleinspielung dieses Jahr an MDG geht, für Lieder von Gustav Mahler mit der Mezzosopranistin GERHILD ROMBERGER und dem Pianisten ALFREDO PERL . Neben den Rückert Liedern und den Liedern eines fahrenden Gesellen haben die beiden auch die Kindertotenlieder aufgenommen. Die SACD-Aufnahme rückt die unendliche Sehnsucht, den Schmerz und das Verlangen ins Zentrum, inszeniert den Steinway-Konzertflügel optimal, ebenso wie Rombergers schwelgerischen, aber nie aufgesetzten, stets klug schwingenden Mezzo. 41


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SÄNGERIN DES JAHRES

Der Weg des Tapferen zum Frieden W

enn Musik die Möglichkeit ist, das Chaos der Welt zu ordnen, dann ist Joyce DiDonato so etwas wie eine Grenzgängerin zwischen Kunst und Wirklichkeit. Auf der einen Seite ein gefeierter Mezzosopran, der jedem Operncharakter ein Leben aus Fleisch und Blut einhaucht, auf der anderen Seite ein Mensch, der mit beiden Füßen in unserer Zeit steht und versucht, sich nicht von der Komplexität der Welt unterkriegen zu lassen. Für eine Sängerin wie Joyce DiDonato sind Opern von Händel, Purcell oder Monteverdi keine pure Unterhaltung, kein Soundtrack einer fernen Zeit, sondern emotionale Modelle, die helfen könnten, ein bisschen Ordnung in unser Emotionschaos und in das Zusammenleben unserer Zeit zu bekommen. DiDonato wurde in einem kleinen Ort in Kansas geboren – seither zählt sie zu den wichtigsten Mezzosopranen und kennt die Welt. Eine Welt, die ihr zunehmend Angst bereitet: „Ich fühle mich zuweilen

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der Versuchung ausgesetzt, in den Turbulenzen und dem Pessimismus zu versinken, der alle Bereiche unseres Lebens durchdringt“, sagt sie, „der Gefahr, dem Lärm des Aufruhrs zu erliegen, der unseren Geist verwüsten kann. Und doch bin ich eine kämpferische, stolze, bereitwillige Optimistin.“ Ihren Optimismus feiert die Sängerin mit ihrer Stimme, vor allen Dingen aber mit den großen Opern und großen Komponisten als Kronzeugen. Sie lehren uns Gelassenheit, Ruhe, Muße – Dinge, die gerade in aufgekratzten Zeiten wichtig erscheinen. „Können wir, statt uns dem unaufhörlichen Lärm unserer grundlegenden Ängste zu unterwerfen, Gelassenheit wählen und es wagen, diese Ängste zum Schweigen zu bringen?“, fragt DiDonato und hat genau das in ihrem Album „In War & Peace“ versucht, mit ihrer samtenen, zutiefst emotionalen Mezzo-Stimme, mit einem Repertoire, in dem sie sich zwischen die Fronten der Welt stellt und es immer wieder schafft, die Zeit für einen Augenblick anzuhalten.

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Musik ist ein Spiegel des Lebens, und eine Vollblutkünstlerin wie Joyce DiDonato weiß, dass wir im Leben für die Bühne lernen und auf der Bühne für das Leben, dass Kunst und Realität sich bedingen, wenn sie einen Sinn haben sollen. Gerade weil unser Leben und unsere Zeit oft groß und unüberschaubar erscheinen, ist es der Amerikanerin umso wichtiger, in die Charaktere der Opern hineinzulauschen, um am Ende ganz konkret handeln zu können. Die Erkenntnis kommt bei ihr durch die Stimme. So hat sie gerade gemeinsam mit dem Ensemble Il pomo d’oro ein Flüchtlingscamp in Griechenland besucht und versucht, das Chaos der Welt auf die Begegnung von Mensch zu Mensch zu schrumpfen. Dabei hat sie festgestellt, dass die Musik auch hier, wo Menschen in existenzieller Not leben, vielleicht keine Heilung, wohl aber Räume des Nachdenkens, der Einkehr, der Überlegung schaffen kann. „Harmony through music“, das Motto ihrer mit dem ECHO KLASSIK ausge-

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FOTO: BROOKE SHADEN

Die Mezzosopranistin JOYCE DIDONATO wird für ihr Album „In War & Peace“ ausgezeichnet – nun sucht sie bei Berlioz Inspiration und setzt die Botschaften der Oper auch im Leben um.


„KÖNNEN WIR, STATT UNS DEM UNAUFHÖRLICHEN LÄRM UNSERER GRUNDLEGENDEN ÄNGSTE ZU UNTERWERFEN, GELASSENHEIT WÄHLEN UND ES WAGEN, DIESE ÄNGSTE ZUM SCHWEIGEN ZU BRINGEN?“

zeichneten Aufnahme, ist mehr als das Motto für die Musik, die Joyce DiDonato interpretiert – es ist das Motto ihres Lebens. Und auch in ihrem neuen Projekt geht es wieder um Menschlichkeit, um Krieg und Frieden. DiDonato wird in der Gesamtaufnahme von Hector Berlioz’ Les Troyens zu hören sein, einer großen Oper um den Trojanischen Krieg, um die Flucht nach Karthago und die tragische Liebe von Dido und Aeneas. Eine Oper, die mehr ist als eines der Schlüsselwerke des 19. Jahrhunderts – sie ist ein Spiegel auch der Wirren unserer Zeit. „Die Kunst vereint, überwindet Grenzen, verbindet, was getrennt ist, beseitigt Rangunterschiede, mildert Unruhen, bedroht die Macht und den Status quo“, sagt Joyce DiDonato, „und sie erhebt auf wunderbare Weise den Geist.“ In ihrer Stimme ist ihr wichtigstes Credo allgegenwärtig: „Musik ist der Weg des Tapferen zum Frieden.“ Die aktuelle CD erscheint am 24. November: Berlioz: „Les Troyens“, DiDonato, Spyres, Lemieux, Orchestre philharmonique de Strasbourg, John Nelson (Erato)

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FOTO: MATTHIAS HEYDE

| MUSIK BIS 19. JH. | STREICHER KAMMERMUSIKEINSPIELUNG ENSEMBLE | ORCHESTER

FOTO: SABRINA SEYFRIED

DER FRIEDE DES GLAUBENS Der RIAS KAMMERCHOR feiert das 500. Jubiläum der Reformation mit einem beeindruckenden Chor-Projekt. Das Besondere an Ensembles wie dem RIAS Kammerchor ist, dass sie nicht nur musizieren, sondern die Musik immer auch denken, sie als Teil der Welt begreifen, als Ausdruck von Sehnsüchten, Prozessen und Bewegungen. Als Teil der Menschheit. Es gab viele Konzerte zur 500-Jahrfeier der Reformation – die Einspielung „Da Pacem“ für das Label deutsche harmonia mundi sticht dabei heraus. Gemeinsam mit der Capella de la Torre und Florian Helgath arbeitet der RIAS Kammerchor nicht allein die charakteristische Klangwelt des Protestantismus heraus, sondern sucht verbindende Elemente in den unterschiedlichen Chorwerken der großen Konfessionen. Und so treffen Werke

wie Verleih uns Frieden gnädiglich von Luther oder O süßer, o freundlicher von Heinrich Schütz auf das Salve Regina von Monteverdi oder das Da pacem von Parabosco. Die Dramaturgie dieser Einspielung ist nicht nur schlüssig, sondern wird durch einen musikalischen Sog getragen, in dem die Lebendigkeit der geistlichen Musik spürbar wird und der Kammerchor sich als eines der führenden Ensembles weltweit in Szene setzt. Zuweilen zaubern Orchester und Chor opulente Klangwelten, lassen dabei aber immer Atem für Geist, Spiritualität und Transparenz. Anregender kann Musik über den Glauben kaum klingen.

SINFONISCHE EINSPIELUNG | MUSIK BIS INKL. 18. JH.

DIE GEHEIMNISSE UM BACHS COUSIN FRANÇOIS JOUBERT-CAILLET

hat gemeinsam mit dem Ensemble L’ACHÉRON die vier Ouvertüren von

Johann Bernhard Bach aufgenommen. WELT-ERSTEINSPIELUNG DES JAHRES

TELEMANNS BERNSTEINZIMMER Musikforscher und Gambenspieler THOMAS FRITZSCH hat die 12 Fantasien aufgestöbert und lässt sie nun lustvoll klingen.

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Telemann fasst in seinen Solostücken die damals technischen Möglichkeiten für die Gambe zusammen. Das Magdeburger Telemann-Zentrum beschreibt das so: „Ein Füllhorn musikalischer Ideen, das durch die erstaunliche Kenntnis der Spielmöglichkeiten des Instrumentes besticht und in dem Telemann sich als ein Meister der intimsten kammermusikalischen Form zeigt.“ Thomas Fritzsch hat nun die Noten-Edition übernommen und lässt auf seiner Einspielung für Coviello die technischen Finessen und die emotionalen Spannungsbögen dieser Musik endlich wieder hören: eine zutiefst emotionale und historisch aufsehenerregende Ausgrabung. FOTO: PRIVAT

Wenn Thomas Fritzsch in die Geschichte der Musik abtaucht, kommt er in der Regel mit wahren Trouvaillen zurück und haucht ihnen neues Leben ein. Nun hat er Georg Philipp Telemanns 12 Fantasien für Viola da Gamba solo aufgetan. Sie galten als verschollen, und die Suche nach ihnen gestaltete sich ähnlich kompliziert wie jene nach dem Bernsteinzimmer. Ihre Veröffentlichung im Jahre 1735 war zwar belegt, doch schien kein Druckexemplar die Zeit überdauert zu haben. Es dauerte 280 Jahre, bis Fritzsch nun eines in einer Privatbibliothek aufstöbern konnte. Ein Fund, der die Musikszene in Aufruhr versetzte.

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Ein Großteil der Kompositionen von Johann Bernhard Bach sind für immer verloren. Dabei spielte sein Schaffen eine große Rolle – gerade im Umfeld von Johann Sebastian Bach. Der Cousin zweiten Grades des bekannten Komponisten studierte gemeinsam mit ihm in Weimar und arbeitete später mit Georg Philipp Telemann zusammen. Johann Bernhard Bach wurde Organist in Erfurt und Magdeburg und Cembalist in Eisenach. Johann Sebastian Bach führte mit seinem Collegium Musicum in Leipzig verschiedene Werke des Cousins auf. Der Gambist François Joubert-Caillet hat die noch erhaltenen vier Ouvertüren (ein Beispiel für die Adaption des französischen Stils in Deutschland) nun gemeinsam mit seinem Ensemble L’Achéron in lebendiger Spiellust aufgenommen und zeigt, wie spannend das Abtauchen in die Geschichte der Musik sein kann. „Johann Bernhard Bach wird viel zu selten gespielt“, sagt der Musiker zur ECHO-Verleihung, „und ich hoffe sehr, dass so ein bedeutender Preis uns dabei helfen kann, dieser Musik die Aura zu geben, die sie verdient.“ Gleichzeitig nimmt François Joubert-Caillet gerade ein neues Mammutwerk in Angriff, die Einspielung sämtlicher Gambenwerke von Marin Marais: fünf Bücher mit 600 Stücken auf 20 CDs. Eine historische Zeitreise in begeisternden Klängen.

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NACHWUCHSKÜNSTLERIN | GESANG

TRÄUME WERDEN WAHR Es gibt Geschichten, die es fast nicht gegeben hätte, wenn die Welt sich nur ein wenig anders gedreht hätte. Die Geschichte der südafrikanischen Sängerin Pretty Yende ist eine dieser Geschichten. Heute ist sie – von Mailand bis New York – ein gefeierter Opernstar. Das wäre allerdings anders gekommen, hätte British Airways nicht zufällig mit dem Duett aus der Oper Lakmé geworben. Hätte Yende in ihrer kleinen südafrikanischen Stadt 300 Kilometer östlich von Johannesburg diese Werbung nicht gehört. Und hätte sie nicht diesen unbändigen Ehrgeiz gehabt, ihren neuen Traum zu verfolgen: einmal so zu singen wie die Damen in der Werbung, hinauszugehen in die große, weite Welt, um ihren Traum zu leben. Als sie das Lakmé-Duett hörte, war Pretty Yende klar, dass sie Opernsängerin werden wollte! Heute verdanken wir diesen vielen „Wenns“ und „Hättes“ eine der schönsten und ehrlichsten Stimmen auf den Bühnen der Welt. Ihr Debütalbum „A Journey“ bei Sony wird nun mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet. Darauf zeichnet die Sopranistin ihre Karriere in unterschiedlichen Arien nach: Natürlich darf das Duett aus Lakmé nicht fehlen, außerdem ihr erster großer Auftritt mit Rossinis Le Comte Ory oder Gounods Roméo et Juliette, mit der sie den Belvedere-Gesangswettbewerb in Wien gewann.

Zurück in ihrer Heimat Kapstadt sang sie Donizettis Lucia di Lammermoor. Man hört diesem Album an, wie existenziell jede einzelne Rolle für die Sängerin ist, dass jeder Auftritt bei ihr mit Herzblut verbunden ist – ein weiterer Schritt, um ihren großen Traum zu leben. Einen Traum, der auch von der Befreiung uralter Vorurteile handelt. Ein Traum, der bis heute nicht ausgeträumt ist: „Es wird Zeit brauchen, bis sich die Verhältnisse der Weißen und Schwarzen angeglichen haben“, sagt Yende. „Südafrika muss permanent an sich arbeiten. Das ist das Vermächtnis von Nelson Mandela.“ Kein Wunder, dass Yende ihrem neuesten Album den Titel „Dreams“ gibt. Auch hier stellt sie mit erzählerischer Stimme unter Beweis, dass die märchenhaften Geschichten aus Opern wie Roméo et Juliette oder Linda di Chamounix Träume sind, für die es sich zu leben lohnt – und dass die Oper der Anfang von realen Geschichten sein kann, die es fast nicht gegeben hätte.

Aktuelle CD: Pretty Yende: „Dreams“ (Sony Classical)

SINFONISCHE EINSPIELUNG | MUSIK 19. JH.

DER ERFINDER DER MODERNEN SINFONIE CONSTANTIN TRINKS und das MOZARTEUMORCHESTER SALZBURG

setzen der Klangwucht von Hans Rott ein Denkmal. Diese Einspielung ist ein Ereignis. Gemeinsam mit dem Mozarteumorchester Salzburg hat Constantin Trinks die wegweisende 1. Sinfonie von Hans Rott neu belebt. Der Zeitgenosse Gustav Mahlers hat an der Neuerfindung der modernen Sinfonie getüftelt, die von der Edition Günter Hänssler nun mit Klangwucht und Spielfreude in Szene gesetzt wird. Ein Gespräch über den vergessenen Komponisten und seine Wirkung. crescendo: Herr Trinks, warum haben viele den Komponisten Hans Rott vergessen? Constantin Trinks: Inzwischen glaube ich, dass Rott eine Renaissance feiert. Er war ein genialisch-begabter Komponist des 19. Jahrhunderts, Bruckner-Schüler und Mahler-Kommilitone in Wien, der im Alter von nur 21 Jahren eine hoch ambitionierte Sinfonie von Bruckner’schen Dimensionen schrieb. Sie war für Mahler eine Inspirationsquelle. Der Durchbruch gelang Rott aber nie wirklich … Er verfiel leider in geistige Verwirrung und Depressionen und musste die letzten fünf Jahre seines kurzen Lebens – er wurde nur 26 Jahre alt – in der geschlossenen Anstalt verbringen.

Wie sind Sie persönlich auf Rott gestoßen? Mir fiel die CD der Ersteinspielung der Sinfonie mit dem Cincinnati Philharmonia Orchestra unter Gerhard Samuel in die Hände. Diese entfachte sofort meine Begeisterung, kam doch in dieser Musik hörbar Rotts Verehrung für Wagner und Bruckner – den Leitsternen meiner Jugend – zum Ausdruck. Besondere Nähe scheint aber zu Gustav Mahler zu bestehen … Sicher, die beiden kannten sich, hatten den gleichen Kompositionslehrer, und Mahler äußerte sich Jahre später über den inzwischen verstorbenen Rott geradezu lobpreisend: „Was die Musik an ihm verloren hat, ist gar nicht zu ermessen.“ Was also hören wir bei Rott, was auf Mahler vorausweist? Da ist etwa das Scherzo: Das könnte durchaus auch in einer Mahler-Sinfonie vorkommen, die thematische Nähe zum Scherzo der Ersten Sinfonie ist nicht zu überhören; von der Form, vom Aufbau her weist es aber bereits auf das große Scherzo der Fünften Sinfonie voraus. Kein Wunder, dass Mahler von Rott schwärmte: „Der Begründer der Neuen Symphonie, wie ich sie verstehe.“ FOTO: IRÈNE ZANDEL

FOTO: GREGOR HOHENBERG

Die Südafrikanerin PRETTY YENDE begeisterte sich zufällig für die Oper. Heute ist sie eine der größten Sopran-Stimmen der Welt.

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NACHWUCHSKÜNSTLER | DIRIGAT

DER STELLVERTRETER MAHLERS AUF ERDEN Der erst 29-jährige Dirigent YOEL GAMZOU ist von Leidenschaft getrieben. Nun wird er für seine Bearbeitung von Mahlers 10. Sinfonie geehrt.

FOTO: ORAN GREIER

100 Jahre lang war es her, dass Gustav Mahler die letzte Note seiner unvollendeten 10. Symphonie geschrieben hat, als das Werk bei den Jüdischen Kulturtagen in Berlin in einer vollkommen neuen Bearbeitung des jungen Dirigenten Yoel Gamzou mit dem International Mahler Orchestra aufgeführt wurde. Und: Es war ein ohrenöffnender Erfolg. Der 29-jährige israelisch-amerikanische Dirigent hat sich intensiv mit Mahler beschäftigt, eines seiner großen Vorbilder ist Leonard Bernstein. Für Gamzou ist der Komponist eine Ikone des 20. Jahrhunderts, seine Musik eine Klangkugel, in der sich die Gefühle, Ängste und Träume von uns allen spiegeln. Gamzou hat sein junges Leben dazu bestimmt, Mahler die Ehre zu erweisen. Der Dirigent gilt vielen als „Wunderkind“, das Partituren lesen konnte, noch bevor es Bücher las. Tatsächlich ist er ein energiegeladener Musiker mit großen Visionen. Dafür wurde er oft kritisiert. Umso mehr freut ihn die Auszeichnung

mit dem ECHO KLASSIK: „Mein Weg als Dirigent war oft ungewöhnlich, unorthodox und unkonventionell. Es gab viele Widerstände, viele Aufs und Abs – ich bin aber immer meiner Integrität und meiner musikalischen Identität treu geblieben.“ Genau dafür wird er nun ausgezeichnet. In Mahlers 10. Sinfonie fand er ein sorgfältig geplantes, aber „hastig formuliertes Testament“, das „fast unerträglich schmerzhaft“ sei – und das ihn immer wieder angestarrt und darum gebeten habe, aufgeführt zu werden. Für Neudenker wie Yoel Gamzou ist das Label WERGO Colours erfunden worden. Es will die Vielfalt und den Farbenreichtum gegenwärtigen Musikschaffens jenseits der sogenannten „Avantgarde“ abbilden. Mit der Einspielung von Mahlers 10. Sinfonie ist genau das gelungen: Gamzou schafft es, in der Musik eine Zeitspanne von über 100 Jahren zu überbrücken und Gustav Mahlers Vermächtnis als Soundtrack unserer Gegenwart zu installieren und zu begründen.

KAMMERMUSIKEINSPIELUNG | MUSIK 19. JH. | GEM. ENSEMBLE

DAS ANDERE FRANKREICH

FOTO: UWE ARENS

Die Cellistin CAMILLE THOMAS und der Pianist JULIEN LIBEER suchen die Klangfarben des französischen 19. Jahrhunderts. Das Spannende an kleineren Labels ist, dass sie die Entdeckung junger Künstler ernst nehmen und immer wieder den Mut haben, ein Repertoire aufzunehmen zu lassen, das selbst dem eingefleischten Klassik-Hörer oft unbekannt ist. La Dolce Volta ist so ein Label. Und die Cellistin Camille Thomas eine Künstlerin, die nicht allein durch ihren tiefgründigen Ton betört, sondern auch durch ihre musikalische Klugheit und Begeisterung – dadurch, dass sie Musik ausgräbt, die unsere Ohren kaum kennen, sie aber schlackern lässt. Die in Paris geborene Thomas wurde an der Hanns-Eisler-Hochschule in Berlin ausgebildet, hat zahlreiche europäische Preise gewonnen und wurde 2014 als „Newcomerin des Jahres“ von der EBU (European Broadcasting Union) ausgezeichnet sowie für den französischen Grammy „Les Victoires de le Musique“ nominiert. Nun hat sie gemeinsam mit dem Pianisten Julien Libeer das oft vergessene Repertoire für Cello und Klavier des 19. Jahrhunderts aus ihrer Heimat vermessen. So entdeckt Thomas ein vollkommen neues Gesicht von Eugène YsaŸe. Für das Cello schrieb er nur ein Werk, die Sonate op. 28 – aber die hat es in sich, verlangt eine selbstbewusste, virtuos geschulte und gleichsam souverän singende

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Interpretin: Rhythmus, Zweistimmigkeit, ebenso sehnsuchtsvoll wie pathetisch im besten Sinne, gleichsam immer auch beschwingt. All diese Farben ruft Thomas nicht nur auf ihrem Gagliano-Cello ab, sondern mischt sie mit emotionaler und interpretatorischer Klugheit. Mit dem Pianisten Julien Libeer hat sie einen kongenialen Partner gefunden, der sie nicht begleitet, sondern sich in dauerndem Dialog mit ihr befindet. Unter anderem auch in der spätromantischen Sonate von César Franck oder den Vier kleinen Stücken von Gabriel Fauré. Mit typisch französischer Verve und Leichtigkeit wechseln sie die Stimmungen von der Elégie bis zur Sicilienne. Und auch Camille SaintSaëns wird mit seiner Impression aus dem Karneval der Tiere und einer„Sérénade gewürdigt – als Protagonist französisch farbenprächtiger Miniaturen, die Thomas und Libeer ausgesprochen hörenswert dahintupfen. „Ein pures Hörvergnügen“ nennt Spiegel Online die ausgezeichnete CD. www.crescendo.de

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PREIS FÜR NACHWUCHSFÖRDERUNG

„Einfach nur spielen“ FOTO: GEORG TEDESCHI

Das Educationprogramm TONALi ist mehr als ein ganz besonderer Wettbewerb: Es hat sich zum Ziel gemacht, dass Jugendliche Jugendliche begeistern. Dafür gibt es nun den ECHO KLASSIK.

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m Juli legte der G20-Gipfel ganz Hamburg weitgehend lahm. Ganz Hamburg? Nein – ein großes Häufchen junger Musiker hat dem Wahnsinn standgehalten und einfach getan, was es tun musste: Konzerte an außergewöhnlichen Orten geben. Klassik in der Kulturkirche Altona, der Halle 424 oder in der legendären „Ritze“ lockten das Publikum, und das Abschlusskonzert des Instrumentalwettbewerbs TONALi fand in der prunkvollen Kulisse der ausverkauften Elbphilharmonie statt. Dabei sorgte eine Musikerin für besonderes Aufhorchen: Die junge Geigerin Lara Boschkor spielte Sergei Prokofjews 1. Violinkonzert, wurde von der jungen norddeutschen philharmonie unter Leitung von Daniel Blendulf begleitet und erntete gigantischen Applaus, unter anderem von 900 Hamburger Schülern aus zwölf verschiedenen Schulen, die im Auditorium saßen. Und so fand der wahre Ausnahmezustand in diesem Juli im Konzert statt: Meistervirtuosen wie Lisa Batiashvili gaben sich die Ehre, Kinder schleppten ihre Eltern mit ins Konzert, und die ganze Stadt verwandelte sich in ein Konzertpodium. Musik zu machen bedeutet schon lange nicht mehr, sich auf eine Bühne zu stellen, das Instrument auszupacken und loszulegen. Musik ist heute abhängig von Ideen, Konzepten, natürlich von der individuellen Ausbildung, aber auch von der Förderung, dem Management und der Organisation von Konzerten, von Aufnahmen und künstlerischen Persönlichkeiten. All dem hat sich das von den beiden Cellisten Amadeus Templeton und Boris Matchin gegründete TONALi-Projekt verschrieben, eine Organisation, die gleichsam Wettbewerb ist, Festival und Nachwuchsförderung. Das Besondere: Junge Künstler werden in den unterschiedlichen Programmen motiviert, sich selbst zu helfen. So ist in den letzten Jahren ein Netzwerk entstanden, in dessen Zentrum zwar der Instrumentalwettbewerb steht, das aber auch auf eine Publikumsakademie setzt, in der Jugendliche die Grundlagen des Kulturmanagements lernen und in über 100 Klassikkonzerten Freunde, Eltern und Bekannte begeistern. Zudem hat TONALi gemeinsam mit der angesehenen Agentur Harrison Parrott sowie Hanni Liang die gemeinnützige Künstleragentur TONALiSTEN

gegründet, die einen kulturellen Kreislauf anstrebt: Mäzene fördern die Agentur, die Agentur fördert junge TONALi-Musiker, und die Musiker selbst bauen ein neues, heterogenes Klassikpublikum auf. Seit seiner Gründung ist TONALi längst expandiert, das Educationprojekt begeistert die Jugend auch jenseits von Hamburg; Partner agieren bereits in den Niederlanden, der Schweiz, Italien, Griechenland, Dänemark, Russland, den USA und in China. Zahlreiche Musikinstitutionen wie Festivals, Konzertreihen und Konzerthäuser nehmen jährlich teil, 59 Schulen, 496 Schülermanager, es werden 75 Schulkonzerte gegeben, die fast 25.000 erwachsene Zuhörer und 33.0000 Kinder und Jugendliche erreichen. Kein Wunder, dass sich die Besten um die Zukunft von TONALi kümmern, im Künstlerbeirat sitzen unter anderem der Dirigent Kirill Petrenko, der Percussionist Martin Grubinger, außerdem Paavo Järvi, Lisa Batiashvili, Igor Levit und Janine Jansen, Hauptförderer sind unter anderem die Oscar und Vera RitterStiftung, die Hans-Kauffmann-Stiftung, die Hubertus Wald Stiftung, die Karin Stilke-Stiftung, die Claussen Simon Stiftung, die Stadt Hamburg, das BKM und der 2012 gegründete Freunde von TONALi e.V. „Für mich war die zurückliegende TONALi-Woche so außergewöhnlich, wie ich das zuvor niemals erlebt habe“, sagt die Gewinnerin des TONALi17-Wettbewerbs Lara Boschkor. „Das Eröffnungskonzert mit allen Teilnehmern als eine große Improvisation. Das gemeinsame Mittagessen. Es war alles so anders als bei all den Wettbewerben, die ich zuvor besucht hatte. Es war das Gefühl da, einfach nur Musik machen zu dürfen. TONALi hat mich in einer Weise berührt, die mich Mensch und Musiker sein lässt. Ich bin so dankbar!“ Die Bewerbungen für das nächste Jahr laufen bereits – dieses Mal wird ein Sieger aus der Kategorie Cello gesucht. Und so geht es: auf der TONALi-Homepage informieren, sich anmelden und dann – einfach nur spielen. Gleich nach dem ECHO KLASSIK findet das Festival „Klassik in Deinem Kiez“ vom 16. bis 27. November mit zwölf Konzerten an zwölf Orten in Hamburg statt. 47


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DIRIGENT DES JAHRES

„Die Philosophie hinter der Oberfläche“ erhält den ECHO KLASSIK für seine Interpretation der Alpensinfonie mit den Göteborgs Symfonikern. Ein Gespräch über Sensibilität, Imagination und Klarheit. KENT NAGANO

crescendo: Herr Nagano, Ihre Interpretation der Alpensinfonie ist besonders: keine radikale Klangwucht, sondern eher zurückgenommen, eine Innen- statt einer Außenwelt. Warum haben Sie diesen Ansatz gewählt? Kent Nagano: Die Inspiration für diese Musik sind die Alpen, ihre Größe, ihr Mysterium, ihre Schönheit und ihre Anziehungskraft. Die Größe hat aber nichts mit Bombast zu tun, nicht einmal, wenn der Sturm aufzieht. Die wahre Kraft liegt im Inneren – für mich ist das ein magnetisches Spiel von Innen und Außen. Auf der einen Seite gibt es die Idee der Pastorale, ähnlich wie Beethovens Sechste Sinfonie: ein Reflex gegenüber der Natur, gelenkt von Impressionen und Staunen. Strauss reflektiert darüber hinaus eine Lebensphilosophie, die an Nietzsche angelehnt ist. Uns ging es darum, diese Vielschichtigkeit durch größtmögliche Transparenz zu verdeutlichen. Strauss erzählt die Wanderung durch die Alpen – aus der Sicht des Wanderers. Was konkret sieht er dabei? Es geht, glaube ich, auch um die Furcht um und vor der Größe der Natur, vor ihrer Unendlichkeit. Gleichzeitig dreht sich alles um den psychologischen Mikrokosmos, ist also eine Reise in das Innere des Menschen, die durch das Außen provoziert wird. Es geht um eine menschliche Philosophie, welche durch die Natur angeregt wird. Sie wird durch dauernd wechselnde Gefühle dargestellt: Traurigkeit, Freude, Mut oder Angst. Das ist die Seele der Musik, und die gilt es, hörbar zu machen. Romantische und spätromantische Komponisten nutzen immer wieder die Natur, um den Menschen an sich zu erklären. Welche Naturbegegnungen haben Sie persönlich besonders beeindruckt? Die Region, in der ich meine Kindheit verbracht habe, die spektakuläre Pazifikküste Kaliforniens mit ihren dramatischen Klippen und Bergen, hat mich durchaus beeindruckt. Und ähnlich wie in der Alpensinfonie habe ich gespürt, dass ich die wütenden Wellen oder die noble Stille wahrgenommen habe – und das Gefühl hatte, dass die Natur die Zeit stehen lassen kann. Das ist eine Erkenntnis, die mich bis heute auch in der Musik bewegt.

ist die Musik von Beethoven, Brahms oder Bruckner auch, selbst jene von Mozart. Letztlich arbeitet jedes Meisterwerk mit plakativen Elementen, denn gute Musik besteht immer aus Funktion und Effekt. Und hier wird es spannend: Hinter der Oberfläche des Effekts passieren viele Dinge, die wesentlich tiefer liegen. So gesehen ist Strauss plötzlich überhaupt nicht mehr eingängig oder stereotyp, sondern erfüllt von einer filigranen Menschen-Vision, die sich hinter der Oberfläche entwickelt. Die Arbeit mit dem Göteborger Orchester scheint sehr intensiv gewesen zu sein. Warum haben Sie die CD ausgerechnet mit diesem Orchester aufgenommen? Gerade die Alpensinfonie erfordert Souveränität und Kontrolle, Disziplin, technische Fähigkeit, Freiheit und immer wieder Sensibilität und Imagination, um die nötige Klarheit zu erreichen. Das GSO hat all diese Dinge und begegnet der Partitur mit einer außerordentlichen Überzeugungskraft und Intensität, die nur durch Begeisterung und den unverrückbaren Glauben an die Botschaft der Musik möglich ist. Der Zyklus geht nun mit dem Heldenleben und Tod und Verklärung weiter... Worauf ich mich sehr freue. Der ECHO KLASSIK zeigt, dass wir etwas Besonderes schaffen, und ist eine große Ehre, weil er das gesamte Team auszeichnet, alle, die sich hingegeben haben, natürlich das Orchester, aber auch das Produktionsteam um Felix Gargerle und FARAO classics – und am Ende gebührt der ECHO eben auch Richard Strauss und seinem Genie. Welche Wanderung würden Sie noch gern unternehmen? Es gibt viele spannende Wege, aber in Wahrheit wandere ich jeden Tag. Und zwar durch die schönste Landschaft von allen: durch das Reich der Vorstellung. Hier gibt es keine Zäune, keine Grenzen, keine Limits – hier halte ich mich am liebsten auf, da eine neue Entdeckung hinter jeder Ecke lauert.

Strauss’ Musik ist zuweilen sehr plakativ … Es ist wahr, es gibt viel Oberflächigkeit in dieser Musik. Aber das 48

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Die aktuelle CD erscheint am 25.10.: Richard Strauss: „Ein Heldenleben. Tod und Verklärung“, Göteborgs Symfoniker, Kent Nagano (FARAO classics)

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FOTO: ANNA HULT

„TRAURIGKEIT, FREUDE, MUT ODER ANGST. DAS IST DIE SEELE DER MUSIK, UND DIE GILT ES, HÖRBAR ZU MACHEN“

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QUECKSILBER UND INTENSITÄT

SOLISTISCHE EINSPIELUNG | GESANG (LIED)

FOTO: SIMON FOWLER

INSTRUMENTALIST | GEIGE

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DIE SHAKESPEARESTIMME

CHRISTIAN TETZLAFF

IAN BOSTRIDGE singt Lieder

und LARS VOGT lassen die Spannungen in Brahms’ Violinsonaten hören.

von William Shakespeare – aus vier Jahrhunderten.

Der Pianist Lars Vogt und der Geiger Christian Tetzlaff sind – beide auf ihre Art – Meister der Kammermusik, Zuhörer, Tüftler, die es ge nießen abzutauchen, genau hinzuhören und das Unvermutete im Bekannten zu finden. Unter anderem tun sie das regelmäßig beim Kammermusikfestival „Spannungen“ in Heimbach. „Per Definition sind wir doch schlicht und einfach nur Vermittler“, sagte Tetzlaff einmal, „wir müssen unser Herzblut dafür geben, die Komponisten zu verstehen.“ Wie sich das anhört, zeigen die beiden nun mit ihrer Einspielung der Brahms-Violinsonaten: „Unendliche Freiheit“, jubelte der Guardian über diese Aufnahme, und tatsächlich: Wenn der quecksilbrige Ton Tetzlaffs auf die angespannte Intensität Vogts trifft, entsteht in dieser akustisch großartigen, im Sendesaal Bremen aufgenommenen Einspielung ein andauernder Zustand innerer Spannung und ergreifender, kluger Klangschönheit. Eine Aufnahme, die ein weiteres Stadium in der Entwicklung dieser beiden Ausnahmekünstler markiert, die bei Brahms in einer gereiften Aufnahme mündet, die schon jetzt zu den Standardeinspielungen der Violinsonaten zählen dürfte.

FOTO: GIORGIA BERTAZZI

Aktuelle CD: Christian Tetzlaff: „J. S. Bach. Sonatas & Partitas“ (Ondine) Track 4 auf der crescendo Abo-CD: Partita Nr. 3 E-Dur, BWV 1006. II. Loure

KONZERTEINSPIELUNG | MUSIK 20./21. JH.

SO KLINGT EUROPA HEUTE RENAUD CAPUÇON legt drei Violinkonzerte von Rihm, Dusapin und Mantovani vor.

Vor 400 Jahren ist William Shakespeare gestorben. Seine Texte waren seit jeher ideale Vorlagen für Musiker aus allen Zeiten. Bereits in der elisabethanischen Ära wurden seine Worte vertont – und das hat sich bis heute nicht verändert. Genau diese Reise durch die Jahrhunderte mit Shakespeare unternimmt nun der Tenor Ian Bostridge, begleitet von Antonio Pappano am Klavier und der Lautenistin Elizabeth Kenny. Bostridge selbst ist Londoner und damit in Shakespeares Welt zu Hause. Im Laufe seiner Karriere hat er viele Shakespeare-Stoffe interpretiert: Benjamin Brittens Sommernachtstraum oder The Tempest von Thomas Adès. Auf seinem Album reist er nun von Shakespeares Zeitgenossen wie Thomas Morley, William Byrd, John Wilson und Robert Johnson bis in die Klassik von Haydn, er durchschreitet die Romantik und die Klassische Moderne, unter anderem mit Schubert, Korngold, Britten, Tippett und Strawinsky. Knapp 30 Shakespeare-Liedvertonungen hat Bostridge versammelt und singt jeden einzelnen Song sowohl aus dem Geiste Shakespeares als auch aus der Zeit seiner Entstehung.

Renaud Capuçon hat mit seiner Geige nie allein zurück in die Vergangenheit gespielt. Das Hier und Jetzt war ihm stets so wichtig wie die großen Meister des Barock, der Klassik und der Romantik. Pünktlich zu seinem 40. Geburtstag beschenkte er sich nun selbst, indem er gleich drei Violinkonzerte aufgenommen hat, die ihm gewidmet wurden. Capuçon führte die Stücke von Wolfgang Rihm, Pascal Dusapin und Bruno Mantovani als Erster auf. Spannend ist der europäische Bogen, den dieses Album schlägt. Die wohl wichtigsten Tonsetzer aus Deutschland, Frankreich und Italien gehen hier auf akustische Wanderung. Rihm spannt in seiner Musik den Bogen vom Maler Max Beckmann und dessen Porträt des legendären Geigers Eugène Ysaÿe. Bruno Mantovani knüpft mit seinem Werk Jeux d’eau an die Klangmalerei des Impressionismus an, und Pascal Dusapins Konzert Aufgang entwirft eine hochdramatische Szene: Die engelsgleiche Violine schraubt sich höher und höher über den weiten Abgründen des Orchesters. Nun bekommt Capuçon sein Geburtstagsgeschenk nachträglich: Das Album mit den drei Welt-Ersteinspielungen erhält den ECHO KLASSIK. FOTO: BEN EALOVEGA

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FOTO: KAUPO KIKKA

FOTO: IMAGEM

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OPERNEINSPIELUNG DES JAHRES | OPER 20./21. JH. KONZERTEINSPIELUNG | MUSIK BIS INKL. 18. JH.

MOZART AUF DEN KOPF GESTELLT Individueller und spannender als beim Geiger HENNING KRAGGERUD kann Mozart kaum klingen. Mozart neu erzählen? Wie soll das gehen? Dafür muss schon jemand wie Henning Kraggerud daherkommen. Der Mann ist ein energiegeladenes Multitalent: Violinvirtuose und Geigenlehrer, etwa von Vilde Frang, Bratschensolist, aber auch Komponist und Dirigent. Nachdem er bereits vor einigen Jahren für seine Einspielung von Mozarts Divertimento KV563 gefeiert wurde, nimmt er sich nun Mozarts Violinkonzerte Nr. 3–5 vor. Und wie! Auf der einen Seite besticht Kraggerud durch seine musikantische Begeisterung, gleichsam ist er hochvirtuos und bleibt dabei immer leicht und beschwingt. Klar, dass einer wie er es sich nicht nehmen lässt, eigene Kadenzen zu komponieren. „Ich liebe es, die Ideen der Konzerte zu kombinieren und neue Versionen zu erfinden, die auf den Harmonien des Komponisten basieren, oder neue Pfade der Themen anzulegen, indem ich sie auf den Kopf stelle oder ihre Tonart von Dur in Moll verändere.“ Natürlich übernimmt Kraggerud auch die Leitung des renommierten Norwegischen Kammerorchesters. Die Tonmeister-Legenden Sean Lewis und Mike Hatch sorgen für den exquisiten Sound dieses bei NAXOS erschienenen Albums.

DIE OPER ALS PACKENDES HÖRSPIEL ROMAN TREKEL, ANNE SCHWANEWILMS UND HANS GRAF erzählen Alban Bergs Wozzeck

mit atemloser Dramatik. Die Geschichte von Wozzeck, diesem armen Mann, der von der grausamen Wirklichkeit unserer Welt in den Wahnsinn getrieben wird, ist vielleicht eines der wichtigsten Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts. Die Titelpartie der Oper von Alban Berg ist eine Herausforderung an die Stimme, aber auch an die Gestaltung und Balance zwischen Musikalität und Dramatik. Roman Trekel singt den Wozzeck auf dieser Aufnahme nicht, er ist der Wozzeck: eine im musikalischen Chaos getriebene Seele mit hörbarer Körperlichkeit. Er leistet sich immer wieder gesangliche Schönheit und stattet den Menschen am Abgrund mit Würde aus. Obwohl Wozzeck zum festen Repertoire der Opernhäuser gehört, ist die Oper in den letzten 20 Jahren nur in verschwindend wenigen Neueinspielungen auf CD realisiert worden. Das hat das Label NAXOS nun geändert: Der Live-Mitschnitt mit dem Houston Symphony Orchestra, einem der bedeutendsten Sinfonieorchester der USA, das von Hans Graf (einem Schüler von Franco Farrara und Sergiu Celibidache) geleitet wird, und in dem Anne Schwanewilms die Marie spielt, ist eine aktuelle Referenzaufnahme dieser dramatischen Oper: ein musikalisches Hörspiel mit atmosphärischem Drive und innerer Spannung.

KLASSIK OHNE GRENZEN

40 JAHRE STUNDE NULL

FOTO: UWE ARENS

Die 12 CELLISTEN DER BERLINER PHILHARMONIKER kehren mit einem neuen Album zurück – dieses Mal tanzen sie berauschend Tango.

Seit ihrer Gründung vor 40 Jahren haben die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker die Klassik neu belebt: Ihre mitreißenden Arrangements von ganz unterschiedlichen Werken der Musik für 12 Violoncelli begeistern ein Millionenpublikum. Auch deshalb, weil das Ensemble immer seiner unbändigen Spielfreude Ausdruck verleiht und dabei hoch virtuos zu Werke geht. Sechs Jahre lang mussten Fans nun auf ein neues Album warten – und mit „Hora Cero“ ist bei Sony ein weiteres Meisterstück

gelungen. Tangos von Astor Piazzolla, Horacio Salgán, José Carli und Pasquale Stefano erklingen in authentisch lateinamerikanischen Arrangements, die zum großen Teil von den Musikern selbst geschrieben wurden. Sanfte Sehnsucht wechselt sich ab mit furioser Virtuosität und rauschenden Rhythmen. 12 Celli scheinen hier die melancholische Lebensfreude Südamerikas zu tanzen. Eines ihrer Erfolgsrezepte haben die 12 Cellisten dabei zum Titel erhoben: „Hora Cero“, die

„Stunde Null“, gibt nicht nur einem Tango von Astor Piazzolla den Namen, sondern verrät auch viel über das Selbstverständnis der Musiker: die Lust am fortwährenden Neubeginn und der ewig neuen Einverleibung ganz unterschiedlicher musikalischer Stile. 40 Jahre haben die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker immer wieder neu gedacht – und bleiben sich in ihrer Musikalität dennoch treu.

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FOTO: MARCO BORGGREVE

FOTO: YANN ORHAN - SONY CLASSICA

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NACHWUCHSKÜNSTLER | KLAVIER

UNSTREITBAR GENIAL! Beim Tschaikowsky-Wettbewerb sorgte LUCAS DEBARGUE noch für einen Skandal.

KONZERTEINSPIELUNG | MUSIK BIS INKL. 18. JH.

Seine neuen Alben sind eine Offenbarung.

DAS MONSTER IN MOZART KRISTIAN BEZUIDENHOUT zaubert gemeinsam mit dem FREIBURGER BAROCKORCHESTER auf dem Hammerflügel einen verblüffend anderen Mozart. Wenn Kristian Bezuidenhout Mozart spielt, ist vieles anders. Das liegt nicht nur daran, dass der Pianist aus Südafrika seit Jahren mit seinem Hammerklavier unterwegs ist, also mit jenem Instrument, das auch Mozart zur Verfügung stand, und nicht mit einem jener handelsüblichen Konzert-Steinways, auf denen die Klassik so oft auf Hochglanz poliert wird. Klar, das Hammerklavier tut das Seinige zum typischen „Bezuidenhout“-Mozart-Sound, aber viel wichtiger noch ist die Philosophie, mit der sich der Pianist dem Komponisten annähert – oder besser: Mozart zurückführt zu seinen Wurzeln. Die Klavierkonzerte KV 413–415, die er nun für harmonia mundi France aufgenommen hat, bestechen vor allen Dingen durch ihren rasanten Ansatz. Das Hammerklavier hält Bezuidenhout nicht davon ab, die Partitur mit Rasanz zu nehmen, sich in die Kurven zu legen, Vollgas zu geben und wieder abzubremsen. „Es ist falsch, emotionale Freiheit in der Musik immer erst mit Beethoven beginnen zu lassen“, erklärte Bezuidenhout der Welt, als er die Mozart-Sonaten aufnahm, „man muss Mozart als opernhaftes Individuum, so extremistisch und vielleicht monströs darstellen, wie er privat war. Einen trinken gehen, so viel steht für mich fest, würde man lieber mit dem gut gelaunten Haydn.“ Wer nun aber glaubt, dass Bezuidenhout Mozart – wie derzeit viele andere – ohne Rücksicht auf Verluste und auf Teufel komm raus gegen den Strich bürsten will, irrt. Seine musikalische Sozialisation und seine Schwärmerei für Dirigenten wie John Eliot Gardiner hört man bei allem revolutionären Impetus immer durch. Das Wissen, der Anstand und die Klugheit sind Teil dieser emotionalen, radikalen und leidenschaftlichen Klangrevolution. Und tatsächlich scheint Bezuidenhout mit seinem Esprit, seiner Aufgekratztheit, seiner Kompromisslosigkeit und mit seinem Einfallsreichtum auch das gestandene Freiburger Barockorchester unter Gottfried von der Goltz zu begeistern, das ihm staunend und mit funkelnder Begeisterung folgt.

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Über Musik lässt sich vortrefflich streiten. Das hat der französische Pianist Lucas Debargue mit seinem Auftritt beim Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau eindrücklich unter Beweis gestellt. Das Publikum bejubelte den jungen Außenseiter frenetisch, Pianist Boris Berezowsky nannte ihn ein Genie, aber Jury-Mitglied Michel Béroff zweifelte öffentlich an seiner Professionalität. Die Jury war zerstritten, setzte ihn auf Platz vier. Das wiederum erzürnte den Dirigenten Valery Gergiev, der Debargue kurzerhand in das Finalistenkonzert holte. Der Tumult von damals gehört inzwischen der Vergangenheit an. Spätestens mit seinem bei Sony erschienenen Album mit Werken von Bach, Beethoven und Medtner hat der junge Franzose unter Beweis gestellt, dass er nicht nur ein großartiger Musikprofi ist, sondern auch ein enfant terrible mit Tiefgang, ein Virtuose, dessen Kunst das Neuausleuchten des Bekannten ist, das unvoreingenommene Ohrenaufsperren seiner Zuhörer: die Schönheit des kompromisslos Schlichten. Während bei seinen Konzerten schon der Körper, mit dem Debargues jede Phrase interpretiert, ein Spektakel an sich darstellt, gelingt es ihm auch in seinen Aufnahmen, die Körperlichkeit seines Musizierens hörbar werden zu lassen. Dazu besticht sein souveräner Umgang mit den Meistern der Klassik, die er ohne Schnörkel bis auf die Knochen durchdringt und glasklar zum Klingen bringt: wenig Pedal, klarer Anschlag, singende Piani. Debargues Markenzeichen ist die konzentrierte Reduktion für ein Maximum an Ausdruck. Und so geht es auch im jüngsten Album weiter, auf dem sich Lucas Debargue die Komponisten Franz Schubert und Karol Szymanowski vornimmt. Das Debütalbum nach dem Gewinn des Tschaikowsky-Wettbewerbs war eine Bewährungsprobe. Das zweite Album mit Werken von Bach, Beethoven und Medtner wird nun mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet. Das aktuelle dritte ist ein Ritt durch die romantische und moderne Klavierliteratur, bei dem der junge Pianist niemandem mehr etwas zu beweisen hat. Er betritt mit Leidenschaft und Begeisterung die große Freiheit der Musik jenseits aller Jurys.

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Aktuelle CD: Lucas Debargue: „Scarlatti, Chopin, Liszt, Ravel“ (Sony Classical) — Verlags-Sonderveröffentlichung / Anzeigen zum ECHO KLASSIK 2017


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BESTSELLER DES JAHRES

Der ganz normale Pariser Wahnsinn Der Tenor JONAS KAUFMANN ist ein Sänger der Vielfalt. Gleich, in welchem Genre er sich gerade aufhält – er ist stets authentisch. Seine neue Reise verschlägt ihn nach Paris.

FOTO: GREGOR HOHENBERG

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as vielleicht Faszinierendste an Jonas Kaufmann ist seine Vielfalt. Er ist ein Sänger, der wahrhaftig ist, bei allem, was er tut: wahrhaftig als Wagners heldischer und silbern strahlender Gralsritter Lohengrin, wahrhaftig als fast schon schizophrener Don José, bevor er Carmen ersticht, wahrhaftig als Puccinis Freiheitsheld Cavaradossi und wahrhaftig auch, wenn er sich den italienischen Volkslied-Schmelz vornimmt. So wie auf jenem Album, mit dem er nun den ECHO KLASSIK als „Bestseller des Jahres“ gewinnt. „Dolce Vita“ gleitet nie in schmierigen Kitsch ab, sondern feiert – wie es der Titel verspricht – die Launen des Lebens in Musik. Es ist die große Kunst von Jonas Kaufmann, gerade auch im Bodenständigen das Hehre zu finden. Eine Tugend, mit der er sich in eine Sängertradition stellt, die heute selten ist: Kaufmann, der Allrounder, tritt in die großen Fußstapfen von Tenören wie Fritz Wunderlich oder Baritonen wie Hermann Prey, die ebenfalls das Genie besaßen, im Leichten das Tiefgründige aufzustöbern und im vermeintlich Schweren das zutiefst Menschliche zu finden. Jonas Kaufmann hat die Gabe, jeder Musik Abgründe abzulauschen und jeden Ton als existenzielles Ausrufezeichen zu formen. Es ist typisch für den Tenor, dass er nach seinem Ausflug in die Sonne Italiens nun ein vollkommen anderes Album bei seinem Label Sony vorlegt. In „L’ Opera“ widmet er sich der französischen Oper des 19. Jahrhunderts. Einer Epoche, in der die Kunst zum Spektakel des Bürgertums aufgeblasen wurde, in der Pferde und Bombast die Bühnen der französischen Hauptstadt bevölkerten, in der die Oper größer wurde als je zuvor: zur Grand Opéra, in der Prunk und Eleganz vorherrschten, aber eben auch Sentiment und Sehnsucht hinter der Fassade des Opulenten lauerten. „Das französische Opernrepertoire liegt mir sehr am Herzen“, sagt Kaufmann. „Diese Musik spiegelt eine einzigartige Epoche wider. Für das Album wollte ich nicht nur die Highlights auswählen, sondern auch die Werke und Rollen, die

für mich Schlüsselerlebnisse waren. Zum Beispiel die Partie des Wilhelm Meister in Mignon – meine erste große französische Rolle. Carmen und Werther waren für mich so etwas wie Türöffner.“ Tatsächlich hat Kaufmann gerade als Werther seine Vielfalt unter Beweis gestellt, als er ausgerechnet an der Pariser Opéra als einziger Deutscher in einem vollkommen französischen Ensemble debütierte. „Das war sicher riskant“, sagt er heute, „aber ich hatte gute Lehrmeister: Korrepetitoren, Kollegen, Dirigenten – und nicht zuletzt die Aufnahmen des legendären französischen Tenors Georges Thill.“ Das Paris des 19. Jahrhunderts war die Stadt des Architekten Georges-Eugène Haussmann, ein Schmelztiegel der europäischen Kulturszene, in dem sich unterschiedliche nationale Stile zur großen Oper verschmolzen haben. So siedelten sich viele deutsche Komponisten wie Meyerbeer oder Offenbach an der Seine an. Kaufmann interessiert diese deutsch-französische Verbindung besonders: „Offenbachs Hoffmann ist für mich eine ideale Symbiose von deutschem Tiefsinn und französischer Fantasie“, sagt der Tenor, „Massenet hat die Seelenwelt von Goethes Werther derart farbenreich und differenziert umgesetzt, wie man es sich nur wünschen kann. Insofern fühle ich mich in diesem Repertoire vollkommen zu Hause.“ In „L’ Opera“ macht sich Jonas Kaufmann mal wieder eine vollkommen neue Welt zu eigen, eine Operntradition, die ein Umdenken der Stimme verlangt, ein Andersdenken der Charaktere und eine Neuerfindung des Sängers. Die französische Oper des 19. Jahrhunderts begeistert durch ihre Melodien, durch ihre musikalischen Effekte – und es ist der Verdienst von Jonas Kaufmann, auch diese Welt erneut einem Millionenpublikum vorzustellen und die oft vergessenen Bestseller des 19. Jahrhunderts zu Bestsellern des 21. Jahrhunderts zu erheben. Aktuelle CD: Jonas Kaufmann: „L’Opéra“, Bayerisches Staatsorchester, Bertrand de Billy (Sony Classical)

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INSTRUMENTALIST | CELLO

AUS DER KRISE ZUM KLANG ANDREI KOROBEINIKOV und JOHANNES MOSER

beleben Rachmaninow und Prokofjew. Wie klingt die Musik in einer persönlichen Krise? Die Antwort geben der Cellist Johannes Moser und der Pianist Andrei Korobeinikov auf ihrer Einspielung mit Werken von Sergei Rachmaninow und Sergei Prokofjew. Beide haben ihre bekannten Cellosonaten in Zeiten individueller Lebenskrisen geschrieben. Prokofjew kämpfte gegen Angriffe des Stalin-Regimes, das ihm „Formalismus“ vorgeworfen hatte, Rachmaninow steckte in einer großen Schaffenskrise und ließ sich von Dr. Nikolai Dahl durch Hypnose behandeln. Spannend zu hören, wie grundsätzlich verschieden die beiden ihre persönliche Situation in Musik umgesetzt haben: Auf der einen Seite Prokofjew, der oberflächlich zwar ein eingängiges, gesangliches Werk vorlegte, dem die innere Spannung, die Ecken und Kanten, der Kampf um seine Ideale aber überall anzuhören ist. Auf der anderen Seite Rachmaninow, der in seiner sehr dialogischen Sonate versucht, eine Gleichheit von Piano und Cello herzustel-

len, und dabei eine seiner sanftesten, melodiösesten und schönsten Kompositionen geschaffen hat. Seine Sonate fällt übrigens in die gleiche Schaffensphase wie sein großes 2. Klavierkonzert . Eigentlich fühlte sich der vielfach ausgezeichnete Cellist Johannes Moser noch nicht bereit für das russische Repertoire, wollte es langsam erobern, aber dann traf er Andrei Korobeinikov – und plötzlich kam die Inspiration und die Lust auf Rachmaninow, auf Prokofjew und sogar auf Skrjabin (von Letzterem ist das Adagio aus dem Ballett Aschenbrödel zu hören, das ursprünglich für Horn und Klavier geschrieben wurde). „Prokofjew und Rachmaninow sind geniale, musikalische Geschichtenerzähler“, schreibt Moser im Booklet, und genau das lässt er gemeinsam mit Korobeinikov auch hören: dialogische, sinnliche und auf höchster Ebene virtuose Musikerzählung mit russischer Seele, mit Humor und Melancholie.

SOLISTISCHE EINSPIELUNG | GESANG (DUETTE/OPERNARIEN)

DIE STIMME ALS SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT MARIANNE CREBASSA ist eine Meisterin der Spielfreude. Das hat sie in „Oh Boy!“ gezeigt, Vielleicht ist die Herstellung von Natürlichkeit eine der größten Schwierigkeiten der Musik. Die französische Mezzosopranistin Marianne Crebassa ist Expertin in Sachen Authentizität. In ihrem Warner-Debüt „Oh Boy!“, das nun mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet wird, hat sie die großen Hosenrollen mit Charme, erotischem Flirren und absoluter burschikoser Wahrhaftigkeit gesungen. Ein Album, das ihre internationale Opernkarriere befeuert hat, die gerade mit Mozarts Clemenza di Tito unter Theodor Currentzis in Salzburg einen neuen, umjubelten Höhepunkt gefeiert hat. Nun hat die Französin im Saal des Mozarteums ihr zweites Album aufgenommen, gemeinsam mit dem türkischen Pianisten Fazıl Say, ebenfalls ein Musiker, dem es um Glaubwürdigkeit und Echtheit in jeder Nuance des Musizierens geht. Die beiden interpretieren die farbenreichen, von Sehnsucht und erotischem Verlangen aufgeladenen Klavierlieder Debussys, Ravels, Faurés und Duparcs. Märchenhafte musikalische Geheimnisse,

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die von den beiden Musikern vorsichtig unter dem Albumtitel „Secrets“ gelüftet werden. Man hört dieser Aufnahme die Intimität des musikalischen Augenblicks an. „Es gab Momente, in denen um uns herum nichts mehr zu existieren schien“, sagt Crebassa. „Fazıl und ich sind in der Musik miteinander verschmolzen.“ Und genau diese Weltverlorenheit im Sein prägt das neue Album der französischen Sängerin. Bei der Auswahl ihres Repertoires scheint es ihr stets darum zu gehen, immer wieder den Bogen von der großen Kunst in die emotionale Wahrhaftigkeit des Menschen zu finden. Das war in „Oh Boy!“ so, als sie französische Arien mit Mozart paarte, und das ist in „Secrets“ ebenfalls so, einem Album, auf dem auch Fazıl Says Gezi-Park-Komposition zu hören ist, die er als Herzensanliegen für die Zukunft seiner Heimat, der Türkei, komponiert hat. Musik als authentisches Bekenntnis des Menschen.

Die aktuelle CD erscheint am 20. Oktober: „Secrets“, Marianne Crebassa, Fazıl Say (Erato)

— Verlags-Sonderveröffentlichung / Anzeigen zum ECHO KLASSIK 2017

FOTOS: SIMONFOWLER; SARAH WIJZENBEEK

und auch auf ihrem neuen Album sucht sie nicht weniger als die Wahrhaftigkeit.


E C H O

SINFONISCHE EINSPIELUNG | MUSIK 20./21. JH.

LUSTVOLLES SPEKTAKEL NEEME JÄRVI und das ORCHESTRE DE LA SUISSE ROMANDE zeigen die spielerische

FOTOS: SIMON VAN BOXTEL; MARCO BORGGREVE; DANCARABAS

Leichtigkeit von Jacques Ibert. Eleganz und feinsinniger Humor zeichnen das Werk von Jacques Ibert aus. Er sticht aus der legendären „Groupe des Six“ um Mihaud, Poulenc, Honegger und Co. heraus, indem er den kollektiven Stil um die Elemente des Impressionismus und des Neoklassizismus erweitert hat. Seine Werke sind akustisch-lustvolles Spektakel. Wenn sich Neeme Järvi und das Orchestre de la Suisse Romande nun seiner Musik annehmen, scheint alles unter dem Motto Dynamik zu stehen. Während die Escales noch eine exotische Atmosphäre verbreiten, wird mit der Ouverture du fête, welche zum 2.600sten Jubiläum der Gründung des japanischen Kaiserreiches in Auftrag gegeben wurde, ein klanggewaltiges Gewitter losgelassen. Das anschließende Divertissement zeigt einen Ibert, der sich nicht scheut, zwischen unterschiedlichen Musikstilen zu wechseln. Mal erklingt ein Hochzeitsmarsch, dann wieder Trillerpfeifen in Verbindung mit den verschiedensten Rhythmen. Auch die beiden Werke von 1956, Hommage à Mozart und Bacchanale werden von Järvi und seinen Musikern mit einer fast erschreckenden Leichtigkeit in Szene gesetzt, die niemals leichtfertig, immer aber zupackend klingt. All das ist mit dem brillanten Chandos-Sound aufgenommen und damit ein Höhepunkt musikalischen Spiels und akustischer Dynamik.

K L A S S I K

KONZERTEINSPIELUNG | MUSIK 19. JH.

INSTRUMENTALIST | TROMPETE

DAS NEUE IM ALTEN

ORIENTALISCHE KLANGREISE

LINUS ROTH und THOMAS SANDERLING knöpfen

sich Schostakowitsch und Tschaikowsky vor. Eine sehr frische Einspielung mit dem LONDON SYMPHONY ORCHESTRA. „Tschaikowskys Violinkonzert zum ersten Mal in Originalversion“ – wer so etwas ankündigt, muss selbstbewusst sein. Und das ist Linus Roth. Der Klassiker unter den Violinkonzerten ist in den letzten Jahren immer wieder verändert worden: individuelle Bogenstriche, neue Notenausgaben und vor allen Dingen Kürzungen im Finale sind inzwischen gang und gäbe. Linus Roth kehrt zurück zu den Wurzeln des Werkes und entdeckt im Urtext vollkommen neue Akzente. Unter anderem, dass er den langsamen Satz durchgehend mit Dämpfer spielt, was für eine besonders intime Atmosphäre sorgt. Als Kontrast hat Roth das 1967 entstandene Violinkonzert von Dimitri Schostakowitsch aufgenommen, dessen grimmigen Tonfall er virtuos herausarbeitet. Man hört zuweilen die Qual des Kompositionsprozesses: „Sehr langsam und nur mit Mühe, indem ich Note für Note aus mir herauspresse, schreibe ich ein Violinkonzert“, notierte Schostakowitsch einst. Für den Dirigenten Thomas Sanderling, einen Freund von Schostakowitsch, hat dieses Werk „eine Amplitude von elegisch-melancholisch bis tragisch-grotesk“. Nachdem Linus Roth bereits 2006 zum ECHO-Nachwuchskünstler gekürt wurde, zeigt er nun große Reife und nimmt die unterschiedlichen Herausforderungen der beiden Violinkonzerte souverän an, gemeinsam mit einem hervorragend aufspielenden London Symphony Orchestra.

Nachdem der Trompeter GÁBOR BOLDOCZKI in den

Orient reiste, durchschreitet er nun die Melodielandschaften Böhmens. Wenn Gábor Boldoczki auf seiner Trompete spielt, putzt er unsere Ohren vollkommen neu. Kaum ein anderer klingt derart virtuos und ist stets auf der Suche nach neuen Klängen. Die Süddeutsche Zeitung ernannte den aus Ungarn stammenden Musiker bereits zum „würdigen Nachfolger“ von Maurice André. Den ECHO KLASSIK erhält Boldoczki nun für sein Album „Oriental Trumpet Concertos“, auf dem er für Sony durch die Klangwelten des Orients reist und gleich zwei Weltersteinspielungen präsentiert: Altmeister Krzysztof Penderecki hat ihm sein Concertino per tromba e orchestra gewidmet, der türkische Pianist und Komponist Fazıl Say sein Trompetenkonzert op. 31. Bereichert wird das mit Werken von Alexander Arutjunjan und einer Bearbeitung der Bilder der Kindheit des armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan. Boldoczki zaubert Höreindrücke wie auf einem orientalischen Gewürzmarkt. Auch in seinem aktuellen Album geht der Trompeter auf Reisen. Dieses Mal nach Böhmen, wenn er auf „Bohemian Rhapsody“ mit typischem Belcanto-Ton in Werken von Benda, Dvořák oder Hummel eine Atmosphäre der volkstümlichen Tänze und schwelgerischen Melodien aufstöbert.

Aktuelle CD: „Bohemian Rhapsody“, Gábor Boldoczki (Sony Classical) 55


E C H O

K L A S S I K

WAS DENKEN SIE, WENN SIE SINGEN, ANNA NETREBKO?

WIE SCHALTEN SIE ZWISCHEN DEN GENRES UM, JONAS KAUFMANN? Ich kenne den Schalter nicht, wie man von einem Genre zum anderen umschalten kann. Puccini war ein Experte für emotionale Knöpfe, er wusste genau, wie man die richtigen Emotionen herstellen kann. Bei mir gibt es eigentlich nur ein Geheimnis: Musik zu machen, die mir selber Spaß bereitet. Ich glaube, das ist die Grundlage für Wahrhaftigkeit.

Wenn ich singe, denke ich nicht viel nach. Ich versuche, mich der Musik hinzugeben – den Rest überlasse ich dem Instinkt, dem Bauch und vor allen Dingen der Musik. Der beste Weg, eine Rolle zu interpretieren, ist es, sich vollkommen auf die Musik einzulassen. Vielleicht spielen die Erfahrung und die Intention eine Rolle, und manchmal ist es auch hilfreich, ein bisschen auf den Dirigenten zu schauen.

Wir hätten da noch eine Frage … Während des ECHO KLASSIK interviewt Axel Brüggemann die Stars der klassischen Musik für crescendo. An einem Abend kommen so bis zu 30 Gespräche über alle Themen der Branche zustande. Kleine Debatten, private Einblicke und große Gefühle. Hier einige Highlights der letzten ECHO-Preisverleihung. Die Gespräche können Sie auf www.crescendo.de nachsehen, und wenn Sie uns auf Facebook liken, verpassen Sie auch kein Interview vom ECHO KLASSIK 2017. HILFT MUSIK IM LEBEN, ANTONIO PAPPANO? Ich bin im Leben sehr chaotisch, vielleicht liebe ich gerade deshalb die Ordnung, die Struktur und die Architektur der Musik. Vielleicht brauche ich das, um ein chaotisches Leben zu ordnen. Aber letztlich erzählt Musik Geschichten, die mit uns zu tun haben. Es ist wichtig, das Interesse der Menschen zu wecken. Dazu braucht man Fantasie, Energie und vor allen Dingen Liebe. Wir haben heute so viel Technik, alles scheint zu uns zu kommen. Dagegen müssen wir ankämpfen und immer tiefer und tiefer graben.

WAS WIRD BLEIBEN, ALFRED BRENDEL? Ich lasse andere Leute über die Frage entscheiden, was von mir bleibt. Natürlich freue ich mich, wenn am Ende etwas übrig bleiben würde. Aber mir ist es wichtig, auch jetzt noch jungen Musikern etwas mitzugeben – und ich freue mich, wenn sie wissbegierig sind.

WIE EHRLICH SIND SIE, KHATIA BUNIATISHVILI?

FOTOS: CRESCENDO

Ich bin grundsätzlich ein ehrlicher Mensch. Und darum geht es auch in der Musik. Musik kann mehr sein als nur schön. Klar, Chopin klingt manchmal schön. Aber Musik ist auch aggressiv, tragisch – sie hat Charakter. Unter der Oberfläche lauert meist das Authentische, das Sensible, und dort muss man graben. An dieser Stelle geht es dann um Ehrlichkeit.

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P E R S O N A L I E N

M ELDU NGEN Christoph Adt Christoph Adt hat am 1. Oktober Martin Ullrich als Präsident der Hochschule für Musik Nürnberg abgelöst. Der 62-Jährige war seit 1998 Professor für Orchesterleitung, Kirchen- und Schulmusik an der Hochschule für Musik und Theater München und seit 2007 deren Vizepräsident. Außerhalb der Lehre ist Prof. Adt als Dirigent aktiv und leitete von 2011 bis 2015 die Bad Reichenhaller Philharmonie.

Kirill Serebrennikow Der kremlkritische Regisseur wurde vor Beginn der szenischen Proben zu seiner Inszenierung der Märchenoper Hänsel und Gretel an der Stuttgarter Oper in seinem Heimatland verhaftet und unter Hausarrest gesetzt. Trotz Protesten von namhaften Künstlern und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien wurde der Hausarrest von einem Gericht bestätigt. Die Oper Stuttgart gab bekannt, dass die Inszenierung trotzdem realisiert und die Premiere im Herbst stattfinden wird. Chefdramaturg Sergio Morabito arbeitet mit Serebrennikows Mitarbeitern in Moskau an einer Lösung. G E S TO R B E N

Brenda Lewis Im Alter von 96 Jahren ist am 16. September die US-amerikanische Sängerin Brenda Lewis verstorben. Sie widmete sich in ihrer langen Karriere vor allem Werken amerikanischer Komponisten und arbeitete 20 Jahre lang eng mit der New York City Opera zusammen. In den 50er- und 60er-Jahren war sie häufig an der Metropolitan Opera zu sehen und gastierte auch international. Dabei brillierte sie unter anderem als Venus in Tannhäuser sowie in den Titelrollen von Carmen und Salome.

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Eine besondere Präsenz in der hessischen Musikszene hatte der Dirigent Siegfried Köhler. Zwischen 1974 und 1988 war er Generalmusikdirektor am Hessischen Staatstheater in Wiesbaden. Danach wurde er Hofkapellmeister an der Königlichen Oper in Stockholm, wo er bis 2005 tätig war. Doch auch von Schweden aus und noch bis ins hohe Alter nahm er regen Anteil am intellektuellen Leben rund um das Staatstheater. Besonders vertraut war er mit den Werken von Wagner und Strauss. Köhler verstarb am 12. September in Wiesbaden. 58

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Ok tober – November 2017

F OTO S : P R I VAT; O P E R A N E W S A RC H I V ES

Siegfried Köhler


HÖREN & SEHEN Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz Attila Csampais Auswahl (Seite 60) crescendo-Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören? Kein Problem: Auf www.crescendo.de finden Sie unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören!

KAMMERMUSIK

Felix Klieser

Hornverliebt „Horn-Trios“ lautet der schlichte Titel des neuen Albums von Felix Klieser, und es ist nichts weniger geworden als eine Liebeserklärung des Musikers an das eigene Instrument. Im Zentrum steht das Horntrio von Johannes Brahms, außerdem hat sich Klieser auf die Suche nach weiteren Schmuckstücken der Trio-Gattung gemacht und mit den Werken des französischen Komponisten Frédéric Nicolas Duvernoy, des Fauré-Schülers Charles Koechlin und des deutschen Tonschöpfers Robert Kahn drei weitgehend unbekannte Werke entdeckt. Im fein austarierten Zusammenspiel mit Herbert Schuch am Klavier und Andrej Bielow an der Geige durchdringt Klieser diese Werke mit romantischem Gestus, mit Leichtfüßigkeit, Transparenz und Anmut. Er betört mit seinem außergewöhnlich warmen und samtigen Hornton. Das Ergebnis ist eine faszinierende musikalische Entdeckungsreise, die der Gattung des Horntrios durch fast ein Jahrhundert folgt. DW

F OTO: M A I K E H E L B I G

Duvernoy, Koechlin, Kahn, Brahms: „Horn Trios“, Andrej Bielow, Herbert Schuch, Felix Klieser (Berlin Classics) Track 10 auf der crescendo Abo-CD: Trio für Horn, Violine und Klavier Nr. 2 F-Dur. III. Adagio – Allegro von Duvernoy

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H Ö R E N & S E H E N

Die Empfehlungen von Attila Csampai

GIPFELWERKE IN NEUEM LICHT … bestimmen Attila Csampais Herbst-Auswahl

BEETHOVEN: PIANO SONATAS N0. 3, 14, 23, 26, 32; 32 VARIATIONS IN C MINOR Evgeny Kissin (DG)

Seine Rückkehr zur Deutschen Grammophon hat der heute 45-jährige Evgeny Kissin mit Konzertmitschnitten von fünf BeethovenSonaten (plus den c-Moll-Variationen) besiegelt, die er in den vergangenen zehn Jahren an verschiedenen Schauplätzen rund um dem Globus spielte: Was einen von den ersten Takten der frühen, jugendlich-ungestümen C-Dur-Sonate op. 2, 3 sofort in Bann zieht und dann zwei Stunden lang nicht mehr loslässt, ist die einzigartige Kombination von atemberaubenden Details und einer direkt aus dem Formprozess abgeleiteten Dramatik und erzählerischen Sogkraft, die den berühmten Spruch Beethovens, Musik müsse „Feuer aus dem Geist schlagen“, in rigorose Klangrede verwandelt: Dabei verschwindet Kissin selbst so sehr hinter der objektiven Kraft und Klarheit seiner funkenschlagenden Prägnanz, dass man fast den Eindruck gewinnt, der musikalische Kontext vollziehe sich hier ganz von selbst: Kissin entwickelt seine Energieschübe und grellen Kontraste völlig logisch aus dem strukturellen Kontext und setzt so eine neue Art von Leidenschaft und innerer Dramatik frei, die eben auskomponiert sind und nicht irgendwelchen Gefühlswallungen folgen. So klingt die Appassionata trotz der vielen wilden Kontraste in einer Weise zwingend und erschütternd zu Ende gedacht, wie ich es so noch nicht gehört habe. Und nirgends eine Spur von Pathos oder Unklarheit, denn er spielt immer mit offenen Karten: Jetzt ist er uns eigentlich den ganzen Beethoven schuldig.

vom Puls des wirklichen Lebens, ja einem geradezu exzessiven Lebenstrieb durchflutet ist. Nachdem schon in den letzten Jahrzehnten einige Radikalhistoristen klare Gegenposition bezogen hatten gegen die romantische Tradition pathetischer Langsamkeit, schlägt sich nun auch der neue Rising Star der französischen Originalklangszene, der 44-jährige Jérémie Rhorer mit seinem exzellenten, mit 50 Topmusikern besetzten Cercle de l’Harmonie und atemlosen Tempi auf die Seite der Aufklärer: Die hellwache, auf schlanke Transparenz getrimmte Truppe übernimmt dabei mit choreografischer Präzision den Hauptpart eines hochtourigen dramatischen Motors, während das durchwegs jugendliche, aber nicht immer Spitzenniveau bietende Solistenensemble doch Mühe hat, die hohen technischen und gestalterischen Anforderungen Mozarts so souverän und charismatisch umzusetzen, wie man es früher einmal gewohnt war: Jean-Sébastien Bou in der Titelpartie und der Kanadier Robert Gleadow (als Leporello) versprühen noch am meisten szenische Präsenz, ebenso die Griechin Myrto Papatanasiu als jugendlich-intensive Donna Anna. Neben allem szenischen Drive enthüllt dieser Live-Mitschnitt auch die Grenzen heutigen Mozart-Gesangs. MENDELSSOHN: SYMPHONY NO. 2 „LOBGESANG“ John Eliot Gardiner, Crowe, Adamonytè, Spyres, Monteverdi Choir, London Symphony Orchestra (LSO live)

Zum Abschluss seines weltweit gefeierten Mendelssohn-Zyklus mit dem LSO hat sich John Eliot Gardiner die letzte und größte sinfonische Arbeit des bis heute unterschätzten deutschen Romantikers vorgenommen – MOZART: DON GIOVANNI Bou, Gleadow, Papatanasiu, Boulianne, Behr, seine 1840 für Leipzig komponierte Sinfonie-Kantate Lobgesang, Choeur de Radio France, Le Cercle de L’Harmonie, die er als zweite seiner fünf Sinfonien in Druck gab. Das zum Jérémie Rhorer (Alpha) 400. Jubiläum des Buchdrucks und der Gutenberg-Bibel entstanTrack 12 auf der crescendo Abo-CD: dene Werk kombiniert protestantisches Gotteslob mit aufkläreriMadamina, il catalogo è questo schem Geist, der sich in der Auswahl der sieben zumeist Bibeltexte Mozarts Don Giovanni, den er „Dramma gio- vertonenden Vokalsätze klar manifestiert. Zu Beginn stehen drei coso“ nannte, ist gattungsmäßig eine Opera buffa, freilich eine reine Sinfoniesätze, sodass das gut einstündige Werk als protestanbesonders schwarze, mysteriöse, von tragischen Elementen und tische Reaktion auf Beethovens Neunte verstanden werden kann. der gewaltigsten Todesszene der Operngeschichte durchzogene Mit seinem hervorragend eingestellten Monteverdi Choir, exzelKomödie: ein Unikat, das weniger von tragischen Monologen als lenten Vokalsolisten und dem wieder historisch-schlank und präg-

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Ok tober – November 2017


nant klingenden Londoner Toporchester kultiviert Sir John auch bessere Traumwelt entführt. Wem das bei einem so abgenutzten in diesem grenzensprengenden Opus eine auf Klarheit, Transpa- Opus gelingt, ist ein wahrer Magier. renz und frische Tempi ausgerichtete Gangart, die jeglichem Pathos, aber auch allem beschwörenden Glaubenseifer eine Absage PUCCINI: TOSCA erteilt und so auch in der reinen Klangrede britische Sachlichkeit (OPERNFILM VON BENOÎT JAQUOT) Gheorgiu, Alagna, Raimondi, The Royal Opera und aufklärerische Vernunft walten lässt. So erleben wir die großHouse, Antonio Pappano (Arthaus) artige, nobel-empfindsame Wiedergeburt eines allzu selten aufgeführten Meisterwerks. Wenn ich zum Schluss ausnahmsweise einen Opernfilm empfehle, dann deshalb, weil Film ohnehin das adäquate Medium für das „GesamtMAHLER: SYMPHONY NO. 4 kunstwerk“ Oper ist und weil ich die jetzt in Adam Fischer, Hanna-Elisabeth Müller; Düsseldorhochauflösender 4K-HD-Bildqulität digital fer Symphoniker (CAvi-Music) Track 11 auf der crescendo Abo-CD: überspielte neue Fassung des Tosca-Films von Benoît Jaquot aus Sinfonie Nr. 4 G-Dur. IV. Sehr behaglich dem Jahr 2000 für die beste, suggestivste Filmadaption des OpernGustav Mahler bezeichnete seine Vierte als schockers von Giacomo Puccini halte: Dazu wurden die römi„symphonische Humoreske“ und sprach von schen Originalschauplätze des an einem historischen Datum „der Heiterkeit einer höheren und fremden Welt, die für uns etwas (17./18. Juni 1800) spielenden Dramas im Studio aufwendigst nachSchauerlich-Grauenvolles hat“. Von dieser Doppelbödigkeit ist in gebaut, um die realistische Wirkung der brutalen Handlung noch heutigen Aufführungen freilich kaum noch was zu spüren, da zu steigern. Neben der hohen musikalischen Qualität der von Mahler längst zu einem „Klassiker“ glatt gebügelt wurde. In Düs- Antonio Pappano geleiteten Covent-Garden-Produktion sind es seldorf hat Adam Fischer jetzt nach einer überraschend lichten auch die herausragenden schauspielerischen Leistungen des proSiebten seinen Einstieg in Mahlers Kosmos mit einer ähnlich minenten Protagonisten-Teams, die Jaquot mit hautnahen Großschlanken und kammermusikalisch feingliedrigen Vierten fortge- aufnahmen, klugen Verfremdungseffekten und einer der Partitur setzt und dabei seine Düsseldorfer Symphoniker zu einer dezidiert minutiös folgenden Personenführung zu einem großformatigen „wienerischen“ Spielweise animiert: So beschwört er etwa mit cha- Kinoereignis von überwältigender Bildkraft verdichtete. Dabei rakteristischen Glissandi ein typisch „kakanisches“ Lebensgefühl gaben Angela Gheorgiu und Roberto Alanga sängerisch wie und verleiht der „himmelblauen“ Sinfonie von den ersten Takten optisch eine ideale Verkörperung des tragischen Liebespaars, wähan ein ganz besonderes Flair des Authentischen und Anmutigen. rend Ruggero Raimondi als gespenstisch-zynischer, dämonischer Als gebürtiger Budapester verfügt Fischer über ein instinktives Scarpia bis zum Schluss die Fäden zieht. In dieser Oper überlebt Gespür für die spezifisch österreichischen Tonfälle Mahlers, die er am Ende keiner, und wir erleben den nahtlosen Übergang der Gatdann mit großer Sensibilität in glasklar durchgezeichnete poly- tung zum Kinofilm. fone Strukturen verwandelt. So findet er eine schöne Balance zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Naivität und feiner Ironie. Das trifft auch für das himmlische Finale zu, in dem HannaElisabeth Müller frisch und unbefangen Mahlers Jenseits-Fantasien verkündet. RACHMANINOV: PIANO CONCERTO NO. 2; ÉTUDES-TABLEAUX OP. 33 U.A. Boris Giltburg, Royal Scottish National Orchestra, Carlos Miguel Prieto (Naxos) Track 6 auf der crescendo Abo-CD: Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll, op. 18. II. Adagio sostenuto von Rachmaninov

Der israelische Pianist Boris Giltburg zählt zu den interessantesten Newcomern der internationalen Klavierszene: Nach dem Gewinn des Brüsseler Reine-Elisabeth-Wettbewerbs ging es mit dem 1984 in Russland geborenen Virtuosen steil aufwärts. Gerade erschien sein fünftes Album, und da er schon im vergangenen Jahr mit Rachmaninows zweitem Zyklus der Études-tableaux op. 39 Aufsehen erregte, hat er jetzt die erste Serie op. 33 gemeinsam mit dem berühmten Zweiten Klavierkonzert aus dem Jahr 1901 gekoppelt, in einer Aufnahme mit dem Royal Scottish National Orchestra unter dem ähnlich ausdrucksstarken Mexikaner Carlos Miguel Prieto. In beiden Werken entpuppt sich Giltburg als echter, tief empfindender Romantiker, bei dem alle technische Bravour nur dem einen Ziel dient, die lyrische Substanz, die in schönste dunkle Farben getauchte Seelensprache Rachmaninows auratisch aufleuchten zu lassen und so sein gesamtes Oeuvre als Sehnsuchtsorte eines um emotionale Wahrhaftigkeit und Schönheit ringenden Genies erlebbar zu machen: So gestaltet er im Konzert seinen Solopart als integralen Bestandteil eines großen, bedächtig wogenden Klanggemäldes, das ständig die Farben, die Charaktere, die Stimmungen und die Perspektiven wechselt und uns so in eine andere, 61

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H Ö R E N & S E H E N

FILM

Tristan Schulze

Patchworkfamilien sind keine Seltenheit. Je nach Datenquelle beträgt ihr Anteil in Deutschland mittlerweile 7 bis 13 Prozent. Als Auftragswerk haben Komponist Tristan Schulze und Librettistin Johanna von der Deken das immer wichtiger werdende Thema auf die Bühne gebracht: Ihre Familienoper Patchwork schildert, wie neue Beziehungen entstehen können. Mit Vera und Niko verlieben sich zwei alleinerziehende Nachbarn ineinander. Insbesondere ihre Söhne freunden sich im Rahmen dieser Verbindung bestens an. Am Ende fallen sogar die Wände zwischen den Wohnungen, sodass dem Happy End nichts mehr im Wege steht. Als Aufzeichnung der Wiener Uraufführung von Januar 2017 lässt sich diese positive Entwicklung innerhalb von nur einer Stunde miterleben. Kinder und Teenager sind dabei außer dem Publikum 11 der 14 Sänger. Ihre jungen Stimmen klingen noch nicht so sicher wie die der drei Erwachsenen. Ausgleich dafür sind ihr Spaß am Spielen und die bunte Besetzung durch unterschiedlichste Typen. ASK

Tristan Schulze: „Patchwork. Eine Familienoper“ (Belvedere)

Ensemble Marsyas

BAROCK

dolce risonanza

Barock vom Allerfeinsten!

Hochgradig gefällig

Überraschend, was der hierzulande kaum bekannte Francesco Barsanti zu bieten hat: Concerti grossi, die vor Energie nur so sprühen, wie folkige Transkriptionen einiger Old Scots Tunes. Die Edinburgh Music Society galt Mitte des 18. Jahrhunderts als Konzertpodium für ambitionierte Amateure, die von einer Gruppe Profis begleitet wurden, zu der man auch Barsanti einlud. Der virtuose Oboist aus Lucca hatte sein Jurastudium abgebrochen, um Musiker zu werden. Über London kam er nach Edinburgh, blieb und wirkte hier acht Jahre lang. Wie feinfühlig und verschwenderisch sich das Ensemble Marsyas unter der exzellenten Leitung von Peter Whelan dieser entdeckungswürdigen Musik nebst einigen Stücken von Händel annimmt, ist schlichtweg atemberaubend. Tempi, Zusammenspiel, Nuancierung – alles in einer Spielfreude voll Leichtigkeit und virtuoser Verve, dass man aus den Zeilen springen möchte und rufen: „Hier geht die Post ab!“ SELL

So stellt man sich als Repertoire-Fuchs eine neue Aufnahme vor: bisher unbekannte, hochgradig gefällige Musik in äußerst feiner, historisch informierter Ausführung und mit aufschlussreichem Booklet-Text obendrauf. Im Zuge der 1.100-Jahrfeier des Hoch-Fürstlichen Erzstiftes Salzburg 1682, für welche Heinrich Ignaz Franz Biber seine berühmte Missa Salisburgensis schrieb, produzierte Andreas Christoph Clamer (1633–1701) eine Sammlung von sieben Partiten (eine ist nicht mehr gänzlich erhalten). In der Form erinnern sie an die Partiten von Bach, aber ihre explizite Aufgabe war Unterhaltung zu Tische – wie zum Beispiel Telemanns Tafelmusik oder das direkte Vorbild Clamers, Bibers Klingende Taffel. Die Tanzformen im italienischen Stil, auf welchen die Partitensätze basieren, wirken abstrakt im Hintergrund, sind allerdings noch nicht so vollendet stilisiert wie bei Bach und haben sich einen rustikalen Charakter bewahrt. Das Resultat ist klein besetzte, liebliche Gefälligkeitsmusik, was weder damals noch heute mit Hintergrundberieselung zu verwechseln ist. Allein das Lamento der ersten Partita fasziniert und muss keinen Vergleich mit seinen Salzburger Kollegen Biber oder Georg Muffat scheuen. JL

Barsanti, Händel: „Edinburgh 1742“, Ensemble Marsyas, Peter Whelan (Linn) Track 3 auf der crescendo Abo-CD: Concerto grosso F-Dur op. 3 Nr. 1. IV. Menuett von Barsanti 62

Andreas Christoph Clamer: „Mensa Harmonica“, dolce risonanza (Christophorus) Track 2 auf der crescendo Abo-CD: Moresca. Aus: Mensa Harmonica

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Ok tober – November 2017

F OTO: J U L I A W ES E LY

Familienfreuden


Cathy Krier

Starke Impressionisten Die luxemburgische Pianistin Cathy Krier liebt ungewöhnliche Repertoire-Kopplungen, kombinierte etwa Rameau mit Ligeti oder Liszt mit B. A. Zimmermann und entdeckte dabei erstaunliche Querbezüge. Ihr aktuelles Album hingegen ist zwei Impressionisten gewidmet: Debussy und Szymanowski, wobei Letzterer auch eine expressionistische Seite hat. Krier nähert sich Debussy mit weichem lyrischen Ton und gelegentlich breiten Zeitmaßen. Somit bildet ihre Deutung den Gegenpol zu Arturo Benedetti Michelangelis kühlem und strengem Debussy-Spiel, das in bewegten Stücken wie den Mouvements allerdings auch etwas klarer und pointierter ist. Noch überzeugender

SOLO

als ihr Debussy sind ihre Szymanowski-Interpretationen. Mühelos pendelt sie zwischen den impressionistisch-zarten Klanggespinsten, derben Tanzrhythmen und ekstatischen Ausbrüchen, die bisweilen stark von Skrjabins expressiver Tonsprache inspiriert sind. MV

„Debussy Szymanowski“, Cathy Krier (CAvi) Track 8 auf der crescendo Abo-CD: Reflets dans l’eau von Debussy

Angela Gheorghiu

Lusine Grigoryan

Reifer Schönklang

Archaisch und überraschend

Zum Glück für ihre Anhänger ist die rumänische Starsopranistin auch nach ihren gefeierten Paradepartien Tosca und Adriana Lecouvreur nicht in der vibratoreicheren Matronenliga angekommen. Deshalb werden auf Angela Gheorghius Studioalbum – dem ersten nach sechs Jahren – das Todesfinale aus Andrea Chénier und die Klagetöne aus Cavalleria rusticana an Schönklang von den eher unbekannten Orchesterliedern Licinio Refices, Stefano Donaudys und Angelo Mascharonis Eternamente übertroffen. Gegen den jetzt von aparter Reife durchwirkten Mädchencharme der Diva hat es der maltesische Sonnyboy Joseph Calleja schwer. Wieder einmal etikettiert man Boitos Mefistofele und Ponchiellis La Gioconda fälschlich als Verismo. Doch was tut’s? Weder Orchesterbrausen noch kräftige Gefühlsorkane könnten diese Skizzen von Liebe, Lust und Leid überfluten. Verismo hier also in sanfter Lesart. Sorgsamkeit und fein gestaltete Phrasenbildungen lassen die fehlenden Erhitzungsgrade vergessen. DIP

Komitas. Schon der Name klingt geheimnisvoll, fast mystisch. Die Musik ist nicht weniger faszinierend, denn diese ganz eigentümliche Mischung aus archaischen Historismen, volkstümlichen Melodien, komplexen Rhythmen und eher simplen, zuweilen jedoch sehr überraschenden Harmonien ist einzigartig. In seinem Heimatland Armenien wird Komitas als Begründer der modernen klassischen Musik verehrt – eine späte Genugtuung für einen Mann, der dem staatlich organisierten Völkermord an den Armeniern gegen Ende des Osmanischen Reiches nur knapp entkam und zeitlebens davon gezeichnet blieb. Lusine Grigoryan widmet sich Komitas’ unerschöpflichem Klangkosmos mit bewundernswerter Gleichmütigkeit: fein ziseliert in den vielen rhythmischen und melodischen Verästelungen, gut austariert im Hinblick auf die Gestaltung aller musikalischen Parameter und überzeugend nachempfunden hinsichtlich des weiten Atems, den diese Musik verlangt. GK

F OTO: DA R I O ACO S TA / DG

„Eternamente. The Verismo Album“, Angela Gheorghiu, Emmanuel Villaume (Warner)

Komitas: „Seven Songs“, Lusine Grigoryan (ECM)

GESANG

Rolando Villazón und Ildar Abdrazakov

Männerduett-Traum Es gibt zwar viele Duett-Alben, aber nur relativ wenige MännerDuette. Für Villazón ist diese seltene Zusammenstellung ein Traum, für die Zuhörer ein besonderer Genuss, weil der helle Tenor Rolando Villazóns und Ildar Abdrazakovs dunkel samtener Bass bestens harmonieren und beide ausgesprochen temperamentvoll dynamisieren und akzentuieren. In nur einer Woche entstand eine erstklassige Einspielung zusammen mit dem dynamischen Orchestre Métropolitain de Montréal unter der energetischen Leitung von Yannick Nézet-Séguin, dem Dritten im Bunde. Mit Duetten von Bizet, Boito, Donizetti, über Verdi bis Gounod führt die Reise durch die italienische und französische Opernwelt. Insgesamt viel HerzSchmerz-Dramatik in Belcanto-Qualität. Mit zwei Evergreens, Agustín Laras Granada und dem russischen Volkslied Ochi Chernye gipfelt „Duets“ grandios in mexikanisch-spanischer Lebensfreude und russischer Melancholie. SCHA

„Duets“, Rolando Villazón, Ildar Abdrazakov (DG)

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IMPRESSUM

Gabriel Schwabe

VERLAG

Klang-Flirt

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11 info@crescendo.de, www.crescendo.de Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring

HERAUSGEBER Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de

VERLAGSLEITUNG Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de

ART DIRECTOR Stefan Steitz

REDAKTIONSLEITUNG Dr. Maria Goeth (MG)

REDAKTION „ERLEBEN“ Ruth Renée Reif (RR)

SCHLUSSREDAKTION Maike Zürcher

KOLUMNISTEN John Axelrod, Axel Brüggemann, Attila Csampai (AC), Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)

SOLO

Bei seiner sukzessiven Einspielung der Solokonzerte von Camille Saint-Saëns gelangte Marc Soustrot mit dieser Aufnahme zu den Cellowerken. Neben den ersten beiden Cellokonzerten gibt es als Encore den berühmten Sterbenden Schwan in der üppigen Instrumentation Paul Vidals. Der noch nicht 30-jährige Deutschspanier Gabriel Schwabe gleitet leicht und mit Meisterschaft durch dieses Repertoire. Die Überraschung auf diesem Album ist aber nicht das berühmte erste Cello-Konzert, sondern die Suite in D-Dur. Auch wenn der klangliche Zugriff des Malmö Symphony Orchestra stellenweise recht markant ist, erweist es sich hier als sensitiver Akrobat französischer Musik. Gabriel Schwabe macht mit bei diesem Flirt und rückt die erst 1919 orchestrierte Suite in überraschende Nähe zum sich etablierenden neoklassizistischen Stil. Vielleicht spielte Saint-Saëns ja doch mit dem Gedanken, den Schritt ins harmonisch freiere 20. Jahrhundert zu wagen. DIP

Saint-Saëns: „Cello Concertos Nos. 1&2“, Gabriel Schwabe, Malmö Symphony Orchestra, Marc Soustrot (Naxos) Track 9 auf der crescendo Abo-CD: Der Schwan. Aus: Karneval der Tiere

JAZZ

MITARBEITER DIESER AUSGABE

Anima Eterna Brugge

Roland H. Dippel (DIP), Alexander Fischerauer (AF), Malve Gradinger (GRA), Julia Hartel (JH), Christa Hasselhorst (CH), Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK), Corina Kolbe (CK), Guido Krawinkel (GK), Jens Laurson (JL), Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Alexander Rapp (RAP), Michaela Schabel (SCHA), Antoinette Schmelter-Kaiser (ASK), Barbara Schulz (BS), Uta Swora (US), Mario Vogt (MV), Thomas Voigt (TV), Dorothea Walchshäusl (DW), Walter Weidringer (WW)

Jazz, Humor und Melancholie

VERLAGSREPRÄSENTANTEN Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de Kulturbetriebe: Gabriele Drexler | drexler@crescendo.de Touristik & Marke: Heinz Mannsdorff | mannsdorff@crescendo.de Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de

AUFTRAGSMANAGEMENT Michaela Bendomir | bendomir@portmedia.de

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE Nr. 21 vom 09.09.2017

DRUCK Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig

VERTRIEB Axel Springer Vertriebsservice GmbH, Süderstr. 77, 20097 Hamburg www.as-vertriebsservice.de

George Gershwins Musik lässt sich nur schwer einem bestimmten musikalischen Genre zuordnen. Seine berühmtesten Werke wie die Rhapsody in Blue, An American in Paris und natürlich Lieder wie Summertime, I Got Rhythm oder The Man I Love sprühen vor jazzigen Harmonien und Rhythmen, zeichnen sich durch ebenso ironisch-augenzwinkernden Humor wie schwermütige Melancholie aus. Sie reißen den Zuhörer in ihrer unnachahmlichen Energie jedes Mal von Neuem mit und sind doch aus dem klassischen Konzertprogramm nicht mehr wegzudenken. Die Aufnahme des Ensembles Anima Eterna Brugge unter der Leitung von Jos van Immerseel vereint sämtliche Klassiker Gershwins zu einem künstlerisch hochwertigen Strauß farbenprächtiger Klänge. Beeindruckend ist nicht nur die technische Perfektion, sondern vor allem die hochemotionale und leidenschaftliche Vortragsweise der Musiker, insbesondere der Solisten Claron McFadden und Bart van Caenegem. US

„Gershwin“, Anima Eterna Brugge, Jos van Immerseel (Alpha)

ERSCHEINUNGSWEISE crescendo ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzerthäusern, im Kartenvorkauf und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei träge bei Port Media GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers, nicht unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Gewähr übernommen.

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(TEIL-)BEILAGEN/BEIHEFTER: Tiroler Festspiele Erl Reise und Kultur II-2017 ECHO KLASSIK Spezial

DAS NÄCHSTE CRESCENDO ERSCHEINT AM 24. NOVEMBER.

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David Oistrach

Elektrisierende Intensität

VINYL

Um eine echte Analogaufnahme aus dem historischen Stereo-Katalog der Columbia handelt es sich bei der 1959 in Philadelphia produzierten sensationellen Einspielung des Violinkonzerts von Jean Sibelius durch die russische Geiger-Ikone David Oistrach, die jetzt bei Speakers Corner Records in einem blitzsauberen AAA-Remaster auf 180-g-Vinyl erschienen ist: Unter der straffen Leitung seines langjährigen Chefs Eugene Ormandy gab das bestens eingestellte Philadelphia Orchestra einen wuchtigen Gegenpart zu der elektrisierenden, geballten Intensität des Solisten, der hier, in einer beispiellosen Tour de Force und mit überirdischer Präzision am Führungsanspruch des US-Violingottes Jascha Heifetz kratzte: Mit dieser ersten US-Produktion setzte der 51-jährige Sowjet-Star Oistrach damals eine neue Referenz, die bis heute nichts eingebüßt hat von ihrer überwältigenden, sogartigen Suggestivität. Zudem kann man hier überprüfen, welche audiophilen Standards man vor fast sechs Jahrzehnten bei Columbia bereits pflegte. AC

Sibelius: „Concerto in d, op. 47“, David Oistrach, The Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy (Speakers Corner)

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Ok tober – November 2017


Aktuelle

NEUHEITEN bei Sony Music

Juan Diego Flórez | Mozart

Christian Gerhaher | Schubert

Juan Diego Flórez hat mit dem hervorragenden Züricher Orchester La Scintilla unter Ricardo Minasi Arien von Mozart aufgenommen – aus Opern wie Die Zauberflöte, Idomeneo, Così fan tutte, Die Entführung aus dem Serail, Don Giovanni u.a.

Gerhahers Sicht auf Schuberts Die schöne Müllerin hat sich im Laufe der langen Karriere des Baritons gewandelt. So legt er den Schwerpunkt der neuen Aufnahme mit Klavierpartner Gerold Huber auf den erzählerischen Charakter und rezitiert auch die fünf Gedichte von Wilhelm Müller.

Konzerttermine unter www.juandiegoflorez.com

Pretty Yende | Dreams Das neue Album der ECHO Klassik-Preisträgerin mit Arien aus Lucia di Lammermoor, Roméo et Juliette, La Sonnambula, Linda des Chamounix u.a. Erhältlich ab 27.10. www.prettyyende.com

www.gerhaher.de

Lucas Debargue Schubert & Szymanowski Der ungewöhnliche französische Pianist überrascht auf seinem dritten Album mit frühen Sonaten von Schubert und der viersätzigen Zweiten Sonate des polnischen Komponisten Karol Szymanowski. Erhältlich ab 27.10. www.lucas-debargue.com

Yo-Yo Ma, Emanuel Ax, Leonidas Kavakos | Brahms Die Klaviertrios von Johannes Brahms, eingespielt von einem herausragenden Trio: den langjährigen Freunden Yo-Yo Ma und Emanuel Ax und dem Geiger Leonidas Kavakos. www.yo-yoma.com

Gábor Boldoczki Bohemian Rhapsody Das neue Album des Trompeters mit Werken von böhmischen Komponisten wie Hummel, Neruda und Vanhal. Konzerte zu Bohemian Rhapsody gibt es in Hamburg, Hannover, Köln, München, Frankfurt u.v.w. www.gabor-in-concert.com

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Hille Perl & Dorothee Mields Händel Eine fantastische Kombination – Hille Perl, Dorothee Mields, Lee Santana und das La Folia Barockorchester umso mehr, wenn es um die Musik Händels geht. Mit den Kantaten Tra le fiamme, La bianca rosa oder auch der Cantata spagnuola u.a. www.hillenet.net

La Folia Barockorchester Anonymus Eine echte musikalische Überraschung sind die von Robin Müller entdeckten und mit dem La Folia Barockorchester eingespielten barocken Konzerte anonymer Komponisten der Dresdner Hofkapelle. www.lafoliabarockorchester.net

www.facebook.com/sonyclassical


H Ö R E N & S E H E N

SOLO Noa Wildschut

Nachwuchs-Power

F OTO: M A RCO B O RGG R E V E

Noa Wildschut – das ist ein Name, von dem man vermutlich noch oft lesen und vor allem hören wird. Erst 16 Jahre alt ist die junge Violinistin, und doch hat sie bereits viele berühmte Bewunderer und Förderer. So zum Beispiel Anne-Sophie Mutter, in deren Stiftung Noa als jüngstes Mitglied aufgenommen wurde und die sie als „eine der größten musikalischen Hoffnungen ihrer Generation“ bezeichnet. Auf ihrem Debütalbum stellt die Nachwuchskünstlerin das A-Dur Violinkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart in den Mittelpunkt. Der Komponist war bei der Entstehung des Werkes gerade einmal drei Jahre älter als die Interpretin. Es ist nicht nur das längste, sondern vielleicht auch das anspruchsvollste seiner fünf Violinkonzerte. In diesem Meisterwerk zeigt sich Noa Wildschuts großes Potenzial, das Einfühlungsvermögen, mit verschiedensten Stimmungen zu jonglieren, und ihre feinen kammermusikalischen Fähigkeiten, die im Zusammenspiel mit dem Netherlands Chamber Orchestra unter Gordan Nikolić, aber besonders in Mozarts Sonate KV 454 mit ihrem Onkel Yoram Ish-Hurwitz am Klavier herausragen. SK

„Mozart“, Noa Wildschut (Warner)

Isabelle Faust

Holger Falk und Steffen Schleiermacher

Ivan Ilić

Ungezähmter Mendelssohn

Sanfter Kampf

Lust auf mehr

Zart und luftig setzt die Solo-Geige zu Beginn von Felix Mendelssohn-Bartholdys Violinkonzert ein, bevor sie sich auf einen ungestümen Dialog mit dem Orchester einlässt. Isabelle Faust und das Freiburger Barockorchester unter Pablo Heras-Casado präsentieren das berühmte Werk des Romantikers gründlich entschlackt und weit entfernt von Aufführungstraditionen des 20. Jahrhunderts. Die historische Spurensuche führte sie zu Geigenvirtuosen wie Joseph Joachim, der das Stück mit vielen Anmerkungen in seiner „Violinschule“ veröffentlichte. Flotte Tempi und ungewohnte Spieltechniken zeigen einen Mendelssohn mit Ecken und Kanten. Die düstere Hebriden-Ouvertüre lässt erahnen, wie er die wilde Natur Schottlands erlebte. Und der Reformations-Sinfonie ist die Leidenschaft des jungen Komponisten für seine Religion anzuhören. Auch Robert Schumann haben Faust, Heras-Casado und die Freiburger schon einer solchen Frischzellenkur unterzogen. CK

Mendelssohn: „Violin Concerto No. 5, The Hebrides“, Isabelle Faust, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (harmonia mundi)

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Zerstörung und Zerrüttung allerorten, kollektive Schuld und private Tragödien. Die deutsche Literatur hat die Zeit der Unterdrückung in allen Facetten beschrieben. Politische Komponisten wie Hanns Eisler, Paul Dessau und Kurt Weill setzten die starken Bilder dieser Dichtergeneration in Musik. Die minimalistischen Kompositionen Hanns Eislers sprechen von der Not und Hoffnung dieser Jahre. Die besondere Herausforderung an Interpreten, sich in eine fast unvorstellbare Realität zu versetzen und die komponierten Eindrücke spürbar zu machen, meistern Holger Falk und Steffen Schleiermacher auch auf dem zweiten ihrer auf vier Alben angelegten Einspielung der Eisler- Lieder. Das erste Album war der Zeit zwischen 1929 und 1937 gewidmet. Das zweite enthält 39 Stücke, die Eisler nach dem Krieg komponiert hat. Holger Falk singt die teils heftigen, teils intimen und oft mit bitterer Ironie getränkten Texte in reichen Farben und erhebt sie mit seinem kultivierten Bariton in den Rang von Kunstliedern. Steffen Schleiermacher sprenkelt dieses Bild gekonnt mit den kargen Motiven der Eislerschen Musiksprache. AR

Der Name Reicha wird zumeist mit gepflegter Kammermusik verbunden. Die Bläserquintette erfreuen sich in entsprechenden Kreisen durchaus großer Beliebtheit, doch darüber hinaus taucht der Name des Beethoven-Zeitgenossen kaum auf. Hört man Ivan Ilićs Einspielung – es ist die erste Folge einer mehrteiligen Reihe –, fragt man sich unweigerlich: warum? Ilić zeichnet das Porträt eines zutiefst unkonventionellen Geistes, eines Theoretikers und Komponisten, der über Gattungsund Genregrenzen hinweg dachte und immer wieder innovative Ansätze für seine Kompositionen wählte. Die Vielfalt der musikalischen Einfälle ist bestechend, die Umsetzung durch Ilić ebenso. Der serbisch-amerikanische Pianist lebt in Paris und wandelt damit nicht nur musikalisch, sondern auch geografisch auf Reichas Spuren. Eine faszinierende Einspielung, die ungemein neugierig auf die noch kommenden Aufnahmen macht. GK

„Reicha rediscovered“, Ivan Ilić (Chandos) Track 7 auf der crescendo Abo-CD: Étude op. 97 Nr. 1 e-Moll. Introduction. Poco andante

Hanns Eisler: „Lieder Vol. 2“, Holger Falk, Steffen Schleiermacher (MDG) www.crescendo.de

Ok tober – November 2017


Zefiro

FILM

BAROCK

Wenn zwei Oboen im Höchsttempo miteinander duettieren, kann das schon mal an verliebte Klapperstörche erinnern – so zum Beispiel im zweiten Allegro der Sonate von Johann Friedrich Fasch, die das Ensemble Zefiro auf seinem Album „Dresden“ eingespielt hat. Dort reiht sie sich mit sieben weiteren Werken für eben diese Besetzung von sechs ebenfalls der Dresdner Hofkapelle verbundenen Komponisten ein. Es wirkte damals das Who’s who der wichtigsten Musiker in der Hofkapelle mit – und wer nicht dort spielte, komponierte zumindest für das Orchester, wie Vivaldi und Telemann. Prall gefüllt mit musikalischen Kleinodien und von dem betörenden Timbre der Zefiro-Oboisten profitierend, beweist sich „Dresden“ als musikalische Entdeckungsreise ersten Ranges. Eine der Triosonaten von Zelenka hätte auch gut zu Heinichen & Co. oder der Neuentdeckung Califano gepasst, die gibt es von Zefiro aber schon auf einem separaten Album. JL

„Dresden“, Zefiro, Alfredo Bernardini (Arcana) Track 5 auf der crescendo Abo-CD: Sonata C-Dur, RV 801. III. Largo von Vivaldi

F OTO: C L I V E B A R DA

Verliebte Klapperstörche

Royal Opera House

Vision der Freiheit Bei ihrer Premiere im Royal Opera House am 29. Juni 2015 sorgte Damiano Michielettos Inszenierung des Wilhelm Tell für einen Skandal. Stein des Anstoßes: die zweite Szene im dritten Akt, in der – in dieser Interpretation – eine Schweizerin von einer Horde österreichischer Soldaten ausgezogen und vergewaltigt wird. Nun kann man sich trefflich darüber streiten, was die Oper „darf“ – oder vielleicht sogar muss. Unstrittig ist jedoch: Alle Mitwirkenden dieser Produktion waren großartig, allen voran Gerald Finley als Tell und Sofia Fomina als sein etwas tapsiger jugendlicher Sohn Jemmy. Antonio Pappano lässt über Rossinis musikalischer Naturmalerei die Sonne aufgehen, und die Inszenierung sprüht vor guten Ideen. Dem Kerngedanken der Entwurzelung, veranschaulicht durch einen riesigen umgestürzten Baum, und der Darstellung militärischer Unterdrückung, wird im Finale die Vision eines Lebens in Freiheit gegenübergestellt. Absolut sehens- und hörenswert! JH

Rossini: „William Tell“, Finley, Byström, Osborn, Shkosa, Fomina, Orchestra of the Royal Opera House, Antonio Pappano (Opus Arte)

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H Ö R E N & S E H E N

„LA DIVINA“ ERSTRAHLT FRISCH Nach der Komplettedition ihrer Studioproduktionen präsentiert Warner zum 40. Todestag von Maria Callas alle von ihr erhaltenen Opern-Live-Mitschnitte. VO N AT T I L A C S A M PA I

F OTO: WA R N E R C L A S SC I S

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ie Wahrheit ist weniger illustren Häusern wie Neaimmun gegen den pel, Florenz oder Mexiko City ihre Lauf der Zeit: Maria große Karriere in Partien vorbereiCallas – das wird tete, die sie meist nur einmal (an heute, 40 Jahre nach wenigen Abenden) sang, aber auch ihrem frühen Tod, immer deutlihier schon Maßstäbe setzte, wie cher – war nicht nur die alles überetwa in Rossinis virtuoser Armida ragende „Primadonna assoluta“ des von 1952 oder als hinreißend 20. Jahrhunderts, sondern die radijugendliche Gilda im Rigoletto im kalste Wahrheitssucherin, die je die selben Jahr. Um ähnliche gesuchte Gesangsbühne betreten hat. So Raritäten handelt es sich bei ihren demolierte sie die zuvor mehr als frühen Auftritten in Verdis 200 Jahre lang geltenden Gesetze Nabucco im Jahr 1949 oder als der weiblichen Gesangsästhetik, Kundry in Wagners Parsifal in die für Frauen nur Opferrollen voreiner konzertanten RAI-Produksah, zerschmetterte die alten Kontion im Jahr 1950. Maria Callas emanzipierte die Frau auf der Bühne ventionen der Passivität, der UnterMan hat jetzt das gesamte ordnung, des „eingeschnürten“ Ausdrucks und kreierte ihren eigeMaterial neu ins 24-bit/96-kHz-Format überspielt und sich bemüht, nen, emanzipatorischen Begriff von Schönheit. Sie durchflutete die möglichst nah am Originalklang der alten Analogquellen zu bleiben: alten Opernfiguren mit ihrer vokalen Zauberkraft, ihrem furchtDas Resultat ist durchweg sehr überzeugend und hebt sich deutlich erregenden Gestaltungswillen und verlieh ihnen gültige, dauerhafte ab von allen früheren CD-Pressungen: Ihre Stimme klingt angenehGröße. mer, wärmer, natürlicher, befreit von der überdrehten Schärfe und Bereits vor drei Jahren hatte Warner Classics sämtliche Studem künstlichen Hall der ersten EMI-CDs. Und sie ist jetzt viel besdioproduktionen der Opern-Diva auf 69 CDs herausgebracht und ser eingebettet in einen homogenen, schöner aufgelösten und präzidafür weltweit großes Lob eingeheimst: Das war ohne jeden Zweifel ser fokussierten Orchesterklang. Selbst die akustisch angegriffenen die bislang klangtechnisch beste Dokumentation ihrer Schallplatersten Aufnahmen bieten mehr Tiefe, Farbe und Feinzeichnung. So ten-Aktivitäten und unterstrich eindrucksvoll auch ihre hohe ist ihre geradezu dämonische, mit Gift durchsetzte Lady Macbeth Mikrofon-Kompetenz. Da der Mythos Callas und ihre einzigartige von 1952, ihr endgültiger Durchbruch an der Mailänder Scala, jetzt Aura primär von der Zauberkraft und der Präsenz ihrer realen kaum wiederzuerkennen: Man spürt das ganze Ausmaß ihrer einBühnenexistenz herrühren, war es nur konsequent, jetzt auch die zigartigen, furchterregenden Gestaltungskunst. Der Großteil des nicht weniger spektakulären, aber oft akustisch angegriffenen MitKonvoluts, das sie dann nach 1952 als neue Primadonna in legenschnitte der von ihr erhaltenen Bühnenauftritte folgen zu lassen: dären Auftritten an der Scala, in London, in Berlin und New York Die gab es ja lange Zeit nur in Form von mies klingenden Bootlegs, zeigt, bietet aber erstaunlich präzise, relativ breitbandige Monound sie waren dann teilweise erst nach ihrem Tod von der EMI Qualität. Und selbst solche (früher kaum genießbare) Sternstunden legalisiert worden. Diese Live-Dokumente sind den Studioarbeiten wie ihr sensationelles Berliner Gastspiel als Lucia di Lammermoor an Ausdruckskraft, an vokalem Zauber noch überlegen. So enthält unter Karajan im Jahr 1955 klingen jetzt klar durchgezeichnet und die jetzt von Warner aufwendig neu restaurierte Anthologie lassen ihre alles versengende Aura hautnah miterleben. So erscheint „Remastered Live Recordings“ 20 komplette Opernder Mythos Callas durch die vorliegende Edition erst vollaufführungen aus den Jahren 1949 bis 1964, die ständig dokumentiert: Denn ihre phänomenale Bühnenzumeist live von örtlichen Rundfunksendern mitpräsenz, ihr Charisma und ihre Gestaltungskunst bilden geschnitten wurden und den damaligen technieine untrennbare Einheit, und so wirkt dieser von aller schen Standards entsprechend häufig Patina befreite vokale Zauber jetzt noch unbegreiflicher, durch akustische Mängel getrübt sind. Es noch erschütternder. ■ betrifft vor allem die jetzt zum ersten Mal „Maria Callas Live – Remastered Live Recordings (1949–1964)“, „offiziell“ veröffentlichten frühen Aufnah20 Opern-Mitschnitte (+ 5 Filmdokumente) auf 42 CDs und men der Jahre 1949 bis 1952, wo sie an 3 Blu-ray Discs (Warner)

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Ok tober – November 2017


FILM

Marc Minkowski

TANZ

Kirill Petrenko

Bolschoi Ballett

Bildmächtiges Spektakel

Eros hinter Glas

Hitzige Perfektion

Mozart und Pferde auf der Bühne vereint? Kein abwegiger Gedanke mehr, wenn man diese Salzburger Inszenierung vom Januar 2017 erlebt. Vor der passenden Kulisse der Felsenreitschule finden in einem Konzept des französischen Künstlers Bartabas hochkarätige Gesangssolisten, Choristen und Musiker eindrucksvoll zusammen mit Pferden und Stallmeistern aus Versailles, um Mozarts Requiem, sein Ave verum corpus und sein Miserere überraschend anders in Szene zu setzen. Das ist sinnlich, archaisch und packend inszeniert und schlussendlich ein faszinierendes und bildgewaltiges Spektakel. Allerdings: Bei aller dramaturgischen Ausdruckskraft und imposanten Dynamik gerät mitunter die sensible Ausgestaltung der musikalischen Interpretation in den Hintergrund. So bleiben von der ausgefallenen Inszenierung dieses Mozart-Requiems schließlich weniger die musikalischen, denn die optischen Bilder im Kopf. DW

Marlis Petersen in ihrer neunten Lulu-Produktion, 2015 an der Bayerischen Staatsoper: Das bedeutet ein formidables Charakterporträt, gezeichnet am Schnittpunkt von stimmlicher Frische und äußerer Jugend auf der einen Seite sowie Rollenerfahrung und darstellerischer Tiefe auf der anderen. Kirill Petrenko zapft am Pult des prächtig klingenden Staatsorchesters das Herzblut von Alban Bergs schwelgerischer, mit Jazzelementen gewürzter Zwölftonoper an, die hier in Friedrich Cerhas Komplettierung gegeben wird. Auch das übrige Ensemble (darunter Bo Skovhus, Daniela Sindram und Matthias Klink) agiert markant und präzise in jenem Labyrinth aus Schaufenstern oder Glasstürzen, das Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov geschaffen hat: ein aseptisches, gefühlsfeindliches Ambiente mit einer Lulu ganz in Weiß, in dem sich diese Unglückliche den Todesstoß zuletzt selbst zufügt. WW

Juri Grigorowitschs Das Goldene Zeitalter von 1982 rauscht nur so durch Simon Virsaladzes konstruktivistisches Bühnenbild: rasant in der Polka, in Tango und Walzer, wunderbar lyrisch in den Pas de deux des zentralen Liebespaares: Boris vom Agitproptheater der Arbeiterjugend und Rita, Kabaretttänzerin im „Goldenen Zeitalter“ – Treffpunkt für Lebemänner und Ganoven. Mit seiner in die vergnügungssüchtigen 20erJahre verlegten Version dieses SchostakowitschBalletts von 1930 erweist sich die russische Choreografen-Legende Grigorowitsch wohl am brillantesten als Erneuerer des Bolschoi-Stils. Die typisch kraftexplodierende Virtuosität führte er hin zu einer Schostakowitschs Klang- und Rhythmus-Reichtum entsprechenden, kultivierten Leichtigkeit und neoklassischen Eleganz. Getanzt wird vom Bolschoi-Ballett, ob raumgreifende Ensembles, mit Sprüngen gespickte Soli oder schwindelerregend akrobatische Partnerfiguren und Hebungen, mit atemberaubender Präzision und packender Dramatik. GRA

Mozart: „Requiem“, Bartabas, Marc Minkowski (CMajor)

Alban Berg: „Lulu“, Bayerische Staatsoper, Kirill Petrenko (BelAir)

„The Golden Age“, Bolschoi Ballett (BelAir)

KENT NAGANO GÖTEBORGS SYMFONIKER

EIN HELDENLEBEN TOD UND VERKLARUNG RICHARD STRAUSS Die zweite Aufnahme der Strauss-Trilogie. Für „Eine Alpensinfonie“ wurde Kent Nagano mit dem ECHO Klassik 2017 ausgezeichnet!

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H Ö R E N & S E H E N

Martin Geck

Beethovens Beziehungskosmos

Oliver Buslau

BUCH

Noch ein Beethovenbuch, braucht’s das? Es braucht’s! Denn der renommierte Musikwissenschaftler Martin Geck, Professor an der Technischen Universität Dortmund, hat sich etwas Außergewöhnliches einfallen lassen: Statt eine weitere chronologische Biografie vorzulegen, setzt er an all den Menschen an, die Beethoven inspirierten, die umgekehrt er inspirierte, die er plagte, die ihn plagten. So entsteht ein organisches, um Beethoven mäanderndes Beziehungsgewebe von Bach bis Igor Strawinsky, von Tintoretto bis zum französischen Philosophen Gilles Deleuze. Die Personen sind dabei thematisch, nicht chronologisch in Dreierblöcke geordnet: So werden unter dem Begriff „Titanismus“ etwa Napoleon Bonaparte, Wilhelm Furtwängler und die Musikphilosophin Lydia Goehr subsummiert, unter dem Stichwort „Phantastik“ William Shakespeare, Robert Schumann und Jean Paul. Geck spannt den Bogen von simplen Fragen wie der nach der Sinnhaftigkeit von Opuszahlen über Beethovens Bewältigungsstrategien für tiefe seelische Krisen (Johann Michael Sailer) bis zur Idee einer musikalischen Universalgrammatik (Leonard Bernstein). Nebenbei werden gut recherchiert und wie selbstverständlich Notenbeispiele und Zitate eingeflochten. Schließlich ist das rund 500 Seiten umfassende Buch auch noch gut geschrieben. MG

Klassik-Superhits und ihre Geschichte Ganz schön selbstbewusst kommt schon der Titel des Buches daher: „111 Werke der klassischen Musik, die man kennen muss“. Der Fokus liegt auf Musik, die aus Film, Fernsehen oder anderen Gründen wohlbekannt ist, deren Entstehungsgeschichte jedoch kaum jemandem geläufig ist – wie etwa die der „Eurovisionshymne“ von Marc-Antoine Charpentier, dem aus der Fernsehwerbung bekannten O Fortuna aus Carl Orffs Carmina Burana, dem Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy oder dem Adagio for Strings von Samuel Barber, das sich zum Begräbnisklassiker verselbstständigte. In bekömmlichen, jeweils einseitigen Lesehäppchen serviert Oliver Buslau Hintergründe und Anekdoten zu den Werken. Man erfährt, warum Händels Feuerwerksmusik den ersten dokumentierten Verkehrsstau der Geschichte erzeugte, was Ravels Boléro mit Sex zu tun hat oder warum der Flohwalzer kein Walzer ist. Für den Laien wie für den gestandenen Experten gut verständlich, aber dennoch nicht oberflächlich führt die Reise durch die europäische Kunstmusik vom gregorianischen Choral bis zu Arvo Pärt. Gut zum Schmökern! MG

Oliver Buslau: „111 Werke der klassischen Musik, die man kennen muss“ (Emons)

Martin Geck: „Beethoven. Der Schöpfer und sein Universum“ (Siedler)

JA ZZ Str ing s & Ba ss

e Wiener Jazz-TräumDie aus drei

z. erst seltene Gäste im Jaz Streichquartette sind äuß Willeitner rian Flo er eig mg Pri deutschen Österreichern und dem fte einmadür r abe tion „Strings & Bass“ mit bestehende Vierer forma llist Ce ein und ger gei zwei Top lig sein. Denn da haben sich id zusam chm ins Bre org Ge n ose irtu dem Wiener Kontrabass-V x ausgetüftelten ein raffinierten, komple mengetan, um in ungem em“ Fundament isch ass „kl auf ltoffenen, Arrangements einen we ten Jaz z zu kreieh folkloristisch inspirier basierenden und zugleic Bass-Grooves gen cki id mit seinen kna ren, bei dem Breinschm n drei aber entere and Die t. etz ers e eine ganze Rhythmusgrupp osphärische atm nischen Sequenzen falten mit kühnen harmo r steigern sich ode hte Dic ler hestra Stimmungsbilder von orc ber elle. Eine 15-minütige, sau in wilde Improvisationsdu den et bild e odi aps Rh e“ durchkomponier te „irisch ungewöhnlich dichten Pro ernsten Seelenkern des l, iza Kre in rz He des r ihr wil gramms, während die vie en. leb aus es Blu n sive ver sub einem atonal-schrillen, locker eine ganze Big „Strings & Bass“ ersetzt Band. AC

LY F OTO : J U L I A W ES E

er, „Strings & Bass“, Florian Willeitn hoJohannes Dickbauer, Matthias Bart a) mol (Gra mid nsch Brei rg Geo lomey,

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September Ok tober – November – Ok tober 2017


Unerhörtes & neu Entdecktes von Christoph Schlüren

GROSSE UNGARISCHE SINFONIK Im späten 19. Jahrhundert wühlte der Ungar László Lajtha die europäische Musikwelt auf. Sein Stil zwischen Impressionismus, Expressionismus und Neoklassizismus ist einzigartig.

I

m europäischen Kontext war die Musik Ungarns wie diejenige Polens später dran als die böhmische, die mit Smetana und Dvořák bereits zwei überragende Meister hervorgebracht hatte. 1883 übernahm der Deutsche Hans Koessler als Nachfolger seines verstorbenen Landsmanns Robert Volkmann die Leitung der Kompositionsklasse in Budapest. Der darauf folgende Aufschwung der ungarischen Schule war einzigartig: Die Komponisten Ernst von Dohnányi, Béla Bartók, Zoltán Kodály und Leo Weiner bildeten die erste Generation, aus deren Fußstapfen vor allem Dirigenten von Weltrang wie Fritz Reiner, Georg Szell, Antal Doráti, Sándor Végh, Ferenc Fricsay oder Georg Solti hervorgingen, aber auch eminente Komponisten wie László Lajtha, Géza Frid oder Sándor Veress. Unter diesen war der 1892 geborene Lajtha der Bedeutendste. Er studierte zunächst bei Kodály, dann in Genf bei dem einstigen Liszt-Schüler Stavenhagen und schließlich auf Anraten seines Freundes Bartók an der Pariser Schola Cantorum bei Vincent d’Indy, dem konservativen Bannerträger der Schule César Francks. Auf diese Weise kam er, der sich bereits intensiv dem Studium Johann Sebastian Bachs gewidmet hatte, in den Genuss einer umfassenden Ausbildung, die auch den Palestrina-Stil einbezog und sich besonders den überlieferten Großformen der Sinfonik und Kammermusik zuwandte. Doch ähnlich wie der unorthodoxe Spätzünder Albert Roussel geriet auch Lajtha nicht ins reaktionäre Fahrwasser d’Indys, sondern fand in der Begegnung mit dem freien Geist Claude Debussys die entscheidende Ausrichtung. Wobei er erkannte, dass ein kreatives Aufnehmen der befreienden Impulse nicht darin bestand, in die Falle des nachahmenden „Debussysmus“ zu gehen. Der junge Lajtha wurde auch intensiv von Schönberg und den vielen jungen Komponisten seiner Generation, die einander im kosmopolitischen Klima der Seine-Metropole begegneten, angeregt: Ravel, Roussel, Florent Schmitt, Enescu, Strawinsky, Casella, Martinů, Ibert, Prokofjew, Milhaud, Honegger, Poulenc, Tansman, Mihalovici und viele weitere. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welch revolutionärer schöpferischer Schmelztiegel Paris vor dem Ersten Weltkrieg war. Im Krieg diente Lajtha in

der österreichisch-ungarischen Armee, doch behielt er seine frankophile Weltoffenheit bei. Er war fest entschlossen, kein Protagonist einer nationalen Schule zu werden – was ihm auf Dauer in seiner ungarischen Heimat zum Nachteil gereichte. Er widmete sich wie Bartók und Kodály intensiv der Erforschung der Volksmusik, jedoch zitierte er in seiner Musik nie Folklore, sondern erfand lediglich Gestalten im Geist derselben. Ende der 1930er-Jahre schloss er einen Exklusivkontrakt mit dem Pariser Verleger Leduc ab und war eine der führenden Persönlichkeiten des ungarischen Musiklebens. Doch 1948 machte man ihm die Emigration seiner Söhne und seine offen liberale Gesinnung zum Vorwurf, enthob ihn aller Ämter und zog seinen Pass ein. Als er ihn wieder erhielt, blieb ihm, der im Ausland viel bekannter war und in Dirigenten wie Adrian Boult und George Szell mächtige Fürsprecher hatte, dann nur noch wenig Zeit zum Reisen vor seinem Ableben 1963. Lajthas Hauptverdienst als Komponist besteht in seinen zehn Streichquartetten und neun Sinfonien. Er ist nicht nur ein begnadeter Techniker mit einer phänomenalen Orchestration mit besonderer Vorliebe für elegische Soli von Englischhorn und Altsaxofon und erlesen abgestimmte Mixturen, sondern vor allem auch ein höchst inspirierter Meister der spannungsvoll und kontrastreich schlüssig gebauten großen Formen, die aus effizient opponierenden Texturen gewoben sind. In einzigartiger Weise schlug er in seiner Instrumentalmusik die Brücke zwischen fiktivem Volkston und liturgischer Klage orientalischen Ursprungs. Man hat seinen Stil als eklektizistisch beschrieben, da sich Elemente des Neoklassizismus (in den rhythmisch fulminanten und filigran tänzerischen schnellen Sätzen), des tragisch umflorten Expressionismus und des farbenflirrenden Impressionismus in geheimnisvoller Weise verweben. In den späten Sinfonien fand er zu einem zutiefst existenziellen Ausdruck, die letzten vier zählen zu den bemerkenswertesten Schöpfungen der Gattung in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Nun sind alle neun Sinfonien, die einst bei Marco Polo erschienen waren, bei Naxos wiederveröffentlicht worden. ■ László Lajtha: „Symphonies No. 1-9“ (Naxos) 71


R Ä T S E L & U M F R A G E

GEW I N NSPI EL Wer verbirgt sich hinter diesem Text?

IHR E LIEBLINGS THEMEN FÜR DIE NÄCHSTE AUSGA BE Die crescendo-Leser haben abgestimmt Wir haben Sie gebeten, das Thema unserer crescendo- Weihnachtsausgabe zu wählen. Ihre Top 3: 1. „Operette“ 2. „Filmmusik“ 3. „Musik und Bildende Kunst“

Die Fledermaus an der Staatsoperette Dresden

Drei Minuten dauert mein Todeskampf. Ich drehe, winde und neige mich und im Gegensatz zu meinen Kollegen auf der Opernbühne komme ich dabei ohne dramatische Worte aus. Anstrengend sind meine letzten Minuten aber trotzdem. Was sich Michel dabei gedacht hat, mich nicht einfach in Ruhe dahintreiben zu lassen, sondern meinem Leben ein Ende zu setzen? Wahrscheinlich hat er sich von ein paar Artgenossen auf einem Binnengewässer dazu verleiten lassen und vom Schicksal einer, oh Graus, menschlichen Prinzessin. Aber da gehöre ich eigentlich nicht hin... Dabei hat alles ganz lustig angefangen. Ich war auf einer kleinen Party zur närrischen Zeit mit meinen animalischen Freunden. Sterben war da nicht eingeplant. Anscheinend waren meine majestätischen Bewegungen und die Vertretung durch ein tiefsinniges Instrument aber Anregung genug, mich besonders elegant das Zeitliche segnen zu lassen. Und wie den berühmten Phönix, lässt man mich auch nach meinem Tod nicht in Ruhe, sondern stellt mich seit 110 Jahren immer wieder ins Rampenlicht. ■

Damit werden wir das Thema „Operette“ für unsere Leser aus allen Blickwinkeln beleuchten. Mit Ihren anderen beiden Lieblingsthemen werden wir uns gerne in einer späteren Ausgabe beschäftigen. Auch das Spektrum an ganz neuen Vorschlägen war breit: Von „Musik in Okkultismus, Esoterik und Spiritualität“ über „Rezeption antiker Stoffe in der Musik“ bis hin zum Thema „Opernchöre“ oder „Große Tenöre“. Wir haben uns alle notiert und fanden Ihre Ideen sehr inspirierend. Vielen Dank fürs Mitmachen! Die Gewinner unserer Verlosung zur Umfrage: Annelie Dicker aus Sauerlach hat einen Tolino gewonnen. Je ein Harnoncourt-Buch gewannen Werner Grandl (Desselbrunn), Peter Lichtwark (Erfurt) und Christel Semper (Hamburg). Viele Grüße, Ihre crescendo-Redaktion LESEN SIE MEHR!

RÄTSEL LÖSEN UND ELLY NEY GEWINNEN! Wer ist hier gesucht? Wenn Sie die Antwort kennen, dann schreiben Sie Ihre Lösung unter dem Stichwort „Alltags-Rätsel“ an die crescendo- Redaktion, Rindermarkt 6, 80331 München oder per E-Mail an gewinnspiel@crescendo.de. Unter den richtigen Einsendungen verlosen wir die DVD-Box „Elly Ney performs“ (Arthaus). Einsendeschluss ist der 05.11.2017. Der Gewinner unseres letzten Alltagsrätsels ist Stephan Zimmer aus Offenbach.

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In unserer letzten Ausgabe würdigte die Deutsche Mozart Gesellschaft den früheren sowjetischen Außenminister Georgi W. Tschitscherin und sein postum erschienenes Mozart-Buch. Diese mit Herzblut geschriebene grundlegende Studie erschien 1987 auch in einer deutschen Übersetzung von Christof Rüger. Das Vorwort zu dem rororo-Taschenbuch schrieb damals unser Chefrezensent Attila Csampai. Schauen Sie doch mal hinein!

Georgi W. Tschitscherin: „Mozart. Eine Studie" (rororo) www.crescendo.de

Ok tober – November 2017

F OTO: K A I - U W E SC H U LTE B U N E RT

Der Arme! Ich kann mich sehr gut in seine Lage versetzen!


ERLEBEN Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen im Oktober und November im Überblick (ab Seite 74). Viennale: Aussagestarkes Spiel- und Dokumentarfilmfestival (Seite 80) Neue Stimmen: Wettbewerb für die Crème de la Crème des Gesangsnachwuchses (Seite 82)

19. November, München

BIRKENWÄLDER UND SCHNEEBEDECKTE WEITEN bungsvoller Liebe über Inbesitznahme, Eifersucht, Entfremdung und Hass in Verzweiflung und Selbstmord mündet. Dabei stellt er sich in die Tradition der Russlandrezeption jener Epoche – Birkenwälder, schneebedeckte Weiten, die legendären Bälle der St. Petersburger Aristokratie, schöne, verführerische Frauen. Er zeigt den Prunk und die Pracht, aber auch die Kälte der Paläste und die Verlorenheit der Menschen darin. Nach der Uraufführung 2014 in Zürich ist seine Arbeit mit Solisten und dem Ensemble des Bayerischen Staatsballetts in München zu sehen. Am Pult steht Robertas Šervenikas. München, Bayerische Staatsoper, 19. (Premiere), und 25. 11. sowie 1. 12. und weitere Termine 2018, www.staatsoper.de

F OTO: M O N I K A R IT T E R S H AU S

„Eine Schulter tauchte auf, ein Hals und schließlich die gesamte Gestalt einer schönen Frau im Ballkleid, die mich aus traurigen Augen bittend anzuschauen schien“, beschrieb Leo Tolstoi seine erste Vision von Anna Karenina. Zahlreiche Choreografen inspirierte die von ihm geschaffene Frauengestalt, deren Leidensweg von der ersten schicksalhaften Begegnung mit dem Offizier Graf Vronskij auf einem Moskauer Bahnhof bis zu ihrem Selbstmord unter den Rädern eines Eisenbahnwagons er in seinem großen Roman schildert. Regisseur und Choreograf Christian Spuck entwarf mit der Musik von Sergej Rachmaninow, Witold Lutosławski, Sulchan Zinzadse und Josef Bardanashvili seine Version dieser ergreifenden Liebestragödie, die von hinge-

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E R L E B E N

Oktober / November 2017

DIE WICHTIGSTEN VERANSTALTUNGEN AUF EINEN BLICK Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals 19. bis 28. Januar, Bonn

13.10. SCHWERIN STAATSTHEATER Otello / G. Verdi 14.10. BREMEN THEATER Candide / L. Bernstein 14.10. BERN (CH) KONZERTTHEATER Don Giovanni / W. A. Mozart 14.10. COTTBUS STAATSTHEATER Sunset Boulevard / A. L. Webber 14.10. ESSEN AALTO-MUSIKTHEATER Die verkaufte Braut / B. Smetana 14.10. LEIPZIG OPER Die große Sünderin / E. Künneke 14.10. MANNHEIM NATIONALTHEATER Norma / V. Bellini 14.10. TRIER THEATER Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach 14.10. WIEN (AT) VOLKSOPER Die Räuber / G. Verdi 15.10. BERLIN KOMISCHE OPER Pelléas et Mélisande / C. Debussy 15.10. BONN THEATER Penthesilea / O. Schoeck 15.10. KARLSRUHE STAATSTHEATER Götterdämmerung / R. Wagner 15.10. KÖLN OPER La Traviata / G. Verdi 15.10. WIEN (AT) OPER Wozzeck / A. Berg 19.10. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZTHEATER Die lustige Witwe / F. Lehár 20.10. DÜSSELDORF OPERNHAUS Wozzeck / A. Berg 20.10. GERA KOMISCHE OPER Don Pasquale / G. Donizetti 21.10. BADEN (AT) STADTTHEATER Der Freischütz / C. M. v. Weber 21.10. BASEL (CH) THEATER La Traviata / G. Verdi 21.10. KAISERSLAUTERN PFALZTHEATER Orpheus in der Unterwelt / J. Offenbach 21.10. LÜBECK THEATER Der ferne Klang / F. Schreker 21.10. HEIDELBERG THEATER Don Giovanni / W. A. Mozart 22.10. FREIBURG THEATER Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach 22.10. STUTTGART STAATSTHEATER Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 26.10. FREIBURG THEATER Lulu / O. Beatus

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LIEDER DER VÖLKER

Oberon Trio

F OTO: P R

PREMIEREN

Mit schottischer Volksmusik, gespielt von Thomas Zöller auf dem Dudelsack und gesungen von Michael Klevenhaus, beginnt das Beethovenhaus bei freiem Eintritt sein Kammermusikfest. Künstlerisch geleitet von der Bratschistin Tabea Zimmermann, versteht es sich als ein Werk-Festival, das seine Programme aus einer vor 200 Jahren entstandenen Komposition Beethovens entwickelt. Gegenstand dieser künstlerischen Auseinandersetzung bildet unter dem Motto „Volks.Lied.Bearbeitungen“ die populäre Musik. Beethoven interessierte sich für die Musik verschiedener Völker, deren Einfluss sich auch in seinen Instrumentalwerken erkennen lässt. Insgesamt sind von Beethoven rund 150 Bearbeitungen irischer, walisischer und schottischer Lieder überliefert. Sie sind der Initiative des Volksliedsammlers George Thomson aus Edinburgh zu verdanken. In dem Bestreben, die Volksmelodien vor dem Vergessen zu bewahren, bestellte Thomson bei renommierten Komponisten seiner Zeit Arrangements der Lieder. Unter ihnen befand sich auch Beethoven, dessen Musik in Großbritannien sehr geschätzt wurde. Im Eröffnungskonzert widmen sich der Tenor Christoph Prégardien und das Oberon Trio, bestehend aus der Violinistin Henja Semmler, der Cellistin Antoaneta Emanuilova und dem Pianisten Jonathan Aner, Beethovens Liedbearbeitungen sowie den Schottischen Liedern, die Joseph Haydn für Thomson vertonte. Bonn, verschiedene Spielorte, www.beethoven-haus-bonn.de/woche

26.10. MÜNCHEN BAYERISCHE STAATSOPER Die Hochzeit des Figaro / W. A. Mozart 27.10. BERLIN KOMISCHE OPER Satyagraha / P. Glass 28.10. CHEMNITZ THEATER Non(n)sens / D. Goggin 28.10. GIESSEN STADTTHEATER Ein Herbstmanöver / E. Kálmán 28.10. KASSEL STAATSTHEATER Venus und Adonis / J. Blow 28.10. KOBLENZ THEATER Ball im Savoy / P. Abraham 28.10. REGENSBURG THEATER Der Vetter aus Dingsda / E. Künneke 28.10. WIESBADEN STAATSTHEATER Manon / J. Massenet 29.10. BRAUNSCHWEIG STAATSTHEATER Rivale / L. Ronchetti 29.10. DARMSTADT STAATSTHEATER Die Hochzeit des Figaro / W. A. Mozart 29.10. HAMBURG STAATSOPER Il Ritorno d’Ulisse in Patria / C. Monteverdi 29.10. MÜNSTER THEATER Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 31.10. HANNOVER STAATSOPER Wilhelm Tell / G. Rossini 01.11. MANNHEIM NATIONALTHEATER Aschenputtel / G. Rossini 02.11. GRAZ (AT) OPER Die Hochzeit des Figaro / W. A. Mozart 04.11. BRAUNSCHWEIG STAATSTHEATER Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 04.11. DUISBURG THEATER Das Rheingold / R. Wagner 04.11. FLENSBURG STADTTHEATER Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach 04.11. KAISERSLAUTERN PFALZTHEATER Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 04.11. LINZ (AT) LANDESTHEATER Rigoletto / G. Verdi 05.11. BONN THEATER Carmen / G. Bizet 05.11. ESSEN AALTO-MUSIKTHEATER Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 05.11. NÜRNBERG STAATSTHEATER Die lustige Witwe / F. Lehár 09.11. ULM THEATER Die Piraten von Penzance / A. Sullivan 11.11. BREMEN THEATER Rusalka / A. Dvořák

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Ok tober – November 2017


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22. Oktober

Hungern müssen die Kinder in Humperdincks Oper Hänsel und Gretel. So arm ist die Familie. Regisseur Kirill Serebrennikow sucht für seine Inszenierung den Schauplatz dieser Armut „dort, wo wir sie vermuten und wohin unser Schuldgefühl sie projiziert: in Afrika“. Allerdings wurde er im August in St. Petersburg festgenommen. Serebrennikow ist Putin-Kritiker und Teil der Bürgeropposition in Russland. Die russische Justiz wirft ihm Betrug vor. Am 23. August verhängte sie Hausarrest. Die Premiere an der Stuttgarter Oper findet dennoch statt. Zum einen will man an der Hoffnung festhalten, dass er bald freikommt, und zum anderen will man ihm die Möglichkeit erhalten, seine Arbeit fertigzustellen. Gezeigt wird, was er bereits erarbeitet hat und mit ihm abgesprochen wurde. Einen ungewöhnlichen Abend verspricht das Haus. In einer Pressemitteilung erklärt es sich zudem überzeugt von Serebrennikows Unschuld. Stuttgart, Oper, 22. (Premiere) und 26.10., 2.11. sowie 2., 13., 16. und 26.12., www.oper-stuttgart.de

DIALOGE Musik von heute MIROSLAV SRNKA

2., 3. und 4. Dezember

BERLIN BERNARD HAITINK Mahler habe ihn immer aufgewühlt, denn er bestätige einen nicht, bekennt Bernard Haitink. 1929 in Amsterdam geboren, war er einer der ersten, der Mahlers sinfonisches Gesamtwerk nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufführte. Er nahm die holländische Mahler-Tradition auf, die von Willem Mengelberg begründet worden war. Doch hatte er es anfangs schwer, weil die jüdischen Musiker, die diese Tradition mitgetragen hatten, geflohen oder vertrieben worden waren. Ein Vorbild für ihn war Bruno Walter. Mit den Berliner Philharmonikern spielte Haitink bereits den gesamten Mahler-Zyklus auf CD ein. Im Dezember dirigiert er sie bei der Neunten Sinfonie, Mahlers letztem vollendeten Werk. Berlin, Philharmonie, www.berliner-philharmoniker.de

www.mozarteum.at

Konzerte Wissenschaft Museen

30.11. – 03.12.2017 Tickets: +43-662-87 31 54

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STUTTGART HÄNSEL UND GRETEL

10. Dezember

HAMBURG DON QUIXOTE Er gilt als Vater des klassischen Balletts. Marius Petipa entwickelte und vervollkommnete die Tanztechnik und schuf am Bolschoi-Theater in St. Petersburg jenes russische Ballett, das Ende des 19. Jahrhunderts in der ganzen Welt Berühmtheit erlangte. Mehrere Generationen russischer Tänzer durchliefen seine Ausbildung. 2018 jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal. Aus diesem Anlass zeigt die Hamburger Staatsoper das Ballett Don Quixote, das er nach dem Roman von Cervantes und mit der Musik von Ludwig Minkus 1869 in St. Petersburg choreografierte. Auf die Bühne kommt es in der Fassung, die Rudolf Nurejew 1966 für die Wiener Staatsoper schuf. Am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters steht Garrett Keast. Hamburg, Staatsoper, 10. (Premiere), 12., 14., 15. und 21.12. sowie 13., 18. und 21.1., www.hamburgballett.de

1. November 2017

Paul Hindemith Das Marienleben Christiane Karg (Sopran) Max von Pufendorf (Rezitation) Liese Klahn (Klavier)

14. Februar 2018

John Downland Shakespeare in Love

18. November

Paula Murrihy (Mezzosopran) Eamonn Bonner (Tenor) Eamonn Sweeney (Laute)

RIBBECK STUMMFILMKONZERT „Wir sind ein Landschaftsfestival, nicht nur ein Musikfestival“, betont der Pianist und künstlerische Leiter der Havelländischen Musikfestspiele Frank Wasser. In restaurierten Schlössern und Gutshöfen des Havellandes mit seinen ausgedehnten moorigen Niederungen, den sanftwelligen Dünengebieten und kleinen Wäldern veranstaltet er das ganze Jahr über Liederabende und Musikkon-

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E R L E B E N

11.11. ERFURT THEATER Medea / L. Cherubini 12.11. AACHEN THEATER Katja Kabanowa / L. Janáček 12.11. FRANKFURT OPER Der Mieter / A. Herrmann 12.11. LUZERN (CH) THEATER Manon / J. Massenet 16.11. WEIMAR NATIONALTHEATER Dido und Aeneas / H. Purcell 17.11. MEININGEN STAATSTHEATER Così fan tutte / W. A. Mozart 18.11. DRESDEN SEMPEROPER Lucia di Lammermoor / G. Donizetti 18.11. DÜSSELDORF OPERNHAUS Madama Butterfly / G. Puccini 18.11. HANNOVER STAATSOPER Salome / R. Strauss 18.11. PFORZHEIM THEATER Der Barbier von Sevilla / G. Rossini 19.11. WIESBADEN STAATSTHEATER Tannhäuser / R. Wagner 24.11. BERLIN STAATSOPER Der unglaubliche Spotz / M. Svoboda

DANIEL HOPE

KÜNSTLER

JOHANNES MOSER

CECILIA BARTOLI

CHRISTOPH-MATHIAS MUELLER

23.11. Baden-Baden, Festspielhaus 25.11. Essen, Philharmonie

KRISTIAN BEZUIDENHOUT 14.11. München, AllerheiligenHofkirche 24.11. Köln, Philharmonie

GÁBOR BOLDOCZKI 3.11. Villach (AT), Congress Center

FREIBURGER BAROCKORCHESTER 24.10. Wien, Theater 3.11. Baden-Baden, Festspielhaus 5.11. Köln, Philharmonie 21.11. Freiburg, Konzerthaus 22.11. Berlin, Philharmonie 23.11. Stuttgart, Liederhalle

RENAUD CAPUÇON 22., 23.10. Frankfurt, Alte Oper

KEVIN JOHN EDUSEI 22.10. Kempten, bigBox 25.10. München, Herkulessaal 26.10. München, Prinzregententheater 29., 31.10. Bern (CH), Theater

ISABELLE FAUST 10., 11.11. Berlin, Philharmonie 16.11. Köln, Philharmonie 17.11. Dortmund, Konzerthaus 18.11. Essen, Philharmonie

ADAM FISCHER 10., 12., 13.11. Düsseldorf, Tonhalle

JUAN DIEGO FLOREZ 2.11. Zürich (CH), Opernhaus 6.11. Berlin, Philharmonie 22.11. Wien (AT), Konzerthaus

YOEL GAMZOU 12.11. Luzern (CH), Theater

MATTHIAS GOERNE 2.11. Wien (AT), Konzerthaus 4.11. St. Pölten (AT), Festspielhaus 15.11. Freiburg, Konzerthaus 17.11. Hamburg, Elbphilharmonie

BARBARA HANNIGAN 10., 30.10. Wien (AT), Konzerthaus

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20.10. Essen, Philharmonie 23.10. Wien (AT), Musikverein 4.11. Baden-Baden, Festspielhaus 10.11. Neuhardenberg, Schinkel-Kirche 11.11. Dresden, Frauenkirche

PHILIPPE JORDAN

22. bis 26. November, Frankfurt/Rhein-Main

EINE NEUE HEIMAT IN DER FREMDE

17., 18., 19. 11. Wien (AT), Konzerthaus

FELIX KLIESER 26.10. München, Allerheiligen-Hofkirche 1.11. Münster, Theater 5.11. Zürich (CH), Tonhalle 6.11. Berlin, VW Drive Center 12.11. Wien (AT), Konzerthaus 18.11. Kempten, Paterkirche 19.11. Coesfeld, Konzerttheater 23.11. Kaiserslautern, Fruchthalle

SEBASTIAN MANZ 19.10. Ingolstadt, Festsaal 24.10. Ansbach, Onoldia 28., 29.10. Zürich (CH), Tonhalle 3.11. Berlin, Konzerthaus

22.10. Bückeburg, Rathaus

HANNA-ELISABETH MÜLLER 19., 20., 21.10. Berlin, Philharmonie

KENT NAGANO 12., 14., 15., 16., 18., 19., 21., 22., 23. 11. Hamburg, Staatsoper

CHRISTINA PLUHAR 14., 27.10., 6., 13., 16.11. Linz (AT), Musiktheater

QUARTETTO DI CREMONA 10.11. Wiesloch, Palatin

RIAS KAMMERCHOR 15.10. Essen, Philharmonie 20.10. Berlin, St. Elisabeth 26., 27., 28.10. Berlin, Philharmonie

GERHILD ROMBERGER 20.10. Hof, Freiheitshalle 27., 28. 10. Mainz, Staatstheater 11.11. München, Herkulessaal 19.11. Bonn, Kreuzkirche

LINUS ROTH 9.11. Augsburg, Theater

FAZIL SAY 19.10. Stuttgart, Liederhalle 21.10. Dresden, Frauenkirche 3.11. Berlin, Komische Oper 5.11. Mannheim, Rosengarten 7.11. Nürnberg, Meistersingerhalle

CAMILLE THOMAS 16.11. Weimar, Weimarhalle

DANIIL TRIFONOV 18.11. München, Herkulessaal 20.11. Düsseldorf, Tonhalle 22.11. Hamburg, Elbphilharmonie

ROLANDO VILLAZÓN 13.10. Dresden, Kultturpalast 16.10. Frankfurt, Alte Oper 23.11. Berlin, Philharmonie

NOA WILDSCHUT 25.10. Heidelberg, Kongresshaus 19.11. München, Prinzregententheater

Ensemble Modern

Unter dem Motto „Transit“ suchen das Ensemble Modern und das hr-Sinfonieorchester die künstlerische Auseinandersetzung mit den Themen Flucht, Verfolgung, Migration, Identität und Freiheit. Von Isang Yun, dem Schwerpunkt-Komponisten der Biennale, steht Engel in Flammen auf dem Programm. Isang Yun erinnerte damit an jene Menschen, die sich 1991 aus Protest gegen die Militärdiktatur des südkoreanischen Präsidenten Roh Tae-woo selbst verbrannten. Er musste mehrmals in seinem Leben Haft und Folter erleiden, nachdem er sich in den 1940er-Jahren in Südkorea am Freiheitskampf gegen die japanische Besatzung beteiligt hatte und in den 1960erJahren der Agententätigkeit für Nordkorea angeklagt worden war. Im Wunsch, ein nachfaschistisches Italien zu schaffen, verband auch Luigi Nono seine Kompositionen mit politischen Aussagen. Mit Abschiedsbriefen zum Tode verurteilter europäischer Widerstandskämpfer erprobte er in Il canto sospeso neue Wege der Textvertonung. Acht Uraufführungen stehen auf dem Biennale-Programm, darunter die Tanzmusikperformance Hyperion der Choreografen Kiriakos Hadjiioannou und Fabrice Mazliah, die Möglichkeiten der Kommunikation und Sprachfindungsprozesse erkundet, sowie Søren Nils Eichbergs Oper Schönerland über die europäische Kunstform Oper, die in der Fremde eine neue Heimat sucht. Frankfurt/Rhein-Main, verschiedene Spielorte, www.cresc-biennale.de

zerte. In der Reihe „Die Kunst des Klavierspielens“ lädt Carsten- Stephan Graf von Bothmer auf Schloss Ribbeck. Er widmet sich der Vertonung von Stummfilmen. Nach Ribbeck kommt er mit der vom Berliner Bundesarchiv originalgetreu wiederhergestellten Fassung von „Luther – Ein Film der deutschen Reformation“ von Hans Kyser mit Eugen Klöpfer in der Titelrolle aus der Weimarer Republik. Der Film zeigt Luther als deutschen Helden des Protestantismus. Für Bothmer ist er ein historisches Dokument, „die Sicht auf Luther von 1927“. Ribbeck, Schloss Ribbeck, www.havellaendische-musikfestspiele.de

26. November

BERLIN LE PROPHÈTE Grand opéra – eine menschliche Tragödie, ein Aufwand an Prunk und Massenszenen sowie spektakuläres dramatisches Geschehen. Das ist Giacomo Meyerbeers Le prophète. Olivier Py bringt das Werk mit Gregory Kunde als Jean van Leyden, Clémentine Margaine (Foto) als Fidès und Elena Tsallagova als Berthe auf die Bühne. Am Pult steht Enrique Mazzola. Pys Aufführung von Les Huguenots in Brüssel gilt als bedeutendste Meyerbeer-Inszenierung der vergangenen 30 Jahre. Meyerbeer hat in Berlin Tradition: Bereits 1850, ein Jahr nach www.crescendo.de

Ok tober – November 2017

F OTO: V I N C E N T S TE FA N

SEBASTIAN KNAUER


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der spektakulären Uraufführung in Paris, fand in Meyerbeers Geburtsstadt die deutsche Erstaufführung statt. Und 1966, als die MeyerbeerBegeisterung verebbt war, brachte Bohumil Herlischka eine pompöse Inszenierung auf die Bühne der Deutschen Oper. Berlin, Deutsche Oper, 26. (Premiere) und 30.11., 3., 9. und 16.12. sowie 4. und 7.1., www.deutscheoperberlin.de

1. bis 15. November

HAMBURGER KAMMERMUSIKFEST INTERNATIONAL Künstler brauchen Freiheiten, stellt die Pianistin Elisaveta Blumina fest. „Grenzenlos“ lautet das Motto des von ihr geleiteten Musikfestes. Composer in residence ist der aus dem Libanon stammende und in Frankreich lebende Komponist und Dichter Bechara El-Khoury. Mit seiner Ersten Sonate stellt Blumina ihn im Eröffnungskonzert vor, einem Streifzug durch kammermusikalische Preziosen. Der Cellist Evgeny Tonkha spielt Intro Version von Anna Drubich, und der Violinist Arman Mourzagaliev widmet sich dem kasachischen Lied Karakemer von Kuat Shildebayev. Auch Kompositionen von Albeníz, de Falla und Piazzolla stehen auf dem Programm, während Nina Corti ausdrucksstarke Solotänze zeigt. Fast alle Komponisten des Musikfestes hätten einen Migrationshintergrund, betont Blumina. Der kulturelle Austausch lasse neue Werke entstehen und sei eine Bereicherung. Hamburg, verschiedene Spielorte, www.musikfoerderung.de/kammermusikfest

25. Oktober

MÜNCHEN VOYAGER QUARTET & ALEXANDRA STEINER In ihrem neuen Programm schwebt das Voyager Quartet zusammen mit Sopranistin Alexandra Steiner von der Wiener Staatsoper auf den Flügeln des Gesanges. Zusammen präsentieren sie in der Allerheiligen-Hofkirche in München ein schicksalsträchtiges Programm voller Gegensätze. Schuberts Quartettsatz Der Wegweiser erkundet neues Terrain, wohingegen Beethoven sich mit der Frage „Muss es sein? Es muss sein!“ von der Welt verabschiedet. Zwischen Aufbruch und Abschied steht Mendelssohns Zyklus ... oder soll es Tod bedeuten? in der Bearbeitung für Sopran und Streichquartett von Aribert Reimann und Ottorino Respighis Il Tramonto von 1914. München, Allerheiligen-Hofkirche, www.voyagerquartet.de

20. Oktober bis 5. November

12. WITTENBERGER RENAISSANCE MUSIKFESTIVAL Aus Sehnsucht nach der unerreichbaren Ferne habe er die Laute für sich entdeckt, sagt Rolf Lislevand. Aus der Rückwendung in die ferne Vergangenheit entdeckte er neue Instrumente, Spielweisen und Klänge. Laute, fünfchörige Barockgitarre, Theorbe und Vihuela gehören zu Lislevands Instrumentarium. Was ihn aber vor allem an der Alten Musik begeistert, ist ihre Wirkung. Kultfiguren seien die Lautenisten gewesen. Mit ihrer komplexen Musik und der Verzierungskunst, die jede Aufführung zu einem unwiederholbaren Geschehen werden ließ, ergriffen sie ihre Zuhörer so stark, dass diese göttliche Visionen hatten. In Wittenberg stellt Lislevand Lautenmusik von der Renaissance bis zum Barock vor, spielt mit dem Gambisten Lorenz Duftschmid und gibt in einem Workshop sein Wissen zur Lautenliteratur und zur historischen Spielpraxis weiter. Wittenberg, verschiedene Spielorte, www.wittenberger-renaissancemusik.de

26. November

HALLE MARÍA DE BUENOS AIRES „Sie Idiot! Das ist Piazzolla“, soll Nadia Boulanger 1954 ausgerufen haben. Nach vielen unangenehmen Fragen hatte sich Astor Piazzolla endlich durchgerungen und der berühmten französischen Pädagogin einen Tango vorgespielt. 18 Monate studierte er danach bei ihr in Paris. Sie lehrte ihn, an sich zu glauben: „Es war die Befreiung vom verschämten Tangospieler zu einem selbstbewussten Komponisten.“ So wurde er nicht nur zum Schöpfer des Tango Nuevo, sondern schrieb auch für Pina Bauschs Tanztheater und komponierte 1968 mit dem uruguayischen Lyriker Horacio Ferrer eine TangoOperíta. María de Buenos Aires, betitelt nach der Stadtheiligen, ist eine Liebeserklärung, die in 16 Bildern um das Leben, Sterben und Wiedergeboren-Werden von Buenos Aires kreist. Tangos, Milongas und Canyengue sind zu hören. Zum 25. Todestag Piazzollas kommt sie in Halle auf die Bühne. Es dirigiert Christopher Sprenger. Halle, Oper, 26.11. (Premiere), sowie 2., 10. und 31.12., www.buehnen-halle.de

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E R L E B E N

19. bis 22. Oktober, Donaueschingen

Margaret Leng Tan

F OTO: Y VO N N E TA N

„EIN LABOR DES DENKENS“ Margaret Leng Tan ist die Doyenne des Avantgarde-Pianos. Eine „Zauberin am Klavier“ nennt sie der amerikanische Komponist George Crumb. So vollkommen vertraut sei sie mit der ungewöhnlichen Klangpalette und den Spieltechniken, die er für seine Werke verlange. Ihre virtuose Aufführung von Crumbs Metamorphoses, Book I verursachte einen Furor. Der 87-jährige Komponist hatte den zehnteiligen Zyklus für sie komponiert. Wie Mussorgskys Bilder einer Ausstellung verwandelt er Kunstwerke in Musik. Von den schimmernden Gesten in Paul Klees „Der Goldfisch“ über die Melancholie in van Goghs „Kornfeld mit Krähen“ bis zur galoppierenden Explosivität von Kandinskys „Blauem Reiter“

1. November

FEUCHTWANGEN DAS MARIENLEBEN Der starke Eindruck, den sein Marienleben auf die Zuschauer machte, habe ihm zum ersten Mal in seinem Dasein die moralischen Verpflichtungen des Musikers zum Bewusstsein gebracht, bekannte Paul Hindemith. 1923/24 vertonte er den Gedichtzyklus von Rainer Maria Rilke und empfand seine Arbeit selbst als gelungen. Für die Sopranistin Christiane Karg, die den Zyklus mit Liese Klahn am Klavier vorträgt, steht er „zwischen den Musiktraditionen“, auch der geistlichen Musik und der Musik-Avantgarde. Als Rezitator wirkt Max von Pufendorf mit. Feuchtwangen, Kirche St. Ulrich und Afra, www.kunstklang-feuchtwangen.de

24. und 25. November

BERLIN DEUTSCHES SYMPHONIE ORCHESTER Am 11. März 2011 erfasste ein Tsunami die nordöstliche Küste Japans. Tausende Menschen starben, und das Alltagsleben zahlloser Japaner wurde zerstört. Kurz darauf explodierten die Fukushima-Atomanlagen. Bis heute leiden viele unter den Folgen der radioaktiven Strahlung. Seither widmete Toshio Hosokawa eine Reihe seiner Kompositionen den Opfern der Katastrophe. Das Orchesterstück Meditation entwickelt sich in sechs Teilen von einer Meditation zu einem stillen Lied der Klage, während sich im Hintergrund das Grollen des Tsunami ankündigt. Das DSO Berlin unter Robin Ticciati bringt die Komposition zusammen mit Mahlers Dritter Sinfonie zur Aufführung. Berlin, Philharmonie, www.dso-berlin.de

20. Oktober

BREMEN ARTEMIS QUARTETT Zum Auftakt ihrer Residenz in der Glocke erzählen die Mitglieder des Artemis Quartetts von ihrer langjährigen Konzerttätigkeit. Moderiert von Andrea Thilo, geben sie Einblicke in ihre Zusammenarbeit mit Kollegen und Komponisten, die für das Quartett Stücke geschrieben haben. 1989 wurde das in Berlin ansässige Quartett an der Musikhochschule Lübeck gegründet. Mit den Violinistinnen

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erstreckt sich das emotionale Spektrum. In Donaueschingen bringt Leng Tan den Zyklus erneut zur Aufführung. 20 Uraufführungen an drei Tagen, dazu Installationen und Diskussionen hat sich das älteste Festival für zeitgenössische Musik weltweit vorgenommen. Geladen ist auch Adam Szymczyk, der Kurator der aktuellen documenta. „Es ist unglaublich wichtig, mal einen Filmregisseur oder einen Kunstkurator ins Konzert zu nehmen und alles aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten“, erläutert Festivalchef Björn Gottstein. „Donaueschingen soll nicht nur ein Labor der Klänge, sondern auch ein Labor des Denkens sein.“ Donaueschingen, verschiedene Spielorte, www.swr.de/swr-classic/donaueschingermusiktage

Vineta Sareika und Anthea Kreston, dem Bratschisten Gregor Sigl und dem Cellisten Eckart Runge zählt es zu den weltweit führenden Quartettformationen. Doch gab es auf dem langen Weg auch dramatische Ereignisse, die die Musiker an ihre Grenzen brachten. Musikalisch umrahmt wird das Bühnengespräch von Schumann und Beethoven. Bremen, Die Glocke, www.philharmonische-gesellschaft-bremen.de

19. Oktober

ARTE CONCERT DON CARLOS Er wolle das Familiendrama offenlegen und eine private Perspektive zu dieser großen politischen Welt finden, erläutert Krzysztof Warlikowski sein Regiekonzept von Verdis Don Carlos. Entschieden hat er sich daher für die fünfstündige Erstfassung in französischer Sprache. Für den Dirigenten Philippe Jordan bedeute dies die Herausforderung, eine französische Vision der Musik dieser Oper zu schaffen, die jeder in italienischer Sprache kenne. Am 10. Oktober setzt Warlikowski das Werk mit Jonas Kaufmann (Foto) in der Titelrolle, Elīna Garanča als La princesse Eboli und Sonya Yoncheva als Élisabeth de Valois an der Opéra national de Paris in Szene. Der Fernsehsender Arte überträgt die Aufführung vom 19. Oktober live auf Arte Concert. 13 Opernproduktionen aus acht Ländern bietet Arte Concert in diesem Herbst. Arte Concert, www.arte.tv

26. Oktober bis 6. November KASSELER MUSIKTAGE

Sein Vater habe das Instrument Hang im Internet entdeckt, erzählt Manu Delago. Aber er sei es gewesen, der immer mehr darauf gespielt hat. Es sei für ihn eine Vereinigung aller Instrumente gewesen, die er damals gespielt habe – Percussion, Marimba, Klavier. Das Hang wurde erst 2000 in Bern erfunden. Der studierte Schlagzeuger Manu Delago komponiert mittlerweile auch für das Instrument. Mit seinem Concerto grosso für Hang und Streichorchester eröffnen die Musiktage unter dem Motto „Was wagst du?“. Eine Überraschung verspricht das Konzert Delagos mit dem Cellisten Matthew Barley und dem Mandolinspieler Avi Avital. Die drei Musiker, die aus unterschiedlichen Traditionen kommen, erarbeiten ihren Auftritt vor Ort und schaffen aus ihren jeweiligen musikalischen Erfahrungen ein gemeinsames Konzert. Kassel, verschiedene Spielorte, www.kasseler-musiktage.de www.crescendo.de

Ok tober – November 2017


31. Oktober bis 8. April, München

DIE FILMMUSIK-LEGENDE

MIT ORCHESTER UND CHOR

DIE TRIBUTE VON PANEM

WO SIE ZU MY GIRL PHANTASTISCHE TIERWESEN UND FINDEN SIND

BATMAN BEGINS THE DARK KNIGHT

AUF DER FLUCHT WATERWORLD

PRETTY WOMAN

HERR DER GEZEITEN

MALEFICENT KING KONG THE SIXTH SENSE

JAMESNEWTONHOWARD.COM

Gabriele Münter: Selbstbildnis 1908/09 (Ausschnitt)

Sie sei die Begleiterin eines Genies in der entscheidenden Phase seines Lebens gewesen, heißt es über Gabriele Münter. Diese biografische Einengung auf ihre Beziehung zu Kandinsky behinderte lange Zeit die Rezeption ihres eigenen Schaffens. Die von Isabelle Jansen und Matthias Mühling kuratierte Ausstellung will zeigen, dass ihr Werk facettenreicher, fantasievoller und stilistisch breiter ist. Münter, 1877 in Berlin geboren, zählte laut ihrem späteren Lebensgefährten Johannes Eichner zu den „Wegbereitern der modernen Kunst“. Tatsächlich bestärkte Kandinsky sie in ihrer Arbeit: „Wie sehr möchte ich, dass du arbeitest und dass deine Sachen mit jedem Mal großartiger werden.“ In ihrem Landhaus in Murnau malten beide um die Wette. Sie fand den Durchbruch zu einer spontanen Malerei aus Umrisslinie und flächenhaftem Farbeinsatz. „Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht“, schrieb sie, „vom Naturabmalen zum Fühlen eines Inhalts – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extrakts.“ Die Trennung von Kandinsky warf sie in eine tiefe Krise. Sie suchte nach künstlerischen Neuansätzen. Nach ihrer Isolation durch den Nationalsozialismus galt sie geradezu als Neuentdeckung. Als sie 1962 in Murnau starb, erbte die Stadt München ihr Werk. Aus diesem Nachlass gibt es 140 zum Großteil noch nie gezeigte Gemälde zu sehen. München, Städtische Galerie im Lenbachhaus, www.lenbachhaus.de

F OTO: P R I N C E TO N U N I V E R S IT Y A RT M U S EU M /A RT R ES O U RC E N Y/ SC A L A , F LO R E N C E

F OTO S: DA R I O ACO S TA ; A . T. SC H A E F E R ; H A M B U RG E R K A M M E R M U S I K F ES T; B I RG IT M E I X N E R ; TH O M A S E B E R L / EC M R ECO R D S ; TO D D RO S E N B E RG ; TH I LO B EU; K A I B I E N E RT; K K / M A N U D E L AG O; G I S E L A SC H E N K E R ; F E L I X B RO E D E; G R EG O R H O H E N B E RG

„FÜHLEN EINES INHALTS“

21.11.2017 BERLIN TEMPODROM 20:00 UHR 22.11.2017 MÜNCHEN PHILHARMONIE 20:00 UHR 23.11.2017 MANNHEIM ROSENGARTEN 20:00 UHR 25.11.2017 WIEN WIENER STADTHALLE - HALLE F 20:00 UHR 29.11.2017 HAMBURG ELBPHILHARMONIE 15:30 UHR / AUSVERKAUFT 29.11.2017 HAMBURG ELBPHILHARMONIE 20:00 UHR / AUSVERKAUFT 30.11.2017 DÜSSELDORF MITSUBISHI ELECTRIC HALLE 20:00 UHR 01.12.2017 FRANKFURT AM MAIN JAHRHUNDERTHALLE 20:00 UHR

Kammermusikfest Volks.Lied.Bearbeitungen Inspiriert von Schottischen Liedern op. 108 —

19.–28. Januar 2018

Tabea Zimmermann

Künstlerische Leitung

beethoven.de/woche 79


E R L E B E N

Der österreichische Film „Licht“ erzählt die Geschichte einer blinden Pianistin.

FILME ÄNDERN IHR LEBEN! Bei der diesjährigen Viennale in der österreichischen Landeshauptstadt kommt eine gesellschaftsrelevante Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilmen aus aller Welt auf die Leinwände. VON ALEX ANDER R APP

Filmfeste sind elitäre Veranstaltungen bei denen sich die Filmin- aus allen Teilen der Erde. Die Spielfilme behandeln vorwiegend indidustrie selbst feiert? Die Viennale ist anders. Das Festival mit sei- viduelle und innerfamiliäre Themen, wie der österreichische Film nen fünf Spielstätten in der Wiener Innenstadt soll ein Treffpunkt „Licht“, der die wahre Geschichte einer erblindeten Meisterpianistin für die filminteressierte Öffentlichkeit sein. Das Programm kom- des 18. Jahrhunderts erzählt oder der japanische Krimi „Sandome no biniert große Produktionen mit Independentfilmen, experimen- satsujin“, der dazu anregt, über Begriffe wie Opfer, Täter und Schuld tellem Kino und Kurzfilmen und schafft damit nach eigener Aus- nachzudenken. Die Dokumentarfilme beleuchten kommunale und sage „eine filmische Entdeckungsreise durch das Kino der Welt“. überregionale Probleme wie die Polizeigewalt in den USA oder die Besonderen Raum bekommen dabei auch Dokumentarfilme. Verzweiflung und Hoffnung der Menschen im Westjordanland. Als Franz Schwartz, der künstlerische Leiter der Viennale, ist über- Stargast wird Christoph Waltz erwartet. Die Viennale zeigt eine zeugt: „Film hat immer eine politische Dimension. Selbst der umfassende Filmschau des zweifachen Oscar-Preisträgers, bei der Unterhaltungsfilm nimmt Einfluss auf das Leben, die Befindlich- neben seinen Hollywooderfolgen auch ältere Produktionen aus keit und das Denken der Menschen. Die Viennale beachtet bei der Deutschland und Österreich auf die Leinwand kommen. Neben dem Hauptprogramm werden Filme zu facettenreichen Filmauswahl formale und inhaltliche Aspekte, die sozial- und kulturpolitisch relevant sind. Das gilt für Spiel- und Dokumentar- Spezialprogrammen verklammert. Unter dem Titel „Napoli! Napoli!“ laufen Filme, die seit Ende der 1980er Jahre das Neue Neafilme in gleichem Maße.“ Durch die Vielfalt der gezeigten Filme werden spannende politanische Kino begründet haben. Sie richten einen kritischen Bezüge deutlich, wenn etwa im Dokumentarfilm „Readers“ von und unbefangenen Blick auf die komplexe Lebensrealität der süditaJames Benning vier Menschen in einer jeweils 27-minütigen Einstel- lienischen Großstadt. Ein ganz anderes soziales Milieu erforscht das lung beim Lesen beobachtet werden und dann der Film „Ramiro“ Programm „Duell im Osten“, das aus einer Werkschau der Berliner des portugiesischen Regisseurs Manuel Mozos von einem Lissaboner Regisseurin Valeska Grisebach besteht, ergänzt durch drei Filme, Dichter erzählt, der ein Antiquariat eröffnet und darüber seine eige- die diese ausgewählt hat. Ihr gefeierter Film „Western“ über einen Trupp deutscher Bauarbeiter in Bulgarien nen Worte verliert. Zwei Hommagen an das VIENNALE 19.10. bis 2.11. kommt hier ebenso auf die Leinwand wie geschriebene Wort, das die Kraft hat, die MenInformationen und Kartenservice: „Lásky jedné plavovlásky“, eine kritische tscheschen zu verändern. Das Hauptprogramm der Tel.: +43-(0)1-526 59 47 chische Liebeskomödie von 1965, deren RegisViennale bietet ein breites Spektrum an Filmen office@viennale.at | www.viennale.at 80

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GROSSE KÜNSTLER, GROSSES KONZERT

F OTO S: V I E N N A L E

ECHO KLASSIK-Preisträger stellen sich beim Benefizkonzert „Klassik:XL“ im Hamburger „Michel“ vor.

Oben: Christoph Waltz in „Du bist nicht allein – die Roy Black Story“; unten: Der Film „Barbara“ von Mathieu Amalric

Eva van Grinsven (mit Saxofon), Cora Irsen, Leo van Doeselaar und Christoph Schoener (unten)

Ende Oktober ist ganz Hamburg im ECHO KLASSIK-Rausch. Doch in den kurzen musikalischen Kostproben zwischen den Laudationes am eigentlichen Gala-Abend bleibt kaum Zeit, die Künstler näher kennenzulernen. Deshalb hat sich CLASS, der Verband unabhängiger Klassiklabels und Klassikvertriebe, für den 28. Oktober, den Vorabend der Preisverleihung, etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Bereits zum fünften Mal wird abseits des Fernsehrummels in dem Klassik:XL-Benefizkonzert das gewaltige Spektrum von ECHO KLASSIK-Preisträgern präsentiert – dieses Jahr mit stattlichen neun unterschiedlichen Programmen! Mit dabei ist beispielsweise Gambist Thomas Fritzsch, der in Sherlock-Holmes-Manier Telemanns verschollen geglaubte zwölf Fantasien für Viola da Gamba aufgespürt und einstudiert hat. Repertoire-Entdeckungen sind auch von Pianist Thomas Günther zu hören, der sich dem Klavierwerk russischer Komponisten annimmt oder von Cora Irsen, die die Werke der französischen Pianistin, Komponistin und Pädagogin Marie Jaëll zum Leben erweckt. Die Instrumenten- und Besetzungsvielfalt reicht vom Saxophonduo Eva van Grinsven/Lars Niederstrasser über das dogma chamber orchestra und den norwegischen Geiger Henning Kraggerud bis zu den Organisten Christoph Schoener, Leo van Doeselaar und Harald Vogel, die die vier Orgeln zum Klingen bringen. Denn das Konzert findet in Hamburgs legendärer Hauptkirche Sankt Michaelis statt, dem „Michel“ also, der mit seinem über 130 Meter hohen Turm ein Wahrzeichen der Hansestadt ist. Maria Goeth ■ KLASSIK:XL BENEFIZKONZERT 28. Oktober

Informationen und Kartenservice: Tel.: +49-(0)40-45 58 02 | ww.konzertkassegerdes.de

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F OTO S : M A RCO B O RGG R E V E; G U I DO W E R N E R ; S A R A H W I JZE N B E E K ; M I C H A E L Z A P F

seur Miloš Forman später für „Einer flog übers Kuckucksnest“ und „Amadeus“ mit Oscars ausgezeichnet wurde. Die österreichische Kino-Pionierin Carmen Cartellieri wird mit einer umfassenden Werkschau gewürdigt. Sie war in den frühen 1920er Jahren eine der bekanntesten Schauspielerinnen Wiens. Gezeigt wird eine Reihe von Filmen, die erst kürzlich vom Filmarchiv Austria wiederentdeckt und restauriert wurden. Die Viennale bietet immer auch eine historische Retrospektive. In diesem Jahr nimmt diese die Oktoberrevolution vor 100 Jahren zum Anlass, das sowjetische Kino von 1926–1940 und 1956– 1977 zu präsentieren. Der Titel „Utopie und Korrektur“ setzt den Ton für diese historisch wichtigen Phasen der sowjetischen Geschichte und das Filmschaffen in dieser Zeit. Die Viennale besteht, seit einige österreichische Filmjournalisten 1960 aus Frust über das niedrige Niveau der heimischen Filmkultur eine „Internationale Festwoche der interessantesten Filme des Jahres 1959“ veranstaltet haben. Das Format des Festivals hat sich über die Jahrzehnte weiterentwickelt, das Ziel blieb jedoch immer, dem Publikum eine breite Übersicht mit einem Fokus auf hohe künstlerische Qualität zu bieten. „Gemeinsam mit dem erfahrenen Team der Viennale werden wir dafür sorgen, dass es ein Festival wird, wie Hans Hurch es erdacht und 20 Jahre lang geprägt hat“, sagt der künstlerische Leiter Franz Schwartz, ehemaliger Leiter des Stadtkinos Wien, der die Leitung der Viennale nach dem plötzlichen Tod von Hans Hurch im Juli diesen Jahres kommissarisch übernommen hat. Hans Hurch hat das Programm der Viennale in den letzten 20 Jahren gestärkt und mit einer Aufwertung des Dokumentarfilms noch verbreitert. Eine Hommage im Spezialprogramm des Festivals macht dieses Erbe erfahrbar: 14 Filme wurden von Filmschaffenden ausgewählt, denen Hurch besonders verbunden war, darunter Tilda Swinton und Kameramann Ed Lachmann. Neben ca. 200 Filmen, die in den 14 Tagen des Festivals gezeigt werden, bietet die Viennale auch ein vielseitiges Rahmenprogramm mit Vorträgen, Diskussionen, Ausstellungen und Konzerten. ■


F OTO: N EU E S TI M M E N

E R L E B E N

Strahlende Gesichter bei der Ergebnisbekanntgabe „Neue Stimmen“

NACHWUCHS-SPRUNGBRETT Beim Wettbewerb „Neue Stimmen“ in Gütersloh kommen alle zwei Jahre die vielversprechendsten Gesangstalente aus der ganzen Welt zusammen. VON MARIA GOETH Samtweich tupft eine Sopranistin ihre Spitzentöne in die vor Span- Nachwuchsmangel kann heute also kaum mehr die Rede sein. Glonung elektrisierte Luft. Ihre Stimme hat diese warme, betörende balisierung und Digitalisierung hätten auch den internationalen Farbe, die einem eine Ameisenstraße aus wohligen Schauern über Opernmarkt beeinflusst, beobachtet Mohn, so seien in den letzten den Nacken trippeln lässt. Es ist Semifinale des internationalen Jahren die Teilnehmerzahlen rapide in die Höhe geschnellt. „Neue Stimmen“ kann sich mit etlichen klangvollen Namen Gesangswettbewerbs „Neue Stimmen“ im nordrheinwestfälischen Gütersloh. Um hierherzukommen, mussten sich die Kandidaten schmücken: Die Karrieren von Christiane Karg, Michael Volle oder durch harte Vorrunden beißen – an weltweit 24 Orten von New York René Pape nahmen hier ebenso ihren Ursprung wie die von Franco bis Kiew, von Kapstadt bis Schanghai. Von rund 1.500 jungen Sän- Fagioli oder Vesselina Kasarova. Doch Liz Mohn verfolgt auch die gerinnen und Sängern – die Altersgrenze liegt bei den Damen bei 28, Karrieren derjenigen Endrundenteilnehmer weiter, die keinen Weltbei den Herren bei 30 Jahren – gelingt gerade mal 42 der Sprung in ruhm erlangen: „Andere machen gerade an unseren heimischen die Endrunden. Fünf Arien aus verschiedenen Epochen haben sie im Stadttheatern großartige Karrieren, auch das ist nicht hoch genug Gepäck. Bei Erfolg winkt ein Preisgeld zwischen 5.000 Euro (3. Preis) einzuschätzen.“ Und natürlich sei es auch legitim, wenn sich einzelne Teilnehmer gegen eine Solokarriere entscheiden würden: „Sie und 15.000 Euro (1. Preis) und einiges mehr … Doch zurück zum Anfang: 1985 traf Liz Mohn – Aufsichtsrats- gründen Familien und üben mit großem Erfolg, Engagement und mitglied von Bertelsmann, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stif- Zufriedenheit Berufe aus, die sie dank ihrer Gesangsausbildung und tung und Witwe des Unternehmers Reinhard Mohn – auf Herbert der dabei erlernten Disziplin meistern können.“ „Nachhaltigkeit“ hält Liz Mohn für das Zauberwort und für den von Karajan. Immer wieder diskutierte sie mit ihm über den Mangel an Förderung des Operngesangs und den Nachwuchsmangel in Unterschied zu vielen anderen Wettbewerben. Nicht nur würden die Deutschland. Zwei Jahre später, also vor genau 30 Jahren, gründete Finalisten sozusagen „akut“ auf dem globalen Markt sichtbar: So gibt sie daraufhin den Wettbewerb „Neue Stimmen“ – zunächst tatkräf- es neben den in den Endrunden präsenten Agenten und Vertretern tig unterstützt durch August Everding, den damaligen Intendanten von Opernhäusern und Presse auch Livestreams und alle Konzertder Bayerischen Staatsoper. Bis heute ist Liz Mohn an allen Tagen arien bei Youtube. Das „Neue Stimmen“-Team begleite die Talente der Endrunden vor Ort. Dabei freut es sie besonders, wenn im auch langfristig: Durch Meisterkurse, Konzerte und Seminare und Laufe des Wettbewerbs – trotz Konkurrenz – über alle nationalen vor allem eine Vielzahl von Projektpartnern in einem internationaund kulturellen Grenzen hinaus Freundschaften zwischen den Sän- len Netzwerk. Der Kontakt bestehe oft über viele Jahre. Und wie sieht er nun aus, der perfekte Sänger? Für Liz Mohn gerinnen und Sängern entstehen. Wenn in der Stadthalle Gütersloh selbst die Waschräume noch von Musik der probenden Nachwuchs- geht es nicht allein um eine schöne Stimme, denn gut ausgebiltalente widerhallen, ein bunter Sprachmix durch die Gänge schallt. det seien alle Teilnehmer. „Vielmehr ist es das Zusammenspiel von Stimme, Persönlichkeit und Bühnenpräsenz mit „Nirgendwo ist die verbindende Kraft der Musik einer physischen und psychischen Kraft, das so unmittelbar zu spüren“, begeistert sich Mohn. WETTBEWERB NEUE STIMMEN Voraussetzung für den internationalen Erfolg ist.“ Dieses Jahr bewarben sich Sänger aus 76 NatiGÜTERSLOH Per Livestream auf der Webseite der onen. Erstmals haben sich beispielsweise eine 8. bis 14. Oktober „Neuen Stimmen“ wird das Semi- und Finale Sopranistin aus Thailand und ein Bass-Bariton Infos: Tel. +49-(0)5241-818 11 71 www.neue-stimmen.de weltweit übertragen werden. aus Swasiland für die Endrunde qualifiziert. Von ■ 82

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SCHWERPUNKT FIGURENTHEATER Chinesische Stockpuppen und Strawinskys Ballerina – eine kleine Geschichte des Figurentheaters (Seite 86) Bunraku: Puppen-Erzählkunst aus Japan (Seite 102)

Alles Puppe oder was? VON STEFAN SELL

Marionettentheater am Hofe Esterháza

Augsburger Puppenkiste

Die Muppet Show

In Zahlen

Im „Geographisch-Historischen und Produkten-Lexikon von Ungarn“ steht: „Die Figuren sind mathematisch verhältnismäßig mit dem Theater, welches 36 Mal plötzlich verändert werden kann.“ Sein Begründer Pauerspach „hat über 20 Jahre darüber gedacht“ und es 1772 für 300 Dukaten dem Fürsten verkauft, Pauerspach aber „sollte es selbst Jahr und Tag dirigieren“.

In 70 Jahren sind 150 Produktionen entstanden, die es jährlich auf 400 Aufführungen bringen. Walter Oehmichen, ihr Erfinder, ließ den Gestiefelten Kater die Kiste am 26.2.1948 zum ersten Mal öffnen, fünf Jahre später waren die Puppen bereits im Fernsehen. Um etwa drei Minuten für den Bildschirm zu produzieren, benötigte das Team oft einen ganzen Tag.

1955 hatten Jim Henson’s Muppets TV-Premiere. Jeweils fünf Minuten durften „Sam & Friends“, wie sie damals hießen, agieren. 1969 kam der Erfolg mit der „Sesamstraße“. Hier konnten nicht nur junge Zuschauer mit Graf Zahl zählen lernen und Schlemihl Zahlen verkaufen sehen. Die Muppet Show startete 1976 in den USA, 1977 in Deutschland; 120 Folgen wurden es.

Mit Musik

Philemon & Baucis war nicht nur Haydns erste Marionettenoper, sondern auch die erste am Hofe Esterháza (1773). Die Ouvertüre gefiel Haydn so gut, dass er daraus seine 50. Sinfonie schuf. Auch die Gluck-Arie Che puro ciel, die Gluck selbst schon zweimal verarbeitet hatte, muss ihm gefallen haben, klingt doch Wenn am weiten Firmamente verblüffend ähnlich.

Die TV-Premiere war musikalisch: Peter und der Wolf. Jim Knopfs Lummerland-Lied erlangte im Techno-Remix der „Dolls United“ Mitte der 1990er-Jahre Platin-Status. Die Insel mit zwei Bergen wurde ein Hit. In diesem Jahr tanzen die Puppen in einem Video zur Musik von Kultstar und Western-Fan Bela B. („Die Ärzte“), Titel: Einer bleibt liegen.

Den Schlager Ich brauche keine Millionen komponierte Peter Kreuder 1939 für den Film „Hallo Janine“. Dieser Slogan hat offen hörbar die Muppets-Macher verführt, die Melodie ohne Tantiemenzahlung für ihre Eingangsmusik zu übernehmen. Kreuders Frau Inge sagte später: „Wir hätten Millionen gebraucht, gegen die zu klagen, und die hatten wir nicht.“

Mit Auszeichnung

Fahrende Schauspieler aus Italien, fixe Aufführungen in Paris und London – das Marionettentheater war im 18. Jahrhundert sehr beliebt. Pauerspachs Puppenkiste, die neben Haydn auch Werke von d’Ordonez und Pleyel spielte, verlieh Kaiserin Maria Theresia persönlich ihr Gütesiegel: „Wenn ich eine gute Oper hören will, gehe ich nach Eszterház!“

2004 bekamen die Augsburger die Goldene Kamera, doch im fast wörtlichen Sinne ausgezeichnet sind sie seit August dieses Jahres. Unter dem der Wohltätigkeit dienenden Motto „Für die Jugend“ zieren sie drei Briefmarken: Urmel aus dem Eis schmückt den Standardbrief, der Kleine König Kalle Wirsch den Kompaktbrief und Kater Mikesch den Großbrief.

Kermit der Frosch wurde 1996 vom Southampton College zum Ehrendoktor ernannt. Miss Piggy erfuhr vor zwei Jahren durch den „Sackler Center First Award“ eine Ehrung für feministische Kunst, einen Preis, den das Brooklyn Museum auch schon an Jessye Norman verliehen hat, weil sie als „außergewöhnliche Frauen, Vorreiterin auf ihrem Gebiet sind“.

F OTO S: M A R I O N E T TE N TH E ATE R A M H O F E ES TE R H Á Z A ; AU G S B U RG E R P U P P E N K I S TE

Figuren theater

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F I G U R E N T H E A T E R

Figuren theater

DIE MACHT DER PUPPE Sie kommen als klumpfüßige Giganten daher oder als filigrane, detailverliebte Meisterwerke, huschen als Schatten über Leinwände oder schälen sich aus dem Wasser: Puppen, Marionetten und andere Formen von Figuren. Ganz besonders gerne vebinden sie sich mit Musik.

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F OTO: H OTE L M O D E R N


F I G U R E N T H E A T E R

KLEINE WESEN, GROSSE GEFÜHLE Vom antiken Griechenland über das mittelalterliche China bis zur modernen Marionettenfassung von Wagners Ring: Puppen gab es offenbar zu jeder Zeit an jedem Ort – und oft in Rollen, die alles andere als auf Kinder abgestimmt sind. VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL

Der Mozart im Prager Marionettentheater gehört ebenso zur langen Tradition des Puppenspiels wie das chinesische Schattenspiel. Letzteres hier in einer aktuellen Produktion der Truppe Le Théâtre des Ombres (www.theatredesombres.com)

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a springt er leibhaftig auf die Bühne des kleinen ArtDéco-Theaters: Wolfgang Amadeus Mozart, fast in Lebensgröße im barocken Jabot-Hemd und Weste. Chaotisch fuchtelt er herum mit verrutschter Perücke, prüft die einzelnen Stimmen, die aus der Lautsprecherbox kommen, schüttelt resigniert den Kopf und verbeugt sich vor dem Publikum: Die Ouvertüre zum Don Giovanni soll nun beginnen – im Prager Nationaltheater für Marionetten. Die meisten Menschen halten Marionetten für Kinderkram oder Kasperletheater, erinnern sich bestenfalls an Kater Mikesch, Jim Knopf, vielleicht noch Pinocchio. Nur wenige wissen, dass bereits in der Antike die Menschen die Puppen tanzen ließen, vermutlich zuerst in Persien. Griechische Philosophen waren von den „sich selbst bewegenden Erscheinungen“ (Aristoteles) aus Ton, Holz, Elfenbein und Wachs fasziniert, Platon sah in der an Fäden gezogenen Puppe das Symbol für den Menschen in der Hand der Götter. In China liebte man seit der Tang-Dynastie (7. bis 10. Jahrhundert n. Chr.) alle Varianten des Puppentheaters: vom Stockpuppenspiel – der Puppenkopf sitzt auf einem starren Stock – über das Schattentheater bis hin zu Handpuppen. Nach Deutschland

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fanden die Puppen vermutlich durch römische Wanderkomödianten im Gefolge der römischen Heere. Fahrende Spielleute und Schauspieler gehörten ohnehin zum Bild mittelalterlicher Märkte. Im schwarzen Mantel und Hut mit Krempe traten sie selbst oder mit Puppen und einem kleinen Gehäuse auf, das im Spätmittelalter in Deutschland als „Himmelreich“ bezeichnet wurde. Die Stoffe, die sie boten, handelten von Archaischem und Mythischem wie Himmel und Hölle, Gut und Böse. Besonders beliebt wurde das Drama „vom erschröcklichen Erzzauberer Johannes Fausten, seinem Seelenhandel mit dem Teufel und seiner schließlichen Höllenfahrt“. 1587 erstmals literarisch dargestellt, avancierte es zum beliebtesten Puppenspiel und wird Goethe, der als Kind leidenschaftlich mit dem Marionettentheater spielte, Jahrhunderte später zu seinem Faust inspirieren. Zur gleichen Zeit im 16. Jahrhundert erlebt in Italien die Commedia dell’arte ihren Höhepunkt: Theater aus dem Stegreif, Liebes- und Verwechslungskomödien vom Feinsten, die das Hoftheater revolutionierten. Da die Dialoge schriftlich nicht fixiert wurden – tatsächlich war dies auch in den Zünften deutscher Wanderkomödianten so geregelt –, konnten die Komödianten www.crescendo.de

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Figuren theater

Im italienischen Stegreiftheater des 16. bis 18. Jahrhunderts, der Commedia dell’arte, gab es gerne Maskenträger und Puppen.

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Der Marionettenstoff um Doktor Faustus und seinen Teufelspakt inspirierte nicht nur Goethe, sondern ist bis heute ein beliebter Topos im Puppenspiel – hier in einer Produktion des Marionettentheaters Bille (www.marionettentheater-ush.de). Das Bayreuther „Operla“ widmet sich gerne Werken mit Bayreuth- und Wagnerbezug (www.operla.de)

ter zählte der Theaterbetrieb in Venedig Gesellschaftskritik üben, ohne gleich mit im späten 17. und 18. Jahrhundert, die alle Zensur rechnen zu müssen. Hinter Masken DIE MEISTEN MENSCHEN auf ihre Klientel zugeschnitten waren: San aus Leder oder Holz taten sie dies auch, sei HALTEN MARIONETTEN Moisè auf Opera buffa, San Luca und San es als „fantoccini“, also als Puppen, oder Angelo auf Opera seria. Und das Marionetals Menschen. In Monologen und PantoFÜR KINDERKRAM ODER tentheater, das Melodrama en miniature, mimen repräsentierten und karikierten KASPERLETHEATER fand im Casino des Abate Antonio Labia in sie alle sozialen Schichten. Von der koketder Pfarrei von San Girolamo de Cannareten Magd, die meist Columbina hieß, über gio statt. Meist imitierte man hier die große den opportunistischen Brighella und den Schelm Arlecchino, der kein Fettnäpfchen auslässt, bis hin zum Oper, die nebenan in „echt“ aufgeführt wurde. Ein Erlebnis für Groß geizigen und reichen Kaufmann Pantalone und dem Phrasen dre- und Klein, und kostenlos dazu. Denn Familie Labia sparte weder an schenden Dottore – in der Regel ein Jurist. Zwischen diesen Figu- Erfrischungen noch an üppigen Dekorationen oder an den prächtiren bewegten sich die jungen Liebenden (Amorosi), die sich nach gen Kostümen für die bis zu 1,5 Meter hohen Figuren aus Holz oder etlichen Komplikationen am Ende kriegen. Die Kostüme waren Wachs; die Inszenierungen folgten detailliert den Aufführungen der Opera seria, verfügten übrigens auch über eine ähnliche Theatermestandardisiert, das Publikum erkannte seine Helden sofort. Als im 17. Jahrhundert die Oper erfunden wurde, erlernten die chanik inklusive Schnürboden und Kulissenschub. Die Zwergenwelt Puppen bald auch das Singen. Es ist die Stunde des Filippo Acciai- faszinierte über die Grenzen hinaus: Adolf Hasse, seinerzeit an der uoli (1637–1700). Ab 1679 veranstaltete der Impresario, Librettist Dresdner Hofoper engagiert, ließ in San Girolamo 1746 seine Oper und Erfinder von Theatermaschinen und Tausendsassa die ersten Lo starnuto d’Ercole aufführen. Was nach erhabener Tragödie klingt, Marionetten-Opern in Venedig. 15 kleine und acht große Thea- war eine Posse für Jung und Alt: Das Niesen des Herkules eben. 87


F I G U R E N T H E A T E R

In Offenbachs Oper Les contes d’Hoffmann schöpft ein Physiker die bezaubernde, lebensgroße Puppe Olympia. Ihre Mechanik wird beim Walzertanzen schließlich gehörig durchgehen. In dieser Produktion der Volksoper Wien wird sie von Beate Ritter verkörpert

Am Teatro San Moisè in Venedig betrat 1746 ein damals Gepäck, als wollten sie sich dafür rächen, dass der Sonnenkönig 22-jähriger Altkastrat aus Padua die Bühne, der noch viel von sich sie 1697 aus Paris vertrieben hatte. „Punch’s theatre“ wurden sie in reden machen sollte: Gaetano Guadagni. 1762 übernahm er die England genannt. In Wien liebte man bereits im 17. Jahrhundert die Puppen. Titelpartie von Glucks Orfeo ed Euridice in der Uraufführung in Wien. Sein Gesang und die ergreifende Darstellung wurden allge- 1667 eröffnete der Italiener Peter Resonier das erste Marionettenmein bewundert. Im Alter kehrte er als wohlhabender Mann nach theater deutscher Sprache und sein Pulcinella-Spieler Jogis HilverPadua zurück und richtete in seinem Anwesen ein Marionetten- ding begründete eine regelrechte österreichische Puppenspielertheater ein. Bei freiem Eintritt konnte man ihn dort in der Rolle Dynastie. 100 Jahre später regierte Kaiserin Maria Theresia. „Wenn ich eine gute Oper hören will, komme seines Lebens hören, als Miniaturich nach Esterháza“, soll sie gesagt Orfeo aus Holz. Sänger und Orchester haben. Sie wusste, wovon sie sprach. standen hinter der Bühne. IN FRANKREICH VERBOT Bei Fürst Nikolaus I. Esterházy, den Wie die große Oper verbreiDER SONNENKÖNIG DIE man den „Prachtliebenden“ nannte, tete sich auch die Oper en miniature war finanziell nichts von Puppenforvon Italien aus über ganz Europa. In MARIONETTENPARODIEN mat. Das neue Marionettentheater, das Frankreich hatte man allerdings wenig VON OPERN er 1773 in Auftrag gab, war ausgestattet Humor. Die königliche Opéra in Paris mit einer fantastischen Wassergrotte, besaß das Privileg für alle Musiktheaderen Wände mit Diamanten und teraufführungen. Keiner wagte es, den Intendanten Jean-Baptiste Lully (1632–1687), der sich vom florenti- künstlichen Schnecken besetzt waren. Joseph Haydn, der in Diensnischen Müllersohn und Küchenjungen zu einem der mächtigsten ten des Fürsten stand, übernahm die Leitung. Eröffnet wurde es mit Männer am Hof von Ludwig XIV. in Paris hochgearbeitet hatte, zu seiner ersten Oper für Marionetten Philemon und Baucis, in Anweumgehen. Als ein Sänger der Opéra versuchte, 1675 Marionetten- senheit der Kaiserin. Das Werk gefiel Maria Theresia so gut, dass sie parodien von Lullys Opern herauszubringen, bekam er es gleich die ganze Marionettentruppe nach Schönbrunn einlud (das übrimit den Mächtigen zu tun. Das Unternehmen wurde vom Sonnen- gens seit 1994 über eine eigene Bühne verfügt). Haydn lieferte weikönig verboten. Dem Spott konnte Lully dennoch nicht entgehen. tere Werke für das Marionettentheater, darunter Hexenschabbas 40 Jahre nach seinem Tod waren seine Tragédies en musique sehr (1773), Die Feuersbrunst (1775–78), Genovevens vierter Theil (1777), beliebt bei Marionettenspielern auf den Pariser Jahrmärkten. Und Didone abbandonata (1778) und Die bestrafte Rachbegierde (1779). auch die italienischen fantoccino-Truppen, die nun in London auf- Und auch sein Schüler Ignaz Joseph Pleyel gab 1776 seine Mariotraten, hatten oft Satiren auf heroische französische Tragödien im nettenoper Die Fee Urgèle oder: Was den Damen gefällt hier heraus. 88

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Im vietnamesischen Wassertheater werden die Figuren an einer Stange durchs Nass geführt. Viele Komponisten schrieben speziell fürs Marionettentheater: hier Respighis Kammeroper Dornröschen an der Victorian Opera

Den intellektuellen Zeitgenossen der Aufklärung war das oft deftige, sinnliche Puppen-Volkstheater suspekt. Sie wünschten sich ein rationales bürgerliches Aufklärungstheater. Dennoch erkannten sie die erzieherische, gesellschaftliche und literarische Bedeutung des Puppentheaters. Großbürgerliche Familien hielten ihren Nachwuchs dazu an, im Marionetten- oder Papiertheater klassische Schauspiele oder berühmte Opern wie Carl Maria von Webers Freischütz nachzuspielen. Auch Goethe wird seinem Sohn August ein Figurentheater schenken mit selbst gemalten Dekorationen. Der eigentliche Kasper überlebte die Theaterreform der deutschen Aufklärung und Klassik vorerst nur in den Vorstadttheatern Wiens und auf der Puppenbühne. Und in Köln. 1802 eröffnete der Schneidergeselle Johann Christoph Winters das „Hänneschen“, das es bis heute noch gibt. Richtig populär wurde es mit den Stücken von Franz Graf von Pocci, den man „Kasperlgraf“ nannte. Die derbe hölzerne Komödie schien also für den mittleren biedermeierlichen Stand vorerst gerettet. Die Puppen selbst aber wurden zum symbolischen Topos deutscher Dichter, zum Leitmotiv der schwarzen Romantik, etwa bei Brentano, Novalis, Mörike, Tieck und vielen anderen. Fasziniert waren die Poeten von der Anmut, dem Geheimnis, der Dämonie eines sich mechanisch bewegenden Objekts, von der Vorstellung, als Mensch ihm Leben einhauchen zu können. Heinrich von Kleists Essay Über das Marionettentheater geht in die Theatergeschichte ein. E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann regte Jacques Offenbach zu seiner fantastischen Oper Les contes d’Hoffmann an, die 1881 in der Opéra-Comique Paris uraufgeführte wurde. Im Mittelpunkt: Olympia, eine lebensgroße, bezaubernd aussehende mechanische Puppe, die fast perfekte Schöpfung des Physikers Spalanzani. Nur

die Augen sind starr und tot. Spalanzani will die Puppe erwecken mithilfe eines optischen Geräts, das er beim mysteriösen Coppelius kauft. Hoffmanns Erzählung inspirierte auch Léo Delibes zu seinem Ballett Coppélia. In den 1920er-Jahren kehrten die Puppen selbst auf die Opernbühne zurück: Auf Anregung des Dichters Federico García Lorca, der leidenschaftlich mit Marionetten experimentierte, komponierte Manuel de Falla den Marionetten-Einakter El retablo de maese Pedro nach einer Episode aus Cervantes’ Don Quichotte (siehe auch S. 99). Das Werk wurde 1923 im Salon der Princesse de Polignac uraufgeführt, wo auch Picasso und Strawinsky verkehrten. Beim Komponieren seines Balletts Pétrouchka, sagte dieser, habe er das Bild einer Puppe vor Augen gehabt, die lebendig werde und am Ende traurig und kläglich zusammenbreche. Arthur Honegger komponierte Vérité? Mensonge? (1920) als Musik für ein Ballet de marionnettes. Ein Faible für Marionetten entwickelte auch Ottorino Respighi. Im Gegensatz zum Menschen empfand er sie als „die idealen Schauspieler“, weshalb er ihnen 1921 die Märchenoper La bella addormentata nel bosco komponierte. Auf Puppenbühnen ist das Werk heute allerdings kaum zu finden und auch nicht Saties Schattentheaterstück Geneviève de Brabant von 1900. Marionettentheater adaptieren lieber Singspiele von Mozart, Gluck, Rossini, Offenbach. Aber auch eine Ring-Kurzfassung gibt es. Zurück also zu unserem leidgeprüften Mozart in Prag, mehr noch, zu seinem noch leidgeprüfteren Puppenspieler, der am Spielkreuz die schwere Figur führen muss. Sein Leid wäre noch größer in Vietnam. Dort stehen die Spieler bis zur Hüfte im Wasser, um die Puppen mithilfe eines sehr langen Stocks unsichtbar unter Wasser zu führen. ■ 89


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Figuren theater

MODERNES FIGURENTHEATER

Puppen liegen voll im Trend und bevölkern die Opern- und Theaterbühnen. Trotzdem haben die „Marionettenfädensortierer“ noch immer ein Imageproblem. Ein Gespräch mit Annette Dabs, der Leiterin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst.

In Annette Dabs performativem Konzert Moondog entpuppt sich ein vermeintlicher Berg als Riesenhund

crescendo: Frau Dabs, Sie sind seit 20 Jahren Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp). Wie kam es dazu? Annette Dabs: Das passierte ganz überraschend: Es kam ein Anruf mit dem Angebot, diesen Posten zu übernehmen. Ich hatte zuvor Musiktheaterregie studiert, bin dann zum Schauspiel gewechselt, wo ich unter anderem bei Peter Zadek gelernt habe und selbst inszenierte. Insofern war ich mit dem Thema Figurentheater überhaupt nicht vertraut und habe zunächst so reagiert, wie es die meisten meiner Kollegen tun würden: „Was soll ich denn mit Puppen?“ Dann bin ich aber doch neugierig geworden und habe schnell gemerkt, was es da für einen Schatz zu heben gilt und wie groß das Potenzial ist. Welches Ansehen hatte das Figurentheater bei Ihrem Amtsantritt? Kein besonders positives, obwohl meine Vorgängerin – wie auch viele andere Kollegen in der Szene – gute Arbeit geleistet hatte. Insgesamt war Figurentheater immer noch ein Synonym für Kinderbespaßung. Selbst bei einer Sitzung im Deutschen Kulturrat wurde 90

ich damals gefragt, womit ich mich den ganzen Tag beschäftigen und ob ich die Länge der Fäden von Marionetten zählen würde. Was hat sich seither getan? Enorm viel – auch weil wir uns mit dem dfp dafür eingesetzt haben, das Figurentheater hierzulande zu stärken und sein Image zu verändern. Mittlerweile ist alles möglich – von traditionellen Institutionen wie der Augsburger Puppenkiste bis zu Spielern und Ensembles, die experimentell mit Objekten und Materialien arbeiten. Vor allem im Moment ist die Entwicklung ganz rasant, weil sich mit den digitalen Medien eine weitere Dimension eröffnet hat. Alle zwei Jahre veranstalten Sie in Bochum, Essen, Hattingen und Herne das internationale Festival FIDENA – Figurentheater der Nationen. Ein weiteres wichtiges Forum für außergewöhnliche neue Produktionen ist das Internationale FigurentheaterFestival Erlangen, Nürnberg, Fürth und Schwabach. Wo kann man abgesehen davon Einblick in die aktuelle Szene bekommen? An interessanten Stücken herrscht bei uns kein Mangel. Dank zweier Studiengänge – Figurentheater an der HMDK Stuttgart www.crescendo.de

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und zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch in Berlin – werden junge Talente ausgebildet, die nach ihrem Abschluss Fördermittel für neue Produktionen bekommen können. Was fehlt, sind Bespielbühnen. Außer dem FITZ! in Stuttgart, der Schaubude in Berlin und dem Lindenfels Westflügel in Leipzig gibt es kaum geeignete Orte für Aufführungen. Zu DDR-Zeiten war das Puppentheater als vierte Sparte fester Bestandteil an fast jedem Stadttheater im Osten. Davon ist leider nicht mehr viel übrig. Einziger Neuzuwachs ist das Theater in Koblenz, das seit der Spielzeit 2014/15 auch Puppentheater fest im Spielplan hat. Auf der anderen Seite sind Theaterstücke oder Opern en vogue, in die Puppen einbezogen werden, so im Sommer 2017 bei den Münchner Opernfestspielen Nikolaus Habjans Oberon. König der Elfen oder Lotte de Beers Inszenierung von Moses in Ägypten bei den Bregenzer Festspielen. Was halten Sie von dieser Tendenz? Wenn die Akteure kompetent sind, macht dieses Stilmittel Sinn und kann sehr eindrucksvoll sein. Sehr gelungen fand ich 2012 Barrie Koskys Orpheus, bei dem Frank Soehnle ein lebensgroßes Skelett durch die Szenerie führte und so inmitten der opulenten, sinnlichen Ausstattung den Tod anschaulich vor Augen führte. Ansonsten sind die Ergebnisse nicht immer befriedigend. Theater und Opernhäuser müssen einsehen, dass der Umgang mit Puppen gelernt sein will

DEUTSCHES FORUM FÜR FIGURENTHEATER UND PUPPENSPIELKUNST Annette Dabs ist Geschäftsführerin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp). Das dfp wurde 1950 gegründet und veranstaltet alle zwei Jahre das Festival FIDENA. Außerdem informiert es auf seiner Internetseite www.fidena.de mit Anlaufstellen und Einzelporträts über die bundesweite Szene, neue Stücke und Veranstaltungen; ein Onlinelexikon erklärt wichtige Begriffe und stellt die Protagonisten vor.

und Schauspieler oder Sänger das nicht automatisch können. Idealbesetzung sind Regisseure wie Suse Wächter oder Moritz Sostmann, die in beiden Welten zu Hause sind. Interessant ist, dass im Ausland, wo es keine Stadttheaterstruktur gibt wie bei uns, auf Festivals genauso gut Schauspiel wie Figurentheater gezeigt und keine Trennung zwischen den Genres gemacht wird. Worin liegt generell die Stärke des Figurentheaters? Es funktioniert in jeder Größe – von winzig mit Fingerpuppen bis riesengroß wie die mehrere Meter großen Marionetten der französischen Straßentheatertruppe Royal de Luxe. Besonders wirkungsvoll ist es auf der emotionalen Schiene; Puppen können sowohl unglaublich poetisch als auch extrem schaurig wirken. Außerdem ist die Fantasie des Publikums stark gefordert. Wenn auf der Bühne etwas belebt, „animiert“ wird, passiert die Animation eigentlich im Kopf des Zuschauers. Sehr viel profitiert das Figurentheater auch von der Öffnung zu den bildenden Künsten, wodurch sich noch mehr Techniken und Dimensionen erschließen. Letzteres gilt aber auch für Schauspiel und Oper, die immer häufiger Genregrenzen überschreiten. Insgesamt scheint sich das Figurentheater erfolgreich als eine Form der darstellenden Kunst etabliert zu haben. Sind bei Ihnen trotzdem noch Wünsche offen? Ich fände es wichtig, dass sich das Figurentheater mehr politisch einbringen und gesellschaftlich relevantere Themen aufgreifen würde. Dazu gehört für mich auch der verstärkte Einsatz von Sprache, mit der man Dinge leichter auf den Punkt bringen kann. Im Mai 2018 werden politische Stücke deshalb der Schwerpunkt unseres Festivals sein. Schön fände ich es auch, wenn es mehr Kooperationsmöglichkeiten mit Stadttheatern und Opernhäusern geben würde, die über ganz andere finanzielle und technische Möglichkeiten verfügen. Und zwar nicht, indem Puppen in Stücke integriert, sondern auf Augenhöhe eigenständige, hochqualitative Figurentheater-Produktionen entwickelt würden. Am Schauspielhaus Bochum konnte ich im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit Moondog inszenieren. Im Laufe dieses performativen Konzerts über den amerikanischen Musiker Louis Thomas Hardin, das in dieser Spielzeit wieder zu sehen ist, beginnt sich ein vermeintlicher Berg im Hintergrund der Bühne zu bewegen – ein gigantischer Hund, entworfen von der bildenden Künstlerin, Puppenspielerin und Ausstatterin Stefanie Oberhoff. ■ 91

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Mehr Klangfaszination


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Die besondere Führung des Spielkreuzes beim Salzburger Marionettentheater wurde 2016 in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen

Figuren theater

VON DER PUPPE GEKÜSST Es muss ein echter Pygmalion-Moment gewesen sein: 1913 hatte der Bildhauer Anton Aicher die Vision, dass seine Schöpfungen zum Leben erwachen. Seine beweglichen Figuren waren der Ursprung des Salzburger Marionettentheaters – und frappieren bis heute durch ihren Grenztanz zwischen Kunstobjekt und „Menschwerdung“. VON MARIA GOETH

E

s geht alles um die Bewegung!“, macht Barbara Heuberger, Geschäftsführerin des Salzburger Marionettentheaters, klar. Nur wenn sie perfekt gelingt, kann diese eigentümliche Aura entstehen, in der die Puppe zum Mensch wird. Und Bewegung kann nur durch ihren unsichtbaren Spieler entstehen, wodurch eine faszinierend rätselhafte Dreierbeziehung „Spieler–Puppe–Zuschauer“ eingegangen wird. Dann geschieht es plötzlich, dass Puppen beim Zuschauer etwas ganz besonderes öffnen und ganz anders berühren. Ist es Nostalgie, eine Atmosphäre aus der Kindheit? Oder ist es die eigentümliche Perfektion der Puppe, denn der Mensch schwitzt, ist zu dick, ist zu groß? Eine einfache Antwort gibt es nicht. „Der Theater- und Opernbetrieb ist ununterbrochen auf der Suche nach etwas Neuem, aber auch nach Gefühlen“, analysiert Heuberger, hier könne Puppenspiel perfekt ansetzen.

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Am Salzburger Marionettentheater wird die Kunst der Figurenbewegung seit über 100 Jahren perfektioniert – vornehmlich zu Opern von Mozart, vornehmlich für Erwachsene, wobei es auch spezielle Kindervorstellungen gibt. Die Musik kommt in der Regel vom Band, die sorgsam ausgewählten Aufnahmen werden im hauseigenen Tonstudio präzise geschnitten und bearbeitet. Neben den rund 160 Vorstellungen im hübschen Salzburger Theater – ehemals dem prunkvollen Speisesaal des legendären „Hotel Mirabell“, in dem Künstler wie James Joyce residierten – stemmt das zehnköpfige Ensemble bis zu 100 Gastspielauftritte jährlich. „Gerade bereiten wir eine Tournee nach Saudi Arabien mit The Sound of Music vor. Gestern stellte der Veranstalter fest, dass dort eine ganze Gruppe von Nonnen mitspielt, und fragte, ob man das ändern könne. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll“, hadert Heuberger, die zu jedem Auftritt rund fünf Tonnen Bühnenbild und Figuren auf die Reise schickt. www.crescendo.de

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Das Musical The Sound of Music ist auch bei außereuropäischen Gästen sehr beliebt

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Papageno und seine Papagena in Mozarts Zauberflöte

Auch Mozarts Così fan tutte erwacht in Salzburg zum Puppenleben

An den Puppen selbst hat sich seit der Gründung wenig verändert, außer dass sie wegen des größeren Zuschauerraums zur besseren Sichtbarkeit deutlich größer geworden sind, heute oft um die 70 Zentimeter hoch. Die Puppenspieler bauen ihre Figuren größtenteils selbst, sind Künstler und Handwerker zugleich, haben dementsprechend völlig unterschiedliche Lebensläufe – vom Literaturwissenschaftler bis zur Ofenbauerin. Die ganz besondere Führung des Spielkreuzes, die bereits seit der Gründung praktiziert wird, wurde 2016 in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Kein Wunder, dass man diese Art des Spiels nur vor Ort lernen kann, indem man einfach übt, übt und übt. Da kommt es auch mal vor, dass eine komplexe Figur wie die der russischen Tanzlegende Anna Pawlowna von fünf Spielern gleichzeitig bedient werden muss. „Der Puppenspieler muss sich in die Puppe entseelen, damit sie ihre

Kraft hat“, weiß Heuberger. Ist ein Spieler schlechter Laune, hat er Liebeskummer, so übertrage sich das sofort auf seine Figur. Und Heubergers Visionen für die Zukunft? 2019 wird es in Kooperation mit Bonn eine Fidelio-Produktion geben. Außerdem würde sie sehr gerne das Sissi-Musical auf die Bühne bringen, denn Sissi liebe einfach jeder. Auch weitere Kooperationen, wie 2006 mit den Salzburger Festspielen, wünscht sie sich. Schließlich ist Heuberger offen für kleine Revolutionen im Zuschauerraum: Die Guckkastenoptik aufbrechen, die Marionetten mal mitten ins Publikum holen – und ja, gerne auch die Spieler sichtbar machen und so eine weitere Betrachtungseben öffnen zwischen Mensch und vermenschlichter Puppe. ■ Barbara Heuberger, Geschäftsführerin Salzburger Marionettentheater 93


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Der Axel-Brüggemann-Kommentar

SEID IHR ALLE DA?

Was Richard Wagner und ich gemeinsam haben? Wir haben beide Flamingo“ bestaunt haben! Heute wissen wir, dass Puppentheater die Welt der Oper über das Puppenspiel entdeckt. Bei mir war es kein Kinderkram ist. Wer jemals eine professionelle Puppenbühne mein erstes Puppentheater, mit dem ich vor heimischem Wohnzim- besucht und sich hat verzaubern lassen, weiß, von welch großer merpublikum immer wieder die Zauberflöte aufgeführt habe. Die Kunst im Kleinen hier die Rede ist. Wenn auch etwas belächelt, ist Kassette mit der legendären Edda-Moser-Aufnahme war vor lauter das Puppentheater heute weitgehend institutionalisiert und fester Wiederholungen schon ausgeleiert. Aus Mangel an Figuren musste Bestandteil unserer Theaterkultur. Vielleicht liegt das daran, dass Kasper den Tamino geben und der sein Mechanismus uns alle begeistert: Räuber Hotzenplotz den Sarastro, die eine Welt mit den eigenen Fingern zu Schlange des ersten Aktes habe ich mir DAS KLASSIKTHEATER erschaffen, seine eigene Geschichte aus Papier gebastelt. Bis heute bin ich in einem abgeschlossenen Raum zu meinen Eltern dankbar, dass sie jede FUNKTIONIERT WIE EIN erzählen und – vor allen Dingen – die neue Aufführung geduldig ertragen PUPPENTHEATER: EINE EIGENE Puppen nach seinem Willen tanzen zu und mit reichem Applaus gewürdigt WELT, IN DER MANCHE DIE lassen. Kurzum, das Puppentheater ist haben. Sinnbild unserer Gesellschaft und wird, Richard Wagner hat indes schon STRIPPEN ZIEHEN UND ANDERE nicht ganz ohne Grund, immer wieder als Kind größer gedacht als ich: Zu ZUSCHAUEN, KLATSCHEN herangezogen, um komplexe Mechaseinem zehnten Geburtstag beschloss nismen zu erklären. Das Puppentheer, vor seiner Mutter, den Schwestern ODER FRUSTRIERT DEN APPLAUS ater kennt klassische Charaktere: den und Hauslehrer Humann sein ersVERWEIGERN Kasper, den Seppel, das Krokodil. Wer tes Gesamtkunstwerk – natürlich mit sind diese Charaktere in unserer Wirkselbst verfasstem Text – zu präsentielichkeit? Wer erfindet die Welt, in der ren. Er hatte seine Open-Air-Puppenbühne bei einem Picknick im Lockwitzer Grund bei Dresden auf- wir uns bewegen? Und wer zieht welche Strippen? Wer ist Puppengebaut. Bei seinem Stück handelte es sich um ein Ritterdrama, das spieler? Wer wird gespielt? Und wer ist Zuschauer? Auch das Klassiktheater funktioniert am Ende wie ein Pupeher unfreiwillig in einer „Götterdämmerung“ endete, als ein Sturm aufzog, das Theater vom Wind erfasst und in die Natur geblasen pentheater. Eine eigene Welt, in der manche die Strippen ziehen wurde. Dennoch: Das Puppentheater war für Richard Wagner die und andere zuschauen, klatschen oder frustriert den Applaus vererste Möglichkeit, seiner Kreativität Ausdruck zu verleihen, eine weigern. Mit dem ECHO KLASSIK wird nun wieder ein solches Welt, die nach seinem Wunsch und Willen tanzte, ein Kosmos, mit Puppentheater aufgeführt werden. Dabei ist es ja gut und wichtig, dem er seine Zuschauer verzaubern wollte. Die kleinste Form der dass die klassische Musik diese Bühne hat. Was auf ihr passiert, ist theatralen Illusion und vielleicht deshalb auch die kreativste, fanta- zuweilen aber vorhersehbarer als jedes Puppentheater. In der Regel präsentiert Kasper seine Personage, die – und das ist erstaunlich – sievollste und grenzenloseste. Kein Wunder, dass das Puppentheater die meisten Kinder nicht wirklich nach den Kriterien des Könnens oder der musikalibegleitet hat. Wenn nicht im Spielzimmer oder im Kindergarten, so schen Spannung ausgesucht wird, sondern danach, ob sie bekannt zumindest im Fernsehen. Egal, ob Jim Knopf mit seiner Lokomo- ist, danach, ob sie dem eingeübten Rollenklischee entspricht: der tive durch die Augsburger Puppenkiste gefahren ist und wir mit den Geiger mit dem Lederarmband, die Sopranistin, die mal Putzfrau Puppen der Sesamstraße „ma-na-ma-na“ gesungen haben – und war, der Tenor, dem die Herzen zufliegen. So plätschert die Auffühhier auch den ersten Auftritt von Plácido Domingo alias „Plácido rung dann oft dahin: Ein Sängername folgt auf den anderen, Raum 94

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ZE I C H N U N G : S T E FA N S TE IT Z

Manchmal wäre es gut, wenn sich die Erwachsenen des Klassiktheaters an ihre eigene Kindheit erinnern würden.


HEUTE WISSEN WIR, Ego befriedigt wird. Oft genug wendet sich für persönliche Gespräche oder echte Emodas Publikum dann ohne großes Geschrei ab. tionen – Fehlanzeige. Laudatoren verlesen DASS PUPPENTHEATER Es bestellt Abos für die Met-Übertragungen ihre glatt geschliffenen Laudationes. Wer KEIN KINDERKRAM IST im Kino, wo es sich allein durch die Blicke auftritt, bestimmen die Major-Labels und hinter die Kulisse ernst genommen fühlt. der Fernsehsender, in der Regel nach dem Unser Operntheater droht zu einem merkMotto: Wer schon sehr bekannt ist, dem geben wir eine Plattform. Das Fernsehen scheint dem Publikum würdigen, lebensfernen Elfenbeinturm zu werden. Intendanten und Konzertveranstalter wären gut beraten, sich nicht zuzutrauen, auch das Andere, das vielleicht etwas Anstrengendere, das Neue, das Verblüffende zu verstehen und die Klassik, die an die kleinste aller Bühnen, an das Puppentheater, zu erinnern. Das Puppentheater, mit dem wir als Kinder aufgewachsen sind, hat uns voller Begeisterung und Leidenschaft ist, auf die Bühne zu stellen. Ein erfahrener Puppenspieler aber liebt seinen Beruf auch des- den Zugang zur Bühne eröffnet. Und zwar durch seine Unmittelhalb, weil das Puppenspiel spontaner reagieren kann als das große barkeit und dadurch, dass gerade mit eingeschränkten Mitteln die Theater. Im Puppentheater ist die Bühne greifbar, die Kinder davor Fantasie des Zuschauers nötig wird, um das Zauberreich der Illuwerden aktiv zum Mitmachen und zum Reinrufen aufgefordert. Ritu- sion herzustellen. Das Puppentheater erinnert uns immer wieder an ell wird gefragt: „Seid Ihr alle da?“ – und der Publikums-Chor ant- die Urtugenden des Theaters und der Bühne. Daran, dass eine gute wortet: „Ja!“ Natürlich geben Kinder dem Kasper Hinweise, wo sich Aufführung immer auch ein Dialog zwischen den Strippenziehern das Krokodil versteckt. Und das ist nicht alles. Die Spontanität und und ihrem Publikum ist. Daran, dass die Illusion immer im Kopf die Improvisation sind ebenfalls Teil eines guten Puppentheaterstücks. der Zuschauer entsteht. Dass große Kunst offen ist, um die GedanDer gute Puppenspieler schafft es, seinen Zuschauern das Gefühl zu ken, die Gefühle und die Sehnsüchte des Publikums zu integrieren. geben, dass ohne sie die Handlung überhaupt nicht zustande kom- Vor allen Dingen aber daran, dass die Bühne ein Raum ist, in dem men würde, dass sie entscheiden, wie es weitergeht. Das Puppenthe- Stereotype zwar angelegt sind, aber nur, um mit ihnen zu spielen, ater ist quasi ein offenes Kunstwerk, dessen Größe und Magie auch um unsere Erwartungen auf den Kopf zu stellen, um das Publikum herauszufordern und nicht mit billigen Tricks zu bedienen. darin besteht, das Publikum zum Teil der Aufführung zu machen. Richard Wagner hat mit dem Puppentheater im Lockwitzer Es scheint mir einer der größten Fehler des aktuellen KlassikPuppentheaters zu sein, dass es genau diesen Mechanismus vernach- Grund sein Gesamtkunstwerk angelegt. Eine Form des Theaters, lässigt. Viele Veranstalter unterschätzen ihr Publikum. Oft wirkt es, die nicht allein aus der Einheit von Musik, Text und Bühnenbild als wäre das Klassikpublikum entmündigt. Nicht nur im Fernsehen, besteht, sondern die den Vorhang zwischen Publikum und Aufsondern auch an vielen unserer Theater. Der direkte Kontakt zum führenden herunterreißt, in der die inszenierte Welt mit der wahPublikum findet oft nicht mehr statt, wenn Intendanten Spielpläne ren Welt verbunden wird, in der Kunst und Realität miteinander für das Feuilleton aufstellen oder so stricken, dass ihr künstlerisches verschmelzen. ■

Perfektes Zusammenspiel Ein limitiertes Unikat feinster Handwerks-Kunst aus den weltberühmten Werkstätten Wendt & Kühn wird in diesem Geschenk-Set begleitet von einem erlesenen Sekt der Extraklasse. Für prickelnde Momente nach einem großartigen Konzerterlebnis und eine Erinnerung, die nie vergeht. Erhältlich über autorisierte Fachhändler auf dem Online-Marktplatz von Wendt & Kühn unter W W W.W E N D T- K U E H N . D E 95


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AKTUELLE PUPPENINSZENIERUNGEN VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL

Die Puppe lebt, kann man sagen, wenn man einen Blick auf die aktuellen Inszenierungen wirft. Nicht nur die Poeten der Romantik, auch die Regisseure scheinen fasziniert von diesem toten Objekt, das sie zur Projektionsfläche von Wünschen, Träumen oder Abgründen machen können. „So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, das heißt in dem Gliedermann, oder in dem Gott“, lautet der zentrale Abschnitt in Heinrich von Kleists essayistischer Erzählung Über das Marionettentheater von 1810, die für Generationen von Theaterregisseuren prägend wurde.

Fernöstliches Puppenkind

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Auch in MADAMA BUTTERFLY, die derzeit an der Met läuft, spielt eine Puppe eine der Hauptrollen. In seiner Inszenierung ließ sich der mittlerweile verstorbene britische Regisseur Anthony Minghella („Der englische Patient“) vom japanischen Bunraku-Puppentheater inspirieren, einem Figurentheater, das gerne in tragischen Liebesgeschichten eingesetzt wird, die mit Suizid enden (siehe auch S. 102). Butterflys kleiner Sohn wird von einer Puppe dargestellt, an ihr sind Griffe angebracht, die von drei schwarz gekleideten Puppenspielern nach einem streng hierarchischen Prinzip bedient werden: Der angesehenste Spieler ist für den Kopf und rechten Arm zuständig, ein zweiter für den linken Arm und der dritte für die Beine.

Riesenritter der Tafelrunde In Sven-Eric Bechtolfs und Julian Crouchs Neuinszenierung von Purcells KING ARTHUR an der Staatsoper Berlin gehen Fantasie und Wirklichkeit ineinander über: Die Ritterfiguren, die der Großvater Arthur zu seinem achten Geburtstag schenkt, um die Artus-Sage nachzuspielen, werden für das Kind real. Es sieht seinen toten Vater, wie einst Hamlet. Echte Personen aus seiner Umgebung werden selbst zu Sagenfiguren.

Barocke Figurenmagie Manchmal sind Puppen nicht nur ein Inszenierungsrequisit, sondern verstärken die Stimmung, die bereits dem Werk innewohnt – in Märchen- oder Zauberopern etwa. Mit „Alte Musik und altes Handwerk – Bühnen- und Puppenzauber in Einem“ wirbt das Ensemble lautten compagney. Nach Händels Rinaldo steht derzeit nun dessen GIUSTINO in einer Kooperation mit dem Puppentheater Carlo Colla e Figli auf dem Programm. Ab 3.11. ist die Produktion noch einige Male in Winterthur zu sehen (www.lauttencompagney.de), Rinaldo gibt’s auf DVD (Arthaus). 96

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Zirzensische Komponistengiganten Manchmal werden aus Puppen Komponisten. Im Verdi-WagnerJahr 2013 ließen die katalanischen Opernrebellen LA FURA DELS BAUS zwei neun Meter hohe, an Kränen hängende Puppen mit Barrett (Wagner) oder Zylinder (Verdi) durch die Münchner Innenstadt zum Nationaltheater ziehen und auf dem Max-Joseph-Platz eine Art Duell austragen – mit eigens dafür komponierter Musik, Zirkusnummern und viel Feuerwerk.

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Biblische Apokalypse

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Ganz die Oberhand gewinnen die Puppen in Lotte de Beers Inszenierung von Rossinis Oratorium MOSES IN ÄGYPTEN. Hunderte Miniaturpuppen aus Draht, jeweils nur ein paar Zentimeter groß, hat die holländische Künstlergruppe Hotel Modern dafür gebaut (siehe auch S. 84). Bei der Premiere im Rahmen der Bregenzer Festspiele wurden sie von den Spielern auf der Bühne auf eigenen Tischen bewegt, gekonnt ausgeleuchtet und per Kamera als Großbild auf eine riesige Rautenkugel, die an eine Marsstation erinnerte, projiziert. Feuerstürme, Sonnenfinsternis, Heuschreckenplage und sogar die Teilung des Meeres konnten sie so simulieren. Und die realen Sänger? Sie wurden hier wie die Puppen arrangiert. „Putzige Püppchen fressen die Oper auf“, lästerte die Welt.

Dämonischer Elfenkönig Wenig putzig geht es bei Nikolaus Habjan zu, dem Shootingstar der Puppenspieler-Szene: Über Nacht wurde er 2012 berühmt, als er die Geschichte der Kinder in der Wiener Nervenheilanstalt Steinhof, die Opfer der Euthanasie wurden, auf Puppenformat brachte und damit darstellbar machte. Für die Münchner Opernfestspiele hat er Webers OBERON, KÖNIG DER ELFEN inszeniert. Feen und Elfen gibt es hier nicht, dafür Klappmaul-Puppen und einen vier Meter großen Puppengeist mit Leuchtaugen als Titelfigur. Schräges, überdrehtes Musiktheater, zwischen „Commedia dell’Arte und Muppet Show“, fand die Presse. „Die Puppen haben den Vorteil, wenn man die Hand rauszieht, dann sind sie tot“, sagt Habjan in typisch österreichischem Humor.

Promi-Double F OTO : W. H O ES L

Und manchmal wird eine echte Diva durch eine Puppe ersetzt. Allerdings auf eigenen Wunsch. So schickte die kapriziös-scheue ELFRIEDE JELINEK jene Puppe auf eine Preisverleihung, die Habjan für ihr Stück Schatten (Eurydike sagt) fertigen ließ.

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Figuren theater

WOHER KOMMT EIGENTLICH … … Meister Pedro aus Manuel de Fallas Marionettenoper ? VON STEFAN SELL

penspiels. Lorca hatte schon mehrfach auf der Bühne die Fäden nach seinen Vorstellungen ziehen und de Falla Musik dazu machen lassen. Manolo, wie Lorca de Falla nannte, nahm also oben erwähnte Episode aus dem Buch der Bücher, machte Cervantes nachträglich zu seinem irklichkeit und EinbilLibrettisten und komponierte mit neodung auseinanderzuklassischen Klängen und einer Prise dishalten, ist nicht immer sonanter Kargheit etwas völlig Neues. leicht. Der irrende RitEine erste konzertante Auffühter, der hier gedachte, seine Pflicht zu rung fand in Sevilla statt. Die Kritiken erfüllen, ist Don Quijote. Während waren verhalten, vielleicht auch, weil de der Aufführung eines Puppenspiels in Falla meinte, mit dieser Aufführung sein einem Wirtshaus schlug er in seinem Debüt als Dirigent verbinden zu müssen, Feuereifer, Gerechtigkeit walten zu laswohl wissend, dass aller Anfang schwer sen, nicht nur über die Stränge, sondern ist. Die eigentliche Premiere am 25. Juni auch gleich die spielenden Marionetten 1923 dagegen war ein Triumph. Nur mit kurz und klein, glaubte er doch felsender auftraggebenden und widmungstrafest, was auf der Bühne geschehe, pasEl retablo del Maese Pedro in einer Produktion genden Princess kam es zu Zwistigkeisiere wahrhaftig. des Teatro Real in Madrid ten, weshalb in ihrem Palais das Werk Wie es dazu kam? Der Puppenspieler Meister Pedro hatte gezeigt, wie Melisendra, Tochter Karls des kein zweites Mal aufgeführt wurde. El retablo del Maese Pedro – so der Originaltitel – brachte Großen, entführt, dann von ihrem Gemahl Don Gaiferos befreit, schließlich auf der Flucht von der übermächtigen Reiterschar der dem Komponisten weltweit Erfolg und schließlich das Lob des Entführer wieder eingeholt wird. Don Quijote, kein tatenloser Gaf- Don-Quijote-Kenners, Journalisten und Schriftstellers Salvador fer, vielmehr einer, der Hilfsbedürftigen Beistand leistet, auch auf de Madariaga y Rojo. Der attestierte, durch de Fallas Werk sei „der die Gefahr hin, dabei Sein und Schein zu verwechseln, machte den unsterbliche Don Quijote ein zweites Mal unsterblich geworden“. Am Rande sei noch vermerkt: Auf der Bühne haben nicht nur Entführern schlichtweg den Garaus. Schuld oder nicht schuld, Don Quijote erklärte sich bereit, für den entstandenen Schaden aufzu- Puppentheater und Ausführende Platz, nein, auch Meister Pedros Publikum sitzt hier. So saß de Falla selbst einmal unter diesen mitkommen, und zahlte Meister Pedro 40 3/4 Realen. Wie Manuel de Falla dazu kam, daraus eine Marionettenoper wirkenden Zuschauern. Zum Lohn bekam er dafür fünf Francs zu machen? Den Auftrag gab 1919 eine Frau, von der Jean Cocteau inklusive einer Aufmunterung der Theaterleitung, man wäre zufriesagte: „Die Prinzessin ist in die Musik verliebt wie eine Nähmaschine den mit seiner Leistung, und wenn er so weitermache, würde er es in den Stoff!“ Was dadaistisch klingt, hat einen wahren Hintergrund, wohl noch zu etwas bringen. Woher aber kommt denn nun eigentlich Meister Pedro? In war doch Winnaretta Singer, Princesse Edmond de Polignac, eine der zahlreichen Töchter eines Mechanikers und umherziehenden Schau- Cervantes’ opulentem Werk taucht er schon früher auf, heißt Ginés spielers, dem es gelungen war, die Nähmaschine ins Rollen zu brin- de Pasamonte und befindet sich unter den Galeerensträflingen, gen. Isaac Singer hieß der Mann. Winnaretta, eine Malerin, die die die Don Quijote befreit. Nachdem die Befreiten ihrem Befreier Musik liebte, konnte sich als Kunstmäzenin entpuppen, weil sie viel mit prasselnden Steinwürfen gedankt haben, zieht Pasamonte weivon dem unfassbaren Vermögen ihres Vaters geerbt hatte. In ihrem ter und bewerkstelligt später sogar das Kunststück, dem schlafenPariser Kunstsalon sollte eine Marionettenoper aufgeführt werden, de den Sancho Pansa den Esel unterm Hintern wegzustehlen. Da aller Falla sagte zu und entwickelte die Idee, etwas Großes in ein kompri- guten Dinge drei sind, treffen Don Quijote und Sancho Pansa, ohne miertes musikalisches Gewand zu kleiden: Cervantes’ Don Quijote in es zu ahnen, den wandernden Gauner erneut wieder. Als Puppenkammermusikalischer Besetzung. Erfahrung damit hatte er, war doch spieler verkleidet trägt er einen wahrsagenden Affen auf der Schulsein junger Freund und Mitbewohner García Lorca ein Fan des Pup- ter und nennt sich jetzt – Meister Pedro! ■

„… um meine Pflicht als irrender Ritter zu erfüllen, wollte ich den Flüchtigen Hilfe und Beistand schenken, und in dieser Absicht tat ich das, was ihr mich habt tun sehen.“

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VIOLETTA AM SEIDENEN FADEN Das Stadttheater in Lindau am Bodensee beheimatet mit der Marionettenoper eine ganz besondere Sparte, in der ein spielwütiges Ensemble rund um den Puppenspieler Bernhard Leismüller bekannte Werke der Operngeschichte auf die Bühne bringt. V O N K AT H E R I N A K N E E S

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Figaro umgarnt seine Rosina in Rossinis Barbier von Seviglia

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eit dem Jahr 2000 hat der Puppenspieler Bernhard Leismüller in der von ihm gegründeten Lindauer Marionettenoper die Fäden in der Hand. Was hier passiert, hat wenig mit Kindheitserinnerungen an die Augsburger Puppenkiste zu tun, sondern trägt viel von der professionellen Ernsthaftigkeit komplexer Opernproduktionen in sich. Verknüpft mit einer höchst beeindruckenden Liebe zum Detail, denn alle 450 Puppen, die heute zum Repertoire der Marionettenoper zählen, hat Bernhard Leismüller selbst gebaut. Auch sämtliche Kostüme wurden von ihm entworfen und angefertigt, darüber hinaus ist der Puppenspieler für die Choreografie und die Spielleitung der Stücke verantwortlich. „Wenn ich ein Stück konzipiere und mir die Musik anhöre, dann habe ich sofort so viele Bilder und Ideen im Kopf “, erzählt Bernhard Leismüller bei einem Besuch in den Katakomben des Theaters. „Ohne es skizzieren zu müssen oder es jemandem erklären zu müssen, weiß ich dann schon, wie die Puppen aussehen sollen, und kann das genau so umsetzen. Eigentlich ist mit dem Hören der Musik schon alles fertig und muss nur noch gemacht werden.“ Der Puppenspieler lacht verschmitzt, aber was er sagt, klingt einfacher, als es ist, denn die Entwicklung einer neuen Produktion ist äußerst aufwendig. Ein ganzes Jahr benötigt Bernhard Leismüller allein dafür, um die Puppen herzustellen, die er für eine Inszenierung braucht – das sind zwischen 30 und 50 Marionetten pro Oper. „Bevor ich die Puppen zusammenbaue, schnitze ich monatelang nur die Einzelteile, zum Beispiel Hände“, verrät er. „Die Hände sind ein ganz wichtiges Ausdrucksmittel, weil die Puppen keine beweg-

das Talent fürs Spiel mit sich. Mittlerweile hat Bernhard Leismüllers Marionettenoper ein zehnköpfiges Puppenspielerensemble, das dem Publikum auf den knapp 100 Plätzen in der klassischen Guckkastenbühne im kleinen Saal des Theaters neun Monate im Jahr mehrmals in der Woche viele Highlights aus der Opernwelt präsentiert. Über die richtige Auswahl der Stücke macht Bernhard Leismüller sich im Vorfeld viele Gedanken. „Der Charakter der Marionette ist eher komödiantisch, das liegt in der Natur der Puppe. Eine Opera buffa ist also immer leichter umzusetzen als eine Tragödie. Die Zauberflöte oder Der Barbier von Sevilla eignen sich super, da geht es vorwärts, da stirbt keiner zum Schluss.“ Bernhard Leismüllers Augen blitzen, wenn er spricht. „Wir haben uns aber auch für La Traviata entschieden, weil sie weltweit eine der populärsten Opern ist, und weil wir uns der Herausforderung stellen wollen, auch mal eine hochdramatische Handlung mit den Puppen darzustellen.“ Auch in diesem Fall war dem Puppenspieler die Wahl der richtigen Aufnahme wichtig. „Unsere Arbeit entsteht in ganz, ganz engem Kontakt mit der Musik. Wenn man die Augen zumacht und auf den Gesang hört, dann sagt einem das schon viel darüber, was richtig ist, weil der Sänger das ganz passend interpretiert und der Komponist die Stimmung bereits so auf dem Präsentierteller serviert, dass man fast nichts falsch machen kann. In unserer Traviata singt Luciano Pavarotti den Alfredo, und Joan Sutherland ist die Violetta. Wissen Sie, dass die Sopranistin ihre letzten Lebensjahre hier am Bodensee verbracht hat? Wir haben immer gehofft, dass wir sie mal einladen können. Aber es ist nie dazu gekommen. Jetzt

Auch am Wolfgangsee tanzen die Puppen: natürlich Im Weißen Rössl

liche Mimik haben. Das bedeutet, dass der Kopf so gestaltet wird, dass sowohl das Stumme als auch das Gesprochene in das Gesicht hineininterpretiert werden kann und dass wir die Stimmungen durch die Körpersprache der Figur ausdrücken müssen.“ Sind die Puppen einmal fertig, muss noch die Kulisse samt der Requisiten gebaut werden, dann wird die Inszenierung inhaltlich entwickelt und die perfekte Abstimmung auf die Musik geprobt. Das alles passiert parallel zum laufenden Spielbetrieb. Tagsüber ist der Puppenspieler in der Werkstatt, abends ist Vorstellung, zwischendurch finden Proben statt. Das Spiel mit den Puppen ist ein Fulltimejob für Bernhard Leismüller. Bereits als Kind haben ihn die Marionetten magisch angezogen, in seiner Heimat Bad Tölz hatte er das Glück, das Handwerkszeug direkt vom renommierten Puppenbauer Oskar Paul zu lernen. Alles Weitere brachten dann eine große Portion Neugier und

schaut sie vielleicht von oben zu.“ Bevor er zur Probe für die abendliche Aufführung aufbricht, gibt Bernhard Leismüller noch einen kurzen Einblick in das Puppenspieler-Einmaleins: „Oft sind ganz kleine Bewegungen besonders entscheidend. Ob eine Puppe zum Beispiel fragend den Kopf hält oder wie man sich traurig auf einen Stuhl fallen lässt. Das Spielkreuz, mit dem wir die Puppen bewegen, lässt die kleinen entscheidenden Nuancen in der Körperhaltung sehr gut zu, und das ist in der Oper total wichtig. Unser Ziel ist es, dass der Zuschauer völlig vergisst, dass da gerade Musik vom Band läuft. Er soll denken, dass die Puppe wirklich singt. Das setzt voraus, dass der Spieler die Puppe absolut exakt auf die Musik abgestimmt bewegt. Wenn ein Einatmen zu hören ist oder wenn der Sänger bestimmte Konsonanten betont, muss die Puppe das körperlich perfekt darstellen, damit das Optische und das Akustische auf der Bühne miteinander verschmelzen.“ ■ 101


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BUNRAKU – PUPPENKUNST AUF JAPANISCH Das japanische Puppentheater Bunraku ist eine faszinierende und inspirierende Praxis, der es leider an Nachwuchs fehlt.

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VON RUTH RENÉE REIF

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chweigend zieht der junge Tokubei den Fuß der Kurtisane Ohatsu über seinen Hals. Mit dieser zarten Geste antwortet er auf ihre leidenschaftliche Frage, ob er bereit sei, mit ihr zu sterben. Noch in derselben Nacht nehmen die beiden Liebenden Abschied von der Welt und begeben sich in den Hain von Sonezaki. Es ist die Vollkommenheit, die aus einem Weniger entsteht. Sie zeichnet die japanische Kunst aus und bildet auch ein Merkmal des Puppentheaters Bunraku. Drei künstlerische Traditionen fügten sich in ihm zu neuer Vollendung zusammen, das Puppenspiel, das singende Erzählen und das Spiel auf der dreisaitigen Laute Shamisen. So stand es an der Spitze der japanischen Bühnenkünste. Seine Impulse erst inspirierten das Schauspielertheater zu literarisch anspruchsvollen, dramatisch durchgestalteten Aufführungen. „Tozai! Tozai!“ – „Hört her, hört her, alle im Osten und im Westen!“, ruft ein Puppenspieler zu Beginn der Aufführung. Der Shamisen-Spieler bereitet das Publikum auf das Stück vor, dann setzt der Erzähler ein. Mit kräftiger, rauer Stimme beschreibt er das Geschehen sowie die Gefühle der Figuren. Für jede, ob jung oder alt, weiblich oder männlich, findet er einen eigenen Klang. Die Puppenspieler bleiben stumm und ihre Mienen unbewegt. Die Puppen führen sie offen und, wenn es eine Hauptfigur ist, zu dritt, was eine perfekte Koordination erfordert. Der 1995 verstorbene britische Schauspieler David Warrilow war nach einer Bunraku-Aufführung tief bewegt: „Diese Liebe und dieses Mitleid, die der Puppenspieler für das Wesen zu empfinden schien, das er in der Hand hielt, und dieses Bedürfnis, Leben zu schenken. Es war, als brachte er in jedem Augenblick etwas zur Welt.“ Die Wurzeln der singenden Erzählkunst reichen zurück zu den buddhistischen Geschichten, die Ende des ersten Jahrtausends zur Missionierung eingesetzt wurden. Um 1600 bildete die Rezitation märchenhafter Stoffe mit Shamisen-Musik und Puppenspiel bereits 102

eine Einheit. Ihre große Blüte erlebte die neue Kunst in den städtischen Vergnügungsvierteln während der Edo-Zeit. Neue wohlhabende städtische Bevölkerungsschichten schufen eine lebendige Freizeitkultur mit Künsten, Literatur, Freudenhäusern und Restaurants. „Nur für den Augenblick leben“, beschrieb der Romancier Asai Ryōi das damalige Lebensgefühl, „Wein trinken, die Dichtung und schöne Frauen lieben und sich wie ein Flaschenkürbis von der Strömung dahintreiben lassen.“ Anmutig und gebildet, genossen Kurtisanen hohes Ansehen. Anders als die Geishas boten sie Geschlechtsverkehr gegen Bezahlung an. Doch mussten sie zuvor lange umworben werden. Liebende Kurtisanen gehören zu wichtigen Figuren des Puppentheaters. Der Dramatiker Chikamatsu Monzaemon, der häufig aktuelle Ereignisse aufgriff, schilderte in seinem Stück Der Freitod aus Liebe in Sonezaki den Doppelselbstmord eines Ölhändlergehilfen und seiner Kurtisane. Es war das erste von 15 bürgerlichen Dramen, die er 1703 für das Puppentheater des Rezitators Takemoto Gidayū in Osaka verfasste. Als ein weiteres Puppentheater eröffnete, führte der Wettstreit zu immer komplexeren und spieltechnisch schwierigeren Stücken. Doch markierte diese Übersteigerung zugleich das Ende. Beinahe drohte die Tradition unterzugehen, bis im 19. Jahrhundert Uemura Bunrakuken in Osaka erneut ein Puppentheater schuf, dessen Name seither dem gesamten Genre als Bezeichnung dient. Bunraku ist eine Kunst, die höchste Meisterschaft verlangt, und der Weg zum Meister ist hart und lang. Viele Jahre dauert es, bis allein die Standardbewegungen erlernt sind. Die Künstler am Nationalen Bunraku-Theater in Osaka werden immer weniger und älter. Es mangelt an Nachwuchs. Vor allem aber scheint es an künstlerischen Impulsen zu fehlen, um das Puppentheater aus seiner musealen Erstarrung zu lösen und wieder zu einer lebendigen Kunstform werden zu lassen. Die Inspiration, die es im Laufe seines Bestehens anderen Künsten schenkte, wünscht man ihm heute zurück. ■ www.crescendo.de

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John Axelrods Weinkolumne

PINOCCHIOS WEINGLAS

ZE I C H N U N G : S TE FA N S T E IT Z

Die Welt der Märchen, Marionetten und Puppen inspirierte Komponisten wie Winzer. Unser Kolumnist hat die Schätze unter diesen Figuren-Kreationen unter die Lupe genommen. Komponisten sind wie Eltern. Sie schaffen etwas aus dem Nichts, geben der Musik all ihre Liebe, lachen und spielen mit ihrem „Baby“, der Komposition. Im Herzen muss der Komponist selbst ein Kind sein, damit seine Vorstellungskraft rege bleibt. C. G. Jung schrieb einmal, dass Kinder alle Antworten haben und wir den Rest unseres Lebens damit verbringen, die Fragen dazu zu finden. Kein Wunder, dass Puppenspiel, Marionetten und Fabeln so viele Komponisten inspiriert haben. Viele solistische Werke wie Schumanns Kinderszenen oder Debussys Golliwoggs Cakewalk, aber auch Opern – von Humperdincks Hänsel und Gretel über Rossinis Cenerentola, Valtinonis Pinocchio und Jonathan Doves The Adventures of Pinocchio bis zu Tschaikowskys Märchenballetten –, die die Erfüllungen von Kindheitsträumen sind. Ravel und Zemlinsky gehören zu den vielen Komponisten, die Märchen vertonten. Leopold Mozart verwendete Spielzeuginstrumente und Mozart machte aus einer menschlichen Figur einen Singvogel. Wenn man an Puppen und Marionetten in der Orchestermusik denkt, sollte man auf jeden Fall Strawinsky würdigen. Petruschka dreht sich ebenfalls um Puppen, aber Pulcinella ist das Meisterwerk, das das Kind in uns zum Leben erweckt. Dieses Ballett von 1919 hat seine Wurzeln in der Comme-

dia-dell’Arte-Figur Pulcinella oder Punchinello, einem Schelmencharakter: verspielt, streitlustig, wankelmütig, undiszipliniert, nervig, aber irgendwie unvergesslich und einnehmend: quasi die Essenz von Kindheit. Die Musik von Strawinskys Pulcinella, die auf Pergolesi basiert, trägt neoklassizistische Einfachheit in sich, die Unschuld eines Kinderspiels. Die vielen Soloinstrumente funktionieren wie die Fäden einer Marionette, jedes zieht das Werk in eine andere Richtung. Die Flöte singt, die Klarinette lacht, die Oboe weint, das Fagott trottet, die Posaune gleitet, der Kontrabass grunzt, die Solovioline spricht und so fort. Der Erzählstrang jedes einzelnen Satzes erinnert an die comichafte Handlung eines Puppenspiels. Strawinsky beschrieb sein musikalisches Ziel als „Suche nach Wahrheit in einem Missverhältnis der Instrumente, also genau dem Gegenteil von dem, was in der Kammermusik geschieht, deren Basis gerade die Balance zwischen den verschiedenen Instrumenten ist“. Auch die Fäden einer Marionette arbeiten im Ungleichgewicht, aber wenn man sie in die richtige Richtung zieht, erzeugen sie Lebensechtheit gerade in ihrer Disharmonie. Wussten Sie, dass es einen Wein namens „Pinocchio“ gibt, der das Stawinsky’sche Ungleichgewicht widerspiegelt? Einen Wein der Balance zu schaffen, ist ein Garant

für schlimmes Kopfweh. Der sizilianische Wein „Pinocchio“ aus Dievole verkörpert dagegen die „Suche nach Wahrheit aus einem Missverhältnis“. Ein hoch qualitativer Wein, den der Winzer so beschreibt: „Ein halb leeres Glas ist halb voll. Stimmt, aber kann eine halbe Lüge halb wahr sein? Es gibt Menschen, die mit einer Lüge leben; und

KOMPONISTEN SIND WIE ELTERN. SIE SCHAFFEN ETWAS AUS DEM NICHTS, GEBEN DER MUSIK ALL IHRE LIEBE welche, die mit etwas leben, das sie fälschlicherweise für die Wahrheit halten. Nur mit Pinocchios Weinglas werden Sie jede einzelne Wahrheit zu würdigen wissen.“ Es handelt sich um einen Nero d’Avola mit 13 Prozent Alkoholgehalt mit einer Helligkeit, die der dunkelschaligen Traube entgegensteht. Er hat ein intensives, tiefes Rubinrot mit Blautönen, schmeckt aber trotzdem wie die Mittelmeersonne. Die Nase wird in die Irre geführt: Erst riecht er nach Tannin, dann enthüllt er ein köstliches Bouquet, das einem die eigene Nase wachsen lassen wird, um die Wahrheit in Aromen nach Brombeere, Erdbeere, Johannisbeere, aber auch Toastbrot und Salbei zu finden. ■

John Axelrod ist Generalmusikdirektor und Geschäftsführer des Real Orquesta Sinfónica de Sevilla und erster Gastdirigent des Orchestra Sinfonica di Milano „Giuseppe Verdi“. Nebenbei schreibt er Bücher und sorgt sich um das Wohl des crescendo-Lesergaumens. Seit Kurzem hat er einen englischsprachigen Blog zum Thema Wein und Musik begonnen: www.IamBacchus.com. Den Wein „Pinocchio“ können Sie für rund 7 Euro pro Flasche im Wein-Versandhandel bestellen, zum Beispiel unter: www.viva-vinum.de. 104 w w w . c r e s c e n d o . d e — Ok tober – November 2017


REISE & KULTUR Ein crescendo Themenspecial // Herbst & Winter 2017 Kreuzfahrt – Mit der MS EUROPA musikalisch unterwegs | Linz – Vielfältige Kunst in der Donaustadt | Salzburg – Brauchtum und Musik in der Adventszeit

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ür die kleinste und gleichzeitig auch südlichste Hauptstadt der EU wird 2018 ein großes Jahr. Maltas Hauptstadt Valletta, seit 1980 UNESCO-Welterbestätte, wird im nächsten Jahr gemeinsam mit dem niederländischen Leeuwarden Kulturhauptstadt Europas. Generationen, Routen, Städte und Inseln, das sind die vier Schlüsselthemen des Kulturprogramms. Valletta, im Maltesischen schlicht „Il-Belt“ („die Stadt“) genannt, ist nach ihrem Grundsteinleger Jean Parisot de Valette benannt, einem Großmeister des Malteserordens. 1530 hatten sich die Johanniterritter auf Malta angesiedelt, nachdem die Osmanen sie von Rhodos vertrieben hatten. Auch auf Malta wurden sie von den Feinden belagert und angegriffen, konnten sie jedoch besiegen. Auf der Erhebung Mount Scebarras wurde Valletta errichtet. Es ist die am massivsten befestigte Stadt Europas und die erste europäische Stadt, die auf einem Reißbrett geplant wurde Der italienische Architekt Francesco Laparelli plante Valletta nach modernstem Wissen der Militärarchitektur. So erhielt die Stadt geometrische Festungen und ein schachbrettförmiges Straßennetz. Philip II. von Spanien und sogar Papst Pius V. boten finanzielle Unterstützung. Die Errichtung begann im März 1566. De

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Vallettas Grand Harbour zählt zu den größten und tiefsten Naturhäfen Europas

Valette starb noch vor Fertigstellung. Bald löste Valletta Mdina als Hauptstadt ab. Heute beherbergt die Barock- und Hafenstadt circa 9.000 Einwohner, und neben den zahlreichen historischen Gebäuden wie den vollständig erhaltenen Festungsanlagen oder der prunkvollen St.-Johns-Co-Kathedrale finden sich seit kurzer Zeit auch moderne Akzente im Stadtbild. Der renommierte Architekt Renzo Piano gestaltete nicht nur Opernhaus und Stadttor um, sondern erbaute zudem ein neues Parlamentsgebäude, das sich seit 2015 ins „neue“ Valletta eingefügt hat. Mit über 300 Sonnentagen, den faszinierenden Naturhäfen und etlichen Sehenswürdigkeiten ist Malta das ganze Jahr über ein traumhaftes Reiseziel. Besonders kulturinteressierte Besucher kommen auf der Insel auf ihre Kosten: Das Malta International Jazz Festival, Isle of MTV, die Kulturnacht „Notte Bianca“, aber vor allem auch das Valletta International Baroque Festival begeistern jährlich ein internationales Publikum. Durch kurze Distanzen ist es möglich, von Valletta aus zahlreiche Ausflüge zu unternehmen, zu den „Three Cities“, kleinen Buchten, dem Grand Harbour oder sogar zur Schwesterinsel Gozo.

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fort nach Antwerpen, wo Rubens die letzten 29 Jahre seines Lebens verbrachte. Rund 2.500 Gemälde entstanden im Atelier des Rubenshuis. Reisekultur auf höchstem Niveau verspricht die EUROPA. Kapitän Olaf Hartmann nennt sie „die schönste Jacht der Welt“. Seit ihrem Stapellauf 1999 erhielt sie im Berlitz Kreuzfahrtführer jedes Jahr die Bestnote „5-Sterne-plus“. Der Luxus an Bord ist beeindruckend. So gibt es etwa ausschließlich Außensuiten, zumeist mit eigener Veranda. Ein aufwendiger Service garantiert eine entspannte Reise. 285 Crewmitglieder sorgen für das Wohl von maximal 400 Gästen. Zum „Ocean Sun Festival“ in Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon begrüßt die Crème de la Crème der Klassikszene die Gäste auf der EUROPA. Die intime Atmosphäre an Bord lädt ein zum persönlichen Gespräch mit den Künstlern und inspiriert zu manch spontanem Auftritt. Das Programm ist abgestimmt auf die Stationen der Reise. Es begleitet die Gäste vom Auslaufen aus dem Hafen von Nizza über die Steilklippen von Bonifacio zur Insel Sardinien, die wie ein eigener kleiner Kontinent zwischen Europa und Afrika zu liegen scheint. Nach Mahón, dem größten Naturhafen Europas, heißt es „Benvinguts a Barcelona“. Zwei Tage Aufenthalt erlauben es, im berühmten Jugendstilviertel Eixample Gaudís Meisterstück La Sagrada Família zu bewundern. Über Granada, auf deren Alhambrahöhe die berühmte arabische Palastanlage thront, geht es nach Lissabon, der Geburtsstadt des Fado. Wenn Kapitän Olaf Hartmann in Bilbao die Gäste verabschiedet, haben sie nicht nur musikalisches Können und geschichtliche Sehenswürdigkeiten bestaunt, sondern selbst eine Geschichte erlebt. „Jede Reise schreibt ihre eigene Geschichte“, ist Hartmann überzeugt. K R E U Z FA H R T M I T M S E U R O PA Ocean Sun Festival 2018 Reise vom 29.05. bis 12.06.2018 von Nizza nach Bilbao. Info: www.hl-cruises.de/reise-finden/EUR1811 Stella Maris 2018 Reise vom 12.06. bis 26.06.2018 von Bilbao nach Hamburg. Info: www.hl-cruises.de/reise-finden/EUR1812

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STADT DER LEBENSKUNST Kulturerlebnisse in Linz, der UNESCO City of Media Arts.

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ie Kulturstadt Linz ist sowohl Bühne für Theater und Musik als auch für zeitgenössische Kunst und Festivals sowie Geschichte und Wissenschaft in den Museen. Im Herbst kommen neue Musikund Theaterproduktionen in die Kulturhäuser. Aber nicht nur die Vielfalt an Musik und Theater bringt die Besucher in die UNESCO City of Media Arts. Es ist auch das urbane Flair einer authentischen Stadt voller Leben! Vor allem seit dem Kulturhauptstadtjahr 2009 hat sich Linz zu einer inspirierenden und lebendigen Kulturstadt entwickelt. Besucher erleben bei ihrem Linz-Aufenthalt eines der modernsten Opernhäuser Europas, das Musiktheater Linz. Die Spielsaison des Landestheaters verspricht mit den kommenden Stücken ein vielschichtiges Programm für jeden Geschmack, unter dem diesjährigen Motto „Für immer jung“. „Dabei geht es um Jugendkult, Jugendwahn, jung sein: damals – heute – morgen. Wir wollen Geschichten vom Jungsein in allen Epochen und Genres neu erzählen“, sagt Intendant Hermann Schneider. Das Stück zum diesjährigen Schwerpunkt Forever Young ist ab 18. November auf der Bühne des Musiktheaters zu sehen. Aber auch das Schauspiel Frühlings Erwachen im neu renovierten Schauspielhaus untermalt das generati-

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Linz an der Donau: im Dreiklang von Kultur, Natur und Industrie

onenübergreifende Thema. Insgesamt warten zwölf Opern und Operetten auf das Publikum sowie Schauspiel, Tanz und Musicals. Ein absoluter Geheimtipp ist die Oper Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Im Brucknerhaus Linz, dem Konzerthaus an der Donau, können sich Klassikliebhaber auf Konzerte mit musikalischen Größen aus der ganzen Welt freuen. Für Hans-Joachim Frey, den scheidenden künstlerischen Leiter des Brucknerhauses, stehen in der nächsten Saison viele Highlights auf dem Programm – wie zum Beispiel die Wiener Philharmoniker, die Oper Iolanta oder das Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst. Insgesamt sieben neue Festivals und Konzerte begeistern die Besucher, so das Festival „Vocale“ ab 3. November oder das Festival „Advent Weihnacht“ ab 2. Dezember. Nicht nur bei der Musik, dem Tanz oder im Theater begibt man sich in Linz auf eine inspirierende Entdeckungsreise. In den Museen lernen die Besucher ein breites Spektrum von der Geschichte über zeitgenössische Kunst kennen und bekommen schon jetzt einen Ausblick in die Zukunft. Aber auch Genuss, Entspannung und Lebensfreude sind an vielen Orten der Stadt spürbar. Wer Linz besucht, erlebt besondere Augenblicke und kehrt ein kleines Stück verändert nach Hause zurück.

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wie Lesungen, einen Krippenpfad und nter einem Girlandenhimmel eine große Modelleisenbahn, die sikann man auf dem Christkincher nicht nur die Kleinen begeistert. delmarkt am Dom- und ResiDer Hellbrunner Adventzauber denzplatz inmitten von gut 100 Verlockt derweil im Süden der Stadt mit kaufsständen spazieren gehen. Das reeinem übergroßen Adventkalender, eigionale Kunsthandwerk steht dabei nem Streichelzoo, weiteren Ständen seit der Entstehung des Christkindlund dem acht Meter großen Weihmarktes 1491 im Mittelpunkt. Zwinachtsengel im Schlosspark. Auch hier schen handgemachten Seifen, HolzAdventsingen in der Kirche werden Traditionen gepflegt: mit zahlspielzeug oder Keramik finden sich siSt. Leonhard reichen Krampusläufen und einem cherlich schnell passende Mitbringsel und Weihnachtsgeschenke. Neben der idyllischen Szene- Rauhnachtslauf zur Wintersonnenwende. Am Wochenrie haben Tradition und Brauchtümer ihren festen Platz ende öffnen zusätzlich der Adventmarkt im Franziskiim Geschehen. So lockt das Salzburger Adventsingen wie schlössl, der Stiegl Bieradvent, der Sternadvent und der in jedem Jahr wieder einmal rund 36.000 Gäste ins Große Adventmarkt St. Leonhard, der sich passend zur VorFestspielhaus, und im Weihnachtsmuseum am Mozart- weihnachtszeit ganz der Nächstenliebe widmet. Rund 300 platz können historische Bräuche, Schmuck und Gaben Freiwillige helfen am Fuße des Untersbergs fleißig mit, um am Ende die Einnahmen der Salzburger Lebenshilfe erkundet werden. Den kleinen Besuchern bietet sich die Möglichkeit, zu schenken. Es lohnt sich, den Besuch in Salzburg bis ins neue das Christkind und den Nikolaus samt Krampus zu treffen und ihnen dabei vielleicht schon den einen oder ande- Jahr hinein auszuweiten, um das Feuerwerk auf der Fesren Weihnachtswunsch zuzuflüstern. Unter dem Motto tung Hohensalzburg zu bestaunen, während im Hinter„Kinderlächeln“ gibt es zudem viele weitere Attraktionen grund die Glocken des Doms das neue Jahr einläuten.

S A L Z B U R G PAC K AG E S Die Pauschalangebote für eine Reise nach Salzburg in der Advents- und Weihnachtszeit enthalten Übernachtung und Adventveranstaltung. Mehr Info dazu unter: www.salzburg.info/pauschalen

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„Kein Geschenk der Welt könnte schöner sein, als in seinen Armen Walzer zu tanzen. Ob damals auf unserer Hochzeit oder heute mitten auf dem Pazifik.“

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Abb.: Portmedia Verlag; Strezhnev Pavel / fotolia.com

(Solo Musica)


H O P E

T R I F F T

Die Daniel-Hope-Kolumne

APARTHEID UND YEHUDIS GEIGE

Daniel Hope: Hi Dad! Es gibt für alles ein erstes Mal. Jetzt wirst du von deinem eigenen Sohn interviewt. Christopher Hope: Dass ich das noch erleben darf! Tatsächlich ein seltsames Gefühl. Deine Bücher waren unter dem Apartheidsregime verboten und du hast dich bewusst entschieden, Südafrika zu verlassen. Würdest du das heute wieder so machen? Gute Frage. Wenn es auch nur das kleinste Anzeichen für Zensur gäbe, würde ich gehen. Als wir in den 1960ern und 70ern dort lebten, wurde fast alles – von Büchern über Filme bis zu politischen Diskussionen – akribisch überwacht. Viele, die sich gegen das Apartheidsregime wandten, wurden zensiert oder verboten oder erlitten noch schlimmere Schicksale. Das neue Südafrika ist in vielen Bereichen wie das alte, aber Zensur gehört nicht dazu. Zumindest noch nicht! Aber es gibt wachsende Intoleranz gegenüber einigen ethnischen Gruppen. Das erinnert mich auf sehr unangenehme Weise an früher. Nun werden manchmal Weiße ausgesondert – wie Schwarze während der Apartheid. Ich bin gegen jede Art von Rassenhass. Wenn das schlimmer wird, gehe ich woanders hin. Vor ein paar Jahren haben wir zusammen A Distant Drum produziert, ein Musiktheaterwerk über die Apartheid mit dem deutschen Komponisten Ralf Schmid für die Carnegie Hall. Wie eng sind Musik und Literatur verbunden? Manchmal sehr eng. Besonders wenn man eine Oper oder ein Libretto schreibt oder ein Gedicht vertont. Wenn die beiden Künste gut 114

liegen. Dieses rückwärtsgewandte Gefühl von moralischer Überlegenheit ist reiner Selbstbetrug. Was bedeutete der Name Yehudi Menuhin für dich, bevor du ihn trafst? Wenig. Ich kannte ihn natürlich und hatte einige seiner Aufnahmen gehört. Er war so berühmt, dass wir sogar in unserem weit entfernten und von der „Außenwelt“ abgeschnittenen Land von ihm gehört hatten. Und er hatte einen legendären Daniel Hope mit seinem Vater Christopher Besuch in Südafrika gemacht – doch was er zusammenspielen, verstärkt Musik die Kraft dort sah, beunruhigte ihn so sehr, dass er der Poesie. A Distant Drum habe ich in schwörte, erst wiederzukommen, wenn die Reimform geschrieben, als eine Serie von Apartheid vorbei ist. Gedichten. Was in Ralfs Komposition so Einmal hast du Yehudi Menuhins Delgenial gelang, war, die Gefühle in meinen Gesù-Geige im Flugzeug liegen lassen. Versen zu unterstreichen, das Drama zu Wie war das für dich? vergrößern, Emotionen aufzuwühlen. Es läuft mir immer noch kalt den Rücken Aktuell schreibst du ein Buch über Leute, runter, wenn ich daran denke. Auf einem die Statuen abreißen und die Geschichte Kurzstreckenflug von London nach Paris neu erfinden. Kann man in einer Welt der arbeitete ich an einem neuen Buch. Ich sollte Eyecatcher und Selfiesticks die Vergangen- den Bodyguard von Yehudis Geige spielen. heit überhaupt noch ummodeln? Wahrscheinlich war ich mit meinen GedanJetzt, wo sich echte Fakten und Fake News ken ganz bei meiner Arbeit, denn ich vergaß immer mehr angleichen, fällt es tatsächlich das Instrument im Gepäckfach. Schon ein schwer, zwischen ihnen zu unterscheiden. paar Minuten später traf ich Yehudi, der Wir leben in einer Zeit, in der sich die unruhig auf sein wertvolles Instrument Menschen dazu berufen fühlen, sich die wartete. Sofort wurde mir klar, was ich getan Welt so hinzubiegen, wie es ihnen passt. hatte. Zum Glück konnte man seinerzeit Und sich selbst genau so zu erfinden, wie sie einfach ins Flugzeug zurückmarschieren … sein wollen. Nur sehr wenige stellen sich auf und die Geige lag noch immer da. Menuhin Facebook schlecht dar. Und das Abbauen ist total ruhig geblieben, aber ich schrecke von Statuen wie in Südafrika oder den USA immer noch hoch, wenn ich davon träume. ■ ist ein schlimmer Fehler, weil es nichts Am 19. Oktober kommt „Daniel Hope – Der Klang des Lebens“ ändert. Wenn man Menschen anderer Zeitalter nach den moralischen Maßstäben in die Kinos, ein Film von Nahuel Lopez. Weitere Infos unter: www.mindjazz-pictures.de von heute beurteilt, kann man nur falsch www.crescendo.de

Ok tober – November 2017

F OTO: P R I VAT

Christopher Hope ist nicht nur ein südafrikanischer Schriftsteller, dessen Werke während der Apartheid verboten waren, er assistierte auch dem berühmten Yehudi Menuhin und ist Vater unseres Kolumnisten.


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F i l m m u s i k 06.10.2017 – Nürnberg 21.10.2017 – Hamburg 26.10.2017 – Düsseldorf 29.10.2017 – München 05.11.2017 – Stuttgart

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