Bayerischer Monatsspiegel #157

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Dezember 2010

02_2008

Verlag Bayerischer Monatsspiegel | 46. Jahrgang 2010 | PostvertriebsstĂŒck 69234 | ISSN 1860-4561 | Einzelpreis 7,50 EUR

Ausgabe 157

Titelthema: Luft- und Raumfahrt Christine Lieberknecht: BlĂŒhendes Land Klaus Schroeder: Ein Staat – zwei Gesellschaften? Walter Beck: Sarrazin und die verspielte Chance der CDU Hugo MĂŒller-Vogg: StammwĂ€hler flĂŒchten Heinrich Oberreuter: Auf dem Weg zur Volkspartei Thomas Enders: Airbus – Grenzenloser Erfolg Wilfried Scharnagl: Strauß, der große VisinonĂ€r Barbara Stamm: Frauen auf dem Vormarsch

© ESA

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EDITORIAL

Einen Blick in die Zukunft der Luftfahrt gab Airbus-Chef Thomas Enders bei seinem Auftritt vor dem Peutinger-Collegium in MĂŒnchen. Auf unserem Bild wird er begrĂŒĂŸt von Peutinger-PrĂ€sident Dr. Walter Beck (r).

Vorwort des Herausgebers Wir sind ein komisches Volk – jedenfalls vom Ausland betrachtet. Da weist ein prominenter sachkundiger Wirtschaftler und Politiker auf unsere Probleme hin. Alle fallen ĂŒber ihn her, ohne sein Buch gelesen zu haben. Anschließend wird aber eine FĂŒlle von seinen Forderungen in der Öffentlichkeit gerade durch die Politiker, die vorher ĂŒber ihn hergefallen sind, aufgenommen und akzeptiert. Eine Entschuldigung bei Sarrazin habe ich aber noch von keinem gelesen. Weder die Rede des BundesprĂ€sidenten in Bremen, noch seine Rede in Istanbul wĂ€ren denkbar ohne das Buch von Sarrazin. Bundesministerin von der Leyen schlĂ€gt bei Hartz IV vor, durch Chipkarten fĂŒr die Kinder sicherzustellen, dass auch wirklich die Kinder den Vorteil der Förderung genießen, nicht die Eltern dieses Geld ausgeben. Das steht auch in dem Buch von Sarrazin. Alle regen sich unisono darĂŒber auf, dass Sarrazin ĂŒber das „Juden-Gen“ gesprochen hat – allerdings im positivsten Sinne: Verbunden mit dem Hinweis, dass die Juden durchschnittlich intelligenter sind als andere. In Israel wird dieser Sachverhalt ganz selbstverstĂ€ndlich diskutiert, entspricht er doch einem strengen jĂŒdischen Gesetz. Danach ist Jude, wer von einer jĂŒdischen Mutter abstammt. Wer von der Mutter abstammt, hat auch die Gene der Mutter. DarĂŒber zu sprechen ist verboten? Ist Charles Darwin in der Politik in Deutschland noch nicht angekommen? Komisch! Es ist verboten darĂŒber zu sprechen, dass arme Familien, insbesondere Familien aus dem moslemischen Glaubensbereich, sehr viel mehr Kinder haben als Familien in wirtschaftlich gesicherten Situationen. Es ist verboten, ĂŒber die Konsequenzen zu sprechen. Wenige Tage nach der Aufregung ĂŒber Sarrazin berichtet der Focus darĂŒber, dass streng glĂ€ubige Juden in Israel sehr viel mehr Kinder haben als die laizistischen Juden. Man mĂŒsse deshalb davon ausgehen, dass diese

streng glĂ€ubigen Juden, die bis zu 9 und 10 Kinder haben, in absehbarer Zeit in Israel die Mehrheit darstellen. DarĂŒber darf man berichten. Komisch! We are the Champions! Diesen Ruf hört man aller Orten und in allen Sprachen, wenn ĂŒber die gegenwĂ€rtige Wirtschaftssituation und ĂŒber die vergangene Finanzkrise gesprochen wird. Diese Finanzkrise war ebenso unvorhergesehen und unkalkulierbar wie die Wiedervereinigung in Deutschland. Helmut Kohl hat die Wiedervereinigung verglichen mit einer Wanderung im Nebel durch das Moor auf völlig unsicheren und unbekannten Pfaden. Er hat den Weg erfolgreich gefunden. Noch erfolgreicher war – soweit wir heute sehen können – unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel. DafĂŒr wird sie weltweit bewundert – in Deutschland aber abgestraft. Wir sind schon ein komisches Volk. We are the Champions: In der Luft- und Raumfahrt ist Deutschland in vielen Bereichen weltweit MarktfĂŒhrer. Die beispiellose Geschichte von Airbus, durch Franz Josef Strauß zielsicher begonnen, beweist das. Die Berichte in diesem Heft stellen unsere hervorragende Position am Markt sehr deutlich dar. Werden wir diese Erfolge zur Kenntnis nehmen? Oder der Luft- und Raumfahrt durch Abgaben und Exportverbote die Luft abschnĂŒren? Zuzutrauen wĂ€re dies ja manchen Politikern. Wir sind ja ein komisches Volk. In diesem Sinne Ihr

Prof. Dr. Walter Beck PrÀsident

Titelseite Europas Raumfahrtbahnhof Kourou liegt im Dschungel von Französisch-Guyana im tropischen Mittelamerika. Von hier starten die Ariane-Raketen in das Weltall.

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INHALT

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Aktuelles

Politik & Wirtschaft

Luft- & Raumfahrt

Christine Lieberknecht im GesprĂ€ch mit Peter Schmalz | 6 BlĂŒhendes Land

Thomas Enders Grenzenloser Erfolg

Thomas Breitenfellner Sprachrohr des Ostens

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Dietmar Schrick Deutschland braucht Raumfahrt | 34

Josef Kraus Historische Analphabeten

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Editorial

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Kurz gemeldet

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Titelthema Luft- und Raumfahrt

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Impressum

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Vorschau Das Heft 158 hat das Titelthema Sicherheit: Keine Freiheit ohne Sicherheit – Von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann · Welche Sicherheitspolitik braucht das 21. Jahrhundert? – Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der MĂŒnchner Sicherheitskonferenz, im GesprĂ€ch mit Eberhard Piltz · Wehrauftrag wird dominiert von Sicherheitsaufgaben – EADS-Chef Stefan Zoller ĂŒber den Wandel einer Branche · Der neue Personalausweis mit Chip und Fingerabdruck – Eine Analyse von Dr. Hans-Peter Uhl

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Klaus Schroeder Ein Staat – zwei Gesellschaften? | 14 Walter Beck Sarrazin und die verspielte Chance der CDU

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Hugo MĂŒller-Vogg StammwĂ€hler flĂŒchten

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Christian Minaty Die Blogger-Generation schreibt sich zum Reichtum | 22 Heinrich Oberreuter Auf dem Weg zur Volkspartei

| 30

JĂŒrgen Breitkopf MĂŒnchner Pfadfinder im Weltall | 36 Egon Behle Leiser, sauberer und krĂ€ftiger

| 38

Luftfahrtmuseum Von mutigen Menschen und starken Maschinen

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Michael Kerkloh Die Überflieger

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Donner & Reuschel Marktkommentar Konjunktur und KapitalmĂ€rkte | 26 Walter Beck Die TĂŒrken machten 2002 den Kanzler Schröder

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INHALT

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Luft- & Raumfahrt

Bayern & Kultur

Leben & Genießen

Eurocopter Ein Schwabe schwebt in die Welt | 45

GesprÀch mit Barbara Stamm Frauen auf dem Vormarsch

| 57

Peter Schmalz Neustart in Oberpfaffenhofen

| 47

Thomas Breitenfellner Kleine Gruppe, große Wirkung

| 60

Wilfried Scharnagl Realistischer VisionÀr

| 49

Peter Schmalz Schwarze Faser spart Sprit und Gewicht Thomas Breitenfellner Der Robonaut aus Bayern

Integration zum Wohle Bayerns | 62

Thomas Enders und Harald Lesch beim Peutinger-Collegium | 77

Hannes Burger Niedrigsteuer lockt HeinzelmÀnnchen

| 66

Vorschau

FĂŒr Sie gelesen Buchbesprechungen

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Veranstaltungen des Peutinger-Collegiums 2010/2011 | 79

Michael Weiser Landsknechte der Malerei

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Ulrich-Joachim MĂŒller Raumfahrt macht Autos besser | 56

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Interview mit Herbert Frauenberger Wie das Schwein zum Kalb wurde | 74

Weitere Themen im Heft 158: Was blĂŒht Bayern und der CSU? – Interview mit MinisterprĂ€sident Horst Seehofer · An Werten orientiert und im Unternehmen erfolgreich – Prof. Dr. Fritz WickenhĂ€user ĂŒber Wirtschaft und Verantwortung · Die aktuellen Herausforderungen der bayerischen Bildungspolitik - von Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle · Woher kommt die Menschheit – erlĂ€utert von dem Max-Planck-Wissenschaftler Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel

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POLITIK & WIRTSCHAFT Christine Lieberknecht im GesprĂ€ch mit Peter Schmalz

BlĂŒhendes Land Die ThĂŒringer MinisterprĂ€sidentin ĂŒber die Wende in der DDR, den Aufbau und die Erfolge

Am 3. Oktober feierte Deutschland den 20. Jahrestag seiner 1990 wiedergewonnen Einheit. Ist das Land in den zwei Jahrzehnten zusammengewachsen? Was ist geblieben vom Versprechen Helmut Kohls, es wĂŒrden blĂŒhende Landschaften entstehen? Peter Schmalz sprach darĂŒber mit der MinisterprĂ€sidentin des Freistaates ThĂŒringen, der CDU-Politikerin Christine Lieberknecht. Sie hatte vor der Wende mit dem mutigen „Brief aus Weimar“ gegen den SED-Staat protestiert. Bayerischer Monatsspiegel: Vor 20 Jahren sagte Willy Brandt: „Es wĂ€chst zusammen, was zusammengehört.“ Geben ihm die vergangenen zwei Jahrzehnte recht? Christine Lieberknecht: In diesen 20 Jahren haben wir eine unglaubliche Entwicklung erlebt. Bei uns haben die Menschen aus den westlichen LĂ€ndern gemeinsam mit den ThĂŒringern die Ärmel hochgekrempelt, um ein Unternehmen zu retten oder zu Wiederauferstanden aus Ruinen: Goethe und Schiller vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar. Die Stadt blĂŒht in neuem Glanz und war 1999 Kulturhaupstadt Europas.

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grĂŒnden, um im sozialen Bereich Menschen zu helfen und bei der Bildung Ideen und Wissen auszutauschen. In all diesen konkreten Projekten gab und gibt es das unmittelbare Miteinander, bei dem heute keiner mehr danach fragt, wer woher kam. Aber es gab auch EnttĂ€uschungen, was im menschlichen Leben normal ist und in solchen gravierenden UmbrĂŒchen ohnehin nicht zu vermeiden ist.

BMS: Hat dabei auch die geographische Lage von ThĂŒringen geholfen? Lieberknecht: Wir legen viel Wert darauf, Mitte zu sein. Wir sind als ThĂŒringer Mitteldeutschland. Dieser Mittegedanke ist mir nach diesen 20 Jahren sehr wichtig, denn wir kamen aus einer Konfrontation, die nur Ost und West gekannt hatte. Da war kein Platz fĂŒr Mitteldeutschland und auch kein Platz fĂŒr Mittel­ europa. Dass wir diese Mitte wieder haben, gehört fĂŒr mich zu den beglĂŒckenden Entwicklungen dieser letzten 20 Jahre. Als bundesweit sichtbares Zeichen dafĂŒr haben wir den Mitteldeutschen Rundfunk. BMS: Die Deutsche Einheit ist also eine Erfolgsgeschichte? Lieberknecht: Sie ist ein Erfolg, wie wir uns ihn vor 20 Jahren nicht hĂ€tten vorstellen können.


POLITIK & WIRTSCHAFT BMS: Helmut Kohl hatte von den „blĂŒhenden Landschaften“ gesprochen und musste sich fĂŒr diesen Satz spĂ€ter viel Spott anhören. Lieberknecht: FĂŒr ThĂŒringen kann ich mit Fug und Recht sagen: Wir haben die blĂŒhenden Landschaften. Aber ich bin auch immer dafĂŒr, dass man Zitate vollstĂ€ndig wiedergibt. Helmut Kohl hat die blĂŒhenden Landschaften 1990 hier auf dem Domplatz in Erfurt vor rund 100.000 Menschen als Vision formuliert, aber er hat das Tal der TrĂ€nen auch nicht verschwiegen. Und beides ist zutreffend: Wir sind bei der schwierigen Umstrukturierung unserer Wirtschaft und auch bei vielen anderen notwendigen VerĂ€nderungen durch ein tiefes Tal der TrĂ€nen gegangen. Wir haben aber gerade in ThĂŒringen frĂŒhzeitig die Weichen gestellt fĂŒr Aufbau und Aufschwung, indem wir uns zu den neuen Strukturen aktiv bekannt haben. Und damit haben wir die Voraussetzungen geschaffen fĂŒr die blĂŒhenden Landschaften, die wir heute sehen können. BMS: Am Anfang stand die Wut ĂŒber eine von der SED abermals gefĂ€lschte Kommunalwahl. Haben Sie das Ende der DDR kommen sehen?

„Das Ende der DDR hatte ich nicht im Blick, das war jenseits meiner Vorstellungen“: Christine Lieberknecht kĂ€mpfte als junge Frau (Bild rechts) mutig fĂŒr Reformen in der DDR. Ihr „Brief aus Weimar“, den die evangelische Theologin nach der gefĂ€lschten Kommunalwahl 1989 mit drei Mitunterzeichnern veröffentlichte, brachte sie ins Visier der kommunistischen Staatsmacht. 1958 in Weimar geboren, arbeitete sie als Pastorin in der Umgebung ihrer Heimatstadt und war ab 1990 als ThĂŒringer Kultusministerin verantwortlich fĂŒr den Umbau des Bildungssystems. Sie war Bundes- und Europaministerin, PrĂ€sidentin der ThĂŒringer Landtags und CDU-Fraktionsvorsitzende. Nach dem RĂŒcktritt von MinisterprĂ€sident Dieter Althaus wurde Frau Lieberknecht im Oktober 2009 die erste CDU-MinisterprĂ€sidentin in Deutschland.

Lieberknecht: WahlfĂ€lschungen waren in der DDR nichts Neues, doch ein wichtiger Schub fĂŒr die friedliche Revolution im Herbst 1989 lag in der Tat in der Kommunalwahl vom 7. Mai 1989. Weil die Menschen schon mehr Mut hatten, konnten diese FĂ€lschungen erstmals systematisch nachgewiesen werden und es wurde gegen diese FĂ€lschung offen protestiert. Aber das Ende der DDR hatte ich damals nicht im Blick, das war jenseits meiner Vorstellungen. Wir sind aktiv eingetreten fĂŒr Reformen innerhalb der DDR. Erst als die Mauer fiel, rĂŒckte die Deutsche Einheit in greifbare NĂ€he. Bayerischer Monatsspiegel 157_2010

BMS: Sie haben gemeinsam mit drei Mitstreitern den Brief aus Weimar unterzeichnet und darin die CDU aufgefordert, sich demokratisch zu reformieren und sich von der SED-Umklammerung zu lösen. Lieberknecht: Die CDU-Satzung, selbst in der DDR, enthielt noch demokratische RestbestĂ€nde aus der Zeit ihrer GrĂŒndung. Ein zentraler Satz unseres Briefes war gegen den Zentralismus gerichtet, der fĂŒr die DDR konstitutiv war, der aber nicht zu den Wesensmerkmalen der CDU gehörte, die föderal gegrĂŒndet war. Wir wollten die CDU aus dem von der SED dominierten Block der Nationalen Front lösen, um eine Plattform fĂŒr die ĂŒberall aufflammenden Diskussionen zu bieten. Diese Debatten, die bis

Der Glaube kann stĂ€rker sein als jedes politische System. dahin nur unter dem Dach der Kirchen gefĂŒhrt werden konnten, wollten wir wieder in die Gesellschaft fĂŒhren.

BMS: Das klingt heute weit harmloser, als es damals war. Woher nahmen Sie den Mut? Lieberknecht: Es war uns schon klar, dass unser Handeln nicht ganz ungefĂ€hrlich war und zu unliebsamen Bekanntschaften mit der DDR-Staatsmacht fĂŒhren konnte, aber es gab einen Punkt, da konnte ich nicht mehr zurĂŒck. Da habe ich gespĂŒrt, dass die innere Überzeugung so stark sein kann, dass man bereit ist, auch Nachteile auf sich zu nehmen. Die Erfahrung, dass es eine innere Überzeugung gibt, bei der man nicht bereit ist, auch einer unkalkulierbaren Staatsmacht gegenĂŒber einzulenken, war mir aus der Geschichte bekannt, aber sie persönlich zu erleben, war fĂŒr mich neu. BMS: Da fallen einem Parallelen zur NS-Zeit ein. Lieberknecht: Ich will das nicht ĂŒberhöhen, aber ich habe mich im Theologiestudium viel beschĂ€ftigt mit dem Widerstand im Dritten Reich, mit Dietrich Bonhoeffer oder Paul Schneider, dem Prediger von Buchenwald. Und ich habe mich immer gefragt, woher hatten diese Menschen die Kraft, fĂŒr eine Überzeugung so einzutreten, dass sie bereit waren, selbst ihr Leben zu opfern. Ohne das vergleichen zu wollen, habe ich dann selbst eine Ahnung davon verspĂŒrt, wie es möglich ist, fĂŒr seine Überzeugung auch in einem Unrechtsstaat einzutreten. BMS: Hat Ihnen der Glaube dabei geholfen? Lieberknecht: FĂŒr mich ist der Glaube mein Fundament, und ich musste meine inneren Koordinaten nicht Ă€ndern, sie sind stĂ€rker als jeder Systemwechsel. Es ist die Freiheit eines jeden Christenmenschen, der niemandem untertan ist. Der Glaube kann stĂ€rker sein als jedes politische System. BMS: Gab es dennoch Momente der Angst? Lieberknecht: Die gab es, vor allem bei den Demonstrationen, als wir noch nicht wussten, ob die Panzer in den Kasernen bleiben wĂŒrden. Es war auch angsteinflĂ¶ĂŸend, wie die Staatssicherheit fast ĂŒberall aufgetreten ist. Auch ich hatte Angst, aber wir waren in einer Gemeinschaft, in der wir nicht mehr zurĂŒck wollten und auch nicht mehr zurĂŒck konnten. Die Gemeinschaft macht stark und den Demonstrationen sind immer Gebete vorausgegangen. Es haben alle gebetet, die GlĂ€ubigen wie auch all die anderen.

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POLITIK & WIRTSCHAFT BMS: Wer in diesem Jahr Abitur machte, war damals noch nicht geboren. Können Sie diesen jungen Leuten die GefĂŒhle von damals vermitteln? Und finden Sie Interesse dafĂŒr? Lieberknecht: Das Interesse der jungen Leute ist sehr groß. Es gibt Zeitzeugen-GesprĂ€che in Schulen, SchĂŒlerwettbewerbe, Projekte, die sich mit der frĂŒheren Grenze beschĂ€ftigen. Auch die Medien leisten dazu zunehmend BeitrĂ€ge. All dies hat ein paar Jahre gedauert, aber inzwischen gibt es eine intensive BeschĂ€ftigung mit dieser jĂŒngsten Geschichte, die aber fĂŒr die SchĂŒler in weiter Ferne liegt und daher begreifbar erklĂ€rt werden muss. BMS: Sie waren nach der Wende die erste Kultusministerin in ThĂŒringen und damit verpflichtet, einen neuen Geist in die Schulen zu bringen. Lieberknecht: Das war schwierig, zugleich aber gab es auch viel Offenheit. Es gab viele PĂ€dagogen, die sich bewusst auf den neuen Weg gemacht haben, es gab aber auch andere, die hatten schlichtweg Angst, weil sie FĂ€cher und Aufgaben hatten,

Die nachtrÀgliche Verharmlosung verhöhnt die Stasi-Opfer.

Bild: P. Schmalz

die es nicht mehr gab. Wie Lehrer fĂŒr StaatsbĂŒrgerkunde oder Pionierleiter zu sein. Dazu kam auch noch, dass wir durch die Kultusministerkonferenz gebunden waren, unser Schulsystem möglichst rasch anzugleichen.

Große Ehre fĂŒr den Vater der Einheit: Zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit lud BundestagprĂ€sident Norbert Lammert zu einem Festakt vor dem Reichstag in Berlin ein, wo Bundeskanzler Helmut Kohl und BundesprĂ€sident Richard von WeizsĂ€cker in der Nacht zum 3. Oktober 1990 mit einem großen Feuerwerk das Ende der DDR und den Beginn des wiedervereinten Deutschlands erlebt hatten. Zwei Jahrzehnte spĂ€ter ist Helmut Kohl als Ehrengast gekommen (unser Bild zeigt Kohl auf einer Großleinwand vor dem Reichstag) und der BundestagsprĂ€sident wĂŒrdigt ihn fĂŒr seine historische Leistung: Mit niemandem verbinde sich die Deutsche Einheit so sehr wie mit Helmut Kohl. Vor allem mit dem damaligen US-PrĂ€sidenten George Bush senior. und dem sowjetischen PrĂ€sidenten Michail Gorbatschow sei es Kohl gelungen, die Chance zur Einheit zu verwirklichen. An der Feier nahmen auch Kohls Nachnachfolgerin Angela Merkel und der neue BundesprĂ€sident Christian Wulff teil, der wenige Stunden zuvor bei der zentralen Einheitsfeier in Bremen seine viel diskutierte Integrationsrede gehalten hatte.

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BMS: Gingen dabei auch Dinge unter, die Sie gerne behalten hĂ€tten? Lieberknecht: Zum Beispiel das Fach Polytechnik. Ohne ideologischen Ballast war es ein sehr sinnvolles Fach, das die theoretische Ausbildung mit dem Bezug zum wirtschaftlichen Alltag verbunden hat. Es zeigt sich heute auch als Fehler, dass wir damals die pĂ€dagogischen Hochschulen geschlossen haben. Es gibt aber auch schöne Sachen, die wir erhalten haben. So haben wir gegen viel pĂ€dagogischen Missionseifer aus den alten LĂ€ndern das bodenstĂ€ndige Fach Schulgarten erhalten. Heute wĂŒrde man sagen, hoch modern im Sinn der Nachhaltigkeit, sehr anschaulich. Aber damals haben sie ĂŒber mich als junge Kultusministerin den Kopf geschĂŒttelt. Ich habe das gern hingenommen. Ein anderes Beispiel ist das Abitur nach zwölf Jahren. BMS: Von einer angsteinflĂ¶ĂŸenden Staatssicherheit haben Sie bereits gesprochen. Heute meint mancher, die Stasi sei nur ein Geheimdienst gewesen wie viele andere auch. Lieberknecht: Die nachtrĂ€glichen Verharmlosungsdebatten sind völlig inakzeptabel und werden der Rolle der Stasi auch nicht gerecht. Vor allem aber sind sie ein Hohn fĂŒr die Opfer, die bis heute unter den frĂŒheren Machenschaften der Staatssicherheit zu leiden haben. Wir dĂŒrfen auch die nicht vergessen, die durch die Schikanen ihr Leben verloren haben oder deren Lebenserwartung schwer beeintrĂ€chtigt wurde. BMS: Können Sie verstehen, dass auch Kollegen von Ihnen Probleme haben, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen? Lieberknecht: Wir haben hier eine emotional aufgeladene Debatte. Auch wenn der Begriff Unrechtsstaat im Völkerrecht nicht vorgesehen ist, war es doch das GefĂŒhl der Menschen, Bayerischer Monatsspiegel 157_2010


POLITIK & WIRTSCHAFT dass ihnen in Bezug auf zentrale Grundrechte Unrecht geschieht. Das hat gar nichts damit zu tun, dass es auch in der DDR einen normalen Alltag gab und dass in normalen zivilrechtlichen VorgĂ€ngen Recht gesprochen wurde, das bis heute Bestand hat. Aber dieser Staat hat sich selbst bewusst als Diktatur des Proletariats definiert und dem alles untergeordnet.

BMS: Angela Merkel ist Deutschlands erste Bundeskanzlerin, Sie sind die erste CDU-MinisterprÀsidentin. Gibt es in den neuen LÀndern ein besonderes weibliches Macht-Gen?

© Bundespressearchiv

BMS: Wirkt das Stasi-Gift noch heute? Lieberknecht: Ich habe mich immer gewehrt, der Staatssicherheit noch nachtrĂ€glich Macht zuzugestehen. Die Debatte ĂŒber die Staatssicherheit ist in den vergangenen Jahren mit solcher IntensitĂ€t gefĂŒhrt worden, dass ich meine, dadurch bekommt sie einen Stellenwert, der ihr nicht gebĂŒhrt. Das geht bis dahin, dass man Unterlagen der Staatssicherheit bis zum heutigen Tag nutzt, um historische VorgĂ€nge aufzuklĂ€ren, also

BMS: Haben Sie Respekt vor der Entscheidung der ThĂŒringer SPD, gegen teils massiven Widerstand auch aus Berlin nicht mit den Linken, sondern mit der CDU zu koalieren? Lieberknecht: Davor habe ich großen Respekt. Es gilt ja noch immer als ein kleines Wunder, dass es trotz einer reichlichen strategischen Mehrheit von SPD, Linken und GrĂŒnen zu einer Großen Koalition gekommen ist. Das ist in der aktuellen Parlamentsgeschichte ja nicht gerade ĂŒblich. Wir haben dadurch stabile, verlĂ€ssliche VerhĂ€ltnisse erreicht, wenngleich wir mit einer CDU-Alleinregierung natĂŒrlich einige andere Akzente setzen wĂŒrden.

Das Andreas-Viertel im Herzen von Erfurt war von der SED zum Verfall und Abriss preisgegeben. Ein Stadtmodell aus den achtziger Jahren zeigt den sozialistischen GrĂ¶ĂŸenwahn: Die historische Altstadt sollte eintönigen Plattenbauten weichen.

Die Wende kam den Abrissbaggern der DDR-Herrscher zuvor: Private Investoren haben seit 1990 die maroden HĂ€user der Erfurter Innenstadt saniert. Die ThĂŒringer Landeshauptstadt ist heute ein SchmuckstĂŒck, das viele Touristen anlockt.

auf Basis zu Unrecht erstellter Materialien, bei denen ich auch Zweifel an deren Wahrhaftigkeit habe.

Lieberknecht: Über Gene möchte ich nicht spekulieren. Wir haben aber gemeinsam, dass wir aus einem Pfarrhaus kommen und damit in einer Gesellschaft, die fast bis in den letzten Winkel staatlich organisiert war, in einer absoluten Minderheitensituation waren. Wenn man in dieser DDR etwas werden wollte, ohne sich ideologisch eingliedern zu wollen, musste man besser sein. Ich durfte mein Abitur nur ablegen, weil ich in einigen Fachdisziplinen fĂŒr die Schule bei Wettbewerben erfolgreich war, die es nicht mehr möglich machten, mich vom weiteren Bildungsweg fern zu halten.

BMS: WĂ€re es besser fĂŒr die Einheit gewesen, die SED wĂ€re nach der Wende verboten worden? Lieberknecht: DarĂŒber können wir im Nachhinein kluge Debatten fĂŒhren. Unmittelbar nach der friedlichen Revolution gab es gar keine Instanz, mit der wir sie hĂ€tten verbieten können. Ich empfinde es als das höhere Gut, fĂŒr das wir wirklich dankbar sein mĂŒssen, dass wir eine Revolution ohne Blutvergießen hatten. Das ist mit Blick auf die Revolutionsgeschichte ein einzigartiges Wunder. Und jeder von uns war froh, dass es so friedlich war. Mit Übernahme des bundesdeutschen Rechtssystems war jeder Versuch, die SED-PDS zu verbieten, aussichtslos. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass es in der zweiten Reihe der SED Leute gegeben hat, die mitgewirkt haben, dass die Revolution friedlich bleiben konnte. Bayerischer Monatsspiegel 157_2010

BMS: Also harte UmstÀnde, die Leistungen geradezu provozierten? Lieberknecht: Einerseits harte UmstÀnde, dazu aber auch die Geborgenheit im staatsfernen Raum des Pfarrhauses. So sind wir beide an unterschiedlichen Orten unter Àhnlichen UmstÀnden geprÀgt worden. n

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POLITIK & WIRTSCHAFT Thomas Breitenfellner

Sprachrohr des Ostens Wie ein Bayer in den Neuen LĂ€ndern zum MarktfĂŒhrer wurde

In den Wochen vor der Deutschen Einheit bewies Verleger Hubert Burda GespĂŒr: Die Herausgabe der wöchentlich erscheinenden Super Illu wurde ein Erfolg. Bald wurde die Zeitschrift zum MarktfĂŒhrer in den Neuen LĂ€ndern – und hĂ€lt die Spitzenstellung bis heute mit großem Abstand. Ein PhĂ€nomen in der Medienlandschaft. 20 Jahre Deutsche Einheit, das sind auch 20 Jahre Super Illu. Mann der ersten Stunde ist Jochen Wolff, der drei Monate nach GrĂŒndung Chefredakteur wurde und heute immer noch an der Spitze steht. 20 Jahre im Amt – auch das ist ungewöhnlich in dieser schnelllebigen Branche. Aber ungewöhnlich mag der Werdegang dieses Formats ohnehin erscheinen. FĂŒr Verleger Hubert Burda war es ein Experiment in einer hektischen Zeit: NatĂŒrlich musste man damit rechnen, dass der neue Titel – wie so viele andere – schnell wieder aus den Kiosken verschwinden wĂŒrde. Wer konnte schon sagen, welches journalistische Format bei den Menschen im Osten ankommen wĂŒrde? Bald war klar, Burda hatte auf das richtige Pferd gesetzt. Die Auflage schnellte in die Höhe. Bis heute werden Woche fĂŒr Woche

Beginn einer Ära: Super-Illu-Chefredakteur Jochen Wolff mit der ersten Ausgabe vom 23. August 1990. Von Beginn an setzt sich das Blatt kritisch mit der DDR-Vergangenheit auseinander. Blanke BrĂŒste und das „Girl der Woche“ indes mussten weichen. „Irgendwann passte das nicht mehr in die Zeit“, sagt Wolff.

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POLITIK & WIRTSCHAFT

DDR-Geschichte als Dauer-Thema: Super-IlluChef Jochen Wolff (r.) und Chefreporter Gerald Praschl legen einen Kranz fĂŒr Maueropfer Peter Fechter nieder.

rund 400 000 Exemplare verkauft. In den Neuen LĂ€ndern nimmt die Super Illu die Spitzenstellung ein, weit vor den westdeutschen Bestsellern Spiegel, Stern, Bunte und Focus. 3,7 Millionen Menschen lesen die Super Illu, „in Ostdeutschland liegen wir in jedem zweiten Wohnzimmer auf dem Tisch“, sagt Wolff selbstbewusst. „Ein Volltreffer auf dem ostdeutschen Zeitschriftenmarkt“, resĂŒmiert Sachsen-Anhalts MinisterprĂ€sident Wolfgang Böhmer, sein Brandenburger Kollege Matthias Platzeck erklĂ€rte die Super Illu zum „Sprachrohr des Ostens“. Klar ist: Wer die Menschen im Osten erreichen will, kommt um die Super Illu

„Das Ausspielen von Ost gegen West war nie unser GeschĂ€ft.“ nicht herum. Das gilt fĂŒr Politik und Wirtschaft gleichermaßen. Etliche Medienmacher wollten dem Blatt die Alleinstellung im Osten streitig machen, bissen sich an ihm jedoch die ZĂ€hne aus. Worin liegt das Erfolgsgeheimnis? „Nah bei den Menschen sein, ihre Alltagssorgen ernst nehmen“, betont Wolff. Unterhaltung, Information und Tipps – das ist die Mischung, mit der die Redaktion Auflage macht. Den Lesern als Ratgeber zur Seite zu stehen, hatte man von Beginn an als Auftrag verstanden.

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So wurde 1990 in einem Schnellkurs das bundesdeutsche Recht vermittelt – von der Rente ĂŒber Mietkosten bis hin zu Jobverlust. Wie denken und fĂŒhlen die Menschen im Osten? Wolff, der gebĂŒrtige Bayer, hat in all den Jahren das GespĂŒr dafĂŒr entwickelt, der „Wessi“ ist eingetaucht in die Lebenswirklichkeit der „Ossis“. „Das Ausspielen von Ost gegen West war nie unser GeschĂ€ft“, erklĂ€rt Wolff, der in diesem Jahr fĂŒr die BemĂŒhungen um die „innere Einheit“ das Bundesverdienstkreuz erhielt. „Wir dĂŒrfen den Aufschwung Ost nicht kaputt reden“, warnt der 61-JĂ€hrige, „wir dĂŒrfen stolz sein auf das nach der Wende Erreichte.“ So viel steht fest: Eine VerklĂ€rung der Ost-Vergangenheit findet in der Super Illu nicht statt. Kein anderes Medium setzt sich so intensiv mit der DDR-Geschichte auseinander. Dabei unterscheide man „zwischen dem Alltagsleben der Menschen und den Irrwegen, die SED und Stasi beschritten haben“, sagt Wolff. Die Branchenzeitschrift Medientenor stellte fest, dass von den 36 wichtigsten deutschen Medien die Super Illu die Folgen der Deutschen Einheit am positivsten bewertet. Oder wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Interview formulierte: „Super Illu hat nie das schreckliche Bild vom Jammer-Ossi gezeichnet, sondern Menschen herausgestellt, die ihr Schicksal in die Hand nehmen.“ Die Ära des Ost-Magazins – irgendwie super. n

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POLITIK & WIRTSCHAFT Josef Kraus

Historische Analphabeten LehrerprĂ€sident warnt vor erschreckenden WissenslĂŒcken ĂŒber die DDR-Vergangenheit

Als Josef Kraus die Abiturzeugnisse 2010 unterschrieb, fiel ihm auf, dass das arithmetische Mittel der Geburtsdaten aller 73 Abiturienten als durchschnittlichen Geburtsmonat den Oktober 1990 ergibt. Das veranlasste ihn, in seiner Abiturrede ĂŒber das wiedervereinigte Deutschland zu sprechen. Seinen Appell, mit der jĂŒngsten Geschichte sorgsamer umzugehen und die Freiheit verantwortungsvoll zu pflegen, veröffentlichen wir leicht gekĂŒrzt.

„

Fangen wir damit an, wie erschreckend es ist, was Jung und Alt ĂŒber die Wiedervereinigung und ĂŒberhaupt ĂŒber die deutsche Geschichte nach 1945 wissen. Fast bin ich versucht zu sagen: Hier greift ein ausgeprĂ€gter historischer Analphabetismus um sich, der sich deshalb noch verschĂ€rfen wird, weil derzeit die Vokabel von der angeblich notwendigen EntrĂŒmpelung der LehrplĂ€ne grassiert. Ganze geschichtliche Epochen wurden curricular entsorgt. Laut Emnid-Umfrage weiß etwa jeder dritte Deutsche nicht, wann die Bundesrepublik Deutschland gegrĂŒndet wurde. Und geradezu skandalös unterbelichtet ist im Jahr 20 nach der Wiedervereinigung das Wissen um den anderen Staat in Deutschland. Dazu gibt es eine Studie des „Forschungsverbundes SED-Staat“ der Freien UniversitĂ€t Berlin. Mehr als die HĂ€lfte der jungen

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Leute kennt demnach das Jahr des Mauerbaus nicht. Nur jeder Dritte weiß, dass die DDR die Mauer gebaut hat. Ebenfalls jeder dritte SchĂŒler hĂ€lt Konrad Adenauer und Willy Brandt fĂŒr DDR-Politiker und Honecker ist angeblich demokratisch legitimiert gewesen. Die Stasi sei ein ganz normaler Geheimdienst gewesen. Nur 27,1 Prozent der west- und 17,2 Prozent der ostdeutschen SchĂŒler hatten Kenntnis von der Todesstrafe in der DDR. 71 Prozent aller SchĂŒler meinen, in der DDR habe es keine Arbeitslosigkeit gegeben. Außerdem sei es den Rentnern dort besser als in der Bundesrepublik gegangen und selbst die Umwelt sei in der DDR sauberer gewesen als in der Bundesrepublik. Interessant auch: Gerade in Brandenburg und in Ost-Berlin findet schier eine VerklĂ€rung der DDR statt. SchĂŒler aus OstBerlin sehen die DDR mit einem Anteil von 48 Prozent nicht als eine Diktatur. Bayerische SchĂŒler können die VerhĂ€ltnisse in der DDR noch am ehesten einschĂ€tzen; bayerische HauptschĂŒler wissen ĂŒber die DDR sogar mehr als Brandenburgs Gymnasiasten. So weit die erschreckendsten Ergebnisse der Studie, an der insgesamt 5000 SchĂŒler im Alter von 16 und 17 Jahren aus Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Bayern beteiligt waren. Die einfachste ErklĂ€rung fĂŒr dieses Desaster ist noch, dass nicht


© Mediathek des Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth

Das oberfrĂ€nkische Mödlareuth wurde 1966 von DDR-Grenztruppen durch einen „antifaschistischen Schutzwall“ in der Mitte geteilt. SpĂ€ter wurde der Ort als „Little Berlin“ weltweit bekannt.

In Berlin wurde die Mauer fast vollstÀndig abgebaut, doch in Mödlareuth wurde aus einem Teil der unmenschlichen DDR-Grenzanlagen ein anschauliches Museum geschaffen. Heute wird es von vielen Schulklassen aus Ost und West besucht.

wenige Menschen ihr „Wissen“ um die DDR aus lustigen Filmen ĂŒber die DDR und aus einer „Neuauflage einer mit Floskeln aufgehĂŒbschten DDR“ (Reiner Kunze) beziehen. Die DDR war ja angeblich ein Staat der Geborgenheit.

den mehr als 100 000 Stasi-Mitarbeiter gestoßen wĂ€re. Nein, man sollte es wissen, weil wir dann zu einem aufgeklĂ€rteren VerhĂ€ltnis zu unserem Land finden. Dankbar wissen sollte man auch, dass die Chance zur Vereinigung nur wenige Monate bestand, dass sie glĂŒcklicherweise genutzt wurde und wir sie einem George Bush sen., einem Michail Gorbatschow und einem Helmut Kohl zu verdanken haben. Man denke nur an die WiderstĂ€nde einer Thatcher und eines Mitterand! Es wird jedenfalls Zeit, dass dieses Deutschland sich in all seinen Epochen seiner Geschichte bewusst ist – auch der glĂŒcklichen Phasen. Es wird auch Zeit, dass dieses Deutschland sein Leiden an sich selbst ĂŒberwindet.

Damit ist aber nur ein kleines StĂŒck Legende erklĂ€rt. Es spielt vor allem die aktuelle Geschichtspolitik, beziehungsweise die Geschichtsklitterung krypto-kommunistischer Kreise eine Rolle. Nicht wenige so genannter politischer Spitzen behaupten, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen. Außerdem habe es mit den KindergĂ€rten, Schulen und mit dem Gesundheitswesen auch „sympathische Elemente“ der DDR gegeben.

„Freiheit, die man nicht lebt und pflegt, welkt dahin.“ Eigenartig! WĂ€hrend sich der Widerstand gegen ein Vergessen der Greuel des Nationalsozialismus mit der zeitlichen Entfernung vom „TausendjĂ€hrigen Reich“ immer engagierter formiert, rankt sich mit zunehmendem Abstand vom Jahr 1989 immer mehr Legendenbildung um die DDR. Dass die DDR ein Staat hinter Gittern war; dass an der Grenze zwischen Deutschland und Deutschland eintausend Menschen ihr Leben lassen mussten; dass DDR-Billigarbeiterinnen aus Vietnam und Mosambik unter Abtreibungszwang standen – all dies hielt etwa einen NobelpreistrĂ€ger GĂŒnter Grass nicht davon ab, die DDR als eine „kommode Diktatur“ zu bezeichnen. Die BĂŒrgerrechtlerin Freya Klier schreibt dazu: „Die DDR ist wieder da – und schöner noch als einst.“ Das scheint in der Retrospektive vieler bewegter Schulpolitiker und „Bildungs“-Ideologen auch fĂŒr die „Wahr“-Nehmung des DDR-Schulsystems zu gelten. Seit PISA tun manche sogar so, als habe Finnland hier deshalb so gut abgeschnitten, weil es in den 1970er Jahren das DDR-Schulsystem nachgebaut habe. DDR-Schule, das hieß: Durch­ideologisierung, „Ausbremsen“ von Kindern aus „bĂŒrgerlichen“ HĂ€usern; geschönte Notenbilanzen; schwache Kenntnisse der SchĂŒler in Fremdsprachen, denn das Russische wurde monopolisiert; noch Ende der 80er Jahre eine Abiturientenquote von allenfalls zehn Prozent. All das sollte man wissen. Nicht aus einer Wessi-Arroganz heraus. Denn: Wer von uns Wessis kann schon sagen, wie er sich in der DDR verhalten hĂ€tte, ob er widerstandsfĂ€hig gewesen wĂ€re oder ob er zu

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Mit Staaten ist es nĂ€mlich ebenso wie bei Menschen: Wer sich selber nicht ausstehen kann, ist auch den anderen schwer ertrĂ€glich. Ich wĂŒnsche uns daher eine gesunde Liebe zu unserem Land: Einen Patriotismus der historisch-unterfĂŒtterten IdentitĂ€t. Einen Patriotismus der Bindung nach Innen, des Wir-GefĂŒhls, des GefĂŒhls der Geborgenheit. Einen Patriotis­ mus des inneren Friedens und der Berechenbarkeit, der Offenheit und Toleranz, mit einer gewissen Leichtigkeit und Toleranz. Ansonsten appelliere ich an Euch: Betrachtet Freiheit nie als etwas SelbstverstĂ€ndliches. Denkt daran, dass vor gerade erst 20 bis 21 Jahren dafĂŒr Millionen Deutsche auf die Straße gegangen sind und dafĂŒr so manches riskiert haben. Denkt daran, dass es das Grundgesetz damals war und heute ist, das den freiheitlichen, demokratischen, sozialen Rechtsstaat mit seinen BĂŒrger- und Menschenrechten garantiert. Denkt daran, dass Freiheit (in Bindung und in Verantwortung) tagtĂ€glich gelebt und bewahrt werden will und nichts SelbstverstĂ€ndliches ist. Es gilt: Freiheit, die man nicht lebt und die man nicht pflegt, welkt dahin!

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Josef Kraus ist seit 1987 PrĂ€sident des Deutschen Lehrerverbandes und Leiter des Maximilian-von-Montgelas-Gymnasiums in Vilsbiburg. Der 61-jĂ€hrige PĂ€dagoge studierte in WĂŒrzburg, war Schulpsychologe fĂŒr den Regierungsbezirk Niederbayern und wohnt in Ergolding bei Landshut.

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POLITIK & WIRTSCHAFT Klaus Schroeder

Ein Staat – zwei Gesellschaften? Die Deutschen in Ost und West sind sich immer noch fremd

Wie die Entwicklung in der DDR und der Bundesrepublik gezeigt hat, bilden unterschiedliche Wirtschaftsordnungen unterschiedliche MentalitĂ€ten heraus. Der Sozialismus forderte zwar den ganzen Menschen, ĂŒberließ es ihm aber, in welcher Weise er sich in die Kommandostrukturen des Wirtschaftsprozesses einfĂŒgte. Materielle und immaterielle Anreizprozesse waren zumeist an kollektive Leistungen gebunden. Die diversen mit großem medialem Aufwand betriebenen Kampagnen der SED-FĂŒhrung zur Verbesserung der Arbeitsmoral und -intensitĂ€t erzielten wenig Wirkung beziehungsweise bestĂ€rkten noch viele WerktĂ€tige in ihrer Auffassung, nur das Nötigste zu

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tun. Im Volksmund erfreute sich der Spruch „Ihr tut so, als wĂŒrdet ihr uns bezahlen, dafĂŒr tun wir so, als wĂŒrden wir arbeiten“ großer Beliebtheit. Der „Geist des Kapitalismus“ erfordert dagegen – auch in seiner moderaten Variante, der sozialen Marktwirtschaft – nahezu entgegen gesetzte Einstellungen und Verhaltensweisen. SelbststĂ€ndigkeit, Entscheidungsfreude, Bereitschaft zur bestĂ€ndigen Anstrengung und Leistung sind wesentliche Merkmale der gewĂŒnschten Arbeitsauffassung. Diese wurden zwar in der Folge der Protestbewegung 1968 lauthals in Frage gestellt und zum Teil abgeschwĂ€cht, jedoch nicht abgeschafft. Der Geist des Kapitalis-


POLITIK & WIRTSCHAFT mus erzwang auch bei seinen Kritikern Anpassungsprozesse, die das System insgesamt stĂ€rkten. Soweit die Ausgangslage bei der Wiedervereinigung vor zwanzig Jahren. Aber wie stellt sich die ökonomische und mentale Situation in Ost und West heute dar? Durch den unmittelbar nach der Wiedervereinigung von der damaligen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl eingeschlagenen konsumorientierten Vereinigungspfad, der gewaltige finanzielle Transfers von West nach Ost notwendig machte, vollzogen sich materielle und soziale Angleichungsprozesse in atemberaubender Geschwindigkeit. Ab Mitte der neunziger Jahre gelten, was öffentlich bisher kaum wahrgenommen wird, fĂŒr etwa zwei Drittel der Deutschen in Ost und West annĂ€hernd gleiche Lebensbedingungen. Seither verlangsamte sich zwar die durchschnittliche materielle AnnĂ€herung der Haushalte, wiewohl inzwischen – unter BerĂŒcksichtigung fortbestehender regionaler Kaufkraftunterschiede – die durchschnittlichen realen ostdeutschen Haushaltseinkommen etwa 80 bis 85 Prozent des Westniveaus erreicht haben. Noch bestehende und auch nur langfristig abschmelzende Unterschiede existieren insbesondere in der Verteilung des Ver-

Die ruinösen Hinterlassenschaften des SED-Staates wurden beseitigt. mögens und der hieraus resultierenden Einkommen. Aber selbst auf diesem Feld lĂ€sst sich eine erstaunliche relative Verbesserung fĂŒr ostdeutsche Haushalte konstatieren. Ihre durchschnittlichen Geldvermögen stiegen in den letzten zwanzig Jahren von knapp einem FĂŒnftel auf ĂŒber die HĂ€lfte des westdeutschen Niveaus. Binnen weniger Jahre wurden die ruinösen Hinterlassenschaften des SED-Staates beseitigt. Die aus wirtschaftlichen GrĂŒnden massiv zerstörte Umwelt wurde saniert, die rĂ€umliche und technische Infrastruktur modernisiert, InnenstĂ€dte vor dem endgĂŒltigen Zerfall gerettet, das Gesundheitswesen auf den neuesten Stand gebracht und die ErnĂ€hrungssituation verbessert. In der Folge stieg in den neuen LĂ€ndern die Lebenserwartung in den letzten zwanzig Jahren um gut fĂŒnf Jahre an.

Vor allem das Wirtschaftssystem steht in der Kritik einer Mehrheit in beiden Landesteilen: Nur noch knapp die HĂ€lfte der Westdeutschen und gut ein Viertel der Ostdeutschen halten die Marktwirtschaft fĂŒr das beste Wirtschaftssystem. Mit dieser Skepsis korrespondiert ein steigender Anteil derjenigen, die den Sozialismus fĂŒr eine gute Idee halten, die nur schlecht ausgefĂŒhrt wurde. Über die vergangenen zwanzig Jahre hinweg hat sich bei den Deutschen in Ost und West eine unterschiedliche EinschĂ€tzung des Staates und seiner Aufgaben gehalten. Trotz des klĂ€glichen Scheiterns des Staatssozialismus in der DDR erwarten Ostdeutsche noch stĂ€rker als die Westdeutschen, dass sich der Staat möglichst umfassend um die BĂŒrger kĂŒmmern und tief in die Wirtschaft eingreifen soll. Die Umverteilungsdimension des Staates wird dagegen von alten und neuen BundesbĂŒrgern, jedenfalls nach der Jahrtausendwende, Ă€hnlich gesehen. Eine relative Mehrheit geht davon aus, dass der Wohlstand in einem Staat, der stark in die Wirtschaft interveniert, grĂ¶ĂŸer ist als in einer Gesellschaft, in der sich der Staat weitgehend aus dem Wirtschaftsprozess heraushĂ€lt. Selbstredend wird dem intervenierenden Staat mehr Gerechtigkeit zugesprochen. Die Deutschen in Ost und West – zumindest eine betrĂ€chtliche Anzahl von ihnen – sind sich in mancher Hinsicht auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch fremd geblieben; viele beurteilen die Einheit zudem interessengeleitet. Obschon Westdeutsche ĂŒberwiegend die hohen Kosten der Vereinigung tragen und in den vergangenen zwanzig Jahren Wohlstandseinbußen hinnehmen mussten, blieb die Kritik an der Vereinigung eher verhalten. Anders als im Osten, wo Vereinigungskritiker von Beginn an mit der PDS ein Sprachrohr hatten, fanden sie in den alten BundeslĂ€ndern Wie einst Propagandabilder (hier das Wandbild „Aufbau der Republik“ von Max Lingner am heutigen Bundesministerium der Finanzen in Berlin), tĂ€uscht heute die Nostalgie: „Das rasch Gewonnene wird von vielen gering geschĂ€tzt, vieles Verlorene dagegen nostalgisch verklĂ€rt.“

Bild: SpreeTom

Und dennoch ist die politisch-gesellschaftliche Stimmungslage unter den Ostdeutschen eher getrĂŒbt. Trotz des gezielten schnellen materiellen Angleichungsprozesses zeigen sie sich mit ihrem Leben unzufriedener als Westdeutsche. Das rasch Gewonnene wird von vielen gering geschĂ€tzt, vieles Verlorene dagegen nostalgisch verklĂ€rt. Auch bestehen, wie Umfragen belegen, weiterhin deutliche MentalitĂ€tsunterschiede, vor allem auch abweichende Einstellungen zur Wirtschaftsordnung.

Bei vielen Ostdeutschen löst das Mit- und Gegeneinander in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft nach wie vor befremdliche GefĂŒhle aus. Der Wettbewerb von Ideen, politischen Richtungen, sozialen Interessen etc. erscheint ihnen eher als zerstörerisches Element in einer unĂŒbersichtlichen Gesellschaft. Sie hegen den Wunsch nach einem starken Staat, nach einer Instanz, die oben und unten, richtig und falsch, gut und böse vorgibt. Zwar favorisieren sie – ebenso wie eine breite Mehrheit der Westdeutschen – die Demokratie als politisches Prinzip, Ă€ußern sich aber skeptisch gegenĂŒber der praktizierten, konkreten Form der parlamentarischen Demokratie.

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Mauern sind nicht nur aus Stein und Beton. Daran erinnert dieser Ausschnitt aus der East Side Gallery, einem einst 1316 Meter langen Teil der Berliner Mauer, das 118 KĂŒnstler aus 21 LĂ€ndern im FrĂŒhjahr 1990 zur lĂ€ngsten Open-Air-Galerie der Welt gestalteten.

auf der Ebene der Parteien keinen politischen Resonanzboden. Die Mehrheit der Westdeutschen zeigt sich am Vereinigungsprozess eher desinteressiert und nimmt dessen Folgen nachgerade fatalistisch hin. Unterschwellig dĂŒrfte jedoch vor allem in strukturschwachen Regionen bei vielen UnverstĂ€ndnis gegenĂŒber dem hohen Grad an Unzufriedenheit im Osten vorherrschen. Besonders die SelbstverstĂ€ndlichkeit, mit der ihre Landsleute die jĂ€hrlichen milliardenschweren Transfers betrachten, stĂ¶ĂŸt nicht selten auf KopfschĂŒtteln. Der negative Saldo, den viele Ostdeutsche aus der Bilanz der allgemeinen Lage ziehen, resultierte von Beginn an zu großen Teilen aus der hohen Arbeitslosigkeit und den verĂ€nderten sozialpolitischen Strukturen. Die meisten unterschĂ€tzten das Ausmaß des mit dem Sturz der SED-Diktatur und der Vereinigung verbundenen Wandels, der auch ihr persönliches Leben berĂŒhrt. Im Vertrauen auf neue AutoritĂ€ten, nicht zuletzt in Gestalt Helmut Kohls und der von ihm gefĂŒhrten Bundesregierung, ĂŒbersahen viele das individuelle Risiko und die eigene Verantwortung. Mit der gleichsam ĂŒber Nacht erfolgten Übertragung neuer Institutionen und Rahmenbedingungen konnte der individuelle Anpassungsprozess naturgemĂ€ĂŸ nicht Schritt halten. Daher war es nur verstĂ€ndlich, dass sich der Blick auf die BewĂ€ltigung der individuellen Situation richtete und die gesellschaftlichen Aspekte außer Acht ließ. Die GrĂŒnde fĂŒr das Unbehagen an der Einheit und das MissverhĂ€ltnis zwischen materieller Lage und öffentlicher Stimmung sind vielfĂ€ltig, lassen sich im Kern aber auf den Charakter des Vereinigungsprozesses als von außen geleitete Transformation zurĂŒckfĂŒhren. Viele Westdeutsche betrachten sich persönlich als Sieger der Geschichte und entsprechend die Ostdeutschen als Verlierer. Sie schreiben die Überlegenheit des westlichen Systems ihrem eigenen Engagement und ihrer individuellen Arbeitsleistung zu. Die fehlende Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen wird in den Vereinigungsprozess transportiert, indem fĂŒr die weiterhin bestehenden Wirtschaftsprobleme der neuen BundeslĂ€nder vor allem selbst verschuldete Ursachen angefĂŒhrt werden. Vor diesem Hintergrund reproduziert sich fĂŒr Ost- und Westdeutsche gleichermaßen das gewohnte Bild vom „reichen Wessi“, der mitleidig auf den „armen Verwandten“ aus dem Osten herabsieht, sich dabei aber heute ĂŒber die viel höheren Kosten der Verwandtschaftspflege Ă€rgern muss. Wie sehen die weiteren Perspektiven aus? Gewiss: Berlin ist nicht Bonn, aber Berlin ist auch nicht Weimar. Das neue Deutschland ist derzeit nicht in Gefahr, steht aber vor BewĂ€hrungsproben, die ein „Weiter so“ in Politik und Gesellschaft nicht ratsam erschei-

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nen lassen. Jenseits ihrer fortbestehenden Institutionen ist in der grĂ¶ĂŸer gewordenen Republik vieles in Bewegung geraten, was die bisherige politische und soziale StabilitĂ€t infrage stellen könnte. Optimistisch betrachtet ist das vereinte Deutschland eine normale Gesellschaft geworden, deren Sonderbedingungen entfallen sind und die nun mit den gleichen Problemen wie andere LĂ€nder zu kĂ€mpfen hat. Pessimistisch gesehen steht Deutschland durch die VerĂ€nderungen vor der Frage, ob die in Zeiten wachsenden Wohlstands entstandene Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen und pluralen Ordnung auch in wirtschaftlich schwierigerer Lage Bestand hat (oder zumindest nicht stĂ€rker gefĂ€hrdet ist als in LĂ€ndern mit lĂ€ngerer beziehungsweise ungebrochener demokratischer Tradition). NĂŒchtern betrachtet mangelt es Deutschland vor allem an einem Konsens ĂŒber GrundĂŒberzeugungen, einem ZusammengehörigkeitsgefĂŒhl und Leitlinien, wie der Weg in die Zukunft aussehen soll. Immer noch wissen wir nur unzureichend, wer wir sind und was wir wollen. Darin liegt das eigentliche Defizit. Wie die anhaltenden erfahrungs- und systemgeprĂ€gten MentalitĂ€tsunterschiede zwischen Ost und West zeigen, lĂ€sst sich mit Geld zwar vieles, aber nicht alles bewerkstelligen. Finanzielle

Im Vertrauen auf Kohl ĂŒbersahen viele das Risiko und die eigene Verantwortung. SolidaritĂ€t ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung fĂŒr das Zusammenwachsen von Ost und West. Zugleich aber können die Deutschen auf das nach der Vereinigung Geschaffene mit einigem Recht stolz sein, denn schließlich ist erreicht worden, was ursprĂŒnglich kaum fĂŒr möglich gehalten wurde: Deutschland hat sich friedlich und in Freiheit vereint und bisher auch keine GroßmachtallĂŒren gezeigt. Die TĂŒr zur deutschen Vereinigung – und dies haben viele schon vergessen – stieß freilich erst die ostdeutsche Bevölkerung im Herbst 1989 auf. Wie schon am 17. Juni 1953 lehnte sie sich gegen die sozialistische Diktatur auf, erzwang deren Sturz und forderte das Recht auf Selbstbestimmung, in dessen AusĂŒbung sie mehrheitlich fĂŒr eine schnelle Wiedervereinigung votierte. Dass diese unter freiheitlichen und demokratischen Vorzeichen dann erreicht werden konnte, stellt zweifelsohne einen „GlĂŒcksfall der Geschichte“ dar, der nicht durch Verteilungsstreitigkeiten oder nostalgisch eingefĂ€rbte RĂŒckblicke verdrĂ€ngt werden sollte. Gegenseitiges VerstĂ€ndnis setzt freilich auf allen Seiten die Bereitschaft voraus, auch das Andere zu verstehen und sich gemeinsam fĂŒr den Fortbestand einer freiheitlich-demokratischen Ordnung und Gesellschaft einzusetzen. An beidem mangelt es auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung vielerorts immer noch. Es kann nur zusammenwachsen, was zusammengehören will! n Professor Dr. Klaus Schroeder leitet an der Freien UniversitĂ€t Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und ist Professor am Otto-Suhr-Institut. KĂŒrzlich ist sein Buch „Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwĂ€chst, was zusammengehört“, wjs Verlag, Berlin 2010, erschienen. Der Beitrag ist in der Publikation „inter/esse“ des Deutschen Bankenverbands erschienen. Wir danken fĂŒr die Nachdruck-Genehmigung.

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AKTUELLES

„Made in Germany“ fehlen Ingenieure Deutschland droht ein dramatischer Verlust an technischem Knowhow. Im kommenden Jahrzehnt könnten 200 000 Ingenieur fehlen, befĂŒrchtet Professor Hans-Jörg Bullinger. „Die Zahlen sind alarmierend“, meint der PrĂ€sident der Fraunhofer-Gesellschaft in MĂŒnchen, „denn der Wirtschaftsstandort Deutschland ist wie kein anderes europĂ€isches Land abhĂ€ngig von gut ausgebildeten Ingenieuren.“ Schon heute fehlen knapp Absolventen Ingenieursstudium je 1000 ErwerbstĂ€tiger

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36 000 Ingenieur, doch der Mangel nimmt zu: Nur rund ein Drittel aller Hochschulabsolventen kommen aus den MINT-FĂ€chern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), doch um den Bedarf zu decken, mĂŒssten es mindestens 40 Prozent sein. Dagegen holen die NachbarlĂ€nder auf: Kommen in Deutschland auf 1000 erwerbstĂ€tige Ingenieure nur 35 Absolventen, sind es in Spanien 90, in Italien 147 und in Polen und Tschechien ĂŒber 200.

Pomeranzenhaus strahlt in neuem Glanz

Manager setzen weltweit auf Deutschland

Vor fast 300 Jahren ließen die Ansbacher Markgrafen inmitten eines neu angelegten Barockgartens eine ausgedehnte Orangerie (Bild oben) errichten. Das Pomeranzenhaus nach französischem Vorbild war im Sommer BĂŒhne höfischer Festlichkeiten, im Winter schĂŒtze es die empfindlichen OrangenbĂ€ume vor dem strengen Frost. Inzwischen ist es reprĂ€sentative Herberge der Ansbacher Bachwochen (im nĂ€chsten Jahr vom 29. Juli bis 7. August), dient als Kulisse fĂŒr Feste, Tagungen und VortrĂ€ge und ist in die Jahre gekommen. Insgesamt 7,5 Millionen Euro hat die Bayerische Schlösser- und Seenverwaltung in die notwendig gewordene Sanierung gesteckt, am 10. November eröffnete Finanzminister Georg Fahrenschon das aufgefrischte Barockjuwel mit einem Festkonzert.

Dem FachkrĂ€ftemangel und den hohen Steuern und Abgaben zum Trotz, erntet Deutschland viel Lob als Investitionsstandort. Bei einer Umfrage der Beratungsfirma Ernst&Young unter auslĂ€ndischen Managern ist Deutschland im weltweiten Ranking vom sechsten auf den fĂŒnften Platz vorgerĂŒckt. Es liegt damit hinter China, Indien, den USA und Russland. 38 Prozent der Befragten meinen, die AttraktivitĂ€t als Investitionsziel sei gestiegen, 40 Prozent der Unternehmen berichten von InvestitionsplĂ€nen in Deutschland. Im Vorjahr waren es nur 33 Prozent. Gut jeder zweite Manager (54 Prozent) erwartet, dass die AttraktivitĂ€t Deutschlands in den kommenden Jahren noch zunehmen wird.

Zitate: „Seit dem 15. oder 16. Jahr der deutschen Einheit kommt mir das Wort Supermarkt locker ĂŒber die Lippen.“ Angela Merkel, Bundeskanzlerin und ehemalige DDR-BĂŒrgerin

„Ich habe hier einen freudigen Umgang mit dem Begriff Vaterland, einen Patriotismus erfahren, wie wir es im Westen schon lange nicht mehr kannten.“ Helmut Kohl, von 1982 bis 1998 Bundeskanzler, ĂŒber seine Erlebnisse im DDR-Wahlkampf 1990.

„FĂŒr viele Menschen hat sich innerhalb von 29 Jahren das Land hinter dem Stacheldraht in ein Eldorado der Erinnerung verwandelt.“ Stefan Wolle, Historiker und Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, ĂŒber die Nostalgie vieler frĂŒherer DDR-BĂŒrger.

„Auch bei selbstkritischer Betrachtung der 20 Jahre seit dem 3. Oktober 1990 haben wir alle miteinander Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank: der Westen gegenĂŒber dem Osten nicht weniger als umgekehrt.“ Norbert Lammert, BundestagprĂ€sident zur 20-Jahrfeier vor dem Brandenburger Tor.

„Selbst unbelehrbare Sozialisten mĂŒssen, wenn sie nach Leipzig oder Dresden fahren, die Existenz von blĂŒhenden Landschaften anerkennen.“ Theo Waigel, Ex-CSU-Chef und von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister.

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Goldener Herbst auf dem Arbeitsmarkt Bayern nĂ€hert sich der VolbeschĂ€ftigung. Der Arbeitsmarkt im Freistaat entwickelt sich sogar gĂŒnstiger als der beim bisher traditionellen Primus Baden-WĂŒrttemberg, der mit wachsendem Abstand auf Platz 2 liegt. Schon spricht Minister­prĂ€sident Horst Seehofer vom „goldenen Herbst fĂŒr die Arbeitnehmer und ihre Familien.“ Der Aufschwung ist landesweit: Kein Regierungsbezirk ĂŒberschreitet die 5-Prozent-Marke, alle liegen unter dem Bundesschnitt. Und Wirtschaftsminister Martin Zeil rechnet mit einem weiteren RĂŒckgang der Arbeitslosenzahlen: „Bayerns Betriebe stellen wieder krĂ€ftig ein.“ Besonders erfreulich: Die Arbeitslosigkeit der unter 25-JĂ€hrigen ist innerhalb eines Jahres von 5,5 Prozent auf 3,5 Prozent gesunken.

Internet: www.bayerischer-monatsspiegel.de

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POLITIK & WIRTSCHAFT Walter Beck

Sarrazin und die verspielte Chance der CDU Erst lesen, dann urteilen: Damit hÀtte die Union krÀftige Argumente gegen die SPD gehabt

Ich habe das Buch zweimal durchgearbeitet. AuszĂŒge erstellt und auch sie nochmals durchgearbeitet. In den veröffentlichten Aussagen ĂŒber Sarrazin habe ich keine gefunden, die bewiesen hĂ€tte, dass Sarrazin falsche Unterlagen, falsche Statistiken verwendet hĂ€tte. Freilich ist er in der gleichen Gefahr, in der alle sind, die die Zukunft dadurch berechnen, dass sie die Gegenwart hochrechnen. Gerade die Erfahrung hat gezeigt, dass das ganz selten zu passenden Ergebnissen fĂŒhrt. Das Ă€ndert aber nichts daran, dass solche Extrapolationen wichtig sind, weil sie Tendenzen aufzeigen. Was Sarrazin sagt und schreibt, ist in sich logisch und nachvollziehbar. Der besondere Witz ist: Das wird ihm von dem Reporter der SĂŒddeutschen Zeitung, Andrian Kreye, gerade vorgeworfen. Die CDU hat eine ganz große Chance ver­spielt: Die SPD mit Sarrazin vor sich herzutreiben. HĂ€tte die CDU nachgedacht und erst das Buch gelesen, bevor sie vor­ eilige Verurteilungen ausspricht, hĂ€tte sie in den vergangenen Wochen und in den zukĂŒnftigen Monaten hervorragende An-

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POLITIK & WIRTSCHAFT satzpunkte gehabt, um der SPD ihre politisch falschen AnsĂ€tze deutlich zu demonstrieren, um das „Multi-Kulti“ der GrĂŒnen ad absurdum zu fĂŒhren und um ein Selbstbewusstsein in Deutschland zu stĂ€rken. Grund genug gibt es ja: Nicht nur unsere Frauen sind Fußballweltmeister geworden, nicht nur unsere MĂ€nner haben „Traum-Fußball“ in SĂŒdafrika gezeigt. Nein: Unsere Wirtschaft hat der ganzen Welt bewiesen, wie man die Wirtschaftskrise meistern kann. Freilich: Unsere im Grunde nach gesunde Mittelstandsstruktur, das Schwergewicht auf mittelstĂ€ndischen Firmen, die persönlich gefĂŒhrt werden, die finanzielle UnabhĂ€ngigkeit der mittelstĂ€ndisch orientierten Kreissparkassen und Raiffeisenbanken hat die Weltwirtschaftskrise so abfedern lassen. Viele Menschen in Deutschland haben die Krise ĂŒberhaupt nicht wirklich gespĂŒrt. Sarrazin fĂŒrchtet nun gerade die SchwĂ€chung dieses Mittelstandes – wenn man den ĂŒberwiegenden Veröffentlichungen glauben darf, durchaus zu Recht. Trotz dieser Erfolge hat die CDU denkbar schlechte Umfragewerte; sie hat die Gefahren nicht erkannt, auf die Sarrazin so deutlich hingewie-

Prof. Dr. Walter Beck ist PrĂ€sident des Peutinger-Collegiums und Herausgeber des Bayerischen Monatsspiegel. Er wurde 1942 in MĂŒnchen geboren und ist seit 1972 als selbstĂ€ndiger Anwalt tĂ€tig, erst in MĂŒnchen und inzwischen in Gmund (Tegernsee). Seit 2004 hat er an der LMU MĂŒnchen einen Lehrauftrag fĂŒr „Juristische Rhetorik“.

www.red.de

Thilo Sarrazin Deutschland schafft sich ab Deutsche Verlags-Anstalt DVA 461 Seiten, 22,99 Euro

sen hat. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass sie nicht von den Reaktionen profitieren kann, die sich zurĂŒckfĂŒhren lassen auf die unglaublich hohen Wellen, die das Sarrazin-Buch geschlagen hat. FĂŒr Deutschland mĂŒssen wir dankbar sein, dass fast alle zunĂ€chst ĂŒber Sarrazin hergefallen sind – und erst allmĂ€hlich realisieren, wie wichtig die Debatte ist, die er losgetreten hat. FĂŒr die CDU ist es aber wieder einmal eine verlorene Chance, die Mitte in Deutschland zu sichern. Statt die Chance zu nutzen und Sarrazin zu loben, der die Gedankenfreiheit zu Recht in Anspruch genommen hat; statt der Bevölkerung klar zu zeigen, wie schmerzhaft die Wunde ist, in die Sarrazin den Finger gelegt hat – stattdessen distanziert sich die Partei von dem Mann, dem nach Umfragen mehr als 55 Prozent der Bevölkerung Recht geben, der bei einer Umfrage nach der ARD-Sendung von „Hart aber fair“ 84 Prozent Zustimmung erhalten hat. Wie dem auch sei: Die CDU hat eine große Chance vertan. GegenwĂ€rtig scheint dies aber das Lieblingsspiel der CDU zu sein: Gute Chancen zu verspielen. Ob ihr die WĂ€hler noch viele Chancen einrĂ€umen? n

Wirtschaftsmotor Airport Mit seinen exzellenten Verbindungen zu 220 Zielen in aller Welt bietet der MĂŒnchner Flughafen der exportorientierten bayerischen Wirtschaft ein ideales Sprungbrett fĂŒr den Aufbruch zu neuen MĂ€rkten und Metropolen. Im globalen Wettbewerb der Regionen profitieren die heimischen Unternehmen erheblich von ihrer NĂ€he zu einer der wichtigsten europĂ€ischen Luftverkehrsdrehscheiben. FĂŒr viele Investoren, die sich neu in SĂŒddeutschland ansiedeln, ist der MĂŒnchner Airport das entscheidende Argument bei der Standortentscheidung. Als Motor fĂŒr Konjunktur und BeschĂ€ftigung sorgt der Flughafen MĂŒnchen auch kĂŒnftig dafĂŒr, dass es mit Bayerns Wirtschaft weiterhin bergauf geht. www.munich-airport.de


POLITIK & WIRTSCHAFT Hugo MĂŒller-Vogg

StammwĂ€hler flĂŒchten

Karikatur: Horst Haitzinger

Leichtfertig setzt die Union ihr konservatives Profil aufs Spiel

Der Kalte Krieg ist seit 20 Jahren vorbei; er endete ziemlich genau am 3. Oktober 1990. Das bestreiten nicht mal Sozialisten. Aber ein Konservativer wird hinzufĂŒgen: „Und wir haben gewonnen.“ War der Sieg der Idee der Freiheit ĂŒber die Ideologie der Gleichmacherei zugleich der Todesstoß fĂŒr Konservative? Ist es wirklich so schwer, eine konservative Agenda zu formulieren, weil nicht mehr alle Wege der SPD nach Moskau fĂŒhren, wie die CDU in den fĂŒnfziger Jahren suggerierte, weil nicht einmal die Linkspartei jede Imbissbude zu verstaatlichen droht, weil Franz Josef Strauß und Alfred Dregger tot sind und weil Friedrich Merz und Roland Koch sich aufs politische Altenteil zurĂŒckgezogen haben?

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Richtig ist: Dem konservativen Teil des politischen Spektrums sind einige Themen abhanden gekommen: Die West-Integration ebenso wie das Festhalten an der einen deutschen Nation, die Zugehörigkeit zur Nato wie das Ideal von der Familie mit einem mĂ€nnlichen ErnĂ€hrer und einer fĂŒrsorglichen Mutter. Doch Konservative waren stets Pragmatiker und keine Ideologen. Ihnen ging es nie um letzte Wahrheiten, sondern um Lösungen. Vor allem aber schĂ€tzten und schĂ€tzen sie berechenbare UmstĂ€nde. Das ist ja auch der Grund fĂŒr das Unbehagen vieler konservativer WĂ€hler ĂŒber das Erscheinungsbild der Unionsparteien: Sie reiben sich verwundert die Augen, wenn die Politik „ihrer“ Partei mit bisherigen Verhaltensmustern bricht – zum Teil

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POLITIK & WIRTSCHAFT ohne zwingenden Grund, zum Teil, ohne den Kurswechsel zu begrĂŒnden. Beispiel Nr. 1: Die Wirtschaftspolitik der Großen Koalition. Die CDU/CSU war nur einer von zwei fast gleich starken Partnern. Sie musste Kompromisse schließen. Konservative verstehen das. Was sie nicht verstehen, ist, dass CDU/CSU die EinfĂŒhrung des Mindestlohns durch die HintertĂŒr oder der Neidsteuer fĂŒr „Reiche“ nicht als Preis fĂŒrs Regieren rechtfertigte, sondern als „business as usual“ darstellte. Beispiel Nr. 2: Das Elterngeld. Dagegen lĂ€sst sich nichts sagen. Mit einer Ausnahme: den VĂ€ter-Monaten. Ausgerechnet die Union macht sich dafĂŒr stark, dass nicht die mĂŒndigen Ehepartner entscheiden, wer dem Kind zuliebe die berufliche Karriere unterbricht, sondern der Staat politisch korrekte VĂ€ter mit bis zu 3600 Euro belohnt. FrĂŒher hĂ€tten Konservative das als sozialistische Erziehungsdiktatur gebrandmarkt – zu Recht! Beispiel Nr. 3: Die Papst-Kritik der Kanzlerin. Jeder weiß, dass der Heilige Vater kein Antisemit und kein Holocaust-Leugner ist. Doch ausgerechnet die CDU-Vorsitzende meinte, ihn öffentlich belehren zu mĂŒssen. Das trieb kirchentreue Katholiken (ja, die gibt es noch!) in die Wahlenthaltung. Beispiel Nr. 4: „HerdprĂ€mie“. Ursula von der Leyen hat keinen Hehl daraus gemacht, dass sie berufstĂ€tige MĂŒtter fördern will, nicht „Nur-Hausfrauen“. Die CSU pocht auf ein Erziehungsgeld fĂŒr solche MĂŒtter, die um ihrer Kinder willen zu Hause bleiben und finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Aber

Eine CDU-Niederlage im SĂŒdwesten wĂŒrde ein politisches Beben auslösen. gegen die Diffamierung nicht arbeitender MĂŒtter hat sich die Union nie so recht gewehrt. Der Konservative merkt es – und ist verstimmt. Beispiel Nr. 5: Schulpolitik. In Hamburg musste die CDU fĂŒr den Machterhalt dank einer schwarz-grĂŒnen Koalition einen hohen Preis zahlen – die Abkehr vom Gymnasium und dem Leistungsprinzip. Konservative hĂ€tten es ja verstanden, wenn die CDU gesagt hĂ€tte, Schwarz-GrĂŒn ist immer noch besser als Rot-Rot-GrĂŒn. Aber den Schwenk in Richtung Einheitsschule als eigenes Anliegen zu verkaufen, das hat die CDU in Hamburg diskreditiert und weit darĂŒber hinaus. Beispiel Nr. 6: Die Sarrazin-Debatte. Selbst die Bundesregierung muss einrĂ€umen, dass etwa zwei Millionen Zuwanderer nicht integrationswillig sind. Sarrazin drĂŒckt das etwas deutlicher aus, vermischt das mit abstrusem biogenetischem Halbwissen. Doch letztlich hat Sarrazin die Beschwörung der Multi-Kulti-Idylle mit Fakten widerlegt und damit der Mehrheit der Menschen aus der Seele gesprochen. Dass SPD und GrĂŒne empört aufheulen, ist verstĂ€ndlich. Warum aber die CDU-Vorsitzende und ein BundesprĂ€sident mit CDU-Vergangenheit sich am lautesten empören, versteht kein Konservativer. Denn er kann rechnen und weiß: Jedes Zuwandererkind, das heute in der Schule keinen Erfolg hat, lebt

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Gegen die Diffamierung von MĂŒttern, die sich um ihre Kinder kĂŒmmern und nicht arbeiten gehen, hat sich die Union kaum gewehrt.

morgen von Hartz IV – und damit auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler. Beispiel Nr. 7: Der Fall Steinbach. Die konservative CDUAbgeordnete hat sich korrekt verhalten – sie hat ihre Kritik an Regierung und CDU intern geĂ€ußert, nicht per Pressemitteilung. Doch die „Modernisierer“ sorgten dafĂŒr, dass sie öffentlich an den Pranger gestellt und zur verbalen Steinigung durch Gutmenschen freigegeben wurde. Diejenigen, die nie die Union gewĂ€hlt haben und sie nie wĂ€hlen werden, waren davon begeistert – die konservativen StammwĂ€hler sicher nicht. Kein Zweifel: CDU/CSU haben das Problem, dass ihre StammwĂ€hler in Scharen in die Wahlenthaltung flĂŒchten, aber alle die vermeintlich modernen Menschen, um deren Gunst die Union buhlt, sie dennoch nicht wĂ€hlen. Konservative – der Name ist Programm – wechseln nicht so einfach die Partei. Aber wenn sie das GefĂŒhl haben, eine Partei wolle ihre Stimme, nehme aber auf ihre Anliegen keinerlei RĂŒcksicht, ja schĂ€me sich vielleicht sogar solcher WĂ€hler, dann werden sie zu NichtwĂ€hlern. Das hat sich bei der Bundestagwahl 2009 gezeigt und bei der NRW-Wahl im Mai ebenso. Das könnte sich bei der baden-wĂŒrttembergischen Landtagswahl im MĂ€rz 2011 wiederholen. Ein grĂŒn-rot regierter SĂŒdweststaat – das wĂŒrde die Union noch stĂ€rker erschĂŒttern als die SPD-Niederlage 2005 in Nordrhein-Westfalen. Wenn die enttĂ€uschten Konservativen am 27. MĂ€rz 2011 zu Hause bleiben, dann wird das ein politisches Beben auslösen – mit völlig ungewissem Ausgang. n

Dr. Hugo MĂŒller-Vogg ist Publizist in Berlin und u.a. BILD-Kolumnist. Sein letztes Buch „Volksrepublik Deutschland – Drehbuch fĂŒr eine rot-rot-grĂŒne Wende“ beschreibt den Weg der Linkspartei zum Koalitionspartner einer Bundesregierung.

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POLITIK & WIRTSCHAFT Christian Minaty

Die Blogger-Generation schreibt sich zum Reichtum Vom Hobbyschreiber zum MillionĂ€r: Wie Blogs mit erfolgreichen GeschĂ€ftsmodellen die Medienlandschaft revolutionieren Die Videos auf YouTube sind bizarr: Da wedeln junge Leute mit Schecks umher, auf denen fĂŒnfstellige Dollar-BetrĂ€ge zu sehen sind. Das sind die jĂŒngsten Werbeeinnahmen vom Google-Werbeprogramm AdSense, jubeln sie und grinsen breit in die Kamera. Manche zeigen auch ihre teuren Autos oder prachtvollen HĂ€user, finanziert mit Geld aus dem Web. Es sind allesamt Blogger, die mit ihrer Leidenschaft zu publizieren ein Vermögen gemacht haben. Mit viel Pioniergeist haben Blogger die Medienbranche revolutioniert. 200 Millionen Blogs gibt es weltweit, Tendenz steigend. Auch wenn nur wenige Betreiber eines Blogs (Wortkreuzung aus englisch „Web“ und „Log“ fĂŒr Logbuch) steinreich werden, so hat doch jeder Hobby-Schreiberling die theoretische Chance, zum gut verdienenden Massenmedium aufzusteigen. Voraussetzungen: Ein Computer mit Internetzugang, ein wenig Zeit zum Einrichten des Blogs und unbĂ€ndige Lust auf ein bestimmtes Thema. Die nötige Software gibt es gratis zum Herunterladen, große BlogNetzwerke haben sogar schon alles fix und fertig eingerichtet.

Trends und ĂŒben sich im Facebooken, Twittern und Studivzen. Der Erfolg ist dabei nicht zwangslĂ€ufig, ĂŒbrigens auch nicht bei der großen Masse der Blogger. Die meisten von ihnen haben weder Lust, Zeit noch Talent, eigene Inhalte konsequent zu monetarisieren.

Das klingt höchst paradox angesichts der anhaltenden Medien­ krise. Den alteingesessenen Verlagen ist die Feierlaune vergangen, seit Anzeigen und Auflage schrumpfen und sie einem immer hĂ€rteren Sparkurs fahren mĂŒssen. „Ich glaube, dass die meisten, wenn nicht alle Zeitungen in den USA innerhalb von 20 Jahren nicht mehr erscheinen werden“, unkte kĂŒrzlich der amerikanische Medienexperte Norman Pearlstine gegenĂŒber der Fachzeitschrift Horizont. Auch in Deutschland befinden sich zahlreiche Zeitungsverlage kurz vor oder bereits im Siechtum, immer mehr Journalisten haben ihren Arbeitsplatz verloren oder mĂŒssen um ihn bangen.

Doch es gibt Profis, die es geschafft haben. In Australien sind einige besonders eindrucksvolle Beispiele zu finden. Als Alpha-Blogger gilt dort Yaro Starak aus Sydney. Er betreibt den Blog entrepreneurs-journey.com und bloggt – ĂŒber das Geldverdienen mit Blogs. Starak schreibt, jeder habe die Chance, es ihm gleichzutun. Also ein „Minimum von 10 000 Dollar oder gar 35 000 Dollar zu verdienen“ – pro Monat versteht sich.

Von dieser Krise unbeeindruckt, haben pfiffige Köpfe – die meisten von ihnen ohne journalistischen Hintergrund – OnlineVertriebsmodelle fĂŒr schriftliche Inhalte entwickelt, die offensichtlich große Zukunftschancen haben. Inzwischen versuchen auch die Verlage Anschluss zu finden an die neuesten Digi-

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Starak nutzt einen Mix aus verschiedenen Marketing-Instrumenten: Bannerwerbung, kostenpflichtige PDF-Ratgeber und individuelles Coaching-Programm fĂŒr den blutigen AnfĂ€nger. In seinem

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Newsletter stellte er unlĂ€ngst seinen Freund und Landsmann Alborz Fallah vor. Dieser hatte nur Autos im Kopf und begann aus purem Spaß an der Freude einen Auto-Blog, in dem er ĂŒber neueste Modelle schwadronierte. Soviel Herzblut fĂŒr fahrbare UntersĂ€tze gefiel offenbar Tausenden anderen Bleifuß-Fans. Fallahs Blog ist heute rund fĂŒnf Millionen Dollar wert. Freie Journalisten mĂŒssen also auch im Internet-Zeitalter keine armen Poeten sein. Auch in Deutschland gibt es sie, die TopBlogger. Sport-Freak Michael Wagner aus dem niederbayerischen Passau etwa. Er baute seine kleine Fanseite fussball-passau.de zu einem beachtlichen Portal fĂŒr Ball-Freunde auf, die Lust auf

Es braucht Sitzfleisch. Die Konkurrenz ist groß, die Leserschaft anspruchsvoll. tĂ€glich neue Spielberichte haben. Über acht Millionen Besucher konnten insgesamt verzeichnet werden. Mit Les Mads haben Jessica Weiß und Julia Knolle einen ModeBlog ins Leben gerufen. Die jungen Frauen, verrĂŒckt nach Mode, Models und Lifestyle, legten mit ihrem Haute-Couture einen Raketenstart hin. Der Blog gefiel dem Burda-Verlag so gut, dass er ihn kurzerhand ĂŒbernommen hat – damit dĂŒrften die GrĂŒnderinnen befreit sein von finanziellen Sorgen. So kann vielleicht der ein oder andere, der jetzt ans Bloggen denkt, am Ende auch mit dicken Schecks angeben. Doch zur

„Jeder hat die Chance, im Monat mindestens 10 000 Dollar zu verdienen“, sagt Profi-Blogger Yaro Starak.

Bloggerei gehört viel Sitzfleisch, schließlich ist die Konkurrenz groß und die Leserschaft anspruchsvoll und stĂ€ndig sĂŒchtig nach frischem Fang aus dem Netz. Aber darin liegt ja auch die Herausforderung. n

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POLITIK & WIRTSCHAFT Heinrich Oberreuter

Auf dem Weg zur Volkspartei Die GrĂŒnen im Höhenflug: Alternative auch fĂŒr bĂŒrgerliche WĂ€hler?

Wird ein GrĂŒner Baden-WĂŒrttembergs nĂ€chster MinisterprĂ€sident? Löst Renate KĂŒnast in Berlin den SPD-Regierenden Klaus Wowereit ab? Glaubt man den Demoskopen, geht die Öko-Partei in ihr erfolgreichstes Jahrzehnt. In Umfragen liegen die GrĂŒnen im SĂŒdwesten bei ĂŒber 30 Prozent und auch in der Bundeshauptstadt ziehen sie an den Sozialdemokraten vorbei. WĂ€chst hier eine neue Volkspartei heran? Der Aufstieg der GrĂŒnen kam nicht ĂŒber Nacht. Und doch scheinen die Spitzen der klassischen großen Volksparteien ĂŒberrascht. Sie haben nicht bemerkt, wie ihnen die Gesellschaft abdriftet. Rechts, links und konservativ sind zu Begriffen geworden, die fast nichts mehr erklĂ€ren. Wie konservativ können Linke sein? Wie links Konservative? Und gibt es in Fragen des Lebensschutzes nicht mehr Schnittmengen zwischen Union und GrĂŒnen als zwischen den Berliner Koalitionspartnern? Ihr Agieren an den LebensgefĂŒhlen und LebensbedĂŒrfnissen, an den Lebensstilen einer sich wandelnden Gesellschaft vorbei lĂ€sst die frĂŒheren Großparteien auf quantitatives Mittelmaß schrumpfen – und ehedem kleine wie die GrĂŒnen auf konkurrenzfĂ€hige GrĂ¶ĂŸen anwachsen. Zweifelsohne, die GrĂŒnen profitieren von einer Tatsache ganz besonders: Im Bund stehen sie nicht in der Verantwortung, und auch in den Landesparlamenten – mit Ausnahme von NordrheinWestfalen und Bremen – sitzen sie nicht auf der Regierungsbank. Ihre AnhĂ€nger pflegen urbane, aufgeklĂ€rte und durchaus auch hedonistische Lebensstile, die freilich keineswegs mit den poli-

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tischen und ökonomischen RealitĂ€ten ĂŒbereinstimmen mĂŒssen. Wenn man wie die GrĂŒnen außerhalb der Regierungsverantwortung steht, so muss man diese Lebenskreise nicht durch unbequeme Entscheidungen stören, aus der Opposition heraus eher noch bekrĂ€ftigen. Die Volks- und Regierungsparteien haben den gesellschaftlichen Wandel verschlafen. Aber auch ihre Kommunikation und die Vermittlung ihrer Entscheidungen sind mindestens so desaströs wie ihre holprigen Entscheidungsprozesse. Nicht zuletzt die FDP bekommt das zu spĂŒren, die rasch von ihrem Höhenflug abstĂŒrzte und heute sogar um den Einzug in den Bundestag bangen mĂŒsste. Im Grunde genießen die GrĂŒnen schon seit einem Jahrzehnt das Privileg, mit den Schattenseiten unpopulĂ€ren Regierens nichts mehr zu tun zu haben. Denn zur rot-grĂŒnen Zeit hatte Kanzler Gerhard Schröder die Sanierung der Republik zur Chefsache gemacht. Und seit der Großen Koalition erlaubt es die Oppositionsrolle bis heute, zu vielem „Nein“ zu sagen und manches einzufordern, fĂŒr das man nicht gerade stehen muss. Den Geruch des idealistisch Utopischen oder gar des Protests wie in vergangenen Zeiten besitzt eine solche Position schon deswegen nicht, weil die frĂŒhere Alternativpartei Regierungsverantwortung und Pragmatismus kennengelernt und geĂŒbt hat. Sie fand dabei zu ebenso prinzipientreuer wie konsistenter Politik. Zugleich hat sie DiskussionsfĂ€higkeit und Kompromissbereitschaft gezeigt – kurz: zur Realpolitik gefunden. Dennoch vermochte sie den Anspruch und


POLITIK & WIRTSCHAFT Eindruck zu vermitteln, in vielem anders zu sein als die schon lĂ€nger etablierten Parteien. Genau davon profitieren die GrĂŒnen derzeit, da die „Alten“ auf scharfe Kritik, Zynismus und sogar Verachtung stoßen – eine keineswegs nur deutsche, sondern weltweite Entwicklung von aktuell besonderer Zuspitzung. Von ihr bleibt am ehesten ausgenommen, wer – zutreffend oder nicht – vom kritikfreudigen Zeitgeist noch immer als gewisse Alternative zum alten Betrieb wahrgenommen wird.

als auf Wachstum angelegt, wĂ€hrend den GrĂŒnen wie grundsĂ€tzlich auch den Liberalen die Modernisierung eher zuwĂ€chst. Das Schicksal der FDP zeigt aber auch die Herausforderung, die in der BewĂ€hrung in Regierungsverantwortung liegt. Zum neuen Lebensstil der WĂ€hler gehört eben auch die Bereitschaft, die Wahlentscheidung jedes Mal neu zu treffen. Wer materiellen und immateriellen BedĂŒrfnissen keinen Erfolg gewĂ€hrleistet, stĂŒrzt schneller ab als er aufgestiegen ist.

„GrĂŒnes“ Denken reprĂ€sentiert lĂ€ngst keine Jugend- oder Nachwuchskultur mehr. Vielmehr sind die ReprĂ€sentanten beim Vormarsch auf der Alterspyramide zu Einfluss gekommen und zu PrĂ€gekrĂ€ften der Nachwachsenden geworden. Die stĂ€rksten WĂ€hlerschichten finden sich jetzt in den mittleren Altersgruppen unter 60.

Die GrĂŒnen haben sich immer auch aus dem sozialdemokratischen Reservoir gespeist. JĂŒngeren Datums ist ihre AttraktivitĂ€t fĂŒr das „neue“ BĂŒrgertum, das sich ausgebreitet hat. Die Partei ist pragmatisch geworden, vereint Wirtschaftspolitik mit Zukunftstechnologien, die Ressourcen schonen. Hinzu kommt eine nĂŒchterne PolitikfĂŒhrung in den Kommunen, den LĂ€ndern und im Bund. Schwarz-grĂŒne Koalitionsbildungen sind dadurch möglich und funktionsfĂ€hig geworden. Wann es im Bund zu einer Zusammenarbeit mit CDU und CSU kommt, ist inzwischen eher eine Frage der Zeit und von personellen Konstellationen.

Es ist banal: Die Karriere der GrĂŒnen und der gesellschaftliche Wandel sind nur zusammen zu denken. Von der Auflösung traditioneller sozialmoralischer Milieus, die klassische Parteibindungen schmelzen lĂ€sst, war in der Forschung schon vor 1968 die Rede. Aber schon die 68er-Bewegung profitierte mehr von bereits stattfindenden Modernisierungsprozessen, als dass sie

Die etablierten Volksparteien haben den Wandel verschlafen. diese hervorgerufen hĂ€tte: UmbrĂŒche, fĂŒr welche die Schlagworte Individualisierung, Pluralisierung, Liberalisierung und SĂ€kularisierung stehen und ein Wertewandel, der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung ins Zentrum rĂŒckte. Dass es gelungen ist, Individualismus, Selbstentfaltung und SpontaneitĂ€t weithin mit parteiorganisatorischen Notwendigkeiten zu versöhnen, ist zur Grundlage des politischen und gesellschaftlichen Erfolgs geworden. Wo die alten Parteien gezwungen waren, jenseits ihrer Stammund TraditionswĂ€hlerschaften um Stimmen zu werben, sind die GrĂŒnen lĂ€ngst da gewesen. In ihrer Klientel spiegelt sich die moderne Bildungsgesellschaft, die ja nicht zuletzt durch die Schul- und Hochschulpolitik von Union, SPD und Liberalen protegiert worden war: urbanes Milieu, charakterisiert durch höhere formale Bildung, besonders Studenten, Beamte, Angestellte und SelbstĂ€ndige; junge, gut ausgebildete, auf Emanzipation bedachte Frauen; Konfessionslose; ökologisch besonders Motivierte. Die prosperierenden Metropolregionen, in denen sich diese Einstellungen gehĂ€uft und konzentriert finden, sind zum dominanten Einzugsgebiet der GrĂŒnen geworden. Am bayerischen Beispiel werden aber auch ihre Entwicklungspotenziale in lĂ€ndlicheren RĂ€umen sichtbar. Die omniprĂ€senten Medien homogenisieren Wertbewusstsein und Lebensstile – und durchaus nicht in konservative Richtungen, sondern dorthin, wo die GrĂŒnen im Wesentlichen auffangbereit schon stehen. NatĂŒrlich gibt es keine Erfolgsautomatismen. SelbstverstĂ€ndlich bemĂŒhen sich alle anderen relevanten Parteien, mit dem Wandel Schritt zu halten und sich ihm programmatisch und praktisch zu öffnen. Es ist ja auch nicht so, dass diese Gesellschaft allein von den genannten Modernisierungstrends geprĂ€gt wĂ€re und Beharrungs- oder GegenkrĂ€fte nicht vorhanden wĂ€ren. Aber sie mĂŒssen ĂŒberzeugen. Ohne dies wĂ€ren sie eher auf Schrumpfung

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Unversöhnlich bleiben die GegensĂ€tze in der Nutzung der Kernenergie, bei der die GrĂŒnen nĂ€her bei der öffentlichen Meinung und ihren ĂŒberkommenen GrundsĂ€tzen, die Union jedoch nĂ€her an der RationalitĂ€t zu sein scheint. Aber genau daran zeigt sich, dass selten gewordene EntscheidungsstĂ€rke der Regierung kaum öffentliche Zustimmung gewinnt, wenn das Sujet keine stĂ€rkere Akzeptanz besitzt. Kurzfristig ist eine gewisse Stabilisierung des grĂŒnen Höhenflugs zu erwarten. Die Wahlen in Baden-WĂŒrttemberg (mit Stuttgart 21 als Anschub) und Berlin (mit erheblichen grĂŒn geschnitzten WĂ€hlerpotentialen) versprechen unter der gegebenen Leistungs- und FĂŒhrungsschwĂ€che der Bundesregierung erhebliche ZuwĂ€chse – Erfolge auch dann, wenn die demoskopischen Voraussagen nicht erreicht werden. In Parteiensystemen ist mittelfristig nichts erfolgreicher und wirksamer als der Erfolg. Auch in Bayern wachsen Mitgliederzahlen, WĂ€hlerstimmen und Stimmenpotentiale. Der Kampf um die FĂŒhrungsposition in der Opposition hat sich mittlerweile vom Landtag auch auf die WĂ€hlerschaft erstreckt, wie nicht nur die Umfragen zeigen, sondern auch die WĂ€hlerwanderung. An dieser sind zunehmend auch unzufriedene CSU-WĂ€hler beteiligt. Zu konstatieren bleibt grĂŒner Nachholbedarf auf dem Land, nicht zuletzt auch organisatorisch. Kommt auf die GrĂŒnen jenes Dilemma zu, an dem die Volksparteien – zumal in der Regierungsverantwortung – kranken, nĂ€mlich nach nahezu allen Seiten offen zu sein und sich gleichzeitig selbst treu zu bleiben? Das kann so sein. Es hĂ€ngt aber letztlich auch von der ÜberlebensfĂ€higkeit des Volksparteientypus ab, die man sich instĂ€ndig wĂŒnschen sollte, die aber durchaus nicht zweifelsfrei zu sein scheint. n

Prof. Dr. Heinrich Oberreuter ist Direktor der Akademie fĂŒr Politische Bildung in Tutzing und lehrt als Professor an der UniversitĂ€t Passau. Er ist einer der profiliertesten Politikexperten Bayerns.

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POLITIK & WIRTSCHAFT

Donner & Reuschel Marktkommentar

Konjunktur und KapitalmĂ€rkte Makroökonomische Faktoren Die Weltwirtschaft setzt im zweiten Halbjahr 2010 ihren eingeschlagenen Erholungskurs fort. Auch diese AufwĂ€rtsbewegung fĂ€llt zwischen den Emerging Markets und den Kern-Industrie­lĂ€ndern unterschiedlich intensiv aus. WĂ€hrend wir bei den Industriestaaten von einem Anstieg der Wirtschaftsleistung um 2,5 Prozent ausgehen, sollte die Wachstumsrate der SchwellenlĂ€nder im Schnitt 6,8 Prozent erreichen. Wie bereits in den vergangenen Jahren, werden China und Indien mit Zuwachsraten von geschĂ€tzten 10,2 Prozent und 8,6 Pro­zent wiederum die Spitze bilden. Insgesamt sollte das weltweite BIP im Jahr 2010 um ca. 3,8 Pro­zent zulegen. Auch fĂŒr das kommende Jahr erwarten wir einen weiteren krĂ€ftigen Anstieg des globalen BIP von 3,5 Prozent, der sich aus einem Wachstum der Kern-IndustrielĂ€nder von 2,2 Prozent und dem der Emerging Markets von 6,2 Prozent zusammensetzt. Die Wachstumsperspektiven fĂŒr die US-Wirt­ schaft haben sich in den letzten Monaten fĂŒr das Gesamtjahr 2010 leicht abgeschwĂ€cht. Nachdem zu Beginn des Jahres ein BIP-Anstieg von spĂŒrbar ĂŒber 3 Prozent möglich schien, ist

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nun von einem Plus von gut 2,5 Prozent auszugehen. Einer der GrĂŒnde fĂŒr diese Abflachung liegt im anhaltend schwachen US-Arbeitsmarkt, der weiterhin durch Stellenabbau gekennzeichnet ist. Dieser fortlaufende Verlust an ArbeitsplĂ€tzen könnte sich im kommenden Jahr stĂ€rker als bisher negativ auf die Konsumneigung der US-Verbraucher auswirken. Dies bedeutet mittelfristig ein erhebliches Risiko fĂŒr die US-Konjunktur, da die Binnenkonjunktur mittlerweile knapp 70 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Allerdings sehen wir die Wahrscheinlichkeit fĂŒr rezessive Tendenzen der US-Wirtschaft (Double-DipSzenario) als sehr niedrig an. In der Eurozone haben sich hingegen die Wachstumsaussichten leicht verbessert. Hier sehen wir fĂŒr 2010 einen BIP-Anstieg von 1,6 Prozent und fĂŒr das kommende Jahr einen Anstieg von 1,4 Prozent voraus. Herausragend innerhalb der Eurozone ist weiterhin Deutschland, mit einem zu erwartenden Zuwachs von 3,2 Prozent (2010) bzw. 2,0 Prozent (2011).

Traditionelle Werte und innovative Lösungen – dafĂŒr steht DONNER & REUSCHEL seit 1798. Der Unternehmergeist und die klaren Wertvorstellungen der GrĂŒnderfamilien Donner und Reuschel prĂ€gen die Privatbank bis heute.

Im Gesamtergebnis sind die IndustrielĂ€nder dabei, die Vorkrisenniveaus zurĂŒckzuerobern. Die staatlichen Hilfsprogramme zeigen nachhaltige

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POLITIK & WIRTSCHAFT Wirkung – auch ĂŒber den Anschubzeitraum hinaus. Zinsentwicklung in Europa und den USA Die Wirtschaft in der Eurozone kann den Einbruch im Jahr 2009 hinter sich lassen. Jedoch ist das Ausmaß dieser Gegenbewegung mit einem zu erwartenden Anstieg des BIP im laufenden Jahr von rund 1,6 Prozent noch auf einem verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig niedrigen Niveau. Aus diesem Grund halten wir es fĂŒr sehr wahrscheinlich, dass die EZB zur weiteren Förderung der wirtschaftlichen AktivitĂ€ten bis zum 1. Halbjahr 2011 an ihrer expansiven Geldpolitik festhalten wird. Der EZB-Leitzins steht seit April 2009 unverĂ€ndert auf dem tiefen (Krisen-)Niveau von 1 Prozent. Die Erholung der US-amerikanischen Konjunktur wird 2010 mit einem zu erwartenden Anstieg von ĂŒber 2,5 Prozent deutlicher voranschreiten als in Europa. Allerdings haben die USA mit den strukturellen Problemen eines schwachen Arbeitsmarktes und einer anhaltend niedrigen Bewertung des Immobilienmarktes zu kĂ€mpfen. Wir erwarten eine Anhebung des derzeit historisch tiefen Leitzinsniveaus in der Spanne von 0 bis 0,25 Pro­zent frĂŒhestens ab dem 2. Halbjahr 2011. WĂ€hrungsperspektiven Seit Anfang September gewann der Euro gegenĂŒber den wichtigsten HauptwĂ€hrungen deutlich an Wert (EUR/USD: +10,3 Prozent; EUR/GBP: +7,3 Prozent; EUR/JPY: +6,6 Prozent). Auch in Relation zu den anderen WĂ€hrungen war ein Ă€hnliches Bild zu erkennen. GrĂŒnde hierfĂŒr liegen unter anderem in politischen Maßnahmen von LĂ€ndern wie China, Indien, Brasilien oder auch Japan, die eine Auf-

wertung der heimischen WĂ€hrungen zugunsten der Exportwirtschaft vermeiden wollen. So senkte Japan ĂŒberraschend seine Leitzinsen auf 0 Prozent, Brasilien verdoppelte den Steuersatz fĂŒr AuslĂ€nder, die heimische Anleihen kaufen möchten, und China hĂ€lt weiterhin an seiner Politik fest, keine Verteuerung des Renminbi zuzulassen. Als BegrĂŒndung fĂŒr solche Maßnahmen werden unter anderem die Sorgen vieler Investoren um die StĂ€rke der US-Wirtschaft angefĂŒhrt. Als Investitionsalternativen dienen vor allem die wachstumsstarken SchwellenlĂ€nder, was dort die Angst vor Übertreibungen schĂŒrt. Anscheinend sind die USA nicht mehr bereit, diese Politik zu Lasten der eigenen Ausfuhren hinzunehmen. Erste Strömungen in der US-Politik setzen sich dafĂŒr ein, China durch die EinfĂŒhrung einer Sondersteuer mit Protektionismus zu drohen. EZB-PrĂ€sident Jean-Claude Trichet argumentierte, dass jede aufstrebende Industrienation eine Aufwertung der WĂ€hrung durchmachen muss. Da nĂŒtzen auch die BesĂ€nftigungen Chinas wenig, Griechenland durch KĂ€ufe von Staatsanleihen zu unterstĂŒtzen. n

Ihre Ansprechpartner bei DONNER & REUSCHEL Carsten Mumm (Leiter Asset Management) 040 30217-5565 André Will-Laudien (Asset Management) 089 2395-1649

Dieser Marktkommentar wurde am 31. Oktober 2010 erstellt. Alle veröffentlichten Angaben dienen ausdrĂŒcklich nur der Information und stellen keine Anlageberatung dar. Eine GewĂ€hr fĂŒr die Richtigkeit und VollstĂ€ndigkeit der Angaben kann nicht ĂŒbernommen werden.

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POLITIK & WIRTSCHAFT

Walter Beck

Die TĂŒrken machten 2002 den Kanzler Schröder Ankaras Premier Erdogan mischt gern in der deutschen Politik mit Es sind ja sehr viele Stimmen, die gegenwĂ€rtig auch aus der TĂŒrkei kommen und zur Beruhigung mahnen. Selbst Erdogan, der 2009 extrem unhöflich in Deutschland vor der Assimilierung gewarnt hat, spricht jetzt plötzlich von Integration. StaatsprĂ€sident Abdullah GĂŒl geht sogar noch deutlich weiter. Solche Stimmen kann man nur begrĂŒĂŸen. Wir haben aber gelernt: Mit Worten kann man sehr leicht manipulieren. Wie sehen aber die Taten aus? Viele Einwanderer aus der TĂŒrkei haben mit sehr guten GrĂŒnden die deutsche StaatsbĂŒrgerschaft angenommen. Dazu mussten sie allerdings auf die tĂŒrkische StaatsbĂŒrgerschaft verzichten. Seit 2000 hat ein rot-grĂŒnes Gesetz festgelegt, dass ein deutscher StaatsbĂŒrger diese StaatsbĂŒrgerschaft automatisch verliert, wenn er eine andere annimmt. Doch 2005 hat die TĂŒrkei selbst mitgeteilt, dass etwa 50 000 TĂŒrken, die deutsche StaatsbĂŒrger geworden waren, danach wieder die tĂŒrkische StaatsbĂŒrgerschaft angenommen haben. Die TĂŒrkei hat dies in Kenntnis der Gesetzeslage unterstĂŒtzt. Das aber heißt: Im Bundestagswahljahr 2002 waren rund 50 000 Einwanderer wieder ohne deutsche StaatsbĂŒrgerschaft, weil sie nachtrĂ€glich die tĂŒrkische StaatsbĂŒrgerschaft wieder angenommen hatten. Da sie dies aber den deutschen Behörden nicht mitgeteilt hatten, behielten sie ihren deutschen Pass und schienen somit wahlberechtigt. Sie haben auch gewĂ€hlt; nach den Statistiken liegt die Wahlbeteiligung dieser Einwanderer mit deutschem Pass bei rund 70 Prozent Nach dem damaligen amtlichen Endergebnis hatten SPD und CDU/CSU jeweils genau 38,5 Prozent aller Stimmen, die SPD lag mit gerade einmal 6 027 Zweitstimmen vorn. So wurde Gerhard Schröder Kanzler, nicht Edmund Stoiber. Die WĂ€hler unter den 50 000 wieder TĂŒrken gewordene Ex-Deutsche (das Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz ĂŒberprĂŒft und die GĂŒltigkeit der Regelung bestĂ€tigt, wonach solche Personen automatisch und sofort die deutsche StaatsbĂŒrgerschaft verlieren) waren sehr wahrscheinlich wahlentscheidend. Denn geht

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man von Aussagen aus, wonach diese Personen ĂŒberwiegend SPD wĂ€hlen, dann ist die Vermutung schon sehr stark: Diese 6 027 Stimmen, die Schröder mehr hatte, hat er wahrscheinlich auch den TĂŒrken in Deutschland zu verdanken, die gar nicht mehr zur Wahl hĂ€tten gehen dĂŒrfen. Das sind die Taten, die der tĂŒrkische Staat bewusst unterstĂŒtzt hat. Solche Taten passen aber eher zu den frĂŒheren SĂ€tzen von Erdogan, wonach die Minarette schon heute die Lanzen seien, mit denen der Islam Europa erobere. Jetzt hat Erdogan durch die VerfassungsĂ€nderung auch die Mehrheit, mit seiner islamistisch ausgerichteten AKP das MilitĂ€r und den Verfassungsgerichtshof

Gelingt dem Islam in der TĂŒrkei der schmerzhafte Prozess der AufklĂ€rung? islamistisch zu besetzen. Das heißt möglicherweise: Die vielgerĂŒhmte und angeblich so demokratische VerfassungsĂ€nderung ist in Wirklichkeit ein deutlicher weiterer Schritt in Richtung Islamisierung der TĂŒrkei. Mit Worten, auch mit VerfassungsĂ€nderungen, lĂ€sst sich vergleichsweise leicht tĂ€uschen. Die spannende Frage wird sein, welche Taten in der TĂŒrkei kĂŒnftig die Richtung aufzeigen. Europa ist zweifelsohne christlich geprĂ€gt. Aber: Die EuropĂ€er haben in einem sehr mĂŒhseligen und blutigen Kampf den allumfassenden Anspruch der damaligen Kirche beschritten. Humanismus und AufklĂ€rung haben dem Menschen die Freiheit erkĂ€mpft, selbst zu entscheiden, ob er glauben will und was er glauben will. Der politische Islam hat diesen Prozess noch nicht durchlitten. In Europa hat er Hunderte von Jahren gedauert. In wenigen Jahren soll ĂŒber den Beitritt der TĂŒrkei entschieden werden. Ob der Islam in der TĂŒrkei in dieser kurzen Zeit den schmerzhaften Reifeprozess der AufklĂ€rung wirklich durchleben kann? Die geschichtliche Erfahrung des europĂ€ischen Abendlandes lĂ€sst daran zweifeln. n

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Deutschlands Luft- und Raumfahrt

© ESA

Report ĂŒber eine aufsteigende Branche – BeitrĂ€ge auf den Seiten 30 – 56

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LUFT- & RAUMFAHRT Thomas Enders

Grenzenloser Erfolg Es waren wagemutige MĂ€nner, die um 1900 mit ihren selbstgebauten Maschinen eher große SprĂŒnge als tatsĂ€chliche FlĂŒge unternahmen. Wer hĂ€tte damals geglaubt, dass man einmal gemeinsam mit ĂŒber 500 anderen Passagieren ein Flugzeug besteigen wĂŒrde, das einen schnell und sicher ans andere Ende der Welt bringt und dabei pro Kopf nur drei Liter Treibstoff auf 100 Kilometer verbraucht?

dieser Sektor direkt und indirekt mehr als 1,5 Billionen USDollar Umsatz. WĂ€re die Luftfahrt ein Land, dann wĂŒrde es einen Platz in den Top 10 der wirtschaftlichen Weltrangliste zwischen Italien und Spanien einnehmen. Der Luftfahrtsektor kann sich mit anderen Wirtschaftsbereichen leicht messen lassen. Der Umsatz liegt höher als der der Pharma- oder Textilindustrie. Um das zu schaffen, arbeiten 33 Millionen Menschen in diesem Bereich.

Eine Erfolgsstory. Luftfahrtindustrie und Luftverkehrswirtschaft tragen acht Prozent der weltweiten Wirtschaft bei. Wenn man das gesamte System betrachtet, erwirtschaftet

In den 40 Jahren seit dem Bestehen von Airbus ist der Luft­ verkehr jĂ€hrlich um fast fĂŒnf Prozent gewachsen. Das Wachstum der Luftfahrt hat vor allem in der entwickelten Welt R

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© Jens Görlich

Erst hat Europas Flugzeugbauer Airbus den US-Riesen Boeing eingeholt, dann ĂŒberholt. Der Wettbewerb hĂ€lt an, die Zeichen stehen auf Wachstum


LUFT- & RAUMFAHRT

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Foto: Justa, MĂŒnchen

Wie wird sich die Branche in den nĂ€chsten Jahrzehnten entwickeln? Airbus-Chef Thomas Enders beim Peutinger-Collegium ĂŒber die Chancen der Luftfahrtindustrie.

stattgefunden, also in Nordamerika, Westeuropa, Japan und Australien. In diesen MĂ€rkten gibt es ein Potential von einer Milliarde Menschen, die Transportdienstleistungen persönlich oder fĂŒr Fracht in Anspruch nehmen könnten. Die ĂŒbrigen MĂ€rkte sind erst noch im Kommen. Allen voran Asien mit China und Indien an der Spitze, der Nahe und Mittlere Osten, aber auch Osteuropa und Russland, Lateinamerika und Afrika. Hier haben wir ein Potential von 5,6 Milliarden Kunden. FĂŒr 84 Prozent der Welt ist Luftfahrt noch ein neuer, dynamischer Wachstumsmarkt. Warum sollten wir also nicht zuversichtlich sein?

Aber nicht nur auf der Kundenseite wird sich der Markt verĂ€ndern. Bereits im Laufe des nĂ€chsten Jahrzehnts zeichnet sich das Ende des Duopols von Airbus und Boeing ab. Die brasilianische Embraer und Bombardier aus Kanada bauen bereits sehr erfolgreich Regionalflugzeuge. Hinzu kommen Angebote aus Russland, das auf jahrzehntelange Tradition im Flugzeugbau zurĂŒckblicken kann, Japan und natĂŒrlich China. Der Ein-

Fotos: Deutsche Lufthansa AG

Keine Frage, das 21. Jahrhundert wird asiatisch. Wir erwarten dort ein Verkehrswachstum von jĂ€hrlich 6 Prozent gegenĂŒber 4,7 Prozent im weltweiten Durchschnitt. Europa mit 4,3 Pro­zent und erst recht Nordamerika mit 2,4 Prozent wachsen

deutlich langsamer. Das schlĂ€gt sich im Bedarf an neuen Flugzeugen nieder: In den nĂ€chsten 20 Jahren wird jedes dritte Passagierflugzeug in Asien gebraucht. Eine wichtige Region fĂŒr die Branche ist zweifelsohne auch der Mittlere Osten. Bezogen auf die Bevölkerungszahlen ist die Nachfrage nach Flugzeugen dort sogar noch grĂ¶ĂŸer als in Asien. Allein Emirates hat jĂŒngst 32 A380 bestellt.

1955 waren Flugreisen noch ein Ereignis 


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 heute ist das Fliegen auch fĂŒr Kinder selbstverstĂ€ndlich.

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© EADS Group

Im LĂ€rmlabor wird an leiseren Triebwerken geforscht. Von 2000 bis 2020 sollen die LĂ€rmemissionen halbiert werden.

zug neuer Wettbewerber im Segment mittelgroßer Flieger mit 100 bis 200 Sitzen ist sicherlich nur ein Anfang. Die Luftfahrt­ industrie wird in ihren HeimatlĂ€ndern jeweils als nationale Prestigeindustrie erkannt und krĂ€ftig staatlich gefördert. Das fĂŒhrt vor Augen, wie absurd der Handelsstreit zwischen der EuropĂ€ischen Union und den USA um Beihilfen fĂŒr Airbus und Boeing ist. Die nationale Förderung der forschungsinten-

Neue MĂ€rkte: das 21. Jahrhundert wird asiatisch. siven Luft- und Raumfahrtindustrie ist weltweiter Standard – und wird es auch bleiben. Zudem sind große Flugzeugprogramme, wie die Boeing 787 oder unsere A350, ohnehin zunehmend Ergebnis globaler Kooperationen. Das Konkurrenzprogramm zu unserer A350, die Boeing 787, wird mit mindestens fĂŒnf Milliarden US-Dollar allein vom amerikanischen Steuerzahler gefördert. Kein einziger Dollar wird zurĂŒckgezahlt. Aufgrund der internationalen Kooperation beteiligt sich auch die japanische Regierung maßgeblich an der Finanzierung dieses Programms. DemgegenĂŒber sind von Airbus seit 1992 etwa 40 Prozent mehr an RĂŒckzahlungen und Gewinnbeteiligung aus den staatlichen Anschubdarlehen in die Staatskassen zurĂŒckgeflossen als wir seitdem erhalten haben. Auch hierin zeigt sich die wichtige Stellung, die der Flugzeugbau einnimmt. Ein Zuwachs an Flugzeugen bedeutet natĂŒrlich auch, dass die KapazitĂ€ten an den FlughĂ€fen erhöht werden mĂŒssen. Der Ausbau von FlughĂ€fen stĂ¶ĂŸt immer wieder auf wenig Gegenliebe bei den Anrainern. Um die Akzeptanz zu steigern, arbeitet die Luftfahrtindustrie an Möglichkeiten, den LĂ€rmausstoß der Jets zu verringern. So ist es in den vergangenen vier Jahrzehnten gelungen, die LĂ€rmemissionen um 20 dB zu senken, also den wahrgenommenen LĂ€rm auf ein Viertel zu reduzieren.

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Auf europĂ€ischer Ebene wurden im Jahr 2000 strategische Ziele fĂŒr das Jahr 2020 verabschiedet, denen zufolge die LĂ€rm­ emissionen nochmals halbiert werden sollen. Was wir davon schon geleistet haben, kann man ĂŒberall dort erleben, wo die A380 landet. Im Vergleich zum alten Jumbo B747 haben wir die LĂ€rmemissionen deutlich gesenkt. Das kann man nicht nur messen, sondern leicht mit bloßem Ohr hören. Die A380 hat alle QualitĂ€ten, sich bei Flughafennachbarn beliebt zu machen. ZurĂŒcklehnen dĂŒrfen wir uns auch nicht beim Umweltschutz. Zwar hat die Luftfahrt nur einen Anteil von zwei Prozent am globalen CO2 -Ausstoß. Doch wir haben uns in der europĂ€ischen Industrie auf das Ziel verstĂ€ndigt, dass neu ausgelieferte Flugzeuge im Jahr 2020 um die HĂ€lfte weniger Treibstoff verbrauchen als im Jahr 2000. All diese Fortschritte sind kostspielig und können nicht ohne öffentliche UnterstĂŒtzung bewĂ€ltigt werden. Das hat schon Franz Josef Strauß erkannt, der mit visionĂ€rem Einsatz Deutschland eine Hochtechnologiesparte gesichert hat. Allerdings mĂŒssen wir heute einen Schritt weiter denken. Airbus hat es geschafft, den scheinbar ĂŒbermĂ€chtigen amerikanischen Konkurrenten erst einzuholen und dann zu ĂŒberholen, weil man in Europa die KrĂ€fte gebĂŒndelt hat. Es ist fĂŒr die Zukunft nicht mehr angebracht, in engen nationalen Grenzen zu denken, zu handeln und zu fördern. Hier ist Airbus der Politik heute schon einen Schritt voraus. n

Dr. Thomas Enders ist seit 2009 PrÀsident des BDLI (Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie) und seit 2007 CEO von Airbus Industries.

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LUFT- & RAUMFAHRT Dietmar Schrick

Deutschland braucht Raumfahrt Deutsche SchlĂŒsseltechnologien fĂŒr das 21. Jahrhundert

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Bild: ESA/NASA

Knapp sieben Meter lang ist das Raumlabor Columbus, das am 11. Februar 2008 an die internationale Raumstation ISS angedockt wurde. Die Tonne ist der grĂ¶ĂŸte Beitrag der EuropĂ€ischen Weltraumorganisation ESA und soll zehn Jahre lang fĂŒr Forschungsarbeiten im All zur VerfĂŒgung stehen. FĂŒr den Bau und die Infrastruktur auf der Erde wurden 1,4 Milliarden Euro investiert.


LUFT- & RAUMFAHRT

Erkenntnisse in den Bereichen Umwelt, Wissen, Sicherheit, Kommunikation, MobilitĂ€t, Technologie und Transport bestimmen unsere Zukunft. DafĂŒr mĂŒssen wir heute entscheidende Weichen stellen. Wir mĂŒssen deshalb die Raumfahrt beherrschen, um auf diesen entscheidenden Gebieten – politisch wie industriell – bestehen zu können. Die Raumfahrt in Deutschland, so wie sich heute darstellt, ist ein klares Erfolgsmodell. Wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig symbolisiert die zugehörige Industrie Spitzentechnologie, internationale Kooperation und den erfolgreichen Schulterschluss von Politik, Wissenschaft und Industrie. Nicht zuletzt dank dieser Kooperation gehört Deutschland in der Raumfahrt heute zur Weltspitze. Die Bundesregierung betreibt unter FederfĂŒhrung des Bundesministeriums fĂŒr Wirtschaft und Technologie seit Jahren eine ĂŒberaus erfolgreiche Raumfahrtpolitik. Deutschland ist in allen wesentlichen Bereichen hervorragend positioniert. Raumfahrt trĂ€gt nicht nur wesentlich zur Verbesserung der LebensqualitĂ€t und zur Sicherung des Lebensstandards in Deutschland, Europa und der Welt bei. Sie liefert darĂŒber hinaus in fast allen Politikfeldern unverzichtbare BeitrĂ€ge. Sie trĂ€gt durch

Raumfahrt umfasst alle Lebensbereiche. Umweltbeobachtung, Klima- und WetterĂŒberwachung aktiv zum Schutz der Erde bei. Unsere nationale Wissenschafts- und Bildungskompetenz profitiert von der vorhandenen Grundlagenforschung ebenso wie von der anwendungsorientierten Forschung. Resultate unserer Raumfahrtforschung erhöhen heute auf vielfĂ€ltige Art und Weise unsere individuelle LebensqualitĂ€t, zum Beispiel in punkto MobilitĂ€t, Transportwesen, InformationsverfĂŒgbarkeit, innere Sicherheit, Telekommunikation, Navigation, um nur einige Beispiele zu erwĂ€hnen. Raumfahrtanwendungen sind fĂŒr Krisenvorsorge, KonfliktbewĂ€ltigung und internationale Friedenssicherung unverzichtbar. Raumfahrtkompetenz ist unabdingbar fĂŒr die politische SouverĂ€nitĂ€t Deutschlands. Die Bundesregierung setzt deshalb richtigerweise auf eine anwendungsorientierte Raumfahrtstrategie. Derzeit entwickelt und baut die deutsche Raumfahrtindustrie komplette Raumfahrtsysteme in allen Anwendungsbereichen und verfĂŒgt ĂŒber alle nötigen technologischen FĂ€higkeiten. Sie ist auf europĂ€ischem und internationalem Parkett ĂŒberaus erfolgreich und wettbewerbsfĂ€hig. Wichtige ESA-Programme werden unter deutscher SystemfĂŒhrerschaft entwickelt und gebaut. FĂŒr bilaterale Kooperationen ist unsere Branche ein gefragter Partner. Die deutsche Raumfahrtindustrie ist ein unverzichtbarer Partner von Wissenschaft und Forschung. Der enge Schulterschluss mit Forschung und Wissenschaft ist ein weiterer SchlĂŒssel fĂŒr den Erfolg der deutschen Raumfahrt.

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Bild: ESA

Klimaschutz, schnelle DatenĂŒbertragung, Verkehrslenkung oder die Erlangung weiteren Wissens ĂŒber unsere Erde und das System, in dem wir leben – die GrĂŒnde fĂŒr Raumfahrt sind vielfĂ€ltig und ĂŒberzeugend. Satelliten umkreisen innerhalb von Minuten unseren Planeten, Radio und Fernsehen ĂŒbertragen Nachrichten aus weit entfernten Gebieten. Dass dies heute möglich ist, verdanken wir unermĂŒdlichen Forschern.

Aus 514 Kilometern Höhe sendet der deutsche Erdbeobachtungssatellit TerraSAR-X Geo-Informationen. Er liefert bis auf einen Meter genaue und zuverlÀssige Radardaten.

Zu wesentlichen Kernkompetenzen dieser Industrie gehören die SystemfĂŒhrung fĂŒr die komplette Ariane 5-Oberstufe sowie fĂŒr Antriebskomponenten, Strukturbauteile und Tanks, SystemfĂŒhrung bei Entwicklung und Bau des Columbus-Labors, Bau des unbemannten Weltraumfrachters ATV inklusive modernster Rendezvous- und Docking-Technologie, aber auch Wissenschaftssatelliten und -sonden. Deutschland ist weltweit fĂŒhrend bei Entwicklung und Anwendung der SAR-Technologie fĂŒr Erdbeobachtungssatelliten (z. B. ENVISAT). Unsere nationale Industrie zeichnet verantwortlich fĂŒr Entwicklung und Bau der Satelliten des europĂ€ischen Navigationssystems Galileo. In den vergangenen Jahren hat Deutschland seine Systemkompetenzen im Bereich der Telekommunikations­ satelliten stĂ€ndig ausgebaut und hat heute eine Spitzenstellung im Bereich Breitbandkommunikation inne. Deutsche AusrĂŒstungs- und Zulieferunternehmen spielen bei der Entwicklung aller genannten hochkomplexen Systeme eine unverzichtbare Rolle. Ökonomische Verantwortung, technologische und wissenschaftliche Spitzenleistungen sowie Faszination liegen in der Raumfahrt nah beieinander. Raumfahrt ist Zukunft. Die deutsche Raumfahrtindustrie setzt daher große Hoffnungen in die Raumfahrtpolitik der Bundesregierung und in die derzeit im Bundeswirtschaftsministerium in Arbeit befindliche nationale Raumfahrtstrategie. Deutschland ist eine fĂŒhrende europĂ€ische Raumfahrtnation und muss deshalb seine Ziele in der ESA und EU klar formulieren. ErgĂ€nzend dazu brauchen wir weiterhin ein starkes und strategisch ausgerichtetes, nationales Raumfahrtprogramm, welches fĂŒr alle wichtigen Raumfahrtbereiche substanzielle BeitrĂ€ge liefert. Raumfahrt muss eine tragende SĂ€ule der High- Tech-Initiative der Bundesregierung bleiben. n Dietmar Schrick wurde 1950 in Hilden (Rheinland) geboren und begann nach dem Studienabschluss als Wirtschaftsingenieur 1975 bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) in MĂŒnchen. 1999 ĂŒbernahm er die Leitung des EADS-Werkes Manching, wo die Endmontage fĂŒr das Eurofighter-Programm aufgebaut wurde. Seit 2007 ist Schrick HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrer des Bundesverbandes der Luft- und Raumfahrtindustrie e.V. (BDLI)

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LUFT- & RAUMFAHRT JĂŒrgen Breitkopf

MĂŒnchner Pfadfinder im Weltall

TET-1 (im Bild beim Thermal-Test) bringt Technologie-Muster zur „BewĂ€hrungsprobe“ ins All.

Mitten in MĂŒnchen, in der Integrationshalle des Raumfahrtunternehmens Kayser-Threde, wird an einem Satelliten gearbeitet, der schon Anfang nĂ€chsten Jahres starten soll. Sein Name TET-1 ist zugleich Programm: Der TechnologieErprobungstrĂ€ger soll verschiedene Technologie-Muster zur BewĂ€hrungsprobe ins All bringen. Kayser-Threde wurde vom Deutschen Zentrum fĂŒr Luft- und Raumfahrt (DLR) als Hauptauftragnehmer und MissionsfĂŒhrer ausgewĂ€hlt.

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Auch bei einem anderen nationalen Satellitenprojekt ist das MĂŒnchner Unternehmen SystemfĂŒhrer: Der Umwelt-Satellit EnMAP wird mit einem komplexen, hyperspektralen Sensor ausgestattet und soll eine neue Ära in der Erdbeobachtung einlĂ€uten. Da noch nicht abzusehen ist, in welchen Anwendungsgebieten die von EnMAP generierten Daten eingesetzt werden können, spricht man von einer wissenschaftlichen „PfadfinderMission“.

Bild: Kayser-Threde

High-Tech Schmiede Kayser-Threde produziert fĂŒr die europĂ€ische Raumfahrt


Doch neben der Erde nehmen optische Instrumente aus dem Hause Kayser-Threde auch die Sonne und die Sterne ins Visier. Wie in der Gondel des grĂ¶ĂŸten ballongetragenen Sonnenobservatoriums (SUNRISE), an Bord der einzigen flugzeuggestĂŒtzten Sternwarte (SOFIA) oder auf dem Herschel-Satelliten der ESA. Aber auch in der bemannten Raumfahrt verlassen sich Deutschland und Europa auf das MĂŒnchner Unternehmen. So bei Infrastrukturprojekten fĂŒr die Raumstation oder bei Anlagen fĂŒr die Erforschung von Plasmakristallen oder des menschlichen Gleichgewichtorgans. Vergleichsweise „bodenstĂ€ndig“ sind dagegen die Arbeiten am vollautomatischen Hochtechnologie-Teleskop fĂŒr das modernisierte Observatorium der LMU MĂŒnchen auf dem MĂŒnchner Hausberg Wendelstein.

In der Raumfahrt ist Kayser-Threde SystemfĂŒhrer. Um herausfordernde Projekte und neue Technologien meistern zu können, sind Prozesse und Transparenz unerlĂ€sslich. KayserThrede war 1994 eines der ersten deutschen Raumfahrtunternehmen, das sich ISO-9001 zertifizieren ließ. Als Leitplanken dienen unter anderem das elektronische Prozess-Modell, ver­schiedene Verfahrens- oder Arbeitsanweisungen und die Richtlinien fĂŒr Projektleiter. Erfreulicherweise wird die wirtschaftliche und strategische Bedeutung der „Ingenieurskunst Raumfahrt“ fĂŒr unser rohstoffarmes Land seit vielen Jahren zweifelsfrei anerkannt. Die Bundesregierung hat sich klar zur Raumfahrt bekannt und ermöglicht Wissenschaft und Industrie, an zukunftsweisenden Projekten teilzunehmen und auch die FĂŒhrungsrolle zu ĂŒbernehmen. Die Erfolgsgeschichte hĂ€tte ohne die eingefleischten „Kayserlinge“ so nicht geschrieben werden können. Man spĂŒrt förmlich ihre Leidenschaft fĂŒr Innovationen und herausragende Raumfahrtsysteme, den Biss, an vorderster Front der Technologie zu arbeiten und den Willen, gemeinsam etwas zu bewegen und gestalten zu können. Mit der GrĂ¶ĂŸe der Aufgaben wĂ€chst auch der Bedarf an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: 32 Neueinstellungen gab es seit Jahresbeginn. FĂŒr Kayser-Threde eine außergewöhnlich hohe Zahl, da die Fluktuation erfreulich gering ist und Bedarfsspitzen

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Bild: RKK Energia

Kayser-Threde ist ein international agierendes Raumfahrtunternehmen, das sich in ĂŒber 40 Jahren aus kleinen AnfĂ€ngen zum SystemfĂŒhrer fĂŒr komplexe wissenschaftliche Instrumente, Kleinsatelliten und Raumfahrtmissionen entwickeln konnte. Das mittelstĂ€ndisch geprĂ€gte Unternehmen ist in nationalen wie internationalen Raumfahrtprojekten mit FĂŒhrungsrollen betraut. Die Systeme, die in den Disziplinen Optik, Elektronik, Robotik und Mechanik entwickelt werden, stehen zum Teil an der Grenze des technisch Machbaren, manche ĂŒbertreffen sogar die Erwartungen des Auftraggebers. Raumfahrt wird in MĂŒnchen also mit Herz und großem Sachverstand betrieben.

Anfang 2001 hat Kosmonaut S. Krikalev mit dieser Plasmakristall-Apparatur die Forschungsarbeiten im russischen Segment der Internationalen Raum­ station ISS eingelÀutet.

bislang durch Personaltransfer innerhalb des Unternehmens abgefangen werden können. Allein in der Raumfahrt sollen in den nĂ€chsten zwei Jahren rund 100 hochqualifizierte ArbeitsplĂ€tze geschaffen werden. Der Ruf der Hightech-Schmiede als Arbeitgeber ist exzellent, Mitarbeiterumfragen ergeben Bestnoten, Studierende werden schon frĂŒh ans Unternehmen gebunden, dem in Sachen 50+ (also Maßnahmen im Hinblick auf den demografischen Wandel) ganz offiziell Weitblick bescheinigt wurde. Dennoch ist es nicht immer leicht, erfahrene Fachexperten an die Isar zu holen. Kayser-Threde ist mit seinen beiden Standorten im MĂŒnchner SĂŒden eingebettet in das Technologie-Umfeld in und um MĂŒnchen: Vom DLR im benachbarten Oberpfaffenhofen mit seinen verschiedenen Instituten und dem Raumfahrt-Kontrollzentrum ĂŒber die Max-Planck-Institute und die TUM in Garching bis zum Bayerischen Wirtschaftsministerium, das der Technologie und dem Fortschritt gewogen ist. Dem wird bei der derzeitigen Suche nach einem neuen, gemeinsamen Standort fĂŒr rund 350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den entsprechenden Rein- und Integrationshallen Rechnung getragen. n JĂŒrgen Breitkopf ist seit Anfang 2004 GeschĂ€ftsfĂŒhrer der Kayser-Threde GmbH und gehört verschiedenen raumfahrtpolitischen Gremien an. Unter seiner FĂŒhrung gelang dem 1967 gegrĂŒndeten MĂŒnchner Unternehmen der Aufstieg vom Subsystem-Lieferanten zum SystemfĂŒhrer. Der studierte Maschinenbauer war zuvor in verschiedenen leitenden Positionen im Astrium-Konzern tĂ€tig.

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LUFT- & RAUMFAHRT Egon Behle

Leiser, sauberer und krĂ€ftiger Leiser, sparsamer und schadstoffĂ€rmer, so mĂŒssen Luftfahrtantriebe von morgen sein. Seit Jahren arbeitet die MTU Aero Engines an neuen Technologien, um kĂŒnftige Antriebe noch umweltvertrĂ€glicher zu machen. Die MĂŒhe lohnt sich: Branchenexperten sagen der Luftfahrt gute Wachstumschancen voraus. Bis zum Jahr 2020 soll sich der Verkehr ĂŒber den Wolken verdoppeln. In enger Kooperation mit bedeutenden Akteuren der Branche entwickelt Deutschlands fĂŒhrender Triebwerkshersteller neuartige Antriebssysteme und Technologien in allen Schub- und Leistungsklassen.

© Jens Görlich

Im MĂŒnchner Norden wird am Triebwerk von morgen gearbeitet

© MTU

Das Antriebskonzept der Zukunft ist der Getriebefan (GTF). Er zeichnet sich durch ein Untersetzungsgetriebe zwischen Fan – dem großen Schaufelrad vorne am Triebwerk –, und Niederdruckturbine, die den Fan antreibt, aus. Bei herkömmlichen Antrieben sind beide durch eine Welle miteinander verbunden. Durch die Entkoppelung kann der Fan mit seinem großen

Getriebefans von MTU sind ein Wunder an Ingenieurkunst und PrÀzision.

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© MTU

LUFT- & RAUMFAHRT

Auf dem PrĂŒfstand von Pratt & Whitney in den USA wird ein Getriebefan auf seinen Erstlauf vorbeireitet.

Förderprogramme entwickelt wurden. Die MTU setzt mit diesen Komponenten weltweit MaßstĂ€be. Das ist eines unserer wichtigsten strategischen Standbeine – Technologievorsprung zur Sicherung unserer WettbewerbsfĂ€higkeit sowie zur langfristigen Erhaltung von Hightech-ArbeitsplĂ€tzen in Bayern, Deutschland und an allen anderen Unternehmensstandorten. Technologisch fĂŒhrend kann man nur sein, wenn man hochqualifizierte und hochmotivierte Mitarbeiter hat. Die MTU befindet sich in der glĂŒcklichen Lage, eine solche Belegschaft zu haben. Wir sparen deswegen weder an Forschungsmitteln noch an der Aus- und Weiterbildung. Denn das ist unsere Zukunft.

Durchmesser langsamer drehen, die Turbine aber erheblich schneller. Beide Komponenten erreichen so ihr Optimum und verhelfen dem Getriebefan zu einem sehr hohen Wirkungsgrad. Das verringert Treibstoffverbrauch, Kohlendioxidausstoß und LĂ€rmentwicklung drastisch. Zudem wird der Antrieb leichter, da weniger Teile und Stufen benötigt werden.

Erste Anwendungen des Getriebefans sind die Regionalflugzeuge C-Series von Bombardier und der MRJ von Mitsubishi sowie das neue russische Kurz- und Mittelstrecken-Flugzeug von Irkut, die MS-21. Damit nicht genug: Wir arbeiten schon heute daran, dieses Antriebskonzepts der Zukunft zu optimieren und haben mit dem Bauhaus Luftfahrt ein ambitioniertes Programm entwickelt,

Realisiert wird der GTF von der MTU in Zusammenarbeit mit Pratt & Whitney. Die MTU steuert mit der schnelllaufenden Niederdruckturbine eine SchlĂŒsselkomponente bei. Das Besondere: Diese Technologie beherrschen weltweit nur wir. Desweiteren arbeiten wir zusammen mit unserem amerikanischen Partner an einem neuen Hochdruckverdichter. Dieser neue transsonische Kompressor wird mit nur acht Stufen ein DruckverhĂ€ltnis von 17:1 und einen deutlich höheren Wirkungsgrad erreichen. Damit schlĂ€gt er die meisten zivilen Modelle um LĂ€ngen. Die ersten vier Stufen stammen von uns, die letzten vier von Pratt & Whitney. Der komplette Kompressor entsteht in der innovativen Blisk-Bauweise. Blisks (Blade Integrated Disks) sind Hochtechnologie-Bauteile, bei denen Scheibe und Schaufeln aus einem StĂŒck gefertigt sind und nicht mehr zusammengesteckt werden. Das erhöht die Festigkeit und verringert das Gewicht.

Technologisch fĂŒhrend kann man nur mit hochmotivierten Mitarbeitern sein.

Der GTF ist ein klassisches Beispiel fĂŒr sinnvolle Technologieförderung: Zwei seiner SchlĂŒsselkomponenten – die schnelllaufende Niederdruckturbine und der Hochdruckverdichter – basieren auf Technologien, die im Rahmen nationaler und europĂ€ischer

Der Technologiekonzern MTU geht auf die AnfĂ€nge der Fliegerei zurĂŒck und hat sich in seiner – mit den VorgĂ€ngergesellschaften – ĂŒber 75-jĂ€hrigen Geschichte eine einzigartige Expertise erarbeitet. MTU Aero Engines ist an fast jedem Triebwerk der zivilen Luftfahrt beteiligt. Als „Motoren- und Turbinen-Union“ in den spĂ€ten 60er Jahren etabliert, spezialisierte sich der MĂŒnchner Konzernsitz auf die Luftfahrtantriebe, wĂ€hrend die Tochter in Friedrichshafen, wo frĂŒher auch die luxuriösen Maybach-Limousinen konstruiert wurden, sich auf Kolbenmotore konzentrierte. Dieser Teil wurde 1995 getrennt und ist heute eine Tochter der Tognum AG. Weltweit beschĂ€ftigt der MĂŒnchner Traditionsbetrieb rund 7800 Mitarbeiter und unterhĂ€lt Tochtergesellschaften in allen wichtigen Regionen und MĂ€rkten. Die Unternehmenszentrale ist nach wie vor im MĂŒnchner Norden, dem grĂ¶ĂŸten Standort

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um den Kohlendioxidausstoß weiter zu verringern: Mit dem Technologievorhaben Clean Air Engine (Claire) soll bis zum Jahr 2035 der CO2 -Ausstoss um bis zu 30 Prozent reduziert werden. 15, 20, 30 Prozent – das Claire-Programm hat drei Stufen und basiert auf dem Getriebefan. Mit der bis dahin serienreifen Technologie soll in der ersten Etappe ab etwa 2012 die CO2 -Emission um rund 15 Prozent und in einem zweiten Schritt bis 2025 um 20 Prozent gesenkt werden – durch den Einsatz eines gegenlĂ€ufigen Fans, dessen Grundlagen die MTU bereits in den 1980er-Jahren entwickelt hat. FĂŒr das Jahr 2035 rechnen wir damit, die Zielmarke von 30 Prozent zu erreichen. In der dritten und letzten Phase wird der gegenlĂ€ufige Getriebefan mit einem WĂ€rmetauscher ausgestattet. Mit Claire verringert sich nicht nur die CO2 -Emission eines konventionellen Triebwerks, auch der subjektiv empfundene LĂ€rm wird halbiert. n

im MTU-Verbund. Im vergangenen GeschĂ€ftsjahr 2009 wurde ein Umsatz von rund 2,6 Milliarden Euro erzielt, wobei ein beachtlicher Anteil von der MTU Maintenance, dem weltweit grĂ¶ĂŸten unabhĂ€ngigen Anbieter von Instandhaltungsdienstleistungen fĂŒr Luftantriebe, erwirtschaftet wurde. Auch die Bundeswehr fliegt fast ausschließlich mit Triebwerken, an deren Entwicklung und Produktion die MĂŒnchner beteiligt sind. MTU-Knowhow steckt auch in den Triebwerken der erfolgreichen AirbusPassagiermaschine A 320. Egon Behle (Bild) ĂŒbernahm 2008 den Vorstandsvorsitz der MTU Aero Engines. 1955 im hessischen Nidda geboren, studierte er Luft- und Raumfahrt in Stuttgart und arbeitete unter anderem bei der Robert Bosch GmbH und der Raumfahrtfirma Dornier. FĂŒr die Branche zeigt er sich optimistisch. 2010 sei fĂŒr alle ein schweres Jahr, „aber danach sehen wir wieder Licht am Horizont.“

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LUFT- & RAUMFAHRT

Von mutigen Menschen und starken Maschinen

Das Luftfahrtmuseum in Schleißheim Von null auf global in hundert Jahren – diese Erfolgsgeschichte beginnt im Norden MĂŒnchens. Genauer: in Schleißheim. Dort wurde 1912 die königlich-bayerische Fliegertruppe aufgestellt. Und damit begann die Entwicklung, die Bayern zu einem der weltweit bedeutendsten Standorte fĂŒr Luft- und Raumfahrttechnik machte, mit Global Playern wie MTU Aeroengines, EADS und Eurocopter und einem Umsatz von rund sechseinhalb Milliarden Euro. Vergangenheit und Gegenwart der Luft- und Raumfahrt sind seit 1992 in Schleißheim vereint. In das KommandanturgebĂ€ude des einstigen MilitĂ€rflugplatzes, die ehemalige Werfthalle und eine moderne Ausstellungshalle ist eine Zweigstelle des Deutschen Museums gezogen, die sich der Geschichte des Ortes und der deutschen Luftfahrt im allgemeinen ebenso wie der Technik widmet. Rund sechzig Propeller-, Segel- und Strahlflugzeuge, Senkrechtstarter und Hubschrauber sind auf der FlĂ€che eines Fußballfeldes ausgestellt, dazu Motore, DĂŒsentriebwerke und Teile von Raketen wie der Ariane 5. In einer glĂ€sernen Werkstatt kann man Experten bei der Restaurierung von Flugzeug-Oldies zusehen. Doch geht es in Schleißheim nicht nur um Maschinen, sondern auch um Menschen. Noch bis Januar erinnert die Flugwerft an ThaddĂ€us Robl. Der in der NĂ€he von Garmisch geborene Robl gehörte um die Wende zum vergangenen Jahrhundert zu den grĂ¶ĂŸten Stars der Radsportszene. Zum VerhĂ€ngnis wurde ihm vor hundert Jahren eine andere Leidenschaft: Am 18. Juni 1910 stĂŒrzte er in Stettin mit seinem „Farman III“-Doppeldecker ab, als einer der vielen Pioniere der Luftfahrt, die ihre Leidenschaft mit dem Leben bezahlten. n

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Fotos: Deutsches Museum

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Fotos: Deutsches Museum

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Anfahrt Flugwerft Schleißheim: mit S-Bahn Linie S1, Richtung Freising/Flughafen, Haltestelle Oberschleißheim; von dort ca. 15 Minuten zu Fuß zur Ferdinand-Schulz-Allee. Öffnungszeiten: tĂ€glich von 9 bis 17 Uhr. An bestimmten Feiertagen bleibt die Flugwerft geschlossen.

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LUFT- & RAUMFAHRT Michael Kerkloh

Die Überflieger

© Flughafen MĂŒnchen GmbH

Der Flughafen MĂŒnchen verzeichnet einen Rekord nach dem anderen

Die Krise ist ĂŒberwunden, der MĂŒnchner Flughafen verbucht außergewöhnliche Erfolge. Im Juli 2010 verzeichnete der Airport mit 3,4 Millionen Passagieren ein Wachstum von 11,1 Prozent – das höchste Monatsergebnis der Flughafengeschichte. Damit war MĂŒnchen der einzige europĂ€ische Großflughafen, der in diesem Monat einen zweistelligen Passagierzuwachs registrierte. Im August und September setzte sich die Wachstumsdynamik fort. Ein prosperierender Flughafen ist fĂŒr die regionale Wirtschaft von erheblicher Bedeutung. Schon an der BeschĂ€ftigungsentwicklung der vergangenen Jahre lĂ€sst sich die Schubkraft fĂŒr die heimische Wirtschaft ablesen: Im Jahr 1994 wurden am neuen Flughafen rund 15000 ArbeitsplĂ€tze ermittelt, heute sind es in rund 550 Unternehmen und Behörden doppelt so viele. Im Jahr 2009 wurde am Airport ĂŒber eine Milliarde Euro an Löhnen ausgezahlt. Und nicht zu vergessen: Am MĂŒnchner Flughafenbetrieb hĂ€ngen weitere 80 000 Jobs. Dabei sind alle volkswirtschaftlichen und regionalwirtschaftlichen Auswirkungen noch gar nicht erfasst. Der Flughafen ist ein klarer Wettbewerbsvorteil: FĂŒr die exportorientierten bayerischen Unternehmen, fĂŒr die Vermarktung des Standortes gegenĂŒber potentiellen Investoren sowie fĂŒr den Tourismus in Bayern. So profitiert der bayerische Tourismus, der mit einem Bruttoumsatz von rund 24

Milliarden Euro etwa 560 000 ArbeitsplĂ€tze im Freistaat sichert, in massiver Weise vom Flughafen MĂŒnchen. Eine Studie des European Center for Aviation Development (ECAD) in Darmstadt unterstreicht die QualitĂ€t und Bedeutung des MĂŒnchner Flughafens als Drehkreuz von europĂ€ischem Rang. Eine Reihe von neuen Langstreckenverbindungen, die heuer aufgenommen wurden, haben die AttraktivitĂ€t weiter gesteigert und den AufwĂ€rtstrend spĂŒrbar verstĂ€rkt. Die Anzahl der FluggĂ€ste im Interkontinentalverkehr stieg im ersten Halbjahr 2010 um zwölf Prozent auf 2,4 Millionen. 210 Ziele in 65 LĂ€ndern werden von MĂŒnchen aus regelmĂ€ĂŸig angeflogen. Von MĂŒnchen kann man heute mehr europĂ€ische Destinationen ohne Umsteigen erreichen als von jedem anderen europĂ€ischen Flughafen. Damit ist ein dichtes Netz von Anschluss- und ZubringerflĂŒgen entstanden, das eine ideale Basis fĂŒr einen weiteren Ausbau des Langstreckenverkehrs bietet. Der Anteil der Umsteiger ist stetig gestiegen – im Moment liegt er bei rund 37 Prozent. Nicht zuletzt wegen der vielfĂ€ltigen Verbindungen in alle Welt und der kurzen Umsteigezeiten genießt der Airport bei den Passagieren höchste Anerkennung. Kein Wunder also, dass unser Flughafen in der weltweit grĂ¶ĂŸten Passagierbefragung von 2005 bis 2008 vier Mal hintereinander zum

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Um diesen Ansturm bewĂ€ltigen zu können, verfolgt die Flug­ hafen MĂŒnchen GmbH einen strategischen Ausbau. Schon heute besteht Bedarf fĂŒr die geplante dritte Start- und Landebahn, mit der die Anzahl der planbaren stĂŒndlichen Flugbewegungen

© Flughafen MĂŒnchen GmbH

Der Europameister unter den FlughÀfen.

Immer mehr FluggÀste: Bis 2025 wird sich das Passagieraufkommen auf 58 Millionen verdoppeln.

besten Airport Europas gekĂŒrt wurde. Den fĂŒnften „Europameistertitel“ bekam der MĂŒnchner Airport in der jĂŒngsten Erhebung. Im weltweiten Ranking der Airports belegte der Flughafen MĂŒnchen hinter Singapur, Seoul und Hongkong den vierten Platz. Der Flughafen Franz Josef Strauß will hoch hinaus: So dĂŒrfte der gegenwĂ€rtige Boom dazu fĂŒhren, dass das Passagierergebnis zum Jahresende sogar ĂŒber dem Niveau des Rekordjahres 2008 liegt. Im Hinblick auf die langfristige Entwicklung ist nach den aktuellen Prognosen damit zu rechnen, dass sich das Passagieraufkommen bis zum Jahr 2025 nahezu verdoppelt und dann bei rund 58 Millionen liegen wird.

von derzeit 90 auf 120 erhöht werden kann. Gleichzeitig planen wir eine Erweiterung der PassagierkapazitĂ€t durch den Bau eines neuen Satelliten, der mit einem unterirdischen Transportsystem mit dem Terminal 2 verknĂŒpft werden soll. Mit diesen beiden Ausbauvorhaben, die wie alle anderen Projekte seit der Flughafeneröffnung 1992 ohne Steuergelder realisiert werden, schafft die Flughafengesellschaft die Voraussetzungen dafĂŒr, dass der MĂŒnchner Airport sich auch kĂŒnftig im Wettbewerb der europĂ€ischen Drehscheiben behaupten kann. Nachhaltige Impulse fĂŒr Konjunktur und BeschĂ€ftigung in Bayern sind die logische Folge. n Dr. Michael Kerkloh, im mĂŒnsterlĂ€ndischen Ahlen geboren, studierte in Göttingen, London und Frankfurt, wo er promovierte und beim Flughafen seine Karriere startete. 1995 wurde er GeschĂ€ftsfĂŒhrer bei der Hamburger Flughafen-Gesellschaft, 2002 ĂŒbernahm er den Vorsitz der GeschĂ€ftsleitung am MĂŒnchner Franz-Josef-Strauß-Airport, den er in der Weltspitze etablierte.

VollbeschÀftigung und viel Geld in der Kasse

Auch die Kommunen profitieren. Die FMG, ihre Tochtergesellschaften sowie alle weiteren Unternehmen, die mit dem Flug­ hafen zusammen arbeiten, haben im vergangenen Jahr rund

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100 Millionen Euro Einkommensteuer abgefĂŒhrt. 15 Millionen davon flossen in die Kassen der Gemeinden und StĂ€dte. Einige Kommunen, wie etwa Oberding im Landkreis Erding, sprechen nicht mehr von einer Pro-Kopf-Verschuldung, sondern von einem Pro-Kopf-Guthaben. Im Umland des Flughafens haben sich erfolgreiche GeschĂ€ftszweige entwickelt – angefangen von einer florierenden Hotellandschaft bis hin zum Parkservice. Die 5.000 Einwohner zĂ€hlende Gemeinde Oberding etwa bietet von der Pension bis zum 4-Sterne-Hotel unterschiedlichste Beherbergungsbetriebe an und kommt jĂ€hrlich auf gut 350.000 Übernachtungen. Im 2400-Seelen-Dorf Eitting hat auch das Unternehmen „Wurzer Umwelt“, ein seit 25 Jahren tĂ€tiger Entsorgungsfachbetrieb mit Dienstleistungszentrum in der Entsorgung, Widerverwertung und Landschaftspflege, vom Flughafen profitiert. „Der Flughafen ist fĂŒr uns ein großer Auftraggeber und in unserer Firma sind 10 bis 15 Mitarbeiter allein fĂŒr den Flughafen zustĂ€ndig“, so GeschĂ€ftsfĂŒhrer Franz Wurzer. „Wir sind froh, dass wir so einen starken Nachbarn haben.“ Die Region soll weiter im Job-Aufwind bleiben. Mit einer dritten Startbahn könnte am Flughafen die Zahl der ArbeitsplĂ€tze bis 2025 auf 40.000 ansteigen. Insgesamt könnten es ĂŒber 80.000 direkte und indirekte ArbeitsplĂ€tze werden. Hinzu kommen weitere Auftragsvergaben an Freiberufler und Unternehmen im Umland. Marion Friedl

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© Flughafen MĂŒnchen GmbH

Eine Musterregion fĂŒr Deutschland. Seit dem Bau des MĂŒnchner Flughafens vor 18 Jahren liegt die Arbeitslosigkeit in den Landkreisen Freising und Erding auf niedrigem Niveau. Derzeit sind 2,4 Prozent ohne Job, was von Fachleuten als „VollbeschĂ€ftigung“ umschrieben wird. Der Flughafen MĂŒnchen als Job- und Wirtschaftsmotor: 416 Millionen FluggĂ€ste und 5,7 Millionen FlĂŒge wurden seit dem ersten Flug im Jahr 1992 gezĂ€hlt. „Es haben in der Region alle profitiert“, sagt Rudolf Strehle, der bei der Flughafen MĂŒnchen GmbH (FMG) Beauftragter fĂŒr die Flughafen-Region ist. Rund 30.000 ArbeitsplĂ€tze bietet der Airport und laut Strehle suchen sich die Mitarbeiter einen Wohnort in der NĂ€he. Zwischen 1998 und 2008 verzeichnete die Region eine Zuzugsrate von 12,7 Prozent – Tendenz steigend. Besonders die StĂ€dte Erding, Freising und Landshut und ihr Umland sind begehrte Wohnorte von Flughafen-Mitarbeitern. Die ArbeitsplĂ€tze am Flughafen haben sich in ganz Oberbayern ausgewirkt und auch die Nieder­bayern profitieren unmittelbar. „Der Raum Landshut gehört zu den besten Arbeitsmarktregionen in Bayern. Dies ist auch auf den Flughafen zurĂŒckzufĂŒhren“, erklĂ€rt Rupert Aigner vom Amt fĂŒr Finanzen und Wirtschaft der Stadt Landshut.


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Ein Schwabe schwebt in die Welt Weltmarke Eurocopter liefert Hubschrauber in ĂŒber 140 LĂ€nder

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Bayern ist Hubschrauberland. Hier entwickelte und baute Ludwig Bölkow mit dem Luftfahrtkonzern MBB die legendĂ€re BO 106, die fĂŒr Polizei und Rettungsdienste zum verlĂ€sslichen Arbeitspferd wurde und die der heutige König Hamad Bin Isa Al Khalifa von Bahrein noch als Kronprinz eigenhĂ€ndig ĂŒber seine Insel im Persischen Golf steuerte. „Eine wunderbare Maschine“, schwĂ€rmte er. Heute ist das bayerisch-schwĂ€bische Donauwörth der deutsche Sitz der Weltmarke Eurocopter, von der mehr als 10 500 Hubschrauber in ĂŒber 140 LĂ€ndern fliegen, weltweit wurden 52 Prozent der zivilen und halbstaatlichen Helis von dem deutsch-französisch-spanischen Konzern entwickelt und gebaut.

Der NH90 ist ein zweimotoriger Hubschrauber, der besonders fĂŒr den Transport von Truppen und Material genutzt wird.

Nur beim MilitÀrgerÀt haben die Amerikaner die Nase vorn. Doch mit dem Kampfhubschrauber Tiger und dem Transporter NH-90 hat sich Eurocopter auch hier Marktanteile geholt. Vor vier Jahren gelang sogar der Einstieg ins amerikanische MilitÀrgeschÀfte: Die US-Armee bestellte 332 Helicopter vom

Ambitioniertes Sparprogramm soll Effizienz steigern. Typ UH-145, ein wendiger Alleskönner. Der Auftrag ĂŒber 2,4 Milliarden Euro ist der bisher grĂ¶ĂŸte fĂŒr ein EurocopterModell. Das Donauwörther Erfolgsunternehmen entstand aus einer Zwangslage heraus. Schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erkannten die Manager von MBB, dass ihre Ressourcen fĂŒr die milliardenschweren Entwicklungen nicht ausreichten, ohne die das damalige Ottobrunner Unternehmen den weltweiten Konkurrenzkampf nicht hĂ€tte bestehen können. Zudem reifte bei Franz Josef Strauß die Idee heran, mit einem europĂ€ischen Flugzeug, dem spĂ€teren Airbus, dem US-Monopolisten Boeing die Stirn zu zeigen. Die DASA entstand, deren Heli-Abteilung sich 1992 mit der HubschrauberSparte der französischen AĂ©rospatiale-Matra vermĂ€hlte und fortan Eurocopter nannte. Spanien wurde Juniorpartner.

Bei zivilen Hubschraubern ist Eurocopter weltweit fĂŒhrend.

Bilder: Eurocopter

Neben Bau und Wartung der SchraubflĂŒgler hat Eurocopter einen weiteren eintrĂ€glichen GeschĂ€ftszweig entdeckt: Das simulatorgesteuerte Flugtraining, wetterunabhĂ€ngig in der Halle, ohne Materialverschleiß und mit null Treibstoffverbrauch. Die ersten weltweit installierten Anlagen sind hoch ausgelastet. „Wir sind da in eine LĂŒcke gestoßen, die sich sehr gut macht“, freut sich der deutsche Eurocopter-Chef Lutz Bertling.

Der Prototyp X3 ist ein hybrid angetriebener Hochgeschwindigkeits-Helikopter.

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Die Krisen-Delle hofft er bis 2012 behoben zu haben und dann wieder die gewohnten jĂ€hrliche UmsatzzuwĂ€chsen von sieben bis acht Prozent erzielen zu können. Ein ambitioniertes Sparprogramm soll die Effizienz steigern. Sorgen aber bereitet ihm der militĂ€rische Bereich, bei dem die EuropĂ€er Reduzierungen angekĂŒndigt haben. Bleiben aber die militĂ€rischen Entwicklungsprogramme aus, „merken wir es nicht in fĂŒnf Jahren, aber sehr deutlich im nĂ€chsten Jahrzehnt und haben damit im internationalen Vergleich hohe Wettbewerbsnachteile“, befĂŒrchtet Bertling. PS. n

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Peter Schmalz

Neustart in Oberpfaffenhofen Erste DO 228 der neuen Generation nach Japan ausgeliefert

© RUAG Holding 2010

Ein guten Grund zur Freude und zum Feiern gab es Ende September am oberbayerischen Sonderflughafen Oberpfaffenhofen: Das erste Serienflugzeug der Do 228 New Generation konnte an den japanischen Kunden „New Central Airservices“ (NCS) ĂŒbergeben wurde. Und Peter Guggenbach, Chef der RUAG Aviation, pries stolz die Vorteile der neuen Maschine: „Ein vielseitig einsetzbares Flugzeug, das als Ă€ußerst robust bezeichnet werden kann. Bei sehr guter Nutzlast und hoher Reisegeschwindigkeit zeichnet sich die Do 228 NG besonders durch die FĂ€higkeit aus, auf kurzen Strecken starten und landen zu können.“ FĂ€higkeiten, die das Flugzeug zum Multitalent machen, das im Passagierund Frachttransport ebenso eingesetzt werden kann wie

fĂŒr Such- und Überwachungsaufgaben oder zum Seeraumoder Umweltschutz. Die Auslieferungsfeier war ein Neustart in der wechselhaften Geschichte des Flugzeugbaus in Oberpfaffenhofen. Es war still geworden um den Flugplatz 20 Kilometer sĂŒdwestlich von MĂŒnchen an der Autobahn nach Lindau. Vorbei war die Zeit, als hier große Boeings mit dem AWAC-System ausgerĂŒstet wurden und als dort unter dem großen Namen Dornier neue Flugzeugtypen entwickelt und produziert wurden. Unter ihnen die Do 228, die schon zu Beginn der 80er Jahre als hochmoderner, flexibel einsetzbarer und sparsamer Turboprop-Hochdecker das Interesse der Luftfahrtbranche weckte. R

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Doch vor einigen Jahren keimte neue Hoffnung auf: Der Schweizer Technologiekonzern RUAG hatte 2003 einen Teil der Dornier-Fairchild-Insolvenzmasse ĂŒbernommen und seither gute GeschĂ€fte mit dem Komponentenbau fĂŒr Airbus sowie mit der Wartung von privatem und militĂ€rischem FluggerĂ€t der mittleren GrĂ¶ĂŸe gemacht. So werden in Oberpfaffenhofen die Challenger-Maschinen der Regierungs-Flugbereitschaft ebenso gewartet wie die Bell-UH-Hubschrauber der Bundeswehr. Von dem weiterhin gefragten Regionalflugzeug Do 228 fliegen weltweit noch rund 150 Maschinen in 60 LĂ€ndern. 1985 war die Lizenz fĂŒr den

Rumpf und FlĂŒgel reisen in sechs Wochen von Indien nach Bayern. Bau der Do 228-202 nach Indien ausschließlichen fĂŒr den Einsatz auf dem dortigen Subkontinent vergeben worden. Somit gab es zwei Standorte der Do 228-Fertigung. In Indien weiter bis heute produziert, in Oberpfaffenhofen wurde die Fertigung 1998 eingestellt. Doch die Verantwortlichen in Oberpfaffenhofen hörten immer hĂ€ufiger von Kunden den Wunsch nach einer neuen Version der guten alten DO, die sich im KĂŒstenschutz und bei der UmweltĂŒberwachung hervorragend bewĂ€hrt und die selbst auf unbefestigten Pisten starten und landen kann. Eine Marktanalyse ergab zweierlei: Zum einen den weltweiten Bedarf von gut 1000 Maschinen und zum anderen die Erkenntnis, dass dieses Marktsegment von allen Aircraft-Herstellern in den vergangenen Jahren vernachlĂ€ssigt worden ist. Vor gut drei Jahren beschloss RUAG intern: „Wir wagen den Neustart.“ Der wichtigste Punkt dabei war, einen marktgerechten Preis zu finden, was durch eine kluge Aufteilung gelang: Der indische Partner stellt Rumpf und FlĂŒgel her, die nach einer sechswöchigen Reise in Oberpfaffen­hofen technisch vollendet und mit Komponenten fĂŒr die speziellen EinsatzplĂ€ne ausgerĂŒstet werden. Damit ist sichergestellt, dass gut ein Viertel der Wertschöpfung am oberbayerischen Standort

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Im oberbayerischen Oberpfaffenhofen werden die Flugzeug-RĂŒmpfe aus Indien technisch vollendet und fĂŒr die SpezialeinsĂ€tze vorbereitet.

bleibt und es den Stempel „Made in Germany“ weiterhin gibt. Der Standort Oberpfaffenhofen zeigte sich als hervorragend geeignet, denn hier lagerten nicht nur die PlĂ€ne und Werkzeuge, hier war das Knowhow noch vorhanden, denn ein Großteil der ĂŒber 1000 ArbeitskrĂ€fte stammt noch aus der alten Dornier-Zeit. Weil einer der KundenwĂŒnsche war, die FluggerĂ€usche zu verringern, entwickelte der Straubinger Antriebsspezialist MT MĂŒhlbauer einen neuen Propeller, der leiser ist und auch noch die Leistung um 15 Prozent steigert. Eine der vielen unbekannten Erfolgsgeschichten in Bayern. Das Cockpit wurde digitalisiert und die Triebwerksleistung erhöht. Die Maschinen der neuen Generation können mit einem höheren Gewicht starten und lĂ€nger in der Luft bleiben. Die kĂŒrzlich ausgelieferte Do 228 NG fliegt bereits im japanischen Regionalverkehr und verbindet Tokio mit den vorgelagerten Inseln. Der japanische Kunde, der bereits seit mehr als zehn Jahren drei Maschinen der Dornier-Serie 228-212 einsetzt, ist sehr zufrieden. „Die Maschine ist Ă€ußerst zuverlĂ€ssig und hervorragend geeignet fĂŒr die anspruchsvollen örtlichen Bedingungen“, versicherte Tetsuro Mori, EigentĂŒmer der Fluggesellschaft, bei der Übergabe des Flugzeuges in Oberpfaffenhofen. Auslieferungen werden dort bald wieder zur Gewohnheit werden: Maschinen der Do 228 NG sind bereits nach Norwegen und an die deutsche Marine zur Erkundung von Umweltverschmutzung in der Nord- und Ostsee verkauft. In Oberpfaffenhofen spricht man von einem „starkem internationalen Nachfrageinteresse“. n

Ein stolzer Moment: Auf dem Sonderflugplatz Oberpfaffenhofen unterzeichnet ein japanischer Kunde den ersten Kaufvertrag fĂŒr eine Do 228 New Generation.

© RUAG Holding 2010

Ihm folgten eine DĂŒsenversion und schließlich der Versuch, einen Mittelstrecken-Jet zu konstruieren, was jedoch zur wirtschaftlichen Katastrophe fĂŒhrte. In der Insolvenz versanken alle Hoffnungen, den Flugzeugbau an diesem Standort zu erhalten.

© RUAG Holding 2010

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© Ulli Skoruppa

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Wilfried Scharnagl

Realistischer VisionĂ€r Die Erfolge von Airbus und MĂŒnchner Flughafen sind der beharrlichen Politik von Franz Josef Strauß zu verdanken Die Luft- und Raumfahrt hatte lĂ€ngst das wache Interesse von Franz Josef Strauß gefunden, ehe es durch den Erwerb des Pilotenscheins fĂŒr ihn einen zusĂ€tzlichen persönlichen Interessensschub gab. Fliegen war fĂŒr Strauß die große private Alternative zur Politik. Die gewissenhafte Vorbereitung auf einen Flug, das völlige Hintersichlassen der Belastung und Anspannung des politischen Alltags, die Konzentration auf das völlig Andere – immer wieder habe ich dies bei Strauß aus unmittelbarer NĂ€he erlebt und beobachtet. Ob es nach Rom oder Madrid, nach Tel Aviv oder Tirana, nach Leipzig oder, und dies am hĂ€ufigsten, nach Bonn ging – ich hatte nie Bedenken, gut ans Ziel zu kommen. Besorgte Zeitgenossen, die sich bei mir nach der fliegerischen QualitĂ€t von Strauß erkundigen und mir ErzĂ€hlungen ĂŒber gefĂ€hrliche Abenteuer entlocken wollten, pflegte ich mit der

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lapidaren Auskunft zu bescheiden, da ich wisse, dass er mindestens ebenso sehr an seinem wie ich an meinem Leben hĂ€nge, hĂ€tte ich zum Piloten Strauß unbegrenztes Vertrauen. Ein Flug freilich ragt in meiner Erinnerung aus allen anderen FlĂŒgen mit Strauß heraus, was aber nicht am Piloten, sondern am Wetter lag. Vor den Weihnachtstagen des Jahres 1987 hatte Strauß, ĂŒber Jahrzehnte das zentrale Feindbild der sowjetischen Propaganda in Deutschland, ĂŒberraschend von GeneralsekretĂ€r Michail Gorbatschow fĂŒr die Tage nach Weihnachten eine Einladung nach Moskau bekommen. Neben Strauß gehörten Theo Waigel, Gerold Tandler, Edmund Stoiber, Strauß-Sohn Franz Georg, des MinisterprĂ€sidenten BĂŒroleiter Gerd AmtstĂ€tter und ich zu dieser Reisegruppe. FĂŒr Strauß war es Ehrensache, selbst in die Hauptstadt des sowjetischen Imperiums zu fliegen. R

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LUFT- & RAUMFAHRT WĂ€hrend des Fluges kam es stĂŒrmischen Wetters halber zu einigen Turbulenzen, ĂŒber Funk erfuhren Strauß und sein Copilot, dass der Moskauer Flughafen wegen Schnee und Eis eigentlich geschlossen sei. Die Unterhaltung, die es daraufhin zwischen den beiden Piloten gab – ich saß am nĂ€chsten am Cockpit und bekam die Unterhaltung besonders gut mit – erregte dann doch bei uns Passagieren erhebliche Aufmerksamkeit. Man könne, so hörten wir, nicht mehr zum nĂ€chsten anderen Flughafen, nĂ€mlich nach Minsk, zurĂŒck, weil dafĂŒr der Treibstoff nicht reiche. Also wurde weiter Kurs auf Moskau gehalten. Die Gesichter seines „Wurzelwerks“, das er in besonderer Dichte dabei hatte, waren damals keineswegs so heldenhaft, wie man dies heute aus mancher mannhafter Einzeldarstellung heraus glauben könnte. Das sowjetische Empfangskomitee, das an diesem Abend wegen der WetterverhĂ€ltnisse nicht mehr mit der Ankunft des bayerischen Gastes und seiner Delegation gerechnet hatte, war schon auf den RĂŒckweg in die Stadt. Als dann die Nachricht kam, dass Strauß trotz Eis und Schnee landen werde, hieß es „Kommando zurĂŒck“. Als ob dieser Flug fĂŒr Franz Josef Strauß eine erfrischende Erholung gewesen wĂ€re, begannen unmittelbar nach der Ankunft im Zentrum Moskaus die politischen Termine mit einem dreieinhalbstĂŒndigen GesprĂ€ch mit dem damaligen sowjetischen

Als Airbus-Aufsichtsratsvorsitzender unterzeichnete Franz Josef Strauß auch einen Vertrag mit der DDR-Staatslinie Interflug fĂŒr einen A310.

Außenminister Eduard Schewardnadse. Die positive Wirkung des Hinflugs auf Strauß zeigte sich nach mehrfachen und mehrtĂ€gigen GesprĂ€chen mit Gorbatschow und anderen Mitgliedern der sowjetischen FĂŒhrung auch beim RĂŒckflug nach MĂŒnchen am Silvestertag. WĂ€hrend die Begleiter mit einiger Erschöpfung froh waren, wieder in MĂŒnchen und dann daheim zu sein, absolvierte Strauß erst eine umfangreiche Pressekonferenz, stand dann fĂŒr

UnermĂŒdlich ackerte Strauß fĂŒr die Entwicklung der Luft- und Raumfahrt. das Fernsehen zur Aufnahme von zwei Neujahrsansprachen zur VerfĂŒgung, um am Abend mit Familie und Freunden in Wildbad Kreuth den Jahreswechsel zu feiern. Fliegen muss fĂŒr den Piloten Strauß wirklich erholsam gewesen sein! Die Entwicklung einer leistungsfĂ€higen und eigenstĂ€ndigen Luftund Raumfahrt war fĂŒr Strauß eine unaufgebbare Notwendigkeit, damit Deutschland und auch in Europa im globalen Wettbewerb bestehen könnten. Die UnterstĂŒtzung des genialen Ingenieurs Ludwig Bölkow, jede nur denkbare Hilfe fĂŒr MBB, die angemessene Teilhabe Deutschlands und Bayerns an diesen Techniken und Technologien der Zukunft – unermĂŒdlich ackerte Strauß auf diesem schwierigen Feld. Ob als Verteidigungsminister oder spĂ€ter als Bundesfinanzminister, ob als CSU-Vorsitzender, als FĂŒhrer der Opposition in Bonn oder als Bayerischer MinisterprĂ€sident – in all seinen Funktionen und Ämtern hat Strauß seine kĂŒhnen Visionen in der Luft- und Raumfahrt mit unglaublicher Energie und strategischer Weitsicht verfolgt. Er entwickelte bei diesem Thema eine Schubkraft wie ein Triebwerk. Unter seiner FĂŒhrung sind all jene weichenstellenden Entscheidungen gefallen, die zur Durchsetzung des Projekts Airbus und zu seinem Erfolg fĂŒhrten. Es war seine Überzeugung, dass die EuropĂ€er das amerikanische Monopol beim Bau von zivilen Großflugzeugen brechen und sich ĂŒber alle politischen, kulturellen und sprachlichen Grenzen hinweg so organisieren mĂŒssten, dass sie ein starkes Gegengewicht zur Konkurrenz jenseits des Atlantik schaffen könnten. Noch so große WiderstĂ€nde konnten ihn bei der Durchsetzung dieses unbeirrt als richtig erkannten Zieles nicht bremsen, RĂŒckschlĂ€gen nicht entmutigen, Spott und HĂ€me ließen ihn unberĂŒhrt. Er war sich seiner Sache zu sicher, ließ mit seinem DrĂ€ngen und Fordern nach UnterstĂŒtzung fĂŒr diese große Sache bei der Bundesregierung, bei den Bundeskanzlern Helmut Schmidt und Helmut Kohl, nicht locker – und hatte bei beiden auch Erfolg. Er demonstrierte beim Airbus das, was er immer wieder als Grundorientierung fĂŒr das angemessene Verhalten eines Staatsmannes bezeichnet hatte – nicht nach der Bequemlichkeit, sondern nach der Richtigkeit eines Weges zu fragen.

© FMG

Weil ihm klar war, dass die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie nur unter privatwirtschaftlicher FĂŒhrung wĂŒrde wettbewerbsfĂ€hige Kostenstrukturen erreichen können, ergriff Strauß die Initiative zu GesprĂ€chen mit der Konzernspitze von Daimler-Benz. Er war der erste Aufsichtsratsvorsitzende der Airbusgesellschaft und war es bis zu seinem Tod, legte in

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Das Tor zur Welt: Gegen heftige WiderstĂ€nde setzte Franz Josef Strauß den Bau des MĂŒnchner Flughafens im Erdinger Moos durch. Heute ist der Airport Garant fĂŒr den wirtschaftlichen Erfolg Bayerns. Hinten orange die geplante 3. Startbahn.

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Bild: Sven Simon

zwanzigjĂ€hrigem Kampf die Strukturen, die zu der heutigen Stellung von Airbus auf dem Weltmarkt der Flugzeugherstellung gefĂŒhrt haben. Eine weit verbreitete Sicht selbstgenĂŒgsamer Bequemlichkeit wollte auf diesem wichtigen wirtschaftlichen und technologischen Sektor europĂ€ische Zweitklassigkeit und amerikanisches Monopol auf Dauer hinnehmen, weil man sich doch in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft befinde und in den USA ja hervorragende Flugzeuge einkaufen könne. Fast zwei Jahrzehnte galt der Airbus als Fass ohne Boden, Strauß musste den Vorwurf der Gigantomanie, des GrĂ¶ĂŸenwahns aus- und sich

Flughafen ist entscheidender Impulsgeber fĂŒr die Leistungskraft Bayerns. entgegenhalten lassen, dass man es mit den USA, dem Land, das den Mond erobert habe und die Luft- und Raumfahrt souverĂ€n beherrsche, ohnehin nicht aufnehmen könne. Derlei EinwĂ€nde vermochten Strauß nicht zu lĂ€hmen, zu groß war sein Wissen ĂŒber politische, technische und wirtschaftliche ZusammenhĂ€nge, als dass er sich in seiner sicheren Erwartung des Erfolgs hĂ€tte irremachen lassen. Heute können die Fluggesellschaften der Welt zwischen zwei Anbietern wĂ€hlen, Boeing und Airbus, und der Wettbewerb um den Kunden zwingt beide zu stĂ€ndig neuen Entwicklungen und Verbesserungen und verhindert Preisdiktate eines Monopolherstellers. Wenn die Flugzeuge am Himmel technisch sicherer geworden sind, leiser und – weil weniger Treibstoff verbrauchend – auch umweltfreundlicher, so kommt dies daher, weil der Airbus fliegt. Franz Josef Strauß hat sich beim Airbus nicht als der IllusionĂ€r gezeigt, als der er wegen eines Einsatzes fĂŒr dieses Projekt von globalen Ausmaßen und Wirkungen kritisiert und geschmĂ€ht worden war. Er erwies sich als der große realistische VisionĂ€r. Flugzeuge, die fliegen, mĂŒssen auch landen. Franz Josef Strauß hat rechtzeitig und viel frĂŒher als andere erkannt, dass Bayern, wenn es seine blĂŒhende wirtschaftliche Zukunft ausbauen und sichern will, einen anderen Flughafen als den in seiner BeBayerischer Monatsspiegel 157_2010

Entspannung und Herausforderung zugleich fand MinisterprĂ€sident Franz Josef Strauß im Cockpit. Auch die anstrengende Regierungsarbeit konnte ihn nicht davon abhalten, die fĂŒr den Erhalt des Pilotenscheins notwendigen Flugstunden gewissenhaft zu absolvieren.

grenztheit unzulĂ€nglich gewordenen von MĂŒnchen-Riem brauchen wĂŒrde. Wenn der Freistaat Bayern als eines der in Deutschland und Europa fĂŒhrenden ExportlĂ€nder seinen Rang behaupten wolle, brauche es ein großes und funktionierendes Tor zur Welt. Strauß hat sich in dieser Überzeugung nicht schwankend machen lassen, hat jene politische Durchsetzungskraft unter Beweis gestellt, die heute bei anderen schwierigen politischen Entscheidungen und ĂŒberhaupt nur allzu schmerzlich vermisst wird. Inzwischen, zweiundzwanzig Jahre nach dem Tod von Franz Josef Strauß, hat sich der Großflughafen MĂŒnchen zu einem entscheidenden Impulsgeber fĂŒr die wirtschaftliche Leistungskraft Bayerns erwiesen, er ist eine SĂ€ule der ökonomischen StabilitĂ€t des Freistaates. Die Zahl der FluggĂ€ste, die tĂ€glich starten und landen, steigt Jahr fĂŒr Jahr in stattlichen Millionen-GrĂ¶ĂŸenordnungen, zu den Zehntausenden am und um den Flughafen BeschĂ€ftigte kommen stĂ€ndig weitere hinzu. Der Arbeitsamtsbezirk Freising, in dem der Großflughafen liegt, weist seit Jahr und Tag mit die geringste Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland auf. Mit Fug und Recht trĂ€gt der Großflughafen MĂŒnchen den Namen Franz Josef Strauß. Und erinnert an einen Mann, dem der wissenschaftliche und technische Fortschritt und damit verbunden die wirtschaftliche Leistungskraft Bayerns, Deutschlands und Europas Unendliches zu verdanken hat. n

Wilfried Scharnagl war von 1977 bis 2001 Chefredakteur des Bayernkurier und langjĂ€hriger WeggefĂ€hrte von Franz Josef Strauß, der die Beziehung zu Scharnagl prĂ€gnant formulierte: „Er schreibt, was ich denke und ich denke, was Scharnagl schreibt.“

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Peter Schmalz

Schwarze Faser spart Sprit und Gewicht Augsburg forscht an revolutionĂ€rer Zukunft der Luftfahrt Mit der Farbe Schwarz ist Bayern seit Jahrzehnten gut gefahren. Mit „schwarzen“ CSU-Regierungen gelang dem Freistaat der Aufstieg zum Primus unter allen deutschen LĂ€ndern. Nun geht das Land einer neuen schwarzen Zukunft entgegen: Bayern ist in Europa das Zentrum fĂŒr die Forschung und Entwicklung von Carbonfaser-Kohlestoffverbunde (CFK). „Das ist unser Schwarzes Gold“, schwĂ€rmt der Augsburger CSU-Politiker Johannes Hintersberger, in dessen schwĂ€bischer Heimat die Forschung gebĂŒndelt ist. In einem „Science Park“ bei der UniversitĂ€t Augsburg werden demnĂ€chst 40 Forscher ergrĂŒnden, wie Carbon in der Luft- und Raumfahrt neue Dimensionen erschließen kann, das neue Fraunhofer-Institut „Funktionsintegrierter Leichtbau“ wird dies

Reißfest, hauchdĂŒnn und superleicht: Die Carbon­ faser wird zum Werkstoff des 21. Jahrhunderts.

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fĂŒr den Automobil- und Maschinenbau erforschen. Die EADSTochter Aerotec investiert einen dreistelligen Millionenbetrag in eine neue ProduktionsstĂ€tte im nahen Meitingen, in dem kĂŒnftig FlugzeugrĂŒmpfe gebacken werden sollen. Nebenan errichten BMW und der deutsche Carbon-Spezialist SGL Group gemeinsam ein Werk, das zur Serienproduktion eines leichten Carbonfaser-Autos fĂŒhren wird. Schon seit Jahren gilt CFK als kĂŒnftiger Wunderstoff: HĂ€rter als Stahl und nur halb so schwer wie Aluminium, zudem federleicht und gegen jede Witterung bestĂ€ndig. Der Nachteil: Der aus FĂ€den, die feiner sind als Haar, gebackene Werkstoff kann bislang nur unter hohem handwerklichem und finanziellem Aufwand hergestellt werden, weshalb er sich zur Massenpro-

FĂŒr die langen FlĂŒgel der Windkraftanlagen sind Verbundfaserstoffe das bestmögliche Material.

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duktion noch nicht eignet. Dies soll sich aber bald Ă€ndern. BMW und SGL bauen ebenfalls gemeinsam im US-Staat Washington eine Fabrik, in der Karbonfasern im großen Stil erzeugt werden sollen. Es wird der erste Schritt zum „Megacity Vehicle“ sein, einem superleichten Elektroauto. „Wir sichern uns damit wegweisende Zukunftstechnologien und Rohstoffe zu wettbewerbsfĂ€higen Konditionen,

HĂ€rter als Stahl und halb so schwer wie Aluminium.

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Matched to mission Secure airborne radiocommunications

die wir fĂŒr unser Megacity Vehicle benötigen“, begrĂŒndet BMW-Chef Norbert Reithofer das Engagement. Sein SGL-Kollege Robert Koehler hĂ€tte auch dieses Werk gerne in Deutschland gebaut, doch die Energiekosten, die an dem Standort nahe der Boeing-Metropole Seattle um ein Drittel niedriger sind, gaben den Ausschlag. So werden die in den USA gezogenen Carbon-Fasern im oberpfĂ€lzer Wackersdorf zu Kunststoffmatten geflochten, die wiederum im BMW-Werk Landshut mit Harz getrĂ€nkt und zu den jeweiligen Bauteilen gepresst werden. Das leichte Elektroauto entsteht dann im BMW-Werk Leipzig. Gleichzeitig hofft die Luftfahrtbranche auf eine Zukunft mit Carbon. Der neue Großraum-Airbus A350 mit seinem extra­breiten Rumpf, dessen Erstflug in zwei Jahren geplant ist, wird schon zur HĂ€lfte aus CFK-Werkstoffen bestehen. Das spart Gewicht und damit Treibstoff. Koehler: „Carbonfasern tragen entscheidend dazu bei, CO2 -Emissionen zu reduzieren und natĂŒrliche Ressourcen zu schonen.“ Der SGL-Chef ist davon ĂŒberzeugt, dass in dieser schwarzen Farbe ein revolutionĂ€res Zukunftspotential steckt. n

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Quelle: DLR

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Thomas Breitenfellner

Der Robonaut aus Bayern Im Landkreis Starnberg tĂŒfteln 1600 Mitarbeiter an der Zukunft der Luft- und Raumfahrt Geheimnisvolles liegt in der Luft. Hier in Oberpfaffenhofen wird getĂŒftelt und geforscht, gearbeitet an Projekten, die mit menschlichem Verstand nur schwer zu fassen sind. Unweit der Lindauer Autobahn, im nördlichen Landkreis Starnberg, wird Zukunft gemacht. Oberpfaffenhofen, einer von acht Standorten der Deutschen Luft- und Raumfahrt (DLR), zĂ€hlt neben Köln zu den grĂ¶ĂŸten Forschungszentren in Deutschland. 1600 Mitarbeiter sind in Oberpfaffenhofen beschĂ€ftigt, die Einsatzgebiete vielfĂ€ltig: Von der Weltraummission ĂŒber Klimaforschung, der Erdbeobachtung und dem Ausbau von Navigationssystemen bis hin zur Robotertechnik. FĂŒr den Laien klingt das wie Stoff aus einem Science-FictionRoman, in Oberpfaffenhofen jedoch wird an der Umsetzung gearbeitet: Roboter, die ins All geschickt werden, um die Arbeiten von Astronauten zu ĂŒbernehmen. „Robonauten“ sollen aus eigener Kraft Tausende von Kilometern zurĂŒcklegen und weit entfernte Satelliten reparieren. Solche Entwicklungen freilich brauchen Zeit. Der Durchbruch auf dem Gebiet der Robotik gelang bereits im Jahr 1993 bei der D-2-Shuttle-Mission. Von der Erde aus steuerten die Wissenschaftler ihren Roboterarm „Rotex“ so exakt, dass mit ihm ein frei schwebender Gegenstand eingefangen werden konnte. „Wir haben erstmals gezeigt, dass man vieles auch vom Boden aus erledigen kann“, sagt Gerd Hirzinger, der das DLR-Institut fĂŒr Robotik und Mechatronik leitet.

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Blick ins Weltall: Kontrollzentrum in Oberpfaffenhofen.


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Der DLR-Roboter SpaceJustin ist in der Lage, komplexe Reparaturaufgaben im Orbit durchzufĂŒhren – seine Bewegungskommandos empfĂ€ngt er vom Bediener am Boden. Der DLR-Roboter soll so Astronauten zukĂŒnftig bei ihren gefĂ€hrlichen EinsĂ€tzen im Weltall entlasten.

Aber nicht nur im Weltraum, sondern auch auf der Erde leistet das Institut Pionierarbeit. So entwickeln Hirzingers Mitarbeiter Robotorarm-Systeme, die es Chirurgen ermöglichen, mit nur einem kleinen Schnitt aufwĂ€ndige Operationen durchzufĂŒhren. Das erfolgreichste Produkt ist die „Space Mouse“. Sie gilt als Europas Computer-PeripheriegerĂ€t Nr. 1 und wurde schon mehr als 100.000 Mal verkauft. Selbst die Deutsche Bahn profitiert von den schlauen Köpfen. Der schadstoffarme Ölbrenner und die Aerodynamik der ICE-ZĂŒge sind Beispiele fĂŒr den Wissenstransfer von der Luft- und Raumfahrtindustrie in andere Branchen. In Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Wirtschaftsministerium wurde 1995 in Oberpfaffenhofen eine Einrichtung fĂŒr Technologiemarketing geschaffen, die solche Kooperationen ermöglicht.

Sogar der ICE profitiert von der Raumfahrttechnik. AushĂ€ngeschild des Standortes bleibt freilich das ColumbusKontrollzentrum. Mehr als 50 Satelliten – wissenschaftliche und kommerzielle – wurden in die Umlaufbahnen gesteuert. Hinzu kommen bemannte WeltraumflĂŒge, an denen sich das DLR beteiligt hat. Dazu zĂ€hlt auch die Spacelab D2-Mission im Jahre 1993. Die gesamte Mission der RaumfĂ€hre „Columbia“ wurde seinerzeit vom Raumfahrt-Kontrollzentrum begleitet. An Bord der „Columbia“ waren auch die deutschen Astronauten Ulrich Walter und Hans Schlegel. Mit dem Betrieb des Columbus-Labors hat Oberpfaffenhofen erneut eine große Aufgabe. Das ColumbusModul ist der wichtigste europĂ€ische Beitrag im Rahmen des Raumstationsprogramms. Von den zahlreichen in dem Weltraumlabor geplanten Experimenten verspricht sich die Wissenschaft neue Erkenntnisse ĂŒber Materialien oder Verhaltensweisen von organischen und anorganischen Stoffen in der Schwerelosigkeit. Ein Projekt von besonderer Tragweite ist das europĂ€ische Satellitennavigationssystem Galileo. In Oberpfaffenhofen hat man

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sich fĂŒr den Betrieb von Galileo beworben und ist in Vorleistung gegangen. Im Jahr 2002 wurden bereits mehrere Messkampagnen unternommen und seit 2008 wird die hochprĂ€zise Atomuhr an Bord eines Test-Satelliten erprobt. Unter anderem ließen die Wissenschaftler einen Zeppelin ĂŒber der Landeshauptstadt MĂŒnchen kreisen. Von dem Luftschiff, das einen Galileo-Satelliten simulierte, wurden Signale ausgesendet, die ein Begleitfahrzeug am Boden einfing. Mit dem zivil genutzten Galileo-Programm wollen die EuropĂ€er in Konkurrenz treten zu dem unter militĂ€rischer Kontrolle stehenden amerikanischen GPS. Bis zum Jahr 2013 sollen 27 Galileo-Satelliten sowie drei Ersatzsatelliten in einer Entfernung von 24.000 Kilometern um die Erde kreisen und den Empfangsstationen am Boden voll zur VerfĂŒgung stehen. Rund 3,5 Milliarden Euro investieren die EuropĂ€ische Union, die EuropĂ€ische Weltraumbehörde ESA und die Privatwirtschaft in Galileo. Und was hat die Luft- und Raumfahrt mit dem MĂŒnchner Oktoberfest zu tun? Bei der diesjĂ€hrigen Wiesn unterstĂŒtzten die Forscher die Mitarbeiter in der MĂŒnchener Verkehrsleitzentrale – und testeten ihr Projekt VABENE. „Wir haben die Daten aus rund 4000 Taxen und Verkehrsinformationen aus stationĂ€ren Messstellen im Großraum MĂŒnchen zu einer aktuellen Gesamtverkehrslage zusammengefĂŒhrt“, sagt Marc Hohloch. Auf diese Weise ließ sich ableiten, wie sich der Verkehr in den nĂ€chsten 30 Minuten entwickeln wĂŒrde. „FĂŒr uns ist die Arbeit des DLR besonders interessant, weil sich potentielle EngpĂ€sse schon frĂŒhzeitig erkennen lassen", so Siegfried Benker vom PolizeiprĂ€sidium MĂŒnchen. „Das hilft uns bei unserer Aufgabe, die großen Besucherströme abzuwickeln.“ Ziel von VABENE ist es, die FunktionsfĂ€higkeit des Verkehrssystems bei Großereignissen oder auch im Katastrophenfall aufrecht zu erhalten. Die EinsatzkrĂ€fte sollten auch in einer Krisensituation die Verkehrsinfrastruktur nutzen können, um beispielsweise HilfsgĂŒter in ein Überschwemmungsgebiet zu liefern oder Verletzten beim Oktoberfest zu helfen. n

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LUFT- & RAUMFAHRT

Raumfahrt macht Autos besser Erfolgreicher Technologie-Transfer – Bayern stark in Luft- und Raumfahrt Mit ihren rund 93.000 BeschĂ€ftigten erwirtschaftete die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie im vergangenen Jahr einen Umsatz von 23,6 Milliarden Euro. Sie ist wirtschaftlich und vor allem technologisch einer der wichtigsten SchlĂŒsselbereiche fĂŒr den Industrie- und Technologiestandort Deutschland. Bayern nimmt dabei eine herausragende Stellung ein: 550 Unternehmen, darunter international operierende SystemhĂ€user ebenso wie kleine und mittelstĂ€ndisch geprĂ€gte Betriebe, mit ĂŒber 36.000 BeschĂ€ftigten erwirtschafteten 2009 einen Umsatz von rund 6,9 Milliarden Euro. Doch mindestens so wichtig wie ihre wirtschaftliche Bedeutung ist die Funktion dieser Branche als Vorreiter bei der Realisierung innovativer Lösungen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie arbeitet eng mit zivilen Forschungseinrichtungen und UniversitĂ€ten (Stichwort „Open Innovation“) zusammen und befördert dadurch den Transfer von Technologien und Know-how maßgeblich – so beschĂ€ftigen sich in Bayern ĂŒber 1500 Wissenschaftler mit der Erforschung, Entwicklung und dem Einsatz von Hochtechnologien im Luft- und Raumfahrt-Bereich. Sie werden unterstĂŒtzt durch die staatliche Förderung von Forschungs- und Technologievorhaben, unter anderem im Rahmen der Cluster Initiative Bayern. Vor diesem Hintergrund gilt es das Thema Innovation auch aus technologischer Sicht ganzheitlich zu betrachten und die Chancen eines branchenĂŒbergreifenden Technologietransfers sowie interdisziplinĂ€rer Vernetzung kĂŒnftig noch stĂ€rker zu nutzen. Das Lösungsspektrum der Luft- und Raumfahrtindustrie reicht von Flugzeugen, Unbemannten Systemen (Unmanned Aerial Vehicles, UAV), Transport- und Einsatzhubschraubern, MissionsausrĂŒstung und -ausstattung ĂŒber Triebwerke bis hin zu Satelliten. Die bayerische AusrĂŒstungs- und Zulieferindustrie leistet hier durch innovative Systementwicklungen, Subsysteme und Komponenten unverzichtbare BeitrĂ€ge. Sie bietet zudem Dienstleistungen in den Bereichen Simulation, Test, Wartung und Instandhaltung sowie fĂŒr die technisch-logistische Komponentenund Systembetreuung an. Elektrik und Elektronik sind die wichtigsten Treiber fĂŒr 60 Prozent aller Innovationen – zukĂŒnftig ist die Intelligenz in den Systemen das wesentliche Differenzierungsund QualitĂ€tsmerkmal von Lösungen und Produkten. Innerhalb dieses Spektrums sind Eingebettete Systeme und deren Weiterentwicklung zu so genannten „Cyber Physical Systems, CPS“ (untereinander und mit der Umwelt vernetzte

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Softwaresysteme) wesentliche Grundlage fĂŒr eine effiziente, effektive und vor allem auch sichere Vernetzung von Elektroniksystemen. Mit ihnen verbinden sich Lösungsbausteine fĂŒr Zukunftsszenarien beispielsweise im Rahmen zunehmender Urbanisierung und Automatisierung, ElektromobilitĂ€t, wachsender Verkehrsaufkommen, komplexer werdender Logistikprozesse, knapper werdender Ressourcen sowie grĂ¶ĂŸer werdender Sicherheitsanforderungen. Die Sicherheit von Prozessen und Lösungen sowie deren Transparenz, EffektivitĂ€t und Effizienz hat fĂŒr die ESG seit jeher eine besondere Bedeutung. Als eines der fĂŒhrenden System- und SoftwarehĂ€user fĂŒr die Entwicklung, Integration und Betrieb von komplexen, Elektronik- und IT-Systemen setzt die ESG auf Innovationen – der branchenĂŒbergreifende Technologietransfer ist ihr Markenzeichen. Gerade zwischen der Luft- und Raumfahrt und dem Automotive-Bereich bieten sich zahlreiche Transferpotenziale: In beiden Bereichen können komplexe FunktionalitĂ€ten nur mit Hilfe innovativer Elektronik und Software abgebildet werden, eingebettete Systeme sind fĂŒr deren Produkte kennzeichnend. So entwickelt und erprobt die ESG beispielsweise mit Hilfe ihres fliegenden unbemannten AusrĂŒstungstrĂ€gers (UMAT) Elektronik- und Softwarelösungen, Sense-&-Avoid-FunktionalitĂ€ten, Lösungen fĂŒr Planung und Steuerung von Missionen, die Integration einer leistungsfĂ€higen und einsatzrobusten Sensorik sowie Kriterien zur Zulassung von UAV im zivilen Luftraum. Dieses Projekt und die dafĂŒr benötigten Technologien stehen in engem Zusammenhang mit Entwicklungen fĂŒr die Vernetzung von Fahrzeugen untereinander oder mit der Umwelt zum Austausch sicherheitsrelevanter Informationen. Ähnliches gilt fĂŒr Entwicklungen im Bereich Mensch-Maschine-Schnittstellen, Lösungen fĂŒr EE- und Bordnetz-Architekturen sowie Erfahrungen mit Standardisierung und Prozessmanagement. In einem Premiumfahrzeug existieren heute rund zehn Millionen SoftwareInstruktionen, sogenannte „lines of code“. Sie werden sich in den nĂ€chsten fĂŒnf Jahren verzehnfachen – durch FunktionalitĂ€ten in den Bereichen „carto-car“, „car-to-back-office“, „car-to-x“, neuartige Fahrerassistenzsysteme, Energiemanagement im Fahrzeug, Außensensorik oder Telematik. Insgesamt wird bei Fahrzeugen damit eine KomplexitĂ€t erreicht, die im Luft- und Raumfahrtbereich bereits in weiten Teilen beherrscht wird oder fĂŒr die es bereits vielversprechende LösungsansĂ€tze gibt. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, das die besondere Bedeutung der Luft- und Raumfahrtindustrie und des zielgerichteten wechselseitigen Technologietransfers fĂŒr den Standort Deutschland belegt. n Ulrich-Joachim MĂŒller


BAYERN & KULTUR GesprĂ€ch mit Barbara Stamm

Frauen auf dem Vormarsch

FachkrĂ€ftemangel zwingt die Wirtschaft zum Umdenken Noch immer sind Frauen in FĂŒhrungsetagen von Politik und Wirtschaft die Ausnahme. Die CSU mĂŒht sich um einen Kompromiss zwischen Quote und RealitĂ€t an der Basis. Scheuen Frauen die Verantwortung oder verteidigen MĂ€nner ihr Revier? Peter Schmalz sprach darĂŒber mit einer der erfolgreichsten Frauen in Bayern, der bayerischen LandtagsprĂ€sidentin und CSU-Politikerin Barbara Stamm. Bayerischer Monatsspiegel: Seit Jahren wird gefordert: Mehr Frauen in die Chefetagen von Wirtschaft und Politik. Warum Ă€ndert sich so wenig? Barbara Stamm: Das wird sich erst dann spĂŒrbar Ă€ndern, wenn der Bedarf so groß ist, dass man auf die gut ausgebildeten und engagierten Frauen nicht mehr verzichten kann. Wenn ich nur daran denke, wie wir vor Jahren auch in Bayern darum gerungen haben, ob Frauen im Polizeivollzugsdienst eingesetzt werden können. GeĂ€ndert hat es sich erst, als der mĂ€nnliche Nachwuchs nicht mehr in ausreichendem Maße vorhanden war. BMS: Und heute gehört die Frau in Polizeiuniform geradezu zum Straßenbild. Stamm: So ist es. Und inzwischen haben auch die mĂ€nnlichen Kollegen erkannt, dass eine Polizistin manche Einsatzsituation sogar besser meistern kann als ihre Kollegen. R

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BAYERN & KULTUR BMS: Ein beachtlicher Erfolg. Stamm: Über diese Erfolge freue ich mich selbstverstĂ€ndlich, aber im Grunde ist es doch schade, dass Frauen erst dann eine echte Chance haben, wenn nicht mehr genĂŒgend qualifizierte MĂ€nner zur VerfĂŒgung stehen. BMS: In den Schulen sind die MĂ€dchen oft besser als die Buben. WĂ€chst eine neue Frauengeneration heran? Stamm: Die ist schon herangewachsen. Und dieser Frauengeneration mĂŒssen wir in allen Bereichen unserer Gesellschaft die Möglichkeiten schaffen, sich zu engagieren und zu entwickeln.

werke aufzubauen und dann, wenn sie in FĂŒhrungspositionen sind, ihrerseits wieder Frauen zu fördern.

BMS: Mehr weibliche SolidaritĂ€t? Stamm: Das wĂ€r‘ nicht schlecht. Man hat ja manchmal den Eindruck, dass Frauen von MĂ€nnern mehr gefördert werden, als von Frauen.

BMS: Wollen MÀnner nicht von der Macht lassen? Stamm: Dazu sage ich immer gern: Starke MÀnner haben damit kein Problem. Aber ich glaube schon, dass MÀnner mit der gleichberechtigten Kollegin, die ja beim Aufstieg auch Konkurrentin ist, Probleme haben. Da Àndern sich die Regeln im gewohnten Rollenspiel, was nicht bei jedem Begeisterung auslöst.

Starke MĂ€nner haben mit Frauen im Beruf kein Problem. BMS: Umstellen mĂŒssen sich aber nicht nur die MĂ€nner. Stamm: Oh ja, ich spĂŒre in vielen GesprĂ€chen, dass Frauen oft auch die Scheu haben, mit ihren FĂ€higkeiten wie ein Mann aufzutrumpfen, den beruflichen oder politischen Konkurrenzkampf aufnehmen. Gerade wenn es um FĂŒhrungspositionen geht, stecken sie noch zu hĂ€ufig zurĂŒck. Wir sehen das besonders deutlich bei unseren UniversitĂ€ten: Beim Abitur und bei vielen StudiengĂ€ngen sind ĂŒber 50 Prozent MĂ€dchen, dennoch sind Professorinnen an unseren Hochschulen Mangelware. BMS: Liegt das nicht auch daran, dass Frauen eine andere Lebensplanung haben? Stamm: Mit Sicherheit. Das ist gewiss auch ein Grund, weshalb – noch, möchte ich sagen – die meisten Frauen in den Dax-VorstĂ€nden nicht verheiratet sind und keine Kinder haben. Deshalb mĂŒssen wir noch viel mehr tun, damit Familie und Karriere besser vereinbart werden können. Das ist nicht nur ein Thema fĂŒr die Frauen, da sind die MĂ€nner noch viel mehr als bisher gefordert. Man hat das Thema bisher zu sehr als Frauenförderung angelegt, das muss kĂŒnftig noch mehr in Richtung MĂ€nner ausgelegt werden. Das sage ich, obwohl ich mich sehr freue, dass wir in Bayern ĂŒberdurchschnittlich viele VĂ€ter haben, die Elternzeit nehmen. BMS: Also statt Frauenförderung mehr Familienförderung? Stamm: Wir brauchen beides. Mit Sicherheit mĂŒssen weiterhin die Frauen gefördert werden, auch indem man ihnen Mut macht und Wege aufzeigt. Man muss sie noch mehr ermuntern, Netz-

Konrad Peutinger war schon zu seiner Zeit (1465 - 1547) ein ĂŒberzeugter Förderer der Frauen. Ganz gegen die damalige strikte Haltung von Kirche und Staat sorgte er fĂŒr eine ungewöhnlich sorgfĂ€ltige Ausbildung seiner Töchter und unterstĂŒtzte das Bildungsinteresse seiner Frau privat und in der Öffentlichkeit!

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Barbara Stamm macht den Frauen Mut, sich stĂ€rker in Beruf und Politik zu engagieren. Ihr eigener Lebensweg ist ein herausragendes Beispiel dafĂŒr, dass Frauen sehr wohl bestehen können im harten beruflichen Wettbewerb: Vor 66 Jahren im unterfrĂ€nkischen Bad Mergentheim geboren, lernte sie den Beruf der Erzieherin, den sie nach der Geburt des ersten ihre drei Kinder in Teilzeit fortsetzte. Politisch begonnen hat sie 1972 im WĂŒrzburger Stadtrat, wurde 1988 StaatssekretĂ€rin und 1994 Ministerin im bayerischen Sozialministerium. Barbara Stamm ist stellvertretende CSU-Vorsitzende und seit 2008 als PrĂ€sidentin des Bayerischen Landtags protokollarisch „erste Frau“ im Freistaat.

BMS: MĂŒssen Frauen, die sich in den ersten Jahren fĂŒr die Erziehung des Kindes entscheidet, beim Wiedereintritt in den Beruf nicht oft noch deutliche Nachteile hinnehmen? Stamm: Noch mehr als frĂŒher ist es heute in vielen Berufen umso schwerer, wieder einzusteigen, je lĂ€nger pausiert wurde. Wer im Unternehmen nicht prĂ€sent ist, der ist oft ganz schnell auch weg von der Karriereleiter. Deswegen ist es ganz wichtig: Wie bewerten wir Familien- und Erziehungszeiten, oder – was angesichts der demographischen Entwicklung ein Riesenthema werden wird – wie bewerten wir Pflegezeiten. Noch haben wir keine befriedigenden Antworten darauf gefunden, wie wir diese fĂŒr die Gesellschaft wichtigen und wertvollen Arbeiten bewerten. Wir mĂŒssen auch mehr anerkennen, dass bei diesen Familienarbeiten SchlĂŒsselqualifikationen erworben werden, die ich fĂŒr mindestens so wertvoll halte wie manche Zertifikate. BMS: Dennoch genießt eine Mutter, die ihr Kind möglichst frĂŒh in die Krippe gibt und an den Arbeitsplatz zurĂŒckkehrt, ein höheres Ansehen als eine Mutter, die in den ersten Jahren bei ihrem Kind bleibt.


Stamm: Dazu haben wir „HerdprĂ€mie“ als schlimmes Unwort des Jahres. Es steht der Gesellschaft nicht zu, LebensentwĂŒrfe festzulegen. Es darf kein Entweder-oder geben, sondern ein Sowohl-als-auch. Diese Wahlfreiheit bedeutet aber auch, dass bei der Mutter, die sich fĂŒr die Erziehung der Kinder entscheidet, die finanziellen Rahmenbedingungen stimmen. Deshalb haben wir fĂŒr das Erziehungsgeld gekĂ€mpft, das dann als „HerdprĂ€mie“ diffamiert wurde. Andererseits aber mĂŒssen auch fĂŒr die Mutter, die sich schnell wieder fĂŒr den Beruf entscheidet, die Bedingungen stimmen. Das heißt zuverlĂ€ssige Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten. BMS: Da ist noch viel Arbeit fĂŒr die Wirtschaft. Stamm: Oh ja, die Wirtschaft realisiert erst langsam, dass sie kĂŒnftig das große Potential der Frauen benötigt. Wir sind ja schon mitten in einem FachkrĂ€ftemangel, der sich in den nĂ€chsten Jahren noch verschĂ€rfen wird. Wir haben bestausgebildete Frauen, die alle beruflichen Voraussetzungen mitbringen und auf die die Gesellschaft kĂŒnftig nicht verzichten kann. Beim „Rohstoff Geist“ gehören die Frauen genauso dazu wie die MĂ€nner.

Lastenausgleich erwĂŒnscht: Noch zu oft mĂŒssen die Frauen die BĂŒrde von Beruf und Familie alleine schultern.

BMS: Sie sind an die Spitze gekommen: FrĂŒher Ministerin, jetzt PrĂ€sidentin des Bayerischen Landtags. Ist Ihr Lebensweg ein Vorbild fĂŒr die Frauen? Stamm: Sicher fĂŒr die, die in die Politik gehen wollen. Damit kann man den jungen Frauen auch Mut machen, den Schritt in die Politik zu wagen. Auf diesem interessanten und fĂŒr unsere Demokratie lebenswichtigen Bereich mĂŒssen wir Frauen genauso

vertreten sein wie in allen anderen Bereichen. Doch das geht nicht ohne gesunde Machtstrukturen. Deshalb sollten wir Frauen uns nicht verschĂ€mt zurĂŒcknehmen und sagen, mit Macht wollen wir nichts zu tun haben. Angela Merkel wĂ€re nie Bundeskanzlerin geworden, wenn sie es nicht verstanden hĂ€tte, wie man positiv mit Macht umgeht. n

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BAYERN & KULTUR Thomas Breitenfellner

Kleine Gruppe, große Wirkung FĂŒr ihre Berliner Regierungspartner kann die CSU schon mal unbequem werden, den Koalitionsfrieden soll das freilich nicht stören Schwarz-Gelb im Stimmungstief. Die Bundesregierung steht vor einem schicksalshaften Jahr. Der CSU-Landesgruppe in Berlin muss der Spagat gelingen: Selbstbewusst bayerische Interessen vertreten, ohne dabei den Koalitionsfrieden zu stören. Graue Wolken hĂ€ngen ĂŒber der Reichstagskuppel, der Wind zischt, das bunte Laub wirbelt durch die Luft. Es ist Herbst. „Ein Herbst voller Entscheidungen“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel betont. Wird er so stĂŒrmisch wie im vergangenen Jahr? Die Anlaufschwierigkeiten der schwarz-gelben Koalition in Berlin mĂŒssen selbst die Protagonisten der Koalition einrĂ€umen. Zu viel Zoff hat es gegeben in den ersten Monaten der Regierungszeit. Schuldzuweisungen waren zuletzt an der Tagesordnung. Und die CSU, darauf hat sich zumindest die FDP festgelegt, hat den Streit immer wieder entfacht. Die Bayern als Quertreiber? Nein, das will CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich nicht gelten lassen. „Wir reden halt nicht um den heißen Brei herum“, sagt er, „wir sprechen das Unvermeidliche an.“ Unvermeidlich sei gewesen, die Liberalen bei ihrem Ruf nach umfangreicher Steuersenkung einzubremsen. Die CSU wolle die BĂŒrger zwar auch entlasten, aber eben nur im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten. Mitten in der Wirtschaftskrise sei

das nicht drin gewesen, „wir haben die Phantasien der Koalition geerdet.“ Im politischen Betrieb schwingt er mit, der Geist von Kreuth. SpĂ€testens seitdem Franz Josef Strauß im November 1976 die gemeinsame Fraktion mit der CDU aufkĂŒndigen wollte, gehört fĂŒr die CSU-Abgeordneten das KrĂ€ftemessen mit den Kollegen der großen Schwesterpartei zum SelbstverstĂ€ndnis. Zwar bilden die 45 CSU-Parlamentarier die kleinste Gruppe im Bundestag, haben aber eine „große Hebelwirkung“, wie Friedrich betont. In zentralen Fragen geht in der Unions-Familie nichts ohne die CSU, so schreibt es sogar die GeschĂ€ftsordnung vor. Wie die CSU kein Landesverband der CDU ist, so ist auch die bayerische Landesgruppe nicht irgendeine Landesgruppe. Friedrich ist der erste Stellvertreter von Fraktionschef Volker Kauder – vor allen anderen Stellvertretern. Und der Parlamentarische GeschĂ€ftsfĂŒhrer der CSU, Stefan MĂŒller, ist erster Vize von Fraktionsmanager Peter Altmaier. Von der „hohen Durchsetzungskraft“ spricht Friedrich und sieht sich damit in der Tradition der Landesgruppe. Klare Sprache gehört zum GeschĂ€ft. Und ein bisschen Poltern eben auch. Bei der Gesundheitsreform zog die CSU dem liberalen Koalitionspartner die ZĂ€hne. „Eine Umstellung der Krankenkassen auf ein PrĂ€mienmodell kommt fĂŒr uns nicht in Betracht“, erklĂ€rt Friedrich. Jeder BĂŒrger mĂŒsse gemĂ€ĂŸ seiner LeistungsfĂ€higkeit herangezogen werden. „Wer mehr hat, muss auch mehr zahlen.“ Die CSU als sozialer Faktor in einer wirtschaftsliberalen Koalition? „Wir sind Volkspartei, wir haben alle Menschen im Blick“, bekrĂ€ftigt der 53-JĂ€hrige. Alle Menschen hat die CSU im Blick – und ein bisschen mehr diejenigen, die in Bayern leben. Einen Kuschelkurs darf man von der CSU nicht erwarten, doch die öffentliche Auseinandersetzung mit der FDP dĂŒrfte zunĂ€chst etwas moderater ausfallen. Schließlich ziehen die Wasserstandsmeldungen der Demoskopen nicht einfach an den KoalitionĂ€ren vorĂŒber. Noch nie war die Zustimmung zu einer Regierung so niedrig.

Das CSU-Trio in der Bundesregierung: Peter Ramsauer (Verkehr), Ilse Aigner (Agrar) und Karl-Theodor zu Guttenberg (Verteidigung).

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Mit Umfragen freilich will sich Friedrich nicht beschĂ€ftigen. Die CSU habe im Freistaat das Potential von „deutlich ĂŒber 50 Prozent“. Die Mehrheit der Bevölkerung wĂŒrde eine verantwortungsbewusste Politik honorieren, da dĂŒrfe man nicht das

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BAYERN & KULTUR FĂ€hnchen nach dem Wind richten. Den Menschen die Entscheidungen inmitten einer immer grĂ¶ĂŸer werdenden Informationsflut verstĂ€ndlich zu erklĂ€ren, sei wichtiger denn je. Zu erklĂ€ren gibt es viel. Die Kernkraftwerke laufen lĂ€nger als geplant, dafĂŒr jedoch werden regenerative Energien so stark gefördert wie noch nie. Bei der Rente mit 67 will die CSU Kurs halten, im Gesundheitswesen sollen die Ausgaben gesenkt werden.

In der Unions-Familie geht nichts ohne die CSU.

Offensiv will die CSU die Berliner Erfolge verkaufen, um die Zustimmung in der Bevölkerung kĂ€mpfen. Startpunkt fĂŒr die Aufholjagd in den Meinungsumfragen könnte die traditionelle Klausur zu Jahresbeginn in Wildbad Kreuth werden. Auch dieses Mal will die Landesgruppe namhafte GesprĂ€chspartner in die Winteridylle einladen. In den vergangenen Jahren jedenfalls hat die CSU bei der Auswahl internationaler GĂ€ste ein NĂ€schen bewiesen: Nicolas Sarkozy siegte zwei Jahre nach seinem Kreuth-Aufenthalt in Frankreich, David Cameron wurde Premier in Großbritannien. n

Die BekĂ€mpfung der InternetkriminalitĂ€t mĂŒsse forciert werden, sagt Friedrich. Damit die Arbeitslosigkeit weiter sinkt, schwebt dem Landesgruppenchef eine Qualifizierungsoffensive vor. Zudem wirbt er fĂŒr einen MentalitĂ€tswechsel in der Wirtschaft, Ă€ltere Arbeitnehmer sollten mehr WertschĂ€tzung erfahren. „Es muss aufhören, dass sich Unternehmen mit einem Durchschnittsalter von 32 Jahren brĂŒsten.“ Personell jedenfalls scheint die Bundestags-CSU gut aufgestellt zu sein. Ihre drei Bundesminister sind Aktivposten in Merkels Kabinett. Ex-Landesgruppen-Chef Peter Ramsauer gibt im Verkehrsministerium eine gute Figur ab und auch die von den Deutschen schon lange geforderte Pkw-Maut scheint der Oberbayer nun durchsetzen zu können. Agrarministerin Ilse Aigner hat sich bei den Bauern besonders durch ihre Dialogfreudigkeit einen guten Ruf erworben, zudem das Thema Verbraucherschutz ĂŒber gesunde Lebensmittel hinaus ausgeweitet. Mit Internet-Riesen wie Facebook-GrĂŒnder Mark Zuckerberg geht sie hart ins Gericht und erfĂ€hrt dafĂŒr große Zustimmung in der Bevölkerung.

Bilder: Henning Schacht

Und dann wĂ€re da natĂŒrlich noch Verteidigungsminister KarlTheodor zu Guttenberg. Der Shootingstar der CSU-Landesgruppe, der Publikumsliebling auf der deutschen PolitbĂŒhne. Seit Sommer 2009 fĂŒhrt der Oberfranke unangefochten die Beliebtheitsskala in der Republik an – und zieht quasi im Vorbeigehen die grĂ¶ĂŸte Bundeswehrreform der vergangenen Jahrzehnte durch. An zu Guttenberg kommt man so schnell nicht vorbei, das bekamen auch diejenigen zu spĂŒren, die an der Wehrpflicht gerne festgehalten hĂ€tten. Seit 2009 Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag: Hans-Peter Friedrich aus dem oberfrĂ€nkischen Hof.

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BAYERN & KULTUR

Integration zum Wohle Bayerns Integrationsbeauftragter sieht bei Migranten große Potential – Vier Beispiele

„Wir mĂŒssen die Problem ansprechen, wenn wir sie lösen wollen“, sagt der Integrations­beauftragte der Bayerischen Staatsregierung, der CSU-Landtagsabgeordnete Martin Neumeyer. Deshalb sei er auch Thilo Sarrazin dankbar, „dass dem Thema wieder so große Aufmerksamkeit gewidmet wird“. In Bayern leben derzeit 2,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die HĂ€lfte davon hat einen deutsche Pass. Die Integration sei in der Gesellschaft auf die lange Bank geschoben worden, ĂŒber Jahrzehnte habe man gehofft, das Problem werde sich von selbst lösen. Integration aber brauche Ehrlichkeit, Offenheit und Konzessions­ bereitschaft von beiden Seiten, meint Neumeyer. Hier sieht er auch in Bayern noch Nachholbedarf: „Viele Menschen, die zu uns kommen, haben große Potentiale, die sie zum Wohle Bayerns einsetzen.“ Die vier folgenden PortrĂ€ts sind Beispiele einer gelungenen Integration.

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BAYERN & KULTUR

Integration im Dialog: Der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Martin Neumeyer (2. v. li.), im GesprÀch mit jungen Migranten.

Dr. Ekaterina Skakovskaya, 36, wurde in Wolgograd, dem frĂŒheren Stalingrad, geboren und studierte dort an der Staatlichen PĂ€dagogischen UniversitĂ€t. Nach dem Studium promovierte sie mit einer Arbeit ĂŒber „Die sozialen Parametern der EthnizitĂ€t“ im Bereich Sozialphilosophie. FĂŒr ihre Habilitationsarbeit kam sie vor sechs Jahren nach Deutschland. Sie lebt in MĂŒnchen und arbeitet in einem sozialen Verein in der Projektkoordination, ist Mitglied des Bayerischen Integrationsrates und ist im Vorstand des neugegrĂŒndeten Vereins der russischsprachigen Eltern e.V. Schon lange bevor ich ahnte, einmal in Deutschland leben zu können, hat mich das Thema Integration stark interessiert. Das hing eng zusammen mit meinem Lehramtsstudium in Wolgograd und der anschließenden Doktorarbeit, in der ich mich mit dem Thema „Soziale Parameter der russischen EthnizitĂ€t“ befasst habe. Dies war der wissenschaftliche Ansatz, mich mit den nationalen Besonderheiten meiner Landsleute zu beschĂ€ftigen. Durch die weitere wissenschaftliche Arbeit konnte ich meine Kenntnisse in den Bereichen der Sozial- und Ethnopsychologie sowie der Soziologie erweitern. Obwohl ich damals die deutsche Sprache noch nicht beherrschte, reifte wĂ€hrend dieser Studien mein Entschluss, die Habilitationsarbeit in Deutschland zu verfassen und dort möglichst auch zu arbeiten. Mir war durchaus bewusst, dass die allererste Voraussetzung dafĂŒr war, Deutsch zu lernen, was ich nach meiner Ankunft vor sechs Jahren auch sofort begann. Ich bin seither auch viel durch Deutschland gereist, um die Kultur meiner neuen Heimat kennenzulernen. Gerade in Bayern hat mich das besondere LebensgefĂŒhl fasziniert, das Tradition und Fortschritt harmonisch verbindet. Die Bayern haben eine Seele, die uns Russen sehr verwandt ist.

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Ich habe an mir selbst erlebt, dass Integration nur gelingen kann, wenn man die Sprache beherrscht und sich auch fĂŒr die kulturellen Werte seiner neuen Umgebung interessiert. Deshalb mein Rat an alle, die nach Deutschland kommen: Passt euch an, ohne die eigene kulturelle IdentitĂ€t zu verlieren. Erzieht die Kinder bilingual, damit sie in der Schule und im Beruf Erfolg haben können, aber dennoch die Sprache ihrer Mutter nicht vergessen. Ich fĂŒhle mich in Deutschland wohl und integriert. Allerdings ist nicht alles so gelaufen, wie ich es mir gewĂŒnscht hĂ€tte. So wurde mein Doktortitel zwar anerkannt, nicht aber mein UniversitĂ€tsdiplom und auch nicht meine Qualifikation als „Lehrerin fĂŒr die russische Sprache und Literatur“. Klagen ĂŒber Ă€hnliche Erfahrungen höre ich leider oft. Das ist eine EnttĂ€uschung fĂŒr die Betroffenen, aber auch ein Verlust fĂŒr Deutschland. Wissenschaftliche Studien belegen, dass bei den russischsprachigen Migranten stets die berufliche Eingliederung eine gesellschaftliche Integration nach sich gezogen hat. Da ihre berufliche Ausbildung im Regelfall hierzulande nicht anerkannt wird, ist es fĂŒr die meisten nahezu unmöglich, eine ihren FĂ€higkeiten entsprechende Arbeit zu finden. Statt aufgrund ihrer durchschnittlich hohen Qualifizierung eine treibende Kraft der einheimischen Wirtschaft zu sein, werden russischsprachige Migranten oft als Last fĂŒr die Gesellschaft empfunden. Daher ist es von großer Bedeutung, das professionelle Potential dieser Personengruppe zu erkennen, anzuerkennen und zu fördern. Hier sehe ich auch im Bayerischen Integrationsrat meine Aufgabe, den Menschen zu helfen, ihren Platz in der neuen Heimat zu finden. Das gibt ihnen Mut und Selbstvertrauen. Ich bin aber guter Hoffnung, dass dieses Potential anerkannt wird. Wie dies zum Beispiel durch das Secondos-Programm der UniversitĂ€t Regensburg geschieht, das die Mehrsprachigkeit junger Menschen mit Migrationshintergrund unterstĂŒtzt. Über Integrationsarbeit wird gerade jetzt sehr viel geredet. Das ist gut so, denn dadurch wird auch deutlicher zu sehen, wo die Integration in der Wirklichkeit noch nicht vollstĂ€ndig funktioniert. Die Diskussion gibt die Chance, dass diese komplexe gegenseitige Arbeit allen MitbĂŒrgerinnen und MitbĂŒrger in Deutschland noch erfolgreicher wird als bisher. Denn nur gemeinsam schaffen wir das! R

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BAYERN & KULTUR Siddharth Mudgal, 28, wurde im indischen Jaipur geboren und kam vor sieben Jahren nach Deutschland. Er studierte Informatik in Indien, arbeitete als TellerwĂ€scher, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-UniversitĂ€t zu Berlin. Heute arbeitet er als Unternehmensberater bei SAP in MĂŒnchen, ist verheiratet, seine Hobbys sind Lesen, Yoga, Reisen, Vereinsarbeit.

„Ich möchte nicht als Problem angesehen werden, das es zu lösen gilt. Ich arbeite und wohne hier und zahle auch meine Steuern. Es ist nicht so, dass ich die Sozialsysteme ausnutze, eher im Gegenteil“: Herr Mudgal mit einer Kollegin bei dem SAP-Freiwilligentag in dem Wohnheim der Lebenshilfe MĂŒnchen.

Dimitrios Papoutsis, 26, wurde als Enkel griechischer Gastarbeiter in MĂŒnchen ge­boren. Er studierte Betriebswirt­ schafts­lehre an der Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t, arbeitet in MĂŒnchen als Unternehmensberater und ist Mitglied des bayerischen Integrationsrats. Er ist ledig, seine Hobbys sind Fußball und das Entdecken neuer Kulturen. Ich lebe nun seit 26 Jahren in Deutschland. Mittlerweile gehöre ich zur dritten Generation der griechischen Auswanderer, zu denen auch meine Großeltern gehörten, die 1969 als Gastarbeiter in Deutschland ankamen. Ich selbst bin hier geboren und aufgewachsen. Bis zum meinem Studium habe ich eine griechische Schule in MĂŒnchen besucht. Obwohl der gesamte Unterricht auf Griechisch erfolgte, war es meinen Eltern enorm wichtig, dass ich zweisprachig aufwachse. Durch den Fußball konnte ich sehr schnell Anschluss in die deutsche Gesellschaft finden. So habe ich mir als Spieler einer deutschen Fußballmannschaft einen

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Das Jahr 2003 war fĂŒr mich sehr aufregend. Ich war zum ersten Mal in einem fremden Land, in Deutschland. Nach meinem Informatik-Studium in Indien wollte ich an der Humboldt UniversitĂ€t zu Berlin ein internationales, englischsprachiges Masterstudium im Fach Wirtschaftswissenschaften absolvieren. Ich sprach kein Wort Deutsch, aber fließend Hindi, Englisch und Punjabi. Mein englischsprachiger Masterstudiengang in Berlin mit Studenten aus ĂŒber 40 LĂ€ndern sowie mein erster Studentenjob als TellerwĂ€scher verlangten keine deutschen Sprachkenntnisse. Trotzdem besuchte ich mehrere Deutschkurse, schließlich wollte ich einiges erreichen. Ich war fest davon ĂŒberzeugt, dass Zugezogene nur mit lokalen Sprachkenntnissen und interkulturellen Kompetenzen an der Gesellschaft aktiv mitwirken und sich gleichzeitig aufgrund ihres multikulturellen Profils sogar profilieren können. Als Unternehmensberater bei der SAP AG, berate ich heute namhafte internationale Kunden und helfe auch fĂŒhrenden deutschen Behörden, ihre IT-Prozesse zu optimieren. Deutschland hat es mir ermöglicht, ein ausgezeichnetes Studium zu absolvieren, mein persönliches GlĂŒck zu finden und mir eine schöne berufliche Zukunft aufzubauen. Durch meine TĂ€tigkeiten im Bayerischen Integrationsrat, Caritas Insolvenzberatung, als Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft fĂŒr Deutsch-Indische Zusammenarbeit e.V. und SAP habe ich mich mit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Themen in Deutschland und insbesondere Bayern auseinandergesetzt und versuche somit ich der Gesellschaft und dem Land etwas von dem was ich bekommen habe, zurĂŒckzugeben. Das Land ist mir heute nicht mehr fremd und aufgrund meines emotionalen Bezugs zu Deutschland bezeichne ich Indien als meine Heimat und Deutschland gerne als meine gewĂŒnschte Heimat. Und wer arbeitet denn nicht an der Zukunft seiner Heimat? Deswegen ist Integrationspolitik so wichtig. Nur dadurch wĂ€chst eine Gesellschaft zu einer Gemeinschaft. Freundeskreis aufbauen können, der neben meinen griechischen Kontakten auch andere Nationen beinhaltete. Mein Studium der Betriebswirtschaftslehre habe ich an der LMU in MĂŒnchen absolviert. Heute arbeite ich bei einer großen WirtschaftsprĂŒfungsgesellschaft. Über die Möglichkeiten die Deutschland und Bayern mir geboten haben, bin ich sehr dankbar. Ich fĂŒhle mich wohl in MĂŒnchen und glaube, mich gut integriert zu haben. Meine Dankbarkeit, aber auch meine Verbundenheit zu Bayern, motivieren mich, etwas von dem zurĂŒckzugeben. Als aktives Mitglied des bayerischen Integrations­rates möchte ich auch unseren auslĂ€ndischen MitbĂŒrger etwas von meinen Erfahrungen mitgeben und dadurch das gemeinsame Miteinander stĂ€rken.

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BAYERN & KULTUR Younes Ouaqasse, 21, wurde in Mannheim geboren, lebte vier Jahre in Marokko, kĂ€mpfte sich von der Hauptschule zum Abitur. Er lebt jetzt wieder in Mannheim und war bis Juni Bundesvorsitzender der SchĂŒler Union Deutschland. Integration heißt, sich an sein Heimatland anzupassen und die dort vorherrschenden Werte sowie gesellschaftlichen Institutionen und Moralvorstellungen anzunehmen. Geboren wurde ich als Sohn marokkanischer Eltern in Deutschland, in Mannheim habe ich meine ersten Kindheitsjahre verbracht. Nach der Trennung meiner Eltern habe ich vier Jahre in Marokko bei meinen Großeltern gelebt. Diese Zeit hat mich geprĂ€gt. Noch heute besuche ich das Land mehrmals im Jahr, treffe mich mit Familie und Freunden und genieße Land und Leute. Im Alter von acht Jahren bin ich zu meiner Mutter nach Mannheim zurĂŒckgekehrt. Deutsch war fĂŒr mich eine Fremdsprache, meine heutige Heimat fĂŒr mich völlig unbekannt. Es ist nicht einfach, sich durchzubeißen. Der Weg der Integration

Der Zukunft zugewandt. Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. engagiert sich mit vereinten KrĂ€ften fĂŒr die Zukunft des Freistaats. Mit 90 MitgliedsverbĂ€nden und mehr als 25 Einzelmitgliedern reprĂ€sentiert die vbw Betriebe mit insgesamt ĂŒber 3,3 Millionen BeschĂ€ftigten in Bayern. Wir setzen uns ĂŒber alle Branchen hinweg fĂŒr die StĂ€rkung der WettbewerbsfĂ€higkeit bayerischer Unternehmen und damit fĂŒr den Wirtschaftsstandort Bayern ein. Mit klarem Blick der Zukunft zugewandt.

www.vbw-bayern.de

kann oftmals mĂŒhevoll sein. Die dritte Klasse musste ich wiederholen, die Lehrer hatten mich schon abgeschrieben: „Aus Euch wird nie etwas!“ Aber ich habe schnell gemerkt: Nur wenn ich der deutschen Sprache mĂ€chtig bin, kann ich Freunde finden und mein Leben spĂ€ter selbststĂ€ndig gestalten. Auf die Hauptschule geschickt, kĂ€mpfte ich mich regelrecht durch, schaffte den Sprung auf die Realschule und im vergangenen Jahr habe ich erfolgreich mein Abitur abgelegt. Der Glaube an sich selbst kann manchmal Berge versetzen. Aber klar ist auch, dass Integration ohne gemeinsame Anstrengung nicht gelingen kann. Daher habe ich begonnen, mich politisch in der SchĂŒler Union zu engagieren. Ich möchte junge Menschen mit Migrationshintergrund ermuntern, sich ebenfalls zu integrieren. Als Bundesvorsitzender der SchĂŒler Union Deutschlands bin ich daher fĂŒr ein durchlĂ€ssiges dreigliedriges Schulsystem, das auf individueller Förderung basiert, eingetreten. Denn wir brauchen Mitmenschen, insbesondere Lehrer und Politiker, die sagen: „Aus Euch wird auf jeden Fall etwas!“ n


BAYERN & KULTUR Hannes Burger

Niedrigsteuer lockt HeinzelmĂ€nnchen Die viel kritisierte Mehrwertsteuer-Senkung fĂŒr Hotels ist ein Investitionsschub – Hoteliers, GĂ€ste und Handwerker profitieren davon

In vielen bayerischen Hotels wird gehĂ€mmert und gesĂ€gt, genagelt und gestrichen als wĂ€ren wieder die HeinzelmĂ€nnchen am Werk. So hat das Hotel Platzl neben dem MĂŒnchner HofbrĂ€uhaus heuer fĂŒr ĂŒber 200 000 Euro seine Fassade renoviert und bekommt eine neue Telefonlage; das Hotel Stachus hat fĂŒr 600 000 Euro das ganze Haus modernisiert. In Ingolstadt hat das Hotel Ammerland 12 BĂ€der renoviert und 24 Zimmer mit neuen Fernsehern ausgerĂŒstet, das Sport- und Wellnesshotel Angerhof in St. Englmar hat eine Hackschnitzelheizung bekommen und neues Personal eingestellt; das Burghotel Wittelsbacher Höh in WĂŒrzburg hat den fĂŒr eine Million Euro geplanten Umbau noch um eine halbe Million aufgestockt und im Bayerischen Wald hat das Landhaus zur Ohe in Schönberg eine Sauna- und Wellness-Landschaft installiert. Das sind nur einige Beispiele fĂŒr viele in Bayern. Ursache fĂŒr den Investitionsschub im Hotelgewerbe ist der seit Jahresbeginn von 19 auf 7 Prozent reduzierte Mehrwertsteuersatz fĂŒr Übernachtungen. Fast ein Jahr lang wurde der schwarzgelbe Vorgriff auf eine Neuordnung der MehrwertsteuersĂ€tze von den roten wie grĂŒnen Parteien und vielen Medien als ungerechte „Klientelpolitik“ kritisiert und als „Steuergeschenk fĂŒr reiche Hoteliers“ diffamiert. Jetzt im Herbst hat in Bayern diese unsachliche Polemik nicht zuletzt deswegen nachgelassen, weil sich der Hotel- und GaststĂ€ttenverband (BHG) mit

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BAYERN & KULTUR einzelnen Mitgliedern gegen die Neidkampagne energisch zur Wehr gesetzt hat: Die ersparte Mehrwertsteuer lande weder in den Taschen der Hoteliers noch auf schwarzen Konten in der Schweiz, sondern in QualitĂ€tsverbesserungen in den HĂ€usern und beim Personal. Die Tatsachen ließen sich aber erst nach einem halben Jahr bei einer bayernweiten Informationsreise von VerbandsprĂ€sident Siegfried Gallus als erste Zwischenbilanz belegen. Das Klischee, dass Hoteliers von Haus aus reich sind, hat mehrere Ursachen. Es kommt zum einen daher, dass Hoteliers ein Haus haben und die Sozialisten seit 150 Jahren die Lehre verbreiten, dass Hausbesitzer Kapitalisten sind, wie es der alte Wiener ProletenSpruch ausdrĂŒckt: „Es san fei scho Hausbesitzer gstorben!“ Eine andere Ursache fĂŒr die helle Empörung in linken Parteien und Medien aller Art liegt darin, dass sowohl Politiker als auch begleitende Journalisten auf Dienstreisen oft in teuren FĂŒnfSterne-Hotels von Metropolen „auf Regimentskosten“ absteigen

Hoteliers können nicht ins Ausland abwandern, aber ihre GĂ€ste. – heißt: auf Einladung oder Spesen. Zudem zieren wirklich reiche Hoteliers oder gar reiche Hotelerben wie Paris Hilton die Gesellschaftsspalten von Boulevardzeitungen und Magazinen, wĂ€hrend Hotels oder ganze Hotelketten, die in Insolvenz gehen, nur im Wirtschaftsteil vorkommen. Doch von den gut 11 000 Hotelbetrieben in Bayern sind vier von fĂŒnf mittelstĂ€ndische Familienbetriebe, die im Fernsehen kaum vorkommen und in Zeitungen allenfalls, wenn sie in einem Reiseteil selber inserieren. Es kommt noch hinzu, dass Hotels in GroßstĂ€dten, im lĂ€ndlichen Raum und in Urlaubsorten komplett andere Bedingungen und auch jeweils andere Konkurrenz haben, mit der sie verglichen werden. FĂŒr alle deutschen Hotels gilt jedoch, dass die Konkurrenz in Europa bisher weniger Mehrwertsteuer gezahlt hat. Nimmt man Wettbewerber im Tourismus um Bayern herum, so zahlen deren Hotels seit langem nur MehrwertsteuersĂ€tze zwischen 3 und 10 Prozent. Die Senkung auf 7 Prozent bedeutet somit fĂŒr die Hotels keinen Vorteil gegenĂŒber allen direkten NachbarlĂ€ndern, sondern nur spĂ€te Angleichung. Seit vielen Jahren wird in Bayern von Wirtschafspolitikern wie TourismusverbĂ€nden gepredigt: QualitĂ€t vor QuantitĂ€t! Und ĂŒber viele Urlaubshotels wurde mitleidig bis spöttisch, aber nicht unberechtigt kritisiert: „Sie strahlen noch den Charme der Sechziger Jahre aus.“ Zweifellos haben einige Hotels in Zeiten guter Auslastung versĂ€umt, regelmĂ€ĂŸig zu renovieren und die QualitĂ€t zu verbessern. Wer dem stĂ€ndigen Verschleiß jedoch allzu lange tatenlos zugesehen hat, bringt in schlechteren GeschĂ€ftsjahren das Eigenkapital fĂŒr notwendige Renovierungen nicht auf und die Bank gibt ihm dann wegen hoher Verschuldung keine neuen Kredite. In Bayern wurden in den siebziger Jahren entlang des Eisernen Vorhangs mit Hilfe von Zonenrand- und Grenzlandförderungen, sowie Sonderabschreibungen große Hotelbauten von Abschreibungs-Gesellschaften gebaut. FĂŒr die ÜberkapazitĂ€ten gab es weder Bedarf noch ausreichend Sachkenntnisse in Hotellerie

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und Gastronomie. Sie haben aber zuerst das Preisniveau der kleinen einheimischen Beherbergungsbetriebe gedrĂŒckt, danach mangels Gewinn die Appartements in Eigentumswohnungen umgewidmet. Die meisten dieser Hotels sind steuerlich abgeschrieben und die Gesellschafter der GmbH & Co KGs haben kaum Interesse, nach 40 Jahren nochmals Millionen in die Renovierung abgewohnter „Betonbunker“ zu investieren. Aus so unterschiedlichen Motiven hat sich in Bayern seit Jahrzehnten ein Investitionsstau im Hotelgewerbe gebildet, den viele Hoteliers erstmals in diesem Jahr mit dem Gewinn aus der niedrigen Mehrwertsteuer beenden konnten. Bei großen Hotelketten oder FĂŒnf- Sterne-Hotels in GroßstĂ€dten und an privilegierten Nobel-Urlaubs- orten macht das „Steuergeschenk“ vielleicht nur den Unterschied aus, dass die ohnehin geplanten Investitionen jetzt grĂ¶ĂŸer ausfallen und schneller umgesetzt werden. Aber bei der Masse mittelstĂ€ndischer Hotels in Bayern sieht es nach einer Umfrage des Hotel- und GaststĂ€ttenverbandes unter Mitgliedern so aus: 46,4 Prozent der freigewordenen Mehrwertsteuermittel sind in Investitionen geflossen, 22,1 Prozent in Löhne und Qualifizierung des Personals, 21,1 Prozent in Preissenkungen und 10,4 Prozent in BetriebsrĂŒcklagen und Gewinn. Das bedeutet, dass sich die Senkung der Mehrwertsteuer fĂŒr Hotels vorwiegend zugunsten einer lĂ€ngst notwendigen QualitĂ€tsverbesserung an GebĂ€uden, Ausstattung und Personal niedergeschlagen hat. So wurde mit den 7 Prozent ein gewaltiger Investitionsschub ausgelöst worden, der sich auch in den nĂ€chsten Jahren als Konjunkturprogramm auswirkt. Als erste haben ja solche Hoteliers investiert, die schon seit lĂ€ngerem PlĂ€ne fĂŒr Um- und Anbauten oder Modernisierung in der Schublade, aber nicht das Geld dafĂŒr hatten und meist auch wegen der mageren Gewinne keinen Kredit dafĂŒr bekamen. Als nĂ€chstes kommen Hoteliers, die zunĂ€chst an die umstrittene Steuersenkung nicht auf Dauer geglaubt haben und sich jetzt erst trauen, InvestitionsplĂ€ne fĂŒr die nĂ€chsten Jahre zu schmieden. Die heimischen Handwerks- und Baufirmen profitieren als erste von AuftrĂ€gen der Hotels. Neue Heizungs- oder SanitĂ€ranlagen, AufzĂŒge, KĂŒchen- oder Wellness-Einrichtungen, Teppiche, SchrĂ€nke, BĂ€der und Betten kommen meist von Firmen in der Region und deren Steuern bleiben im Lande. Die KonkurrenzfĂ€higkeit deutscher Hotels ist vor allem im Tourismus doppelt verbessert: sie können mit den gĂŒnstigeren Preisen mithalten und jetzt mit besserer QualitĂ€t, modernerer Einrichtung und mehr ausgebildetem Personal aufwarten. Ein bayerischer Hotelier brachte den Wettbewerb im Tourismus auf die einfache, aber treffende Formel: „Wir können nicht ins Ausland abwandern, aber unsere GĂ€ste!“ n

Hannes Burger, 1937 in MĂŒnchen-Schwabing geboren, war Mitarbeiter der SĂŒddeutschen Zeitung und Bayern-Korrespondent der WELT. 22 Jahre lang schrieb er die Salvator­reden fĂŒr den Stark­bier­anstich auf dem Nockherberg. Heute lebt er im Bayerischen Wald und trĂ€gt den Ehrentitel „Botschafter Niederbayerns“.

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FÜR SIE GELESEN

Nouriel Roubini und Stephen Mihm

Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft Campus Verlag 470 Seiten, 24,95 Euro Der deutsche Titel zeichnet ein falsches Bild. Als „Crisis Economics“, so heißt das Buch wirklich, beschreibt es die Erfahrung der Menschheit mit wirtschaftlichen Krisen und unsere Lehren fĂŒr die Zukunft. Roubini trĂ€gt den Spitznamen „Dr. Doom“; er hat sehr frĂŒhzeitig auf die kommende große Finanzkrise hingewiesen. Finanzbeben wie die Weltwirtschaftskrise sind keine „schwarzen SchwĂ€ne“ – also extrem unwahrscheinliche Ereignisse – sondern vollkommen normale, sich stĂ€ndig wiederholende Korrekturprozesse. Die Autoren stellen das Programm solcher Krisen dar und geben Empfehlungen fĂŒr die Zukunft. Die Aktienkurse rauschten in den Keller; Kredite wurden gekĂŒndigt; BetrĂŒger flogen auf, die Welt war nicht nur in Amerika mitten in der Krise. Das war der Zustand 1929. Die Krise 2007 ist keine neue Erfahrung. Zentrum jeder Krise ist normalerweise eine Spekulationsblase. 2007 waren es die Immobilien. Die Nachfrage wurde angeheizt, die Angebote waren knapp, das fĂŒhrte zu dem Hebeleffekt: Immobilien, ihr zukĂŒnftiger Wertzuwachs, diente als Sicherheit, um neues Geld aufzunehmen. Wenn dann aber Angebot und Nachfrage sich die Waage halten, kommt die große ErnĂŒchterung. Der Kredithahn wird zugedreht. Die Preise fallen. Die Blase platzt. Krisen-Zeiten wurden hĂ€ufig durch Innovationen geschĂŒrt. Im 19. Jahrhundert war es die Eisenbahn, zum Ende des 20. Jahrhunderts das Internet. Nachdem der jeweilige Hype abgeklungen war, blieb etwas ĂŒber: Ein fortschrittliches Verkehrsmittel, eine revolutionĂ€re Compute-

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rinfrastruktur. Bei der Immobilienkrise gab es keine Innovation. Jedenfalls nicht bei der Immobilie, allerdings sehr wohl bei den Finanzierungsinstrumenten. Die Banken finanzierten nun nicht mehr das GrundstĂŒck, das noch real vorhanden war. Nein, aus diese Forderungen wurden ihrerseits Finanzierungsinstrumente und an Versicherungen, Pensionsfonds oder Anleger verkauft. Mit diesem neues Geld und vergaben die Banken neue Immobilienkredite, die sie wieder verkauften. Doch Schrott blieb Schrott auch nach dem Verkauf. Als dann doch einer mal genau nachschaute und die Immobilien bewertete, war die Krise da. Wenn Staaten jetzt nach der Krise versuchen, ihre Defizite durch die Druckerpresse schrumpfen zu lassen, besteht Inflationsgefahr. Um die Wirtschafts-Welt aus der Gefahr zu bringen, schlagen die Autoren Folgendes vor: Die VergĂŒtung von Managern und Bankern muss reformiert werden. Die gegenwĂ€rtige Risikokultur verleitet die Banker dazu, hohe Risiken einzugehen, da keine Bestrafung droht. Die Verbriefung von Wertpapieren muss sicherer werden. Wer in dem Finanzierungskreislauf tĂ€tig ist, muss einen Teil der Risiken selber behalten, die Banken mĂŒssen also Teile ihrer Immobilienkredite behalten. RatingAgenturen sollen lediglich die Schuldtitel bewerten, sonst gar nichts. Also keine Beratungsleistungen, die Rating-Agenturen in einen unauflöslichen Interessenskonflikt fĂŒhren. Die Bankenaufsicht muss zentralisiert werden. Finanzkonzerne, die groß sind, um Bankrott zu gehen, mĂŒssen verkleinert werden. Die Autoren nennen insbesondere Goldman Sachs, Bank of America, UBS, Wells Fargo, ING, Royal Bank of Scotland, Dexia, JP Morgan. Und letztlich: Die Zentralbanken mĂŒssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden. In der jĂŒngsten Krise haben sie die Spekulationsblase noch angeheizt, statt ihr frĂŒhzeitig den Geldhahn abzudrehen. Sie mĂŒssen viel offensiver agieren und die zur VerfĂŒgung stehenden Instrumente auch wirklich ausnutzen. Die Autoren rufen sehr nachdrĂŒcklich in Erinnerung, dass wir wohl noch immer zu wenig aus den vergangenen Krisen gelernt haben. Das WeltgedĂ€chtnis ist und bleibt kurz. Doch sie hoffen, dass die vorgeschlagenen Mittel kĂŒnftige Krisen zumindest deutlich abmildern. Das Buch ist verstĂ€ndlich, informationssicher und gibt einen hervorragenden Überblick. WB.

Olaf B. Rader

Friedrich II. Der Sizilianer auf dem Kaiserthron C.H. Beck Verlag 592 Seiten, 29,95 Euro Schon die Geburt Friedrichs II. ist von Legenden umwoben: Seine Mutter Konstanze, 40 Jahre alt und bis dahin kinderlos, soll ihn in Anwesenheit von KardinĂ€len und Bischöfen auf dem Marktplatz zu Jesi zur Welt gebracht haben  – um GerĂŒchten ĂŒber seine Abstammung vorzubeugen. Dieses so wundersam in die Welt geworfene Kind, der „Knabe aus Apulien“, sollte hinfort die Phantasie der Menschen beherrschen: als Stupor Mundi, das „Staunen der Welt“. Nach seinem Tod kursierten uralte Weissagungen. „Er lebt und lebt nicht“, hieß es. Der Spruch erfĂŒllte sich. Der tote Friedrich II. lebte weiter in der Erinnerung, das Bild verzerrt vom Streit der Parteien. Die Nazis beanspruchten ihn als Wegbereiter ihres „Dritten Reiches“, ein britischer Historiker wiederum denunzierte ihn „als Hitler des 13. Jahrhunderts“. IslamVersteher, Multi-Kulti-Monarch, ein Vordenker eines vereinigten Italien, Gelehrter, Glanz und Höhepunkt deutscher Kaiserherrlichkeit, Heil der Welt, Endzeit-Herrscher und Satans Statthalter: Das alles soll er gewesen sein. Den verwegenen Versuch, unter all den Bildern und Überwucherungen den Politiker und Mensch Friedrich herauszuarbeiten, hat Olaf B. Rader pĂŒnktlich zur Mannheimer Ausstellung „Die Staufer und Italien“ (bis 20. Februar) unternommen. Ein geglĂŒcktes Wagnis: In einer frischen, klaren Sprache erzĂ€hlt Rader das Leben und Wirken Friedrich in verschiedenen Facetten. „Der Gesetzgeber“, „Der Tyrann“, „Der Kreuzpilger“ und „Der Antichrist“ sind einige der Kapitel ĂŒberschrieben. Raders vielfacher Perspektivwechsel ist Friedrichs komplizierten Wesen, zumal Rader das Wesentliche nie aus den Augen lĂ€sst: Worin bestand Friedrichs Wirkung auf die Bayerischer Monatsspiegel 157_2010


FÜR SIE GELESEN allem der Pflege von Klischees. Beide Teile haben sich in wichtigen Fragen wie Parteiensystem, Umweltschutz und auch ReligiositĂ€t ein gutes StĂŒck angeglichen. „Deutschland“, so sein Fazit, „besteht lĂ€ngst nicht mehr aus zwei in sich geschlossenen Gesellschaften.“ Das Buch, von Wissenschaftlern geschrieben, ist aber fĂŒr alle, die sich mit der Lage im geeinten Land intensiv befassen, das Standardwerk ĂŒber zwei Jahrzehnte deutscher Einheitsgeschichte. PS.

Weltgeschichte? In seiner ausgezeichneten GeschichtserzĂ€hlung lĂ€sst Rader das Bild eines „Sizilianers auf dem Kaiserthron“ entstehen, der seine mediterrane Herrschaft mit buchstĂ€blich allen Mitteln zu festigen trachtete. Und in seiner Auseinandersetzung mit dem Papst, aber auch in der Ausbildung einer effizienten BĂŒrokratie manche Grundsteine fĂŒr die Moderne legte. MW

Manuela Glaab, Werner Weidenfeld, Michael Weigl (Hg.)

Deutsche Kontraste 1990 - 2010 Campus Verlag 701 Seiten, 39,90 Euro

Stephanie zu Guttenberg

Schaut nicht weg! Was wir gegen sexuellen Missbrauch tun mĂŒssen Kreuz Verlag 177 Seiten, 16,95 Euro Das Buch soll aufrĂŒtteln. Es will unbequem und fordernd sein. Deshalb auch der Titel mit einem mahnenden Ausrufezeichen. Es soll eine Herausforderung sein, wie sie Stephanie zu Guttenberg selbst vor sechs Jahren empfunden hat, nachdem eine Freundin sie gebeten hatte, sich in dem kleinen Verein „Innocence in Danger“ zu engagieren und sie sich mit schier unertrĂ€glichen Tiefen menschlicher Lust und Grausamkeit befassen musste: Dem sexuellen Missbrauch von Kindern und dem weltweiten MilliardengeschĂ€ft der Kinderpornographie in den neuen Medien. Sie konnte das Gesehene und Gelesene kaum fassen. Doch das Entsetzen hat sie in Energie umgesetzt, PrĂ€sidentin der deutschen Sektion von „Innocence in Danger“ (was beschlossen war, ehe ihr Mann Minister und politischer Shooting Star wurde) und will nun den Schock, den sie selbst erschĂŒttert hat, weitergeben, damit kĂŒnftig mehr hingeschaut wird. Damit die Kinder vor Missbrauch besser geschĂŒtzt und missbrauchten Kinder schneller geholfen wird. Aufgedeckte MissbrauchsfĂ€lle in Internaten hat die Gesellschaft empört, die Autorin zeigt, wie sich diese Empörung zur PrĂ€vention fortentwickeln kann. PS. Bayerischer Monatsspiegel 157_2010

Zum zwanzigsten Jahr der Deutschen Einheit haben RĂŒckblicke Konjunktur, Bilanzen werden gewogen, der Prozess der inneren Einheit wird analysiert. Die Zahl der Veröffentlichungen scheint grenzenlos. Darunter viel Meinung und Stimmung, viel Feuilleton und manches Vorteil, das bestĂ€tigt werden möchte. Das Buch, das Professor Werner Weidenfeld mit seinem Team vom MĂŒnchner Geschwister-SchollInstitut zum Jahrestag vorgelegt hat, ragt daraus schon allein durch seinen Umfang hervor. Und in der Masse steckt eine QualitĂ€t, an die kaum eine zweite Publikation zum 20. Einheitsjahr heranreichen dĂŒrfte. 22 renommierte Autoren haben sich in dem von der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Band an die Herkulesarbeit gemacht, die politische und gesellschaftliche Verfasstheit Deutschlands grundlegend zu analysieren. Wobei sie nicht auf ein Ergebnis unterm Strich hingearbeitet haben, sondern sich in kontrastierenden Begriffspaaren wie „Arm versus reich“, „Frauen versus MĂ€nner“ oder „Sozialstaat versus Marktwirtschaft“ eine vielfĂ€ltige und wissenschaftlich begrĂŒndete Lagebeschreibung genĂ€hert haben. AusdrĂŒcklich wollten sie damit vermeiden, die alten und die neuen LĂ€nder in ein SchwarzWeiß-Schema zu pressen. Die deutsche Gesellschaft, resĂŒmiert Weidenfeld, steckt zwar voller Kontraste, doch diese konzentrieren sich keineswegs auf den Gegensatz West-Ost. Im Gegenteil: „Die Probleme in den beiden Teilen des Landes unterschieden sich nicht dramatisch.“ Deutschland sei vereinter, als viele wahrhaben wollten, das Gerede ĂŒber die Mauer der Köpfe diene vor

Martin Mosebach

Was davor geschah Hanser Verlag 332 Seiten, 21,90 Euro Eine Flaumfeder, die der Kakadu aus dem Gefieder geputzt hat, schwebt langsam zu Boden, schaukelt spielerisch in einem Windhauch und sinkt nach unten. Die Szene ist prĂ€zise beobachtet und in ihrem gemĂ€chlichen Ablauf von fesselnder Spannung, sie ist ein literarisches MeisterstĂŒck und zugleich beispielhaft fĂŒr den gesamten Roman. Martin Mosebach, BĂŒchnerpreis-TrĂ€ger und eher gelobt als Essayist, erntet dafĂŒr Hymnen, von Zauberberg-AtmosphĂ€re ist die Rede, gar vom Gesellschaftsroman des frĂŒhen 21. Jahrhunderts wird geschwĂ€rmt. Der Roman beginnt mit der simplen und doch so tĂŒckischen Frage der Geliebten im Bett: Wie war es denn, „als es mich noch nicht gab“. Der ErzĂ€hler, ein junger Bankangestellter, plaudert und verplaudert sich. Bald verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart, Wahrheit mischt sich mit LĂŒge. Eher zufĂ€llig eingeladen und vom Rande aus beobachtet der ErzĂ€hler einige Paare der besseren Frankfurter BĂŒrgergesellschaft in ihren Vorortvillen, erlebt ihre Seelennöte und ihr Scheitern. Mosebachs Sprache trĂ€gt die Figuren federleicht, seine Charakterstudien sind prĂ€gnant und böse, ohne zu verletzen. Eine außergewöhnlich ErzĂ€hlkunst beschert ein ebensolches LesevergnĂŒgen. mpw.

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BAYERN & KULTUR Michael Weiser

Landsknechte der Malerei 700 Jahre Schweizer Kunst in der MĂŒnchner Hypo-Kunsthalle

MĂŒnchen – Sogar Wilhelm Tell machte den Umweg ĂŒbers benachbarte Ausland. Denn bevor die Sagengestalt zum Schweizer Nationalhelden wurde, mussten Tells Taten erst einmal von einem gewissen Friedrich Schiller besungen werden. Erst der erfolgreiche Re-Import aus normalen Schweizer große Schweizer, die sich der Achtung auch im eigenen Land erfreuen.

beachtliche BestÀnde von Werken Paul Klees und vor allem Ferdinand Hodlers hÀngen. Den beiden sind in der Ausstellung eigene RÀume vorbehalten, mit Hodler im Zentrum: Symbolisches, gewaltig in Szene gesetzt, dazu Landschaften in klarem, kalten Licht, nach der Anschauung gemalt und doch der Abstraktion zustrebend.

Der Druck, sich auswĂ€rts behaupten zu mĂŒssen und die Offenheit gegenĂŒber den Strömungen der Zeit Das gilt auch fĂŒr Maler, wie wirkten sich insgesamt die aktuelle Ausstellung wohl segensreich auf die in der Hypo-Kunsthalle eidgenössische Kunst aus. mit einer Auswahl des Und zwischen den großen Kunstmuseums Bern zeigt. Namen entdeckt man Es wird deutlich, wie viele „vieles ebenfalls Bedeutengroße KĂŒnstler das kleine des und Werke von hoher Land hervorbrachte –und QualitĂ€t“, sagt Frehner. wie schwer es sich mit Wie zum Beispiel von ihnen tat. Wer sich ausbilKarl Stauffer-Bern, der in den lassen wollte, musste MĂŒnchen mit einem großen dies in Paris, Mailand oder Franz Niklaus König, Ansicht des Wetterhorns von Rosenlaui, GemĂ€lde, Ölportraits und eben MĂŒnchen tun. An der Öl/ Leinwand, 90 x 76 cm, Kunstmuseum Bern eindrucksvollen RadierunIsar studierten denn auch GrĂ¶ĂŸen wie Paul Klee, Cuno Amiet oder Giovanni Giacometti. Bis gen vertreten ist, unter anderem mit einem Portrait seines großen Vorbilds Adolph Menzel. ins 20. Jahrhundert hinein richtete die Schweiz keine Akademien ein. „Die Schweiz ist ein klassisches ReislĂ€uferland“, sagte Man eilt durch die Epochen und fĂŒhlt sich dank des bunten Kunstmuseumsdirektor Matthias Frehner in Anspielung an die Reichtums bestens unterhalten. Eines aber kann die Ausstellung Schweizer Landsknechts-Exporte, „auch fĂŒr KĂŒnstler“. nicht vermitteln: den roten Faden, der durchs Labyrinth der Schweizer Kunstgeschichte fĂŒhrte, „die Swissness“, wie Frehner Erst der im Ausland geadelte KĂŒnstler durfte auf Anerkennung ironisch anmerkte. NatĂŒrlich kann man das Schweizer Wesen in hoffen. Die erfuhr er dann aber, spĂ€t zwar oder gar posthum, den Bergen suchen, die sich in der Hypo-Kunsthalle in so reichĂŒberreichlich. Schweizer Museen, aus Kunst- und KuriositĂ€tenlicher Zahl abgebildet finden. Oder in Albert Ankers perfekten kabinetten entwachsen, kauften bevorzugt Bilder einheimischer Musensöhne auf und zurĂŒck. So ist es kein Wunder, dass in Bern Genre­bildern, so sauber und unschuldig, dass sie auch in hart­- R

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Oben: Sophie Tuber-Arp. Komposition mit Kreisen und Rechtecken, 1930, ïŸƒćƒ• auf Leinwand, 61 x 50 cm, Kunstmuseum Bern Rechts mitte: Alberto Giacometti, Frau aus Venedig I, 1956, Bronze, 106 x 13,5 x 29 cm, Kunstmuseum Bern, Foto: Peter Lauri Photographie, CH-Bern Unten: Ferdinand Hodler, Der Tag, 1899, ïŸƒćƒ• auf Leinwand, 160 x 352 cm, Kunstmuseum Bern, Staat Bern

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Oben: Ferdinand Hodler, Der HolzfĂ€ller, 1910, Öl/ Leinwand, 262 x 212 cm, Kunstmuseum Bern Links: Paul Klee, KrĂ€henlandschaft, 1925, Öl­farbe und Aquarell auf Nesseltuch auf Sperr­holz, 43,5 x 44,2 cm, Kunstmuseum Bern, Stiftung Othmar Huber, Bern Unten: Albert Anker, MĂ€dchen mit Brot, 1887, Öl auf Leinwand, 70 x 43,9 cm, Kunstmuseum Bern

gesottenen StĂ€dtern eine zarte Sehnsucht nach UrsprĂŒnglichkeit und lĂ€ndlicher Idylle wecken. Und wahrscheinlich ist bezeichnend fĂŒr einen Finanzstandort, dass Ferdinand Hodlers monumentaler „HolzfĂ€ller“ aus dem Jahre 1910 ausgerechnet als Entwurf fĂŒr eine 50-Franken-Banknote entstand. Jean Tinguelys Skulpturen wiederum wirken so feinmechanisch ausgetĂŒftelt, dass sie zu einem Volk von Uhrmachern passten. Doch sie sind vollkommen sinnfrei und dermaßen verspielt, dass man sie nicht recht mit einer biederen, pragmatischen Schweiz in Verbindung bringen mag. Die Schweiz ist mehr als die Summe ihrer Klischees. Und so gilt es, sich in der Hypo-Kunsthalle auf Überraschungen gefasst zu machen. Die Giacometti-Familie hat, so stellt man wieder einmal beglĂŒckt fest, nicht nur Alberto hervorgebracht. Der Auktionsrekordhalter ist mit der Ă€therischen Plastik einer „Frau aus Venedig“ vertreten. Doch nicht minder eindrucksvoll sind die duftigen, bunten Werke seines Vaters Giovanni und die expressiv anmutende Malerei von dessen Freund Cuno Amiet. Bis in Moderne und Gegenwart galoppiert die Ausstellung, mit den Wahl-Davosern Ernst-Ludwig Kirchner (aus Aschaffenburg) und Hermann Scherer (Baden-WĂŒrttemberg), mit dem hinterkĂŒnftigen FĂ©lix Valloton, mit Louis-RenĂ© Moilliet und Bauhaus-Lehrer Johannes Itten, mit Pipilotta Rist und Daniel Spoerri und vielen, vielen anderen. Klischeeversessene werden bis zum Ende Überraschungen erleben – AbgrĂŒnde und Gipfel gibt es in der Schweiz nicht nur in den Alpen. n Giacometti, Hodler, Klee. Höhepunkte der Schweiz aus sieben Jahrhunderten. Bis 9. Januar tĂ€glich von 10 bis 20 Uhr in der Hypo-Kunsthalle, Katalog 25 Euro

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Das SALUS Haus im oberbayerischen BrĂŒckmĂŒhl

Seit mehr als 90 Jahren Als einer von wenigen Naturarzneimittelherstellern in Europa deckt Salus den Großteil des Herstellungsprozesses selbst ab – von der Saat, ĂŒber die Ernte bis hin zur Verarbeitung und AbfĂŒllung. Dabei unterzieht sich Salus den höchsten pharmazeutischen Arzneimittel-QualitĂ€tsstandards und den Bio-QualitĂ€tsstandards fĂŒr Lebensmittel. Die Rohstoffe werden grĂ¶ĂŸtenteils aus kontrolliert ökologischem Anbau bezogen. Auf Konservierungsstoffe, kĂŒnstliche oder naturidentische Aromen wird gĂ€nzlich verzichtet. Seit 1991 kultiviert Salus auch Heilpflanzen in Chile, denn dort sind Wasser und Luft noch frei von Schadstoffen und der Boden unberĂŒhrt von kĂŒnstlichen DĂŒngern, Pflanzenschutz- oder UnkrautbekĂ€mpfungsmitteln. Zu den bekanntesten Produkten der Salus-Gruppe gehören das Eisentonikum KrĂ€uterblutÂź-FloradixÂź, der Markenklassiker OlbasÂź Tropfen sowie die Frischpflanzen-PresssĂ€fte von Schoenenberger. Sitz des Unternehmens ist seit 1968 das oberbayerische BruckmĂŒhl bei Rosenheim.

Die Salus-Gruppe besteht aus den drei Einzelfirmen Salus, Schoenenberger und Duopharm. Alle drei Firmen verfĂŒgen ĂŒber jahrzehntelange Erfahrung in der Heilmittelbranche und fĂŒhlen sich schon seit ihrer GrĂŒndung der Natur verbunden und der Gesundheit verpflichtet. Das wollen wir auch mit unserem gemeinsamen Motto „Der Natur verbunden. Der Gesundheit verpflichtet.“ zum Ausdruck bringen.

Schoenenberger Die Tradition von Schoenenberger ist beinahe genauso lang wie die von Salus. Das Unternehmen wurde im Jahr 1927 von dem Apotheker und Naturforscher Walther Schoenenberger in Magstadt bei Stuttgart gegrĂŒndet und produziert seit nunmehr ĂŒber achtzig Jahren frisch gepresste HeilpflanzensĂ€fte in erstklassiger QualitĂ€t. Im Laufe der Jahre kamen zu den SĂ€ften weitere Produkte aus den Bereichen Arznei- und Lebensmittel sowie Kosmetika hinzu. Schoenenberger gehört seit 1991 zur Salus-Gruppe und beschĂ€ftigt ca. 75 Mitarbeiter. Duopharm Duopharm ist zwar deutlich jĂŒnger als Salus und Schoenenberger, vertreibt aber auch schon seit mehr als 30 Jahren, nĂ€mlich genau seit 1978, Naturarzneimittel im Apothekenmarkt, vom Sitz BruckmĂŒhl aus. Und kann zudem auf die gesammelte Erfahrung von Salus und Schoenenberger zurĂŒckgreifen. Die hohe QualitĂ€t der Produkte beruht auf dem stetig steigenden ökologischen Anbau von Heilpflanzen, der konsequenten QualitĂ€tskontrolle und der engen Zusammenarbeit mit Ärzten und Wissenschaftlern. Die von Duopharm angebotenen PrĂ€parate sind in den unterschiedlichsten Darreichungsformen, wie z. B. Tees, Tonika, Tropfen, PflanzensĂ€fte, Dragees oder Kapseln, erhĂ€ltlich. Sie können ausschließlich in Apotheken erworben werden. Eine kleine Auswahl der Salus-QualitĂ€tsprodukte

SALUS Haus Das SALUS Haus blickt auf eine beeindruckende Firmengeschichte zurĂŒck. Bereits im Jahr 1916 wurde das Unternehmen, damals noch unter dem Namen Salus-Werk, von Dr. med. Otto Greither in MĂŒnchen gegrĂŒndet. Seit 1945 wird es erfolgreich vom Sohn des FirmengrĂŒnders, Otto Greither, geleitet. Der Unternehmenssitz befindet sich seit 1968 in BruckmĂŒhl. Dort produzieren und vertreiben heute rund 260 engagierte Mitarbeiter Naturarzneimittel und diĂ€tetische Lebensmittel, die in ĂŒber 50 LĂ€nder der Welt exportiert werden.

SALUS Haus GmbH & Co. KG · 83052 BruckmĂŒhl · www.salus.de


LEBEN & GENIESSEN Interview mit Herbert Frauenberger

Wie das Schwein zum Kalb wurde

Stöbert auch 20 Jahre nach der Wende schon mal in alten DDR-Rezepten: Der ThĂŒringer Privatkoch Herbert Frauenberger tischt aber auch zarte Krokodilsteaks auf.

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© Sabrina NĂŒrnberger, www.mediadee.de

Weil in der DDR das Angebot eingeschrÀnkt war, mussten die Köche besonders kreativ sein


LEBEN & GENIESSEN

Bayerischer Monatsspiegel: Hat ein Koch im RĂŒckblick Grund zu DDR-Nostalgie? Herbert Frauenberger: Ich sehne mir die alte DDR-Zeit nicht zurĂŒck und habe keinen Grund zur Nostalgie. Aber ein Koch bereitet das zu, was seine GĂ€ste mögen. KĂŒrzlich hat mich eine Gastronomin in Gera gefragt, wie sie ihr Angebot fĂŒr die GĂ€ste wieder attraktiver machen könnte. Da kam die Idee, mal in alten DDR-Rezepten zu stöbern. Das kann recht reizvoll sein: zum einen erinnern sich viele an diese Speisen, zum anderen kann man auch die damals recht einfachen Gerichte mit den frischen Produkten von heute schmackhafter und bekömmlicher kochen. Aber an eines erinnere ich mich manchmal mit Schmunzeln, denn wegen des sehr eingeschrĂ€nkten Angebotes mussten wir ĂŒberdurchschnittlich kreativ sein. Das brachte auch so manche StilblĂŒte hervor wie zum Beispiel WĂŒrzfleisch von Huhn und Schwein als Ersatz fĂŒr Ragout fin, das bekanntlich nur vom Kalb hergestellt wird. Kalbfleisch war aber praktisch kaum zu beschaffen. BMS: Mangelwirtschaft weckt KreativitĂ€t? Frauenberger: Auf jeden Fall. Ich war fast 20 Jahre in der Gastronomie der Interhotels, wir hatten viel internationales Publikum und mussten uns schon einiges einfallen lassen, um besser zu sein als der Durchschnitt. BMS: Die Soljanka hat ja ĂŒberlebt, auch wenn sie im Westen kaum einer kennt. Frauenberger: Wenn sie gut gekocht wird, ist sie eine tolle Suppe. In der DDR wurde sie aber vor allen in Restaurants, die an Hotels angeschlossen waren, oft als Resteverwertung miss-

Er kochte fĂŒr das japanische Kaiserpaar ebenso wie fĂŒr Karl Lagerfeld. braucht. Die gebogenen Wurstscheiben vom FrĂŒhstĂŒcksbuffet wurden in Streifen geschnitten und hineingekocht.

BMS: Sie war Bestandteil fast jeder DDR-Speisekarte. Wie beschreiben Sie die Suppe einem Gast aus dem Westen, der sie nicht kennt? Frauenberger: Sie kommt aus der osteuropĂ€ischen KĂŒche, heißt eigentlich ukrainische Fleischsoljanka und ist eine sĂ€uerlicharomatische Suppe aus Bratenresten, Zwiebeln, Tomatenmark, Kapern und sauren Gurken. Obenauf kommt ein Klecks saure Sahne und eine gehĂ€utete Zitronenscheibe. Es kursieren aber auch noch allerlei Rezept-Ableitungen. Eine gute Soljanka kann den Appetit anregen und den Gaumen öffnen fĂŒr weitere GenĂŒsse. Aber ehrlich: Seit der Wende habe ich sie nicht mehr gekocht.

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BMS: Sie haben gleich nach der Wende im „Weißen Schwan“ in Weimar prominente GĂ€ste mit Ihrer KĂŒche begeistert. Brauchten Sie keinen Anlauf in die neue Zeit? Frauenberger: Ich brauchte wenig Anlauf, denn ich hatte das GlĂŒck, dass ich einige Jahre auf dem DDR-Schiff „MS Arkona“, das fĂŒr den Feriendienst der DDR-Gewerkschaft FDGB fuhr und spĂ€ter sogar verchartert wurde, als Koch arbeiten konnte. NatĂŒrlich kauften wir in den fernen LĂ€ndern auch frische Produkte dazu, die wir in der DDR nicht bekamen. So musste ich mich ab 1990 vor allem daran gewöhnen, dass es diese Produkte nach der Wiedervereinigung auch auf unseren MĂ€rkten gab. Aber das war eine Freude und kein Problem.

© Katrin Blaurock, www.foto-blaurock.de

SĂ€ttigungsbeilage wurde genannt, was in der DDR neben Fleisch oder Fisch auf den Teller kam. Frische Produkte waren kaum im Angebot. Die KĂŒche war triste wie vieles andere in dem kommunistischen Teil Deutschlands. Wie haben sich 20 Jahre Einheit auf die KĂŒche in den neuen LĂ€ndern ausgewirkt? Peter Schmalz sprach darĂŒber mit dem ThĂŒringer Privatkoch Herbert Frauenberger, bekannt als MDR-Fern­seh­koch und frĂŒhere Chef im „Weißen Schwan“ neben Goethes Wohnhaus in Weimar.

Zeigen, wie’s geht: Herbert Frauenberger (links) erklĂ€rt in seiner Kochschule die Zubereitung eines herbstlichen MenĂŒs.

BMS: Sie haben in Weimar viele Prominente bewirtet. Gab es dabei auch mal die berĂŒhmte Schrecksekunde? Frauenberger: Wenn man das japanische Kaiserpaar, die dĂ€nische Königin Margarethe oder Karl Lagerfeld zu Gast hat, spĂŒrt man immer ein angespanntes GefĂŒhl in der Magengegend. Aber Gottseidank ist mir eine richtige Schrecksekunde erspart geblieben. BMS: DafĂŒr aber mussten Sie zusehen, wie der französische PrĂ€sident auf dem Marktplatz von Weimar in eine ThĂŒringer Bratwurst biss, aber fĂŒr das feine Dinner, das Sie fĂŒr ihn und seine Delegation zubereitet hatten, keine Zeit mehr hatte. Frauenberger: Das ist natĂŒrlich im Moment enttĂ€uschend, vor allem fĂŒr die gesamte Mannschaft, die sich mit vollem Eifer an die Arbeit gemacht hatte. Aber bei so hohen GĂ€sten aus der Politik muss man immer damit rechnen, dass sich die Termine schnell mal verĂ€ndern können. BMS: Wie hat sich der Geschmack in den vergangenen 20 Jahren verĂ€ndert? Frauenberger: In den neuen LĂ€ndern vor allem dadurch, dass die Menschen gelernt haben, auf QualitĂ€t zu achten. Wer frĂŒher beim Einkaufen Schlange stehen musste, hat genommen, was dann einfach noch im Angebot war. Und er war schon froh, wenn er Konserven ergattert hat. Spargel zum Beispiel kannte ein DDR-BĂŒrger hauptsĂ€chlich aus der Dose. Heute wird der Beelitzer oder auch der ThĂŒringer Spargel möglichst stechfrisch

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© Katrin Blaurock, www.foto-blaurock.de

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gekauft. FrĂŒher wusste man oft auch nicht, woran man war: Mal waren Eier gesund, wenn es genug gab, dann waren sie wieder ungesund, weil zu wenige angeboten werden konnten. Aber nicht alles ist besser geworden. So gibt es heute leider immer mehr junge Leute, die sĂŒĂŸ, sauer oder bestimmte GewĂŒrze nicht mehr richtig unterscheiden können. Hier hat Fast Food, das wir in der DDR nicht kannten, böse Spuren hinterlassen.

BMS: Und wie haben sich die GĂ€ste verĂ€ndert? Frauenberger: Es ist heute ungleich schwerer geworden, in der Gastronomie erfolgreich zu sein, weil weniger Geld fĂŒr qualitativ hochwertige Speisen ausgegeben wird. Das war Anfang der 90er Jahre noch ganz anders, nicht zuletzt auch deswegen, weil viele Leute aus den alten BundeslĂ€ndern kamen und sich in den ihnen unbekannten Teilen Deutschlands umsehen wollten. Wenn ich damals im „Weißen Schwan“ um elf Uhr morgens die TĂŒre aufgesperrt habe, wartenden manchmal schon fĂŒnf, sechs GĂ€ste davor. Man ist sparsamer geworden, aber das ist deutschlandweit insbesondere auch bei den AusflugsgaststĂ€tten spĂŒrbar. BMS: Sie kochen auch als Privatkoch bei Familienfesten oder FirmenjubilĂ€en. Haben Sie eine Hitliste der gewĂŒnschten Gerichte? Frauenberger: Wer sich einen Privatkoch ins Haus holt, der wĂŒnscht etwas Besonderes. Das ist eine schöne Herausforderung fĂŒr mich. Ich wollte auch zu DDR-Zeiten nie ein Gulasch- oder Schnitzelkoch werden. KĂŒrzlich hatte ich GĂ€ste, die wollten unbedingt Krokodilfleisch probieren. BMS: Oh weh. Frauenberger: Das war nicht so schlimm. Ich habe in Australien kochbegeisterte Freunde, die mich dort auch mit Köchen bekannt gemacht haben. Da habe ich einiges gelernt. Und so gab es in ThĂŒringen eben zarte Krokodilsteaks. BMS: Sie empfangen morgen sechs GĂ€ste in Ihrer Kochschule. Was kommt auf den Tisch? Frauenberger: Es wird ein herbstliches MenĂŒ, das mit einer SĂŒĂŸkartoffel-Zucchini-Suppe beginnt, die mit Kokosmilch zubereitet wird. Das Rezept habe ich aus Australien mitgebracht.

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Auch in der KĂŒche hat sich nach 20 Jahren Einheit viel verĂ€ndert: „Die Menschen in den neuen LĂ€ndern haben gelernt, auf QualitĂ€t zu achten.“

Danach gibt es einen Barramundifilet, einen Fisch aus der Welsfamilie, auf Zitronengras zubereitet und ĂŒberbacken mit einem Apfel-Mango-Chutney. Dazu wird ein RĂ€ucherreis serviert. Anschließend kommen Wildmedaillons in FrĂŒhstĂŒcksspeck gebraten mit einer herbstlichen Pilzauswahl. Zum Abschluss gibt es eine mit Baiser ĂŒberbackene Grapefruit.

BMS: Warum schwĂ€rmen alle von der ThĂŒringer Bratwurst? Frauenberger: Weil sie köstlich schmeckt. Ich bin erst dieser Tage mit meinen australischen Freunden zum Inselsberg am Rennsteig gefahren. Dort ist ein Bratwurststand, wo man die Wurst in ein angewĂ€rmtes Brötchen gelegt bekommt. Wenn Sie dann im kĂŒhlen Herbstwind stehen, die herrliche Landschaft betrachten und in die heiße Bratwurst mit etwas köstlichem ThĂŒringer Senf beißen, dann sind Sie mit Gott und der Welt im Reinen. BMS: Was unterscheidet einen ThĂŒringer Kloß von einem bayerischen Knödel? Frauenberger: Eine schwere Frage, denn selbst in ThĂŒringen gibt es einen heftigen Streit darum, was der echte ThĂŒringer Kloß ist. Wie soll ich den ThĂŒringer Kloß dann auch noch mit dem bayerischen Knödel vergleichen. Aber sicher ist: Ein ThĂŒringer Kloß besteht aus zwei Drittel rohen und einem Drittel gekochten Kartoffeln. Und in die Mitte hinein die knusprigen Croutons. GewĂŒrzt wird nur mit Salz und obenauf wird auch keine gehackte Petersilie gestreut. Ich Ă€rgere mich immer, wenn ich an der Straße ein Schild „Original ThĂŒringer KlĂ¶ĂŸe“ sehe und drinnen gibt es TĂŒtenklĂ¶ĂŸe. Das ist mir schon mehrfach widerfahren. BMS: Ist Ihr Lieblingsgericht heute noch das gleiche wie vor 20 Jahren? Frauenberger: Oh ja. Ich esse sehr gerne Eintöpfe und SĂŒlzen. In der NĂ€he ist in einem kleinen Ort ein Gasthaus „Zur Linde“. Wenn ich da reinkomme, weiß der Wirt schon, was ich möchte: Eine wirklich hausgemachte SĂŒlze mit Remouladensoße und knusprigen Bratkartoffeln. Ein Genuss! n

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Veranstaltungen des Peutinger-Collegiums

Oben: Auditorium mit Dr. Thomas Enders. Links: Hanns J. Huber, Honorarkonsul, Berat. Architekt BDA, ArchitekturbĂŒro Huber + Partner; Hans Freundl, Bank­ direktor a. D., Dresdner Bank. Mitte li.: Dr. jur. Peter J. R. Koppe, Rechtsanwalt, Kanzlei Dr. Koppe & Kollegen RechtsanwĂ€lte; Frau Eleonore Bölkow; Die Teilnehmer haben sich ĂŒber den Besuch der Witwe von Dipl.-Ing. Dr. E. h. mult. Ludwig Bölkow, einem der VĂ€ter der Luftfahrtindustrie, besonders gefreut. Unten li.: Dr. Helmut Liedermann, Bot­ schafter a. D., Prokurator und Mitglied des Großen Rates des Peutinger-Collegiums; Reinhard Dippold, ARNDT Sicherheit u. Service GmbH & Co. KG; Wilfried Hauffen, ARNDT Sicherheit u. Service GmbH & Co. KG.

Oben v. l.: Ludwig Schulz, Politologe M.A., Wissenschaftlicher Referent, Deutsche Orient-Stiftung/Deutsches Orient-Institut; Sebastian Moss, EICON GmbH; Dipl.-Bw. (FH) Arne Schönbohm, Vorstand BSS BuCET Shared Services AG.

Unten r.: Prof. Dr. Franz Josef Gießibl, UniversitĂ€t Regensburg Naturwissenschaftliche FakultĂ€t II-Physik, Prokurator und Mitglied des Großen Rates des PeutingerCollegiums; Prof. Dr. Anton Kathrein, GeschĂ€ftsfĂŒhrer / Persönlich haftender Gesellschafter Kathrein-Werke KG.

Unten v. li.: Dr.-Ing. Axel Stepken, Vorsitzender des Vorstandes, TÜV SÜD AG; Prof. Dr. Anton Kathrein, GeschĂ€ftsfĂŒhrer Kathrein Werke KG; Prof. Dr. Walter Beck, PrĂ€sident des Peutinger-Collegiums; Frau Eleonore Bölkow; Dr. Thomas Enders; Dr. Michael Kerkloh, Vorsitzender der GeschĂ€ftsfĂŒhrung Flughafen MĂŒnchen GmbH; Dr. Reinhold Bocklet, MdL, I. VizeprĂ€sident des Bayerischen Landtags; Dietmar Schrick, HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrer / Mitglied des PrĂ€sidiums Bundesverband der Deutschen Luftund Raumfahrtindustrie e.V.

Oben: Dr. Thomas Enders, PrÀsident, Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie e.V. (BDLI).

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Foto: Justa, MĂŒnchen

Unten: Dipl.-Ing. Horst Prem, Vice President Corporate Technology a. D., Daimler Benz Aerospace AG; Dr. Arnulf Brandstetter, Vorstandsvorsitzender a. D., Prokurator und Mitglied des Großen Rates des Peutinger-Collegiums; Frau Masako Stroke.

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Veranstaltungen des Peutinger-Collegiums Links: Prof. Dr. Harald Lesch, Lehrstuhl fĂŒr Astrophysik, LehrtĂ€tigkeit Philosophische Hochschule MĂŒnchen. Unten: Maximilian Ring, Rechtsanwalt und Steuerberater, GeschĂ€ftsfĂŒhrer E.K.W. Hauptverwaltung GmbH; Hans-JĂŒrgen Haas-WittmĂŒĂŸ.

Rechts: Bernd Höfling, Notar; Dr. rer. nat. Eberhard Beck, Unternehmensberater / Dipl.-Physiker, BCM Beck Consulting MĂŒnchen; Dr. Paul Melot de Beauregard, Rechtsanwalt Fachanwalt fĂŒr Arbeitsrecht, McDermott, Will&Emery RechtsanwĂ€lte Steuerberater LLP.

Oben: Dr. Marcus D. Ernst M.A., Rechtsanwalt und Historiker, Kanzlei Dr. Ernst, Co-PrĂ€sident des Peutinger-Collegiums; Prof. Dr. Harald Lesch; Prof. Dr. Walter Beck, PrĂ€sident des PeutingerCollegiums. Links: Links: Dr. M. VorderwĂŒhlbecke; Dr.phil. Dr.jur.utr. Peter Löw, Vorstand und HauptaktionĂ€r DAPD Media Holding, Palais Sonnenhof.

Unten: Dipl.-Ing. Alexander Beck, Patentantwalt, Patent-und RechtsanwĂ€lte Hansmann + Vogeser Dr. Emil Beck, Notar a. D.

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Unten: Edith Laga, Pressereferentin Unternehmerinnen-Forum e.V.; Christa Wittmann, PrĂ€sidentin Unternehmerinnen-Forum e.V.: Johannes Paintl, Vorstandsvorsitzender Josef Stanglmeier Stiftung; Angelika Mack, PrĂ€sidentin Landesarbeitsgericht MĂŒnchen; Brigitta Winkelmann, VizeprĂ€sidentin Unternehmerinnen-Forum e.V.; Angelika Patzelt, Mitgliederbetreuung Unternehmerinnen-Forum e.V.

Foto: Justa, MĂŒnchen

Oben: Dr. med. Hans-Bernd Schmitt, Facharzt fĂŒr Frauenheilkunde und Naturheilverfahren; Matthias Blazek, Dipl.-Physiker; Angelika Eibach, Dipl.-Volkswirtin.


VORSCHAU

Veranstaltungen des Peutinger-Collegiums Die Grundhaltung des Collegiums: „Gelebte Freiheit in sozialer Verantwortung“.

Montag, 29. November 2010 Dr. Ludwig Spaenle, MdL, Bayerischer Staatsminister fĂŒr Unterricht und Kultus

Montag, 19. September 2011 Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister fĂŒr Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung

Dienstag, 22. Februar 2011 Kardinal Dr. Reinhard Marx, Erzbischof von MĂŒnchen und Freising

Donnerstag, 20. Oktober 2011 Peter Meyer, PrÀsident des ADAC

Donnerstag, 03. MĂ€rz 2011 Viviane Reding, EU Kommissarin fĂŒr Justiz, Stellvertretende PrĂ€sidentin der EU-Komission

Montag, 21. November 2011 Prof. Dr. Manfred Milinski, Max-Planck-Institut fĂŒr Evolutionsbiologie

Sonntag, 17. April 2011 Christian Thielemann, Generalmusikdirektor MĂŒnchen

Impressum Montag, 16. Mai 2011 „Made in Germany im 21. Jahrhundert“, ein Symposium in Zusammenarbeit mit der TÜV SÜD AG und dem Wirtschaftsbeirat

Redaktion Peter Schmalz (Chefredakteur) Thomas Breitenfellner Julius Beck Hagnweg 13 · D-83703 Gmund redaktion@bayerischer-monatsspiegel.de Leserbriefe an die Redaktion oder an leserbriefe@bayerischer-monatsspiegel.de Verlag & Anzeigen Bayerischer Monatsspiegel Verlagsgesellschaft mbH Hagnweg 13 · D-83703 Gmund Tel: +49 8022 96 56-25 · Fax: +49 8022 96 56-28 www.bayerischer-monatsspiegel.de

Dienstag, 28. Juni 2011 Klaus Josef Lutz, Vorstandsvorsitzender der BayWa AG

Herausgeber Prof. Dr. Walter Beck, Peutinger-Collegium Gestaltung, Realisierung & Anzeigen NBB Kommunikation GmbH · Ridlerstraße 33 80339 MĂŒnchen · www.nbbgmbh.de

Montag, 18. Juli 2011 Dr. Theodor Weimer, Vorstandsvorsitzender HypoVereinsbank

Druck Messedruck Leipzig GmbH · Ostwaldstraße 4 04329 Leipzig · www.messedruck.de

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