Bayerischer Monatsspiegel #156

Page 1

|

August 2010

02_2008

Verlag Bayerischer Monatsspiegel | 46. Jahrgang 2010 | Postvertriebsstück 69234 | ISSN 1860-4561 | Einzelpreis 7,50 EUR

Ausgabe 156

Titelthema: Gesundheit Werner Weidenfeld: Europa braucht neuen Aufbruch Hugo Müller-Vogg: Oskar zu Gast – Die SPD und die Linke Roland Berger: Eine neue Werte-Elite Peter Schmalz: Christian Wulff – Ausgleich und klare Werte Walter Beck: Macht und Ohnmacht im Grundgesetz Marianne E. Haas: Bayerns Wirtschaft spricht Pfälzisch Ilse Aigner: Wohl bekomm’s Hannes Burger: Ärger mit dem Länderfinanzausgleich Gerd Sonnleitner: Landwirtschaft – die Branche mit Zukunft


Manchmal muss man erst ganz unten ankommen, um es bis ganz nach oben zu schaffen. Über Tausende von Jahren sucht sich das Wasser seinen Weg durch die mächtigen Gesteinsschichten der Alpen. Erst in 140 Metern Tiefe sammelt es sich – von einer dicken Seetonschicht vor allen äußeren Einflüssen geschützt – zu einem wertvollen Mineralwasservorkommen. Von dort wird es an die Oberfläche befördert und kommt so als Adelholzener Mineralwasser zu Ihnen auf den Tisch. Genauso rein und unverfälscht, wie es aus unserer Quelle kommt. Weitere Informationen unter www.adelholzener.de/qualitaet

Die reine Kraft Der alpen


EDITORIAL

Ehrung für einen Kämpfer für Freiheit und Marktwirtschaft: Prof. Dr. Paul Kirchhof (r.) erhielt von Peutinger-Präsident Prof. Dr. Walter Beck und Co-Präsident Dr. Marcus Ernst die Goldene Peutinger-Medaille. Mehr darüber auf den Seiten 66 – 71.

Vorwort des Herausgebers Wir leben in der besten aller bisherigen Welten: Frauen, die heute 60 Jahre alt sind, dürfen damit rechnen, ihren 100. Geburtstag feiern zu können. Wir Männer werden nur 95 Jahre (wo bleibt da die Gleichberechtigung?). Deutschland genießt seine größte Friedensperiode seit dem 30jährigen Krieg (1618 bis 1648). Nie gab es kürzere Arbeitszeiten, nie konnten wir uns mehr leisten als heute. Wahrscheinlich wird diese Zeit rückblickend einmal als das „Goldene Zeitalter“ bezeichnet. Liest man Zeitungen oder quält man sich mit den Nachrichten ab, könnte man aber glauben: So schlecht wie heute ist es uns noch nie gegangen. Es ist schon wirklich erstaunlich, wie die tagtägliche multimediale Kommunikation den Blick auf die Wirklichkeit versperrt. Unsere positive Entwicklung war möglich, weil wir uns zur sozialen Marktwirtschaft bekannt haben. Die Freiheit, die der Markt fordert, verlangt aber auch Bürger, die echtes Interesse daran haben, diese Freiheit zu nutzen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass das Bedürfnis auf Freiheit nur dann eine Rolle spielt, wenn sie wirklich mit Füßen getreten wird. Vorher ist es den Menschen lieber, wenn sie ihre Freiheit nicht aktiv

nutzen müssen, sondern wenn Dritte oder der Staat sie sichern und stützen und sie sich ungestört und ohne echtes Risiko ihrer „Selbstverwirklichung“ hingeben können. Wo bleiben da der Hunger auf Gestaltung und der Reiz, Kreativität zu entfalten, wo die Versuchung, neue Grenzen auszuloten? Sind dies Eigenschaften, die wir delegiert haben an die Forscher? An die Nationen in Asien? Manchmal habe ich diesen Eindruck. Gerade weil es uns so gut geht, kümmern wir uns mehr um unsere Gesundheit als jemals. Es lohnt sich schließlich, gesund das Alter genießen zu können. Ich wünsche Ihnen allen sehr viel Erfolg dabei.

Ihr

Prof. Dr. Walter Beck Präsident

Titelseite Ein Jungbrunnen war schon immer der unerfüllbare Traum der Menschen: Im hohen Alter auf der einen Seite hinein ins heilende Wasser und auf der anderen Seite jung und gesund wieder heraussteigen. Unser Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus dem berühmten Gemälde „Der Jungbrunnen“ von Lucas Cranach dem Älteren. Das Werk von 1546 ist in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen in Berlin ausgestellt.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

3


INHALT

37

Bild: BPA

6

Aktuelles

Gesundheit

Politik & Wirtschaft

Editorial

| 3

Peter Schmalz Ausgleich und klare Werte

| 6

Kurz gemeldet

| 13

Norbert Lammert Wahrhaftigkeit und Respekt

| 8

Titelthema Gesundheit

| 37

Impressum

| 91

Vorschau Das Heft 157 hat das Titelthema Luft- und Raumfahrt: Ist die Freiheit über den Wolken grenzenlos? – Gespräch mit Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer · Europas Chancen in der Luft – Airbus-Chef Thomas Enders beim Peutinger Collegium · Im Weltall überall dabei – die Erfolgsstory von KayserThrede · Als Franz-Josef Strauß Bayern zum Zentrum der Luft- und Raumfahrt machte · Das Signal ins All – die Raumfahrt-Kommandostelle in Oberpfaffenhofen

4

Walter Beck Macht und Ohnmacht im Grundgesetz

| 9

Werner Weidenfeld Europa braucht neuen Aufbruch | 10 Martina Fietz Herrin der Baustellen

| 14

Peter Schmalz Fliegen Sie mit nach Moskau?

| 16

Das Jahr der Einheit

| 19

Hugo Müller-Vogg Oskar zu Gast

| 20

Interview mit Roland Berger Deutschland braucht eine neue Werte-Elite

| 22

Marianne E. Haas Bayerns Wirtschaft spricht Pfälzisch

| 26

Ilse Aigner Wohl bekomm’s

| 38

Paul Libera Mit Herz und Verstand

| 40

Horst Domdey Maßgeschneiderte Medikamente | 42 Siegfried Balleis Bundeshauptstadt der Medizinforschung

| 44

Michael Weiser Sinnliche Weltreise

| 46

Interview mit Eckhard U. Alt Heilung aus der Stammzelle

| 48

Henning von der Forst Steuerzahler künftig verschonen | 30 Manfred Bayerlein Jeans auf teurer Weltreise

| 34

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


INHALT

56

62

83

Gesundheit

Bayern & Kultur

Leben & Genießen

Augenlaser Gebündeltes Licht bringt scharfe Sicht

Walter Beck Sachsen-Braut schenkt den Bayern die Wiesn

Gourmet mit schneller Feder

| 83

| 62

Interview mit Christian Jürgens „Ich bin ein Gefühlstäter“

| 84

Paul Kirchhof Freude am Erfolg des anderen

| 66

Hans-Joachim Epp Petit-Paris an der Donau

| 86

Georg Fahrenschon Im Dickicht der Vorschriften

| 70

Hannes Burger Südwind-Milliarden

| 72

Gerd Sonnleitner Agribusiness – eine Branche mit Zukunft

Vorschau

| 74

Neo Rauch Doppel-Retrospektive Magisches Theater

Veranstaltungen des Peutinger Collegiums 2010/2011 | 91

| 78

Für Sie gelesen Buchbesprechungen

| 80

Weitere Themen im Heft 157: Ist die Berliner Koalition noch zu retten – Interview mit Ministerpräsident Horst Seehofer · Bayerns imposante Wirtschaftsgeschichte – ein Beitrag von Prof. Dirk Götschmann von der Uni Würzburg · Woher kommt die Menschheit – erläutert von dem Max-Planck-Wissenschaftler Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel · Gefährdet der Europäische Gerichtshof unsere Sichertheit – Analyse von Justizministerin Beate Merk

Martin Marianowicz Das Kreuz mit dem Kreuz Siegfried Gallus Gesund und regional Michael Weiser Der Schatz der Mönche Interview mit Otto Greither Heilkraft der Naturkräuter Angerhof Meeresstrand im Bayernwald

| 51

| 52

| 53

| 56

| 58

| 61

Des Porzellans kleine Schwester | 82

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Veranstaltungen des Peutinger Collegiums

| 88

Junge Peutinger heben ab

| 90

5


POLITIK & WIRTSCHAFT Peter Schmalz

Ausgleich und klare Werte

Bild: BPA

Mit Christian Wulff zieht wieder ein politischer Grundton ins Schloss Bellevue

Noch nie hatte ein Bundespräsident einen ähnlich glanzvollen Amtsantritt: Um die Mittagszeit im Bundestag vereidigt, konnte Christian Wulff schon am Abend seine Gäste zum Sommerfest im weiten Park von Schloss Bellevue begrüßen. Und will man im Wetter ein Omen sehen, dann kündigte der Himmel eine sonnige Präsidentschaft an: Mussten die Sommer-Gäste von Vorgänger Horst Köhler häufig unter Zelten und und Schirmen Schutz suchen vor niederprasselndem Regen, so erfreute sich Berlin diesmal einer warmen Sommernacht. Schon an diesem Abend konnte der neue Bundespräsident aus dem Schatten heraustreten, in den er zwei Tage zuvor durch eine rekordverdächtig lange Bundesversammlung geraten war. Ohnehin galten die überraschen vielen Abweichler-Stimmen kaum ihm, sondern sie waren in erster Linie eine Abrechnung mit Angela Merkel. Geheim und damit ohne persönliches Risiko konnte sich der Frust über die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende

6

Erste Gratulanten mit Blumen: Bundeskanzlerin Angela Merkel (li.) freut sich mit dem soeben gewählten Bundespräsidenten Christian Wulf. Mit dabei Gerda Hasselfeldt (vorn), Peter Ramsauer, Ilse Aigner, Karl Theodor zu Guttenberg und Horst Seehofer (v. li.).

austoben. Erst im dritten Wahlgang machte sich die bis dahin verborgen gebliebene kollektive Vernunft immerhin so weit bemerkbar, dass Wulff mit absoluter Mehrheit ins Amt gehoben wurde. Er hatte schließlich sogar einen beachtlichen Vorsprung von 131 Stimmen gegenüber seinen Gegenkandidaten Joachim Gauck, der in einem bis dahin einmaligen medialen Hype hochgejubelt worden war. Mit diesem respektablen Ergebnis vereinte Wulff auf sich mehr Stimmen als seine Vorgänger Köhler, Rau und Herzog. Letzterer war ebenfalls erst in einem dritten Wahlgang erfolgreich, wie auch Gustav Heinemann, der 1969 letztendlich gerade sechs Stimme vor seinem CDU-Konkurrenten Gerhard Schröder gelegen hatte. Was aber kein Hindernis dafür war, dass sich Heinemann zum Bürgerpräsidenten und Herzog zum noch heute hoch geachteten Ruckpräsidenten entwickeln konnten.


POLITIK & WIRTSCHAFT Die Worte, die Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer nach der diesmaligen Wahl fand, beschreiben einen politischen und gesellschaftlichen Glücksfall für Deutschland: „Mit Christian Wulff an der Spitze hat schon Niedersachsen beträchtlich an Gewicht gewonnen. Als ein Mann des Ausgleichs, aber auch der klaren Werte, werden von ihm wesentliche Impulse für die gesellschaftliche Entwicklung ganz Deutschlands ausgehen. Christian Wulff wird ein kraftvoller und dynamischer Bundespräsident für alle Bürgerinnen und Bürger Deutschlands sein.“

der Kommentierung und Berichterstattung frisst sich wie Säure ins Bewusstsein der Bevölkerung. Der SPD-nahe Parteienforscher Professor Franz Walter spricht von „Stänkersuaden gegen alles Parteiendemokratische“. Immerhin regen sich auch in den Zeitungen die ersten Stimmen, die den verheerenden Einfluss analysieren und zur Mäßigung mahnen.

Wenn spontan sieben von zehn Befragte meinten, Wulff werde ein guter Bundespräsident, dann gibt der frisch Gewählte bereits in seinen ersten Tagen Anlass dafür, dass diese erwartungsvolle Annahme Bestand haben könnte. In seiner Antrittsrede, die er mit einem politischen Grundton und damit deutlich entfernt von der Gauck’schen Pastoralität anlegte, sprach er als Brückenbauer, der die Stärken und Schwächen dieses „lebens- und liebenswerten“ Landes aus reichlicher politischer Verantwortung her kennt. Er ermunterte, Verantwortung zu übernehmen und weniger nach dem Trennende zu fragen, sondern mehr danach, was uns verbindet, und danach zu suchen, was wir voneinander haben. „Mir ist wichtig, Verbindungen zu schaffen“, meinte er. Den Beweis dafür hat er in höchster Landesverantwortung als niedersächsischer Ministerpräsident

Wulff fordert mehr Engagement für die Aufgabe der politischen Selbstbestimmung. längst erbracht. Ehe der Ruf ins höchste Staatsamt auch nur zu erahnen war: Er hat die erste ostdeutsche Ministerin in ein westdeutsches Kabinett berufen und er hat sich nicht gescheut, erstmals auch eine Muslimin in seine Ministerrunde aufzunehmen. Noch kennen wir nicht die Herausforderung, die die Zukunft Land und Leuten und damit neben der Regierung auch dem Bundespräsidenten stellen wird. Aber ein Thema wird seine Präsidentschaft wesentlich mitprägen. Ein Thema, das er in seiner Antrittsrede deutlich angesprochen hat: Der Vertrauensverlust der politischen Parteien. „Sie sind viel besser als ihr Ruf“, sagte er und betonte ihre Bedeutung für die politische Willensbildung sowie ihr verfassungsrechtlich verankertes Bemühen, Entscheidungen zu finden und zu treffen. Er verband diese Passage mit einem Appell: Die politisch Aktiven weniger zu kritisieren, als „vielmehr die anderen wieder stärker für die Aufgabe der politischen Selbstbestimmung zu begeistern und sie daran zu beteiligen“. Man wird von Wulff erwarten können, dass er sich bald auch der Verantwortung der Medien für das gesellschaftliche Zusammenleben annehmen wird. Die nahezu ausschließlich negative, oft herablassende und beleidigende Art

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Bild: BPA

Ein Empfinden, das – entgegengesetzt zum internetgesteuerten Mainstream – auch die Bürger spontan äußerten. Schon unmittelbar nach der Wahl erklärten in einer ARD-Umfrage 79 Prozent, sie fänden es gut, dass mit dem erst 51-jäghrigen Wulff „diesmal ein jüngerer Kandidat ins Amt gewählt wurde“. Und eine deutliche Mehrheit von 58 Prozent meinte, am Ende sei der richtige Kandidat gewählt worden. Gauck blieb abgeschlagen zurück.

Mit Christian Wulff wurde Deutschlands jüngster Bundespräsident ins höchste Staatsamt gewählt. Hier gemeinsam mit Ehefrau Bettina am Eingang von Schloss Bellevue.

Die Wahl des Bundespräsidenten Christian Wulff ließ jedoch auch zwei Blessierte zurück: Die Kanzlerin und den SPD-Chef. Sigmar Gabriel glaubte einen Triumph feiern zu können, weil er mit seinem Kandidaten Gauck vor allem die Union in Bedrängnis gebracht hatte, doch das Ergebnis war für ihn mehrfach negativ: Er konnte die Wahl des Koalitionskandidaten nicht verhindern und der einseitige Medienrummel um den SPD-Kandidaten brach nach der Wahl abrupt zusammen (merkwürdigerweise wurde erst danach die Frage diskutiert, wieso sich Gauck für dieses durchsichtige Spiel hergegeben hatte). Schwerwiegender aber war, dass die SPD erstmals die Linkspartei als Partner auf Bundesebene einbezogen und geradezu angefleht hat, im dritten Wahlgang gemeinsam mit ihr und den Grünen zu stimmen. Die weitreichenden Auswirkungen dieses Vorgangs beschreibt Hugo Müller-Vogg in seiner Kolumne auf den Seiten 20/21. Schwer angeschlagen geht allerdings auch Angela Merkel aus dieser Bundesversammlung heraus. Die hohe Zahl der Verweigerer musste ihr ein höchstes Alarmsignal sein. Die CDU fühlt sich mit ihrer Vorsitzenden nicht mehr richtig wohl, Merkels offensichtliche Führungsprobleme in der Koalition mit den beiden zänkischen Partnern FDP und CSU beunruhigt, und man registriert mit wachsendem Unbehagen den Verlust an christdemokratischem Spitzenpersonal. Als dafür Schuldige gilt die Kanzlerin. Diese signalisiert der Partei nun ein „Habe verstanden“. Sie startete eine innerparteiliche Charmeoffensive und lud Kritiker zu Gesprächen ein. Doch ob ihr dies noch hilft, aus dem Umfrageabgrund und aus dem Misstrauenssog herauszukommen, ist weit weniger sicher als die Chance des jüngsten deutschen Staatsoberhauptes, ein hoch geachteter und beliebter Bundespräsident zu werden. n Lesen Sie auf der nächsten Seite Bundestagspräsident Norbert Lammert bei der Wahl des Bundespräsidenten.

7


Wahrhaftigkeit und Respekt

Bild: BPA

nicht der sonst unverzichtbaren Mehrheitsregel zu unterwerfen. (Vereinzelt Beifall – Claudia Roth (Augsburg) (Bündnis 90/Die Grünen): Sehr gut! – Gegenruf von Sigmar Gabriel (SPD): Claudia, jetzt hast du dich geoutet! Jetzt wirst du Prinzessin! Wir haben es immer geahnt!)

Auszüge aus der Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert bei der Eröffnung der 14. Bundesversammlung, die am 30. Juni den neuen Bundespräsidenten gewählt hat: Auch der Rücktritt des Bundespräsidenten hat zwar manche Enttäuschung und einige Turbulenzen ausgelöst – alles andere als ein normaler Vorgang, aber keine Staatskrise. Diese Bundesversammlung findet statt, weil der Bundespräsident sein Amt niedergelegt hat, mit sofortiger Wirkung – ein in der Geschichte der Bundesrepublik, ja in der Demokratiegeschichte unseres Landes einmaliger Vorgang. Diese Entscheidung und ihre Gründe haben wir zu respektieren, auch wenn viele von uns sie noch immer nicht wirklich verstehen können. Der überraschende Amtsverzicht hat in der Öffentlichkeit manche Fragen aufgeworfen, die nach Antworten suchen. Er hat zugleich – jedenfalls nach meiner Wahrnehmung – eine Nachdenklichkeit erzeugt, die allen direkt und indirekt Beteiligten Anlass auch zur selbstkritischen Befassung mit ihrer eigenen Rolle und zum Umgang mit öffentlichen Ämtern gibt. Dies gilt für Amtsinhaber wie Bewerber, für politische Parteien wie für die Medien. Das Amt des Bundespräsidenten halten manche Kommentatoren für einen „besonderen Glücksfall“ unserer Verfassung, andere bezeichnen es als „das vielleicht schwierigste Amt, das in der Bundesrepublik zu vergeben ist“. Beides ist wohl richtig. Die Erwartungen an den Bundespräsidenten hat die Präsidentin der 9. Bundesversammlung, Rita Süssmuth, am 23. Mai 1989 folgendermaßen beschrieben: Der Bundespräsident habe die Aufgabe ,… durch sein Wort und kraft seiner Persönlichkeit zu verdeutlichen, dass neben den geteilten Gewalten und unabhängig von den widerstreitenden Kräften in Regierung und Opposition in der Demokratie eine Basis der Gemeinsamkeit besteht, die alle verbindet. Deshalb kann und soll der Präsident klärend, versöhnend und friedensstiftend wirken. Er kann so Mittler im System der Gewaltenteilung sein.

Das Grundgesetz hat sich für ein Wahlamt entschieden: Der Bundespräsident wird für fünf Jahre gewählt. Das Amt des Staatsoberhauptes unterliegt damit genau denselben Regeln demokratischer Legitimation wie jedes andere öffentliche Amt. Für alle demokratischen Wahlämter gilt: Die Person prägt das Amt, aber sie geht nicht in ihm auf, so wenig wie das Amt sich durch den jeweiligen Amtsinhaber definiert. Mit diesem keineswegs banalen Spannungsverhältnis müssen der Amtsinhaber wie die Öffentlichkeit leben – beide tun sich damit nicht immer leicht. Die Übernahme eines Amtes macht aus der Person keinen Würdenträger, aber mit der Annahme der Wahl eben mehr als eine Privatperson. Das hat Folgen für die Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und Funktionen. Niemand muss öffentliche Ämter übernehmen. Wer kandidiert und gewählt wird, übernimmt allerdings eine Verantwortung, die er mit aller Kraft, nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen hat. Niemand von uns steht unter Denkmalschutz, weder die Parlamente noch die Regierungen, nicht einmal das Staatsoberhaupt. Kritik muss sein, aber den Anspruch auf „Wahrhaftigkeit und Respekt“ hat Bundespräsident Köhler mit vollem Recht nicht nur für sich, sondern für die politische Kultur unseres Landes im Ganzen reklamiert. n

Privatklinik Jägerwinkel Jägerstraße 29 83707 Bad Wiessee Fon +49 (0)8022 - 819 - 0 info@jaegerwinkel.de www.jaegerwinkel.de

First Class Medizin am Tegernsee Sie leiden an chronischen oder akuten Rückenschmerzen? Wollen nach einer Verletzung oder Operation schnell wieder fit werden? Fühlen sich von Job und Alltag überfordert? Oder möchten erst gar nicht krank werden? Dann sind sie bei uns gut aufgehoben. Gesundheit und Wohlbefinden gehen im Jägerwinkel Hand in Hand, vom Präventions-Check-up über die Burn-Out-Therapie bis hin zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Problemen oder orthopädischen Erkrankungen.

„Mittler im System“. Der Bundespräsident ist Teil des Verfassungsgefüges. Auch die Bundesversammlung ist ein Teil unseres politischen Systems. In einigen westlichen Demokratien ist die staatliche Spitze durch eine erbliche Monarchie besetzt, mit dem durchaus beachtlichen Argument mancher Staatsrechtler, es sei klug, auch und gerade in einer Demokratie das Amt des Staatsoberhauptes dem Ehrgeiz der Parteien und gesellschaftlichen Gruppen zu entziehen und

8

www.jaegerwinkel.de


Walter Beck

Macht und Ohnmacht im Grundgesetz Bundeskanzler können zu lange bleiben, Bundespräsidenten sollten länger präsentieren Der überraschende Rücktritt von Horst Köhler hat wieder einmal Schlaglichter auf die Stellung des ersten Mannes im Staat nach unserem Grundgesetz geworfen. Es ist Gemeingut: Der Bundespräsident hat wenig Gestaltungsmacht kraft Amtes. Seine Kraft kommt aus seiner Person und seiner Fähigkeit, für das deutsche Volk ein Kristallisationspunkt zu sein – neben den Parteien. Unabhängig von den in jeder Demokratie notwendigen und üblichen Auseinandersetzungen der demokratischen Parteien, die leider immer gleich negativ mit „Streit“ betitelt werden, hat er die Möglichkeit und die Aufgabe, die emotionale, aber auch die rechtliche Lage in Deutschland zu artikulieren und wortgewaltig zu gestalten. Er wirkt durch das Wort. Nur durch das Wort? Wenn man bedenkt, wie viel „nur durch das Wort“ bewegt wurde, dann ist diese Einschränkung schwierig. Das Christentum ist nur durch das Wort entstanden. Auch der Kommunismus hat sich entfacht durch das Wort, durch das schriftliche Wort, nicht durch Machtentscheidung. Die großen Ideen der Welt sind Ideen, die aus dem Wort geboren wurden. Das Wort ist also Macht, wenn auch meist nicht kurzfristig, sondern auf lange Sicht gesehen. Unser Grundgesetz hat die Verteilung der Macht geregelt – und zwar falsch. Amtsdauer und Macht müssen sich in einer Demokratie

Zwölf Jahre für einen Bundeskanzler sind genug. gegenseitig verschränken. Wer viel Macht hat, darf nur vergleichsweise kurz reagieren. Wer wenig Macht hat, der mag länger im Amt bleiben. Historisch sicher verständlich, hat das Grundgesetz einen ganz entscheidenden Fehler begangen: Es hat dem Bundeskanzler, der wirklich Macht hat, eine theoretisch unbegrenzte Amtsdauer erlaubt. Der Bundespräsident wiederum, der gerade aus der Erfahrung der Weimarer Republik heraus völlig machtlos ist, kann nur zweimal gewählt werden mit einer Amtsdauer von insgesamt 10 Jahren. Diese Entscheidung ist falsch. Sie beschädigt das Amt des Bundeskanzlers und Ansehen des Amtsinhabers auf der einen Seite und verwehrt auf der anderen Seite dem Bundespräsidenten, eine doch wünschenswerte emotionale Rolle in Deutschland zu spielen. Macht wird auf Zeit verliehen und braucht ihre Grenzen. Unsere Bundeskanzler haben das in der Regel übersehen und haben ihren Machtzeitraum verspielt. Konrad Adenauer und Helmut Kohl sind besondere Beispiele dafür, dass die Amtsinhaber praktisch „aus dem Amt geekelt wurden“. Ähnlich ist es in den Ländern mit Lothar Späth, Kurt Biedenkopf oder Edmund Stoiber. Freilich gibt es wie immer mehrere Gründe dafür. Aber entscheidend war auch immer die Tatsache, dass sie das Amt zu lange ausgeübt hatten. Wer selbst Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

an der Macht ist, will auf diese Droge nicht freiwillig verzichten. Auch das ist menschlich nachvollziehbar. Die Amtsinhaber bekommen auch von ihrer unmittelbaren Umgebung meistens Illusionen geliefert über den tatsächlichen Zustand. Wer hat schon den Mut, seinem Chef zu sagen, dass er abtreten muss? Deshalb müsste das Grundgesetz eine Regelung vorsehen und die Amtszeit des Machtinhabers begrenzen. 12 Jahre für einen Bundeskanzler sind wirklich genug. Eine solche Grenze schützt die Macht, schützt aber auch die Institution und den Inhaber. Die Bevölkerung und die politischen „Freunde“ brauchen so nicht nach versteckten Angriffen suchen, nach hinterhältigen Tricks, die Familie mit hineinziehen (wie bei Biedenkopf), um den Amtsinhaber zu vergraulen. Er kennt die Grenzen und kann sich darauf einstellen. Das funktioniert. Amerika beweist es (in diesem Bereich durchaus ein Vorbild). Umgekehrt ist es beim Bundespräsidenten: Gerade weil er so wenig Macht hat, kann er nur über die Repräsentanz wirken. Das braucht viel mehr Zeit als die Machtausübung beim Kanzler. Wenn eine Republik deshalb nach einer „Figur“ sucht, der man als Symbol problemlos zustimmen kann, dann ist das der Bundespräsident. Gerade weil er keine Entscheidungen treffen kann, steht er auch selten im Kreuzfeuer der Kritik. Er eignet sich daher in hervorragender Weise, ein Symbol für die Demokratie zu sein. Diese Symbolkraft wird aber dem Bundespräsidenten verwehrt, weil er gegenwärtig nicht genug Zeit hat, um sich wirklich entsprechend darzustellen. Es mag ja sein, dass ein Bundespräsident, der einmal 20 Jahre regiert hätte, auch ein Machtsymbol darstellt und auch einen Machtzuwachs hat, der über die juristischen Grenzen hinausgeht. Das ist aber immer noch sehr wenig im Vergleich zu der tatsächlichen Machtfülle des Bundeskanzlers. Deshalb sollte die Amtsdauer des Bundespräsidenten auf bis zu 20 Jahre ausgedehnt werden. Das dient den Bürgern, dem Amt und der Person. Voraussetzung dafür ist aber vor der Wahl eine intensive Diskussion darüber, wie der künftige erste Mann Deutschland nach außen hin repräsentiert: Mit seiner Fähigkeit, die Sprache einzusetzen; mit seiner Fähigkeit, für Deutschland zu sprechen. Das sind gewiss keine schlechten Auswahlkriterien. n

Prof. Dr. Walter Beck ist Präsident des Peutinger Collegiums und Herausgeber des Bayerischen Monatsspiegel. Er wurde 1942 in München geboren und ist seit 1972 als selbständiger Anwalt tätig, erst in München und inzwischen in Gmund (Tegernsee). Seit 2004 hat er an der LMU München einen Lehrauftrag für „Juristische Rhetorik“.

9


POLITIK & WIRTSCHAFT Werner Weidenfeld

Europa braucht einen neuen Aufbruch Politische Führung und strategische Köpfe sind gefragt

Wie Odysseus bei Homer über das Meer, so irrt Europa heute durch die Finanzkrise.

10


POLITIK & WIRTSCHAFT Seit geraumer Zeit ist die politische Oberfläche Europas von Turbulenzen geprägt. Eine Krise, eine Sondersitzung jagt die nächste. Hektik, Hysterie, ja Panik werden zu den begrifflich adäquaten Zeitzeichen. Ein Währungsproblem wird zur Existenzfrage Europas stilisiert. Rhetorisch steht das Schicksal Europas auf dem Spiel. Viele fürchten, Europa werde zerbrechen. Der Ausruf „Europa am Scheideweg“ wird in das Standardarsenal von Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgenommen. Auch die medialen Zuspitzungen sind interessant: „Die EU zerstört wertvolles Vertrauen“, „Nachrichten vom Hühnerhaufen“, „Viele Gewissheiten geraten ins Wanken“ und dann trostreich „Europa ist noch nicht am Ende“. Der berühmte Philosoph Jürgen Habermas sieht sich zum Ausruf genötigt: „Wir brauchen Europa!“ Das Ausrufezeichen will er wohl besonders groß gedruckt sehen. Hinter dem Alptraum der Währungskrise geraten spektakuläre Regierungswechsel, die sonst unsere Aufmerksamkeit gebannt hätten, in den Hintergrund: In Ungarn ist eine rechte Regierung wieder ins Amt gekommen – begleitet von einem großen Wahlerfolg einer rechtsextremen Partei. In Großbritannien ist erstmals seit Kriegsende eine Koalitionsregierung im Amt. Die Europa-distanzierte Partei der Konservativen verbindet sich mit der europafreundlichen Partei der Liberaldemokraten. Man blickt gespannt auf das künftige politische Ergebnis einer solch ungewöhnlichen Konstellation. Aber in Zeiten der Währungskrise kann dies nur im Hintergrund öffentlicher Aufmerksamkeit Europas stehen.

Europa verstehen Der Autor nennt den roten Band ein Lehrbuch und hat ihn auch so angelegt: In der Reihe „Grundzüge der Politikwissenschaften“ erklärt Werner Weidenfeld den faszinierenden Vorgang der europäischen Einigung während der vergangenen 60 Jahre, erläutert die Europäische Union und gibt schließlich mit fünf Szenaren von „Titanic“ bis „Supermacht“ den Ausblick in eine mögliche Zukunft. Als sich der Münchner Politologe an die Arbeit gemacht hat, konnte er nicht ahnen, wie hochaktuell und lehrreich sein Buch beim Erscheinen sein werde: Dem Studenten ist es unentbehrliches Lernmaterial und dem Laien hilft es, mehr zu verstehen vom Sinn und Zweck dieser historisch einmaligen Union – von ihrem komplizierten Aufbau, von ihren Institutionen und ihren Aufgaben. Zwei Dutzend Infokästen geben auch dem Eiligen einen guten Überblick. Es ist kein Krisen-Buch, aber ein Buch, das hilft, auch in der Krise den besseren Überblick zu wahren. PS.

Werner Weidenfeld Die Europäische Union Wilhelm Fink/UTB Verlag 222 Seiten, 14,90 Euro

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Vor drei Jahrzehnten steckte die Europäische Integration schon einmal in einer tiefen Krise. Damals fanden Kanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand in Jacques Delors den mutigen und begabten politischen Kopf, der Europa zu einem neuen Aufschwung verhalf.

Die Nervosität des Kontinents war bereits zu registrieren, als der Anlass noch höchst bescheiden war: Haushaltsdebakel in Griechenland. Ein Land geriet in Schwierigkeiten, das weniger Einwohner hat als der Freistaat Bayern. Kann die Stabilität des Euro wirklich in Gefahr geraten durch ein Land, das mit 2,5 Prozent nur einen höchst bescheidenen Beitrag zur Gesamtwirtschaftsleistung Europas beiträgt? Dann aber tauchte dahinter die Furcht vor einem Dominoeffekt auf: Griechenland könnte ja kein Einzelfall bleiben. Es könnte auch Irland, Spanien, Portugal, Italien erfassen. Auch Deutschland und Frankreich sind nicht wirklich sakrosankt. Immerhin haben beide vor einigen Jahren zu einer Neu-Interpretation der Stabilitätskriterien Zuflucht suchen müssen. Es steht so viel auf dem Spiel. Existentielle Befürchtungen sind greifbar. Wenn die Währungsunion scheitert, dann scheitert Europa – so äußern sich nicht nur die Spitzenpolitiker. Angesichts dieser Aufgeregtheit, Verwirrung, Verstörtheit, Verängstigung – was wird nun aus Europa? Stehen wir am Beginn einer historischen Tragödie? Ein kühler Blick auf den Kontinent ist notwendig und angemessen: zunächst wurde – mal geschickter, mal ungeschickter – ein Krisenmanagement praktiziert. Mit Sicherheitszusagen über 750 Milliarden Euro wurde eine Stabilitätskulisse aufgebaut. Sie verschafft eine Atempause. Die strukturellen Reformen stehen noch an. Der Lernprozess über notwendige Reformen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion geht weiter – eigentlich kontinuierlich seit dem Vertrag von Maastricht. Die Währung kann nicht auf Dauer stabil bleiben ohne haushaltspolitischen und wirtschaftspolitischen Rahmen. Dies wird nun nachgelegt. Der Euro, neben dem US-Dollar die weltführende Währung, erhält damit eine angemessene Fundierung. Ohne diese Grundlagen kann eine solche Währung nur in Schönwetter-Zeiten blühen. Europas Macht und Verantwortung wird also wachsen. Aber wie wird der Kontinent dies organisieren? Europa hat in der Wahrnehmung seiner Bürger große Bedeutungsschübe erhalten. Die Krise ist weder Anlass zu

11


POLITIK & WIRTSCHAFT Hohe Staatsverschuldung der EU-Länder (in Prozent vom BIP)

Belgien Bulgarien Tschechien Dänemark Deutschland Estland Irland

96,7 % 14,8 % 35,4 % 41,6 % 73,2 % 7,2 % 64,0 %

Griechenland 115,1 % Großbritannien 68,1 % Spanien 53,2% Frankreich 77,6% Italien 115,8% Zypern 56,2% Lettland 36,1%

Litauen Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Österreich Polen

29,3% 14,5% 78,3% 69,1% 60,9% 66,5% 51,0%

Portugal Rumänien Slowenien Slowakei Finnland Schweden

76,8% 23,7% 35,9% 35,7% 44,0% 42,3%

Stand: Mai 2010

Fluchtbewegungen aus Europa noch Anlass zu revolutionären Re-Nationalisierungen geworden. Vielmehr haben die Europäer erkannt, dass der klassische Nationalstaat zur Klärung der internationalen Herausforderungen viel zu klein ist – von Währung über Handel bis Klimaschutz. Der Blick auf globale Lösungen aber hilft auch nicht – zu diffus, zu unscharf. Da bietet Europa die adäquate Größenordnung. Hier haben fast 500 Millionen Menschen ihr Zusammenleben politisch organisiert.

Europa braucht zum Aufbruch eine große historische Aufgabe. Es könnte die Neu-Organisation der Sicherheit oder die Vollendung des Binnenmarkts sein. Der Binnenmarkt wurde als strategisches Thema genommen. Das bedeutete die mehrjährige Umsetzung von fast 300 Gesetzeswerken. Die Öffentlichkeit wurde überzeugt durch die Daten und Argumente des umfangreichen Cecchini-Reports. Der eingeschlagene Kurs wurde politisch über etliche Jahre durchgehalten.

Europa bietet das angemessene Forum, die großen Herausforderungen anzugehen.

Aus diesem gelungenen Beispiel können wir für unsere gegenwärtigen Herausforderungen lernen: Wir brauchen starke politische Führungsfiguren und strategische Köpfe. Wir müssen die notwendigen Schritte strategisch erklären und vertrauensbildend durchhalten.

Die Union ist handlungsfähig und verfügt über Weltmachtpotential. Also bietet Europa das angemessene Forum, die großen Herausforderungen anzugehen. In der Perzeption der Europäer befindet sich Europa als System nicht in einer existentiellen Schwierigkeit. Eine Legitimationskrise des Einigungswerkes ist bisher nicht ausgebrochen. Aber wie sollte man die großen Zukunftsschritte nun angehen? Es gibt ein historisches Beispiel, aus dem interessante Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre befand sich die Europäische Integration in der Ära eines tiefen Niedergangs. „Eurosklerose“ wurde zum Schlüsselbegriff der Lagebeschreibung. Europa konnte mit den dynamischen Märkten nicht mehr mithalten. Es erschien erschöpft, gleichsam ein Ausschnitt aus dem Museum. Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterand erkannten die dringende Notwendigkeit eines strategischen Aufbruchs. Dazu bedurfte es eines entsprechend begabten politischen Kopfes. Sie fanden ihn: Jacques Delors. Er war starker französischer Finanzminister. Die meisten sahen in ihm den künftigen französischen Staatspräsidenten. Er aber nahm die Herausforderung Europa an. Zunächst teilte er den Staats- und Regierungschefs mit, er müsse nun strategisch nachdenken. Nach einigen Monaten trug er sein Ergebnis vor.

12

Jürgen Habermas legt den Finger in die offene politische Wunde unserer Zeit. Er kritisiert „eine normativ abgerüstete Generation, die sich von einer immer komplexer werdenden Gesellschaft einen kurzatmigen Umgang mit den von Tag zu Tag auftauchenden Problemen aufdrängen lässt. Sie verzichtet im Bewusstsein der schrumpfenden Handlungsspielräume auf Ziele und politische Gestaltungsabsichten, ganz zu schweigen von einem Projekt wie der Einigung Europas.“ Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Europas Politik muss das Erklärungsdefizit eliminieren. Es ist viel mehr Zeit und Kraft auf die Erläuterung zu richten. Wer die Deutungshoheit gewinnt, der gewinnt auch die Zukunft. n Prof. Dr. Dr. h. c. Werner Weidenfeld, 1947 in Cochem an der Mosel geboren, ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der vielfach ausgezeichnete Politikwissenschaftler war Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, lehrte an der Sorbonne in Paris und ist ständiger Gastprofessor an der Renmin Universität in Peking.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


AKTUELLES

Landkreise fordern Verwaltungsreform

Kantine kocht für die ganze Familie

Als Zukunftsmotoren versteht Dr. Jakob Kreidl die bayerischen Landkreise, die jedoch nur auf Touren kommen könnten, wenn sie über gestalterische und finanzielle Spielräume verfügen. Der engagierte Landrat von Miesbach kann diese nun von einer hohen Position aus einfordern: Kreidl wurde mit überzeugender Mehrheit zum Präsidenten des Bayerischen Landkreistags gewählt. Er tritt die Nachfolge von Theo Zellner an, der zum neuen bayerischen Sparkassenpräsidenten aufgestiegen ist. Kreidl fordert anstelle von „Verwaltungsreförmchen“ einen „großen

Für die Versicherungskammer Bayern bestimmt ein wohltönender Dreiklang das vergangenen Geschäftsjahr: Das Beitragswachstum liegt mit einem Plus von 6,4 Prozent (auf 6,27 Milliarden Euro) über den meisten Mitbewerbern; die Kosten konnten um 2,2 Prozent gesenkt werden; der Jahresüberschuss stieg um über 80 Prozent (auf 136 Millionen Euro), die Reserven wuchsen um 55 Prozent. „Wir haben im Geschäftsjahr 2009 unsere Erwartungen übertroffen“, bilanzierte Vorstandschef Friedrich Schubring-Giese. Spitze ist der Versicherungskonzern, der Teil der Finanzgruppe der Sparkassen ist, auch als Arbeitggeber. 329 Berufseinsteiger werden aktuell ausgebildet, in diesem Jahr sollen nochmals 40 zusätzlich eingestellt werden. Und das 2009 erhaltenen Zertifikat „berufundfamilie“ zeigt Wirkung: Um berufstätige Mutter und Väter zu entlasten, gibt es nun „Essen to go“, wodurch Mitarbeiter für ihre Familien frisch und transportgerecht verpackte Mahlzeiten für alle mit nach Hause nehmen können. Schubring-Giese sieht darin einen doppelten Erfolg: Die Mitarbeiter werden entlastet und sind motivierter bei der Arbeit.

Foto: Kreisbildstelle Miesbach

Wurf“. „Schlanke Verwaltungsabläufe, mehr Bürgernähe und die Einsparung von Finanzmitteln werden das Verdienst einer wirklichen Verwaltungsreform sein“, betont der CSU-Politiker und nennt Baden-Württemberg als Beispiel.

Zitate: „Die ewige Dauer des Staates erfordert es, alle hundert Jahre den Staatsbankrott zu erklären, damit der Staat seine Bilanzen wieder in Ordnung bringe.“ Abbé Terray, französischer Finanzminister unter Ludwig XV. im 18. Jahrhundert

„Dieser Staat ist ein Diebesstaat. Griechenland ist kein modernes Land. Es ist eine Kombination von Klientelwirtschaft und altmodischem Sozialismus.“ Propfessor Yannis Stournaras, Athener Ökonom und griechischer Chefunterhändler bei der Euro-Einführung

„Twitter ist für mich einfach nur dumm, und die Menschen, die das nutzen, sind für mich Idioten.“ Wolfgang Grupp, deutscher Erfolgs-Unternehmer (Trigema)

„Mit dieser Wahl haben wir eigentlich den Weltrekord in Demokratie gebrochen.“ Mahmud Ahmadineschad, iranischer Präsident, zur gefälschten Wahl vor einem Jahr

Bild: Martin Kirster

Olympiasiegerin in der Kletterwand Die strahlenden Olympiasieger von Vancouver mal anders: Statt Rodel, Bob oder Langlauf war diesmal ein militärisches Ausbildungslager an der Infanterieschule in Hammelburg die Herausforderung, der sich rund 25 Spitzensportler der Bundeswehr-Sportfördergruppe aus dem oberbayerischen Bischofswiesen stellen mussten. Im Kampfanzug mühten sich auf der Hindernisbahn unter anderem Skilanglauf-Olympiasiegerin Evi Sachenbacher-Stehle (auf unserem Bild in der Kletterwand) und die Medaillengewinner Skilangläufer Tobias Angerer, Rennrodler Alexander Resch und Bobfahrer Richard Adjei. Mit dabei waren auch Rodlerlegende Georg Hackl und Christoph Langen, als einer der erfolgreichsten Bob-Piloten der Olympiageschichte. Die Bundeswehr ist der größte Förderer des Spitzensports in Deutschland und unterstützt dabei Athleten in der Ausübung ihres Sports. Von den 153 Wintersportlern aus Deutschland waren 63 Sportsoldaten der Bundeswehr, die neben Angehörigen der Spitzensportförderung des Bundesinnenministeriums rund Zweidrittel der 30 deutschen Medaillen in Vancouver gewonnen haben. OR.

„"Wir dürfen die Bundeswehr nicht zu Grabe tragen, sondern müssen ihre Zukunfts­ fähigkeit gestalten.“ Karl-Theodor zu Guttenberg, Bundesverteidigungsminister, zu den gewaltigen Reformplänen, die der CSU-Politiker anpackt.

Internet: www.bayerischer-monatsspiegel.de

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

13


POLITIK & WIRTSCHAFT Martina Fietz

Herrin der Baustellen

Angela Merkel verliert profilierte Köpfe und behält die Probleme

Angela Merkel schloss sich kürzlich der Alltags-vermutung an, man wachse mit seinen Aufgaben. Gemessen daran müsste die Kanzlerin es bald auf 2,50 Meter bringen. Denn obwohl der neue Bundespräsident Christian Wulff heißt, sind die Probleme für Merkel nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: Die quälend lange Bundesversammlung offenbarte eine Unzufriedenheit im schwarzgelben Lager, die die Frage nach der Autorität des Führungspersonals aufwirft. Das betrifft Horst Seehofer und Guido Westerwelle. Das geht aber vor allem an die Adresse der Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden. Angela Merkel hat noch viele Baustellen zu bearbeiten. Eine davon betrifft ihr eigenes Haus, die CDU. Da ist viel an Überzeugungsarbeit zu leisten. Der Parteivorsitzenden muss gelingen, die in sich im Grunde gespaltene CDU zu einen. Denn es existieren zwei

14


POLITIK & WIRTSCHAFT Lager: da sind die Merkel-Anhänger und die Merkel-Skeptiker. Letztere fühlen sich derzeit einmal mehr verunsichert. Denn mit Roland Koch, Christian Wulff, Jürgen Rüttgers und Ole von Beust verliert die Partei drei ihrer bekannten Gesichter. Drei von Ihnen stehen für die traditionelle CDU, für die Linie, die sich seit der Gründungszeit unter Konrad Adenauer bis hin zu Helmut Kohl zog. Auch wenn sie gesamtdeutsch aufgestellt waren, so repräsentierten sie immer die westdeutsche CDU. Blicken ihre Anhänger nun auf die Partei, sehen sie als einzig verbliebene Persönlichkeit mit politischem Gewicht Angela Merkel. Nach dem Rückzug von Koch tauchte kurzzeitig das Gerücht auf, die Männer in der CDU, die in ihren Karrierevorstellungen an dem Durchbruch der Quereinsteigerin aus dem Osten gescheitert waren, hätten sich zum gemeinsamen Rückzug

Die Nachwuchs-Talente der CDU müssen erst noch Profil gewinnen. verabredet, um Merkel auf diese Weise zu schaden. Für ein solches Komplott fehlt aber die Grundlage. Erstens, weil die so genannten Kronprinzen sich zwar stets in den Zielen, nie aber in den Mitteln einig waren. Und zweitens, weil vor allem Rüttgers nicht freiwillig geht. Der Effekt aber bleibt der gleiche: Die CDU wird durch diese Personalwechsel geschwächt. Auch das wurde der Union am Tag der Bundesversammlung schmerzlich spürbar, als nämlich Roland Koch derjenige war, der mit einer Rede vor dem dritten Wahlgang zu weitgehender, dringend benötigter Geschlossenheit der Delegierten führte. Neben der Vorsitzenden, die für eine Modernisierung der CDU steht, für einen Kurs, den Teile der Partei äußerst kritisch betrachten, stand bislang Koch, den die Konservativen als Garant dafür ansahen, dass ihre Interessen gewahrt werden. Rüttgers verkörperte stets jenen Teil der Basis, der aus der christlich geprägten Arbeitnehmerschaft hervorging. Und Wulff galt beiden Flügeln als denkbarer Ersatzkanzler und Vorsitzender für den Fall, dass es mit Merkel absolut nicht weiterginge. Hier entsteht nun ein Vakuum. Denn die CDU hat (noch) keine politischen Köpfe, die diese Lücken schließen können. Als prominenteste Nachfolgerin dürfte Ursula von der Leyen in die Position der stellvertretenden Parteivorsitzenden aufrücken. Sie ist in der Öffentlichkeit äußerst beliebt, wird aber in weiten Teilen der CDU wegen der von ihr

Eine schwierige Wegstrecke liegt hinter der Bundeskanzlerin, doch auch voraus hat Angela Merkel an vielen politischen Baustellen zu arbeiten.

umgesetzten – und gesellschaftspolitisch auch erforderlichen – Modernisierung der Familienpolitik nicht uneingeschränkt gemocht. In der Reihe der Jüngeren sind etliche mit politischem Talent: Norbert Röttgen, David McAllister, Stefan Mappus, Armin Laschet. Aber sie alle müssen erst noch an Profil gewinnen. Sie sind bislang bundespolitisch noch keine CDU-Selbstläufer, die selbstverständlich das Image der Partei prägen. Neben der Sorge um die Statik im eigenen Haus muss Merkel im Blick haben, dass ihre Koalitionspartner wanken. Das größte Problem liegt ohne Zweifel bei der FDP. Die war so von der Sorge getrieben, als Umfallerpartei dazustehen, dass sie an irrational erscheinenden Wahlversprechen auch noch festhielt, als die Bevölkerung längst ganz andere Sorgen plagten. Obendrein hat Guido Westerwelle seine Rolle noch nicht gefunden – weder als Vorsitzender einer Regierungspartei noch als Außenminister. Die FDP hält zwar an ihm fest, aber mehr aus Dankbarkeit für vergangene Erfolge und aus Mangel an personeller Alternative. Denn auch hier gilt, dass die Nachwuchskräfte Christian Lindner und Philipp Rösler erst noch ihr bundespolitisches Profil schärfen müssen. Doch auch die CSU ist ein Problem für Merkel. Horst Seehofer ist vor allem in einem eine verlässliche Größe: dass man sich auf ihn nicht verlassen kann. „Mir san mir“, war schon immer das Leitmotiv der CSU. Nun kommt allerdings hinzu, dass sich täglich ändern kann, was den Kern von „Mir“ ausmacht. Wenn also drei in sich instabile Parteien gemeinsam regieren wollen, ist viel Disziplin nötig. Die ließ in der Vergangenheit oft zu wünschen übrig. Die Wahl Wulffs sollte ein erstes Zeichen dafür werden, dass man fortan Disziplin aufbringen wird. Das Signal war nicht überzeugend. Allerdings: Man habe in den Abgrund geschaut, heißt es in Koalitionskreisen. Im Kabinett und darüber hinaus sei den Hauptbeteiligten klar geworden, dass diese bürgerliche Koalition in der breiten Öffentlichkeit wie in der eigenen Anhängerschaft bereits als gescheitert angesehen wurde. Es bleibt keine Alternative zur Zusammenarbeit. Denn die Herausforderungen sind groß: Haushaltkonsolidierung und Gesundheitsreform, Euro-Krise, Stabilisierung und Regulierung des Finanzmarkts sowie der Bundeswehreinsatz in Afghanistan sind nur einige Stichworte. Machtworte wird man von Merkel nicht hören. Denn nicht zu Unrecht sähe sie sich geschwächt, sollten diese Machtworte folgenlos verhallen. Sie kann allein auf den politischen Selbsterhaltungstrieb aller Beteiligten setzen, dabei allerdings muss sie die Richtung vorgeben. n

Martina Fietz war Parlamentarische Korrespondentin der Tageszeitung Die Welt und Chefkorrespondentin der Welt am Sonntag. Seit 2004 war sie Parlamentarische Korrespondentin des Debattenmagazins Cicero. In gleicher Funktion arbeitet sie jetzt für Focus-online.

15


POLITIK & WIRTSCHAFT Peter Schmalz

Fliegen Sie mit nach Moskau? Vor 20 Jahren: Angela Merkel lädt ein zum Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrags – Die Welt bekommt eine neue Ordnung An einem warmen Tag Anfang September fragt Angela Merkel: „Wollen Sie mitkommen nach Moskau?“ Die junge Frau trägt Wickelrock und dient der Deutschen Demokratischen Republik auf ihrer letzten Strecke. Lothar de Maizière, der erste frei gewählte und zugleich letzte DDR-Regierungschef, hat sie angeheuert als stellvertretende Regierungssprecherin. Das staatliche Informationsamt in der Berliner Mohrenstraße, wo ZK-Mitglied Günter Schabowski am 9. November des vergangenen Jahres in einer verzettelten Pressekonferenz den spontanen Sturz der Mauer provoziert hatte, ist ihr Aktionsfeld. West-Journalisten schätzen ihre forsche, mit flinkem Witz gewürzte Art. In diesem Sommer 1990 wird mit Hochdruck an der Brücke gebaut, auf der sich die DDR nach vier Jahrzehnten unter SED-

Moskau, 13.September 1990: Sechs Außenminister machen den Weg zur deutschen Einheit frei. Als erster unterschreibt Hans-Dietrich Genscher den Zweiplus-Vier-Vertrag (rechts), links neben ihm DDR-Ministerpräsident (und zugleich Außenminister) Lothar de Maizière, Roland Dumas (Frankreich), Eduard Schewardnadse (UdSSR), Douglas Hurd (Großbritannien) und James Baker (USA). Hinter Dumas steht der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow.

16

Bild: BPA

2010 ist ein Jahr der Erinnerung: Vor 20 Jahren nutzte Bundeskanzler Helmut Kohl mit großem politischen Geschick die einmalige historische Chance, das seit Ende des Krieges geteilte Deutschland in die Einheit zu führen. Am 3. Oktober 1990 war Deutschland wieder ein geeintes Land. Der Weg dorthin führte über zahlreiche wichtige Ereignisse: Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 die erste freie Wahl der DDR-Volkskammer im März 1990, im August der Einheitsvertrag, ausgehandelt von Wolfgang Schäuble und Günther Krause, und schließlich im September der Zwei-plus-Vier-Vertrag, mit dem die früheren Siegermächte die völkerrechtliche Basis zur Einheit schufen. Unser Bericht schildert die entscheidende Stunden am 13. September 1990 in Moskau.


POLITIK & WIRTSCHAFT Knechtschaft mit der Bundesrepublik zur deutschen Einheit treffen soll. Vor gut einer Woche haben Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Unterhändler Günther Krause im ehemaligen Kronprinzenpalais Unter den Linden, dem Geburtshaus zweier deutscher Kaiser, den blau eingebundenen Einigungsvertrag mit einem goldenen Füller unterzeichnet. Ob er schon einmal einen so wichtigen Vertrag unterschrieben habe, frage ich Schäuble. „Nein, ich denke nicht“, antwortet er spontan, stutzt aber einen Moment und fügt schnell hinzu: „Obwohl, die Unterschrift unter der Eheschließung...“ In Moskau ist Schäuble nicht dabei. Wir starten am 12. September vom Regierungsteil des Schönefelder Flughafens aus, die Interflug-Maschine war vor kurzem noch Erich Honeckers Dienstflugzeug. Jahre später wird sie beim Zusammenstoß mit einer amerikanischen Frachtmaschine nahe Südafrika in den Atlantik stürzen. Lothar de Maizière ist die Anspannung dieser Reise anzumerken. Der schmächtige Mann mit dem weißen Bärtchen ist Ministerpräsident, doch er steigt als Außenminister ins Flugzeug. Das ist sein Zweitjob, seit in der Volkskammer die Koalition mit der SPD geplatzt war. Nun fliegt er in die noch sowjetische Hauptstadt, um dort mit fünf Außenminister-Kollegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag zu unterzeichnen. Der Vertrag vom 13. September 1990 bedeutet das Ende der Nachkriegszeit und gibt der Welt eine neue Friedensordnung. Im Hotel „Roter Oktober“, einem streng gesicherten Tagungskomplex im Besitz des sowjetischen Zentralkomitees, hatten die RGW-Staaten fünf Jahre zuvor den ein wenig zu hoch gegriffenen Beschluss gefasst, bis zum Jahre 2000 den Westen wirtschaftlich zu überholen. Die Weltgeschichte hatte einen anderen Weg geplant, und nun steht Michael Gorbatschow in der zweiten Reihe hinter den Außenministern, plaudert angeregt mit seinem Deutschland-Spezialisten Julij Kwizinskij. Er wirkt entspannt, ein wenig behaglich geradezu. Wie einer, dem eine schwere Last von den Schultern genommen wurde. Der Staatspräsident und Generalsekretär der KPdSU war einer der

Gorbatschow wirkt wie von einer großen Last befreit. Ersten, der sich die Absurdität des anmaßenden RGW-Beschlusses eingestanden hatte. Schon zweieinhalb Jahre früher hat er im vertraulichen Gespräch mit Franz Josef Strauß im Kreml eingeräumt, dass die Sowjetunion den Wettlauf mit dem Westen um Wirtschaft und Wohlstand verloren hat. Er widersprach nicht der Bemerkung seines Gastes aus Bayern, die sowjetische Wirtschaft ähnele der eines Entwicklungslandes. Nun, mitten im September 1990, zieht die Sowjetunion den Schlussstrich unter die Niederlage. Im ZK-Hotel zeigt Hans-Dietrich Genscher offen seine Emotion. Er empfinde „ein Gefühl tiefer Bewegung“, dass er die Chance habe, „dabei zu sein, wenn dieses Dokument vollendet wird“. Mehrfach ist die Vokabel „historisch“ zu hören, wenngleich sie schon ein wenig abgegriffen wirkt nach den vielen historischen Daten der vergangenen Monate. Doch wie anders soll man den Moment nennen, in dem die vier Siegermächte letztmals geschlossen als solche auftreten, mit den Namenszügen ihrer Außenminister endgültig auf ihre alliierten Sonderrechte verBayerischer Monatsspiegel 156_2010

zichten, damit den Zweiten Weltkrieg auch völkerrechtlich beenden und dem sich einigen Deutschland die volle Souveränität zurückgeben? Es beginne ein neues Kapitel der deutschen und der europäischen Geschichte, meint Genscher, und sein französischer Kollege Roland Dumas spricht von einem „noch nie dagewesenen Ereignis dieses Kontinents“.

1990 unterwegs im Staatsflugzeug: DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière wird von seiner stellvertretenden Regierungssprecherin Angela Merkel über die Presselage informiert.

An diesem Moskauer Mittwoch schlägt Genscher noch vor der Unterzeichnung den Bogen zurück bis 1933: Erst habe man den Deutschen die Freiheit genommen, dann den Frieden und nach 1945 die Souveränität. Und Gastgeber Eduard Schewardnadse erinnert an den schweren Start der Zwei-plus-Vier-Gespräche: „Seit sieben Monate verhandeln wir, das ist eine kurze Zeit, in der ein langer Weg beschritten wurde.“ Ein sowjetisches Delegationsmitglied erwähnt ein Telefonat zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Michail Gorbatschow: „Das brachte den Durchbruch.“ Beide haben dabei die für die Sowjetunion eminent wichtige Frage geklärt, wie viele Milliarden für den Rückzug der Roten Armee aus dem Gebiet der DDR zu zahlen sind. 17 Milliarden D-Mark wünschte Moskau, nur sieben wollte Finanzminister Theo Waigel geben. Man traf sich in der Mitte. Als die Außenminister tags zuvor eintrafen, schien das Terrain so gut bereitet, dass eine noch geplante Beratungsrunde der Minister gestrichen wurde. Eine Abendrunde der politischen Direktoren sollte die wenigen noch offenen Fragen klären. Selbst über den Titel des Zehn-Seiten-Papiers hatte man sich auf die etwas sperrige Formulierung „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ geeinigt. Stil-Kritikern gibt Genscher zu bedenken, wie schwer es sei, „Worte zu finden, die in vier Sprachen dasselbe meinen“. Am Mittwochmorgen muss sich eine Ministerrunde dann doch noch in einen Nebenraum zurückziehen. Man hatte sich nachts an der eher marginalen Frage festgefahren, in welcher Form nach dem Abzug der Westgruppe der Roten Armee ab 1995 auf dem ehemaligen DDR-Gebiet Manöver und Truppenbewegungen der Nato stattfinden dürfen. Spitzbübisch scherzt Lothar Maizière, den „Sowjets wäre es am liebsten, wenn’s nur eine

17


POLITIK & WIRTSCHAFT

Militärkapelle und ein Jeep mit zwei Mann Besatzung wäre“. Genscher ringt um einen Kompromiss, der schließlich durch eine Protokollnotiz gefunden wird: Auch nach 1994 werden auf dem dann früheren DDR-Gebiet Atomwaffen und ihre Träger „weder stationiert noch dorthin verlegt“. So können sich die sechs Außenminister mit nur 15 Minuten Verspätung zur historischen Unterschrift einfinden. Man trifft sich in einem schmucklosen Vorraum, von dessen kahler Gipsdecke ein mächtiger Lüster hängt. Darunter steht ein langer brauner Tisch mit sechs rotbezogen Stühlen. Vor jedem Platz liegt ein Füllfederhalter, weiße Schilder in kyrillischer Schrift markieren die Sitzordnung: Von den Fernsehkameras vor dem Tisch aus betrachtet, sitzt der Amerikaner James Baker links außen, neben ihm der steife Brite Douglas Hurd. Rechts außen sind de Maizière und Genscher platziert. Der Westdeutsche signiert als erster und dreht versonnen den Füller in den Fingern. Bis er nach rechts zum Franzosen Dumas blickt, der ebenfalls schon unterschrieben hat und lächelnd mit einer eleganten Bewegung seinen Füller ins Jackett einsteckt. Seinem Beispiel folgen die anderen. Und so trägt jeder am Herzen ein goldenes Souvenir von diesem Tag, an dem für die Welt eine neue Zukunft begonnen hat. Angela Merkel ist an jenem Mittwoch vor 20 Jahren nur Zuschauerin. Inzwischen ist der Wickelrock dem Hosenanzug gewichen, der Arbeitsplatz wechselte von der Mohrenstraße über mehrere Stationen ins Kanzleramt, und aus der Vizesprecherin

18

wurde die mächtigste Frau der Welt. Angela Merkel hat seither bedeutende Verträge im Dutzend unterschrieben. International wichtige und finanziell auch schwerwiegende. Doch der eine, bei dem sie nur zugesehen hat, war und bleibt auch für sie ein ganz besonderes Gänsehaut-Erlebnis. „Der Zwei-plusVier-Vertrag hat dem wiedervereinigten Deutschland die volle Souveränität gebracht“, betont die Bundeskanzlerin gegenüber dem Bayerischen Monatsspiegel und verbindet dies mit einem Appell: „Er hat es also in unsere Hände gelegt, wie wir mit der Einheit in Freiheit umgehen, was wir daraus machen. Er hat Deutschland Verantwortung übertragen. Dieser Verantwortung müssen wir so gerecht werden, wie es unseren geschichtlichen Erfahrungen und den Herausforderungen der Zukunft entspricht, die wir am besten im festen und vertrauensvollen Miteinander mit unseren europäischen und atlantischen Partnern werden meistern können.“ n

Peter Schmalz, 1943 in Würzburg geboren, war in der Ära Strauß Bayern-Korrespondent der Welt, für die er nach der Wende in Berlin eine neue Redaktion aufbaute. Damals lernte er Angela Merkel als Vize-Regierungssprecherin von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière kennen. Schmalz war von 2001 bis 2008 Chefredakteur beim Bayernkurier und ist jetzt in gleicher Funktion beim Bayerischen Monatsspiegel.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


Impressionen von 1990

POLITIK & WIRTSCHAFT

Das Jahr der Einheit Honeckers Haftbefehl, Mielkes Schlummerliege und verliebte Rotarmisten 2. Oktober 1990: Eine warme Berliner Spätsommernacht, der Kanzler tritt mit Ehefrau Hannelore auf die Freitreppe vor dem Reichstag, Hunderttausende skandieren „Helmut, Helmut“. Zuvor dirigierte Kurt Masur im Schauspielhaus Beethovens Neunte und Lothar de Maizière war noch Ministerpräsident der DDR, die die Nacht nicht überleben wird. „Es ist ungewöhnlich“, sagte er, „dass sich ein Staat freiwillig aus der Geschichte verabschiedet.“ Die Masse vor dem Reichstag zählt die Minuten bis Mitternacht. „Wie Silvester, nur ganz anders“, sagt einer. Eine 60 Quadratmeter große Deutschlandfahne wird hochgezogen, Willy Brandt hat beim Deutschlandlied Tränen in den Augen, Lafontaine singt nicht mit und Bundespräsident Richard von Weizsäcker verspricht: „Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.“ Danach lädt Hausherrin Rita Süssmuth in den Reichstag zu Häppchen mit Wein und Bier. Deutschland feiert in den 1. Tag der Einheit hinein. Bei der ersten freien Kommunalwahl in der DDR am 6. Mai siegt die CDU mit 34 Prozent, die SPD folgt mit 21, die PDS stürzt auf 14. Sie war im Mai des Vorjahres noch unangefochtene Siegerin, doch damals war die Kommunalwahl so plump gefälscht, dass das Volk rebellierte. Der Zerfall der Honecker-Diktatur begann. Am 28. Oktober landet der Lufthansa-Airbus „Donaueschingen“, Flugnummer LH 6100, auf dem Berliner Flughafen Tegel. Es ist die erste Lufthansa-Maschine in Berlin seit 45 Jahren. „Die Lufthansa kehrt an den Ort zurück, an dem sie fliegen lernte“, freut sich Wilhelm Knittel, damals Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium. Das Bundesgesundheitsministerium schlägt Alarm: Nahezu alle DDR-Lebensmittel sind mit gefährlichen Schadstoffen „besorgniserregend“ belastet. Quecksilber in den Eiern, Cadmium in den Kartoffeln, Nitrat im Trinkwasser und in Salaten. Besonders belastet sind die Bürger in Dresden, Leipzig und Halle. Ex-Stasi-Chef Erich Mielke sitzt im Westberliner Gefängnis Moabit, sein Ex-Arbeitszimmer in der Ostberliner Normannenstraße kann für zwei Mark besichtigt werden. Darin ein giftblau bezogener Stuhl, eine monströse Telefonanlage mit Geheimverbindungen und eine Leninmaske im Ablagefach (Bild rechts). Über der Liege fürs Mittagsschläfchen im Nebenzimmer eine braune Tagesdecke mit drei kleinen Kopfkissen darauf, im Sekretariat ein Reißwolf der Marke „Intimus“. Anfang Dezember erlässt die Berliner Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Im NVA-Militärarchiv in Strausberg bei Berlin waren Protokolle aufgetaucht, die Honeckers Verantwortung für den Schießbefehl belegen. Doch Honecker weilt mit Ehefrau Margot seit April im sowjetischen Militärhospital Beelitz. General Snetkow, der die 400 000 Mann starke Westgruppe befehligt, weigert sich, seinen Gast auszuliefern. Honecker verzichtet am Tag des Haftbefehls auf seinen täglichen Spaziergang. Das Jahr endet mit einer spektakulären Silvesterfeier in den Defa-Studios in Potsdam-Babelsberg, wo früher UFA-Klassiker wie „Metropolis“ und NaziPropaganda-Schinken wie „Jud Süß“ gedreht wurden. Kurz vor Mitternacht hören 300 handverlesene Gäste aus den Lautsprechern eine Stimme, die ihnen für einen Moment den Atem nimmt. „Ich drücke die Daumen für Sie“, ruft die 89-jährige Marlene Dietrich von Paris herüber und wünscht den Studios alles Gute für die noch unsichere Zukunft. Vor 61 Jahren stand sie hier als „Blauer Engel“ vor der Kamera (Bild links), der Silvestergruß wird ihr letzter Auftritt sein. Nach Mitternacht tritt der Chor der Roten Armee auf und singt mit Margot Werner und aus vollen Kehlen das Marlene-Lied „Wir sind von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, denn das ist unsere Welt – und sonst gar nichts.“ n

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

19


POLITIK & WIRTSCHAFT Hugo Müller-Vogg

Oskar zu Gast

Karikatur: Horst Haitzinger

Die SPD kann die Anerkennung der Linkspartei nicht mehr rückgängig machen

Der 30. Juni war nicht nur der Tag der Bundespräsidentenwahl. Es war auch der Tag, an dem „Die Linke“ endgültig im Fünf-Parteien-System angekommen ist. In ihrem Ärger, dass diese Partei links von der SPD nicht für den rot-grünen Kandidaten Joachim Gauck stimmte, übersahen viele Kommentatoren das Entscheidende: Am Tag der Bundesversammlung wurde Linkspartei von SPD und Grünen zum ersten Mal auf Bundesebene als gleichberechtigte Partei anerkannt. Es geschah zwischen dem zweiten und dritten Wahlgang. SPDFraktionschef Franz-Walter Steinmeier lud die Spitze der Links-

20

Auch Andrea Ypsilanti und Hannelore Kraft haben eine Duldung durch die Linken zuerst heftig dementiert, dann aber anders gehandelt: Träumt auch SPD-Chef Gabriel anders, als er öffentlich erzählt?

partei zur rot-rot-grünen Strategiebesprechung ein. Und hatte nichts dagegen, dass Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Klaus Ernst auch Oskar Lafontaine mitbrachten. Das war aus der Sicht der Linken der Durchbruch: Der bei der SPD verhasste Ex-SPDChef war plötzlich willkommen.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


POLITIK & WIRTSCHAFT Ob es einem gefällt oder nicht: Wir haben ein Fünf-ParteienSystem. Und dieses erzwingt immer häufiger Dreier-Koalitionen. Denn in vielen Fällen reicht es einfach nicht mehr zu einer klassischen Koalition zwischen einer großen und einer kleinen Partei. Doch im Zweifelsfall zogen CDU und SPD bisher eine Große Koalition einem Dreier-Bündnis vor. So gab es bis heute erst zwei Versuche mit einer „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen, nämlich in Bremen (1991 - 1995) und in Brandenburg

In Magdeburg könnte im nächsten Jahr ein linker Ministerpräsident regieren. (1990 - 1994). Die erste „Jamaika“-Koalition bildeten CDU, FDP und Grüne erst 2009 im Saarland. Das überrascht nicht, weil Koalitionen zwischen drei Partnern schwieriger sind als zwischen zwei Parteien. Denn zwangsläufig ist die programmatische Schnittmenge kleiner. Zugleich fällt drei Parteien die eigene Profilierung in einer solchen Konstellation schwerer als in einem Zweier-Bündnis. Zum anderen gibt es eine so lange Praxis schwarz-gelber und rot-grüner Zusammenarbeit, dass der Dritte im Bunde – sei es die FDP, seien es die Grünen – sich leicht als Anhängsel fühlen muss. Koalitionsbildungen werden zusätzlich erschwert, wenn eine Partei als nicht koalitionsfähig angesehen wird. Das galt in den achtziger Jahren für die Grünen, weil diese Partei lange brauchte, um das parlamentarische System zu akzeptieren und auf das Wechselspiel von innerparlamentarischen Initiativen und außerparlamentarischer Opposition zu verzichten. Heute ist es „Die Linke“, die nicht über jeden demokratischen Zweifel erhaben ist. Ihr haftet der Makel ihrer SED-Vergangenheit an. Hinzu kommt, dass sie im Westen auch ein Sammelbecken von „Überlebenden“ vieler K-Gruppen, von Kommunisten und Stalinisten ist. Dazu hat die Linkspartei die Verherrlichung beziehungsweise Verniedlichung der DDR noch keineswegs abgelegt und pocht auf den politischen Streik als legitimes Mittel der Politik. Mit diesen „Schmuddelkindern“ wollten die anderen Parteien lange nichts zu tun haben. Dann wurde die SPD schwach: In Sachsen-Anhalt ließ sich die SPD-Minderheitsregierung von der PDS tolerieren (1994 - 2002), wobei die Zusammenarbeit einer wilden Ehe ähnelte. Es folgten ganz reguläre rot-rote Bündnisse in Mecklenburg-Vorpommern (1998 - 2006), Berlin (seit 2001) und Brandenburg (seit 2009). Wie sehr das Aufkommen der Linkspartei die politische Landkarte verändert hat, zeigt die Lage nach den Landtagswahlen der letzten beiden Jahre: Rot-Rot-Grün wären rechnerisch möglich gewesen in Hessen (2008), in Hamburg, in Thüringen und im Saarland. Seit kurzem gibt es auch im nordrhein-westfälischen Landtag eine solche Mehrheit. Die Entscheidung der NRW-SPD, mit Hilfe der Linkspartei eine rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden, wird weit über das bevölkerungsreichste Bundesland hinaus ausstrahlen. Diese „Dreierbeziehung“ in Düsseldorf macht „Die Linke“ zum Partner – und dient der Vorbereitung für eine rot-rot-grüne Koalition im Jahr 2013 im Bund.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Nur in einem einzigen Punkt behandelt die SPD den neuen linken Konkurrenten anders als etwa die CDU: Rot-rote Regierungen unter einem Ministerpräsidenten der Linken lehnen die Sozialdemokraten noch ab. Daran ist Rot-Rot in Thüringen gescheitert. Aber das könnte sich – nach der Politik der kleinen Annäherungsschritte – im nächsten Jahr ändern. Gut möglich, dass es nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zu Rot-Rot kommt – unter Führung der Linken. Denn auch hier wird sich die SPD mit Blick auf 2013 bewegen müssen. Bis zur Wahl des Bundespräsidenten hatte die SPD jede Zusammenarbeit mit der Linken auf Bundesebene ausgeschlossen. Aber das ist seit dem 30. Juni vorbei. Das offizielle Dreier-Gespräch zwischen SPD, Grünen und Linkspartei erinnerte an die Anerkennung der DDR durch die Regierung Brandt/Scheel: So etwas lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Und es kann auch keinen Zweifel geben: Die Gabriel-SPD findet den rot-rotgrünen Kurs auch richtig gut. n

Dr. Hugo Müller-Vogg ist Publizist in Berlin und u.a. BILD-Kolumnist. Sein letztes Buch „Volksrepublik Deutschland – Drehbuch für eine rot-rot-grüne Wende“ wird durch die SPD mehr und mehr bestätigt.

IMPULSE FÜR DIE FINANZMÄRKTE IM 21. JAHRHUNDERT Mit zahlreichen Innovationen und Initiativen sowie zukunftsweisenden Marktmodellen setzt die Bayerische Börse kontinuierlich Zeichen für einen fairen, neutralen und transparenten Börsenhandel. Die Börse München garantiert Ihnen nach § 27 der Börsenordnung Bestausführung (Best Execution): den besten Preis die sofortige Orderausführung die vollständige Orderausführung


POLITIK & WIRTSCHAFT Interview mit Roland Berger

Deutschland braucht eine neue Werte-Elite Jugend macht sich fit für Verantwortung – Deutsche Unternehmen gut gerüstet für kommenden Aufschwung

Neben der Funktions-Elite, die zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands wesentlich beigetragen hat, braucht das Land dringend eine Werte-Elite, betont der Münchner Unternehmensberater Roland im Gespräch mit Peter Schmalz. Er selbst hat die Stiftung „Fit für Verantwortung“ gegründet, die sich am Wertebündnis des bayerischen Ministerpräsidenten beteiligt. Bayerischer Monatsspiegel: Mit der Stiftung, die Ihren Namen trägt, sind Sie Partner im Wertebündnis Bayern. Ist unser Wertefundament brüchig geworden? Roland Berger: Das ist eine schwierige Frage, weil man schnell dazu tendiert, dies zu behaupten. Dabei sind die Menschen heute nicht schlechter als früher, sie engagieren sich genauso für ihre Familie, für die Gesellschaft, für ihr Land. Und sie neigen auch dazu, sich anständig zu verhalten. Auf der anderen Seite ist die Welt in den letzten Jahrzehnten sehr viel komplexer geworden und damit die Bezugspunkte differenzierter. Im Kalten Krieg stand der Freund da, der Feind dort.

Der Münchner Unternehmensberater Roland Berger gehört zu den am besten vernetzten Deutschen: Er berät Kanzler und Ministerpräsidenten, denkt in Kommissionen über die Zukunft Deutschlands und Bayerns nach. Sein Rat ist gefragt bei den Chefs großer Unternehmen im In- und Ausland. Berger wurde 1937 als Sohn bayerischer Eltern in Berlin geboren, studierte in Hamburg und München und gründete 1968 ein Beratungsunternehmen, die heutige Roland Berger Strategy Consultants. 2003 wechselte er in den Aufsichtsrat (seit Juli 2010 als Ehrenmitglied) und gründete fünf Jahre später die Roland Berger Stiftung, die jährlich den Roland Berger Preis für Menschenwürde und Stipendien für sozial benachteiligte Jugendliche vergibt. Das Stiftungskapital beträgt 50 Millionen Euro, das Berger aus seinem Privatvermögen beigesteuert hat.

22


POLITIK & WIRTSCHAFT BMS: Das war ein klares Muster. Berger: Man konnte sich einrichten. Heute sehen wir uns vom internationalen Terrorismus bedroht, zudem stehen wir mit aller Welt in immer engerer Verbindung. Der deutsche Arbeiter konkurriert mit indischen oder chinesischen Löhnen. Die zunehmende Vielfalt der Medien mit ihren Nachrichten in Echtzeit rund um den Erdball beeindruckt und beeinflusst die Menschen. Zudem gelten bewährte Institutionen, die für viele Generationen eine Art Garantiefaktor waren, immer weniger: Die Wirtschaft garantiert nicht mehr automatisch Wohlstand und Arbeitsplätze, die Gewerkschaften keine automatisch steigenden Löhne, die Politik gewährleistet nicht mehr soziale Sicherheit, die Kirchen büßen Vertrauen ein als moralische Instanz. BMS: Lösen sich Werteprägungen in einer globalisierten Welt auf? Berger: Zumindest spüren wir ein Führungsvakuum.

Erstaunlich leistungsfähige, zum Engagement bereite Jugendliche. BMS: Ist das bayerische Wertebündnis, die richtige Antwort? Berger: Es ist jedenfalls ein unterstützenswerter Versuch. Hier schließen sich unter der Führung des bayerischen Ministerpräsidenten, der das wachsende Wertevakuum erkennt und einsieht, dass er aufgrund der allgemeinen Entwertung der Institutionen diese Lücke nicht allein füllen kann, Organisationen, Vereine und Privatleute zusammen, um für die jungen Menschen wieder Vorbilder zu schaffen. BMS: Junge Leute sprechen Sie auch mit Ihrer eigenen Stiftung an. Dabei geht es vor allem um gute Ausbildung. Spielt die Wertebildung ebenfalls eine Rolle? Berger: Wir haben den Anspruch, jungen Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft und familiären Situation keine Chance auf bestmögliche Bildung haben, Zugang dazu zu verschaffen und ihnen gleichzeitig Wertebewusstsein zu vermitteln. Wir machen ihnen den Wert der Werte bewusst, stärken ihr gesellschaftliches Engagement, geben ihnen ein philosophisches Fundament und vermitteln auch die Bedeutung von Religion. BMS: „Fit für Verantwortung“ wollen Sie junge Menschen machen. Was verstehen Sie unter Verantwortung?

Berger: Verantwortung ist zunächst einmal die Bereitschaft, für sich selber nach seinen Fähigkeiten zu sorgen. Zweitens ideell und materiell für die zu sorgen, die einem anvertraut sind, in der Familie, im Beruf und in der Gemeinschaft. Gerade beim Letzteren gibt es viele Möglichkeiten, von den Vereinen über das Ehrenamt bis zum politischen Engagement. Verantwortung muss sich konkret ausdrücken. BMS: Sie wollen eine neue Verantwortungselite schaffen? Berger: Genau das. Die Funktionseliten sind unbestreitbar wichtig für unsere Gesellschaft, sie haben großen Anteil am wirtschaftlichen Aufstieg unseres Landes, aber dies genügt nicht, um Orientierung zu geben. Dafür brauchen wir Verantwortungseliten und Werteeliten. BMS: Das Wort Elite hatte es nicht immer leicht in unserer jüngeren Vergangenheit. Berger: Weil es historisch schwer belastet war. Es wurde in der Nazi-Zeit missbraucht und in der DDR pervertiert. Zudem kamen wir aus einer Zeit, in der der Elitestatus quasi erblich war. Insofern wurde der Elitebegriff zunächst kritisch gesehen und war dann möglichst zu demokratisieren. BMS: Das ist gelungen? Berger: Ja. Inzwischen machen wir auf der ganzen Welt die Erfahrung, dass wir, wenn wir die existenzielle Basis erhalten oder verbessern wollen, Eliten benötigen, die bereit sind, die Gesellschaft auf die nächste Stufe zu führen. Und das ist die Stufe des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dies kommt aber nicht über uns wie das Wetter, dafür benötigen wir die Akzeptanz moralischer Werte, die für eine Gesellschaft wie Leitplanken wirken. BMS: Engagement für die Gesellschaft setzt Leistungsbereitschaft voraus. Der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski sieht eine neue leistungsbereite Jugend heranwachsen. Spüren Sie das bei „Ihren“ Jugendlichen? Berger: Wir haben erstaunlich leistungsfähige, zum Engagement bereite Kinder und Jugendliche, die mehr tun, als sie eigentlich müssten. Sie kümmern sich um Kranke und Hilfsbedürftige, engagieren sich als Klassen- oder Schulsprecher. Unserer Gesellschaft fehlt es nicht an Bereitschaft zum Engagement und zur Leistung, es fehlt eher an den Möglichkeiten, diese zu kanalisieren und zu organisieren. Hier kann das Wertebündnis eine frucht-

„Fit für Verantwortung“ – dieses Ziel streben die bayerischen Stipendiaten 2009 an. Die Roland Berger Stiftung unterstützt begabte, leistungswillige und verantwortungsbereite Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien mit einem individuellen Förderkonzept bis zur allgemeinen Hochschulreife.

23


POLITIK & WIRTSCHAFT det in Not geraten sind, materielle und emotionale Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglicht.

bare Rolle spielen. Es darf aber nicht im Deklamatorischen bleiben, sondern muss konkrete Möglichkeiten aufzeigen, wie man für wen und welchen Teil der Gesellschaft diese Werte leben kann.

BMS: Sind aber nicht Leistung und Egoismus oft Zwilling? Berger: Egoismus ist prinzipiell nichts Falsches. Jeder Mensch hat ja ichbezogene Antriebe, der stärkste und wichtigste ist der Selbsterhaltungstrieb. Doch es kommt darauf an, dass er seine auf die Mitmenschen, also die Gemeinschaft bezogenen Anlagen entfaltet. Wir sind Gemeinschaftswesen, der Eremit ist die Ausnahme. Deshalb kann auch Kapitalismus pur auf Dauer nicht erfolgreich funktionieren. Es hatte einen guten Grund, dass unserer Form der Marktwirtschaft das Wort „sozial“ beigefügt wurde. Das bedeutet, dass Vorteilsstreben dann begrenzt ist, wenn es das Wohl anderer Menschen und der Gesellschaft beeinträchtigt. BMS: Die soziale Marktwirtschaft hat aber ursprünglich viel mehr Leistung und Selbstverantwortung des Einzelnen gefordert, als dies heute auch von manchen Politikern dargestellt wird. Berger: Es ist leider eine unglückliche Entwicklung in den letzten 30, 40 Jahren, dass der Begriff Gleichheit immer stärker aufgewertet wurde. Die Menschen sind aber nicht gleich, wenn auch jeder die gleichen Chancen auf Selbstentfaltung haben sollte. Die soziale Marktwirtschaft will den gesellschaftlichen Fortschritt dadurch fördern, dass die Menschen ihre Ungleichheit und Vielfalt leben und jeder einen Beitrag nach seinen Fähigkeiten einbringt – und die Gesellschaft diejenigen, die unverschul-

BMS: Also stimmen Sie Alois Glück zu, der den Begriff „solidarische Leistungsgesellschaft“ geprägt hat? Berger: Diesen Begriff haben wir gemeinsam lange diskutiert. Die „solidarische Leistungsgesellschaft“ bejaht gleichermaßen Eigenverantwortung und Leistung wie auch gesellschaftliche Solidarität. Das Modell gründet auf einer aktiven Bürgergesellschaft, in der die Menschen einander unterstützen und der Staat vor allem Hilfe zur Selbsthilfe bietet und die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schafft. Es geht letztlich um eine Verantwortungsgemeinschaft aller Bürger füreinander und für das Gemeinwohl. BMS: Vor Jahren sprach man von der Generation der Ichlinge. Formt sich inzwischen eine Gesellschaft der Freiwilligen und Ehrenamtlichen? Berger: Diese Entwicklung ist dringend notwendig. Wir haben ja schon davon gesprochen, dass unsere Gesellschaft vor allem materiell an ihre Grenzen stößt. Um aber den notwendigen Zusammenhalt zu sichern, brauchen wir noch mehr Menschen, die bereit sind, sich freiwillig zu engagieren und Leistungen zu erbringen, die den Staat mehr und mehr überfordern. Damit könnte unsere Gesellschaft aus vielen Schwierigkeiten, mit denen sie sich konfrontiert sieht, wieder herauskommen. BMS: Und das Ehrenamt könnte zu einer stabilen Säule unserer Gesellschaft werden.

Studentische Leistung wird belohnt

DONNER & REUSCHEL Wissenschaftspreis 2010

Exzellente wissenschaftliche Forschung und Entwicklung ist die Basis einer erfolg reichen Wirtschaft. Deshalb suchen die Reuschel & Co. KG und die DONNER & REUSCHEL AG gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre – Unternehmensführung, Logistik und Produktion die besten Diplom- und Bachelorarbeiten des Jahrgangs 2010. So fördern, motivieren und unterstützen wir zusammen mit der TU München den akademischen Nachwuchs und seine Ideen. Weitere Informationen: www.donner-reuschel.de oder www.bwl.wi.tum.de

24


Auch in der Küche lernt man, Verantwortung zu übernehmen: Roland Berger als Gast beim Plätzchen backen mit Kindern der Sarah Wiener Stiftung.

Berger: Ja, und das ist es ja auch schon, in einem weitreichenden Maß: Gut jeder dritte Deutsche engagiert sich ehrenamtlich, vor allem in ländlichen Gegenden mit relativ vielen Familien. Die rund 16 Stunden, die jeder Ehrenamtliche hierzulande monatlich leistet, entsprechen gut drei Millionen Vollarbeitsstellen und – bei einem angenommenen Stundenlohn von 7,50 Euro – einem Arbeitswert von 35 Milliarden Euro! Dennoch braucht es weitere Motivation, Organisation und gesellschaftliche Anerkennung. Deshalb begrüße ich das Bemühen des Ministerpräsidenten, Bürger, die bereit sind, ehrenamtlich für diese Gesellschaft tätig zu sein, besonders hervorzuheben. BMS: Dazu haben auch Sie mit Ihrer Stiftung ein Signal gesetzt. Stand dabei aber nicht auch ein bisschen schlechtes Gewissen eines sehr erfolgreichen Unternehmers Pate? Berger: Wie ich es jetzt auch mit meiner Stiftung ausdrücke, habe ich mich in meinem Leben immer für andere Menschen engagiert. Es war und ist meine Lebensauffassung, dass die Starken dafür da sind, die Schwachen zu unterstützen. Seit langem ist bei mir die Idee dieser Stiftung gereift, und nun, da ich offiziell im Ruhestand bin, habe ich sie verwirklicht. Natürlich in Absprache mit meiner Familie, vor allem mit meinen Kindern, denn dieses Engagement schmälert schließlich das Erbe. BMS: Passen Renditestreben und staatsbürgerliche Verantwortung zusammen? Berger: Absolut. Wir haben doch erleben müssen, dass alle planwirtschaftlichen Systeme gescheitert sind und dass marktwirtschaftliches Streben den Menschen Wohlstand, Lebensqualität und auch Kultur verschafft. Es kommt allerdings darauf an, dass Renditestreben im Rahmen gesellschaftlich akzeptierter Dimensionen bleibt und die Handelnden sich einem moralischen Wertefundament verpflichtet fühlen. Dies ist der Kern der sozialen Marktwirtschaft – ein weltweit einmaliges Gesellschaftsmodell. BMS: Doch es ist der Eindruck entstanden, als sei gesellschaftliche Verantwortung in den Manager-Etagen nur noch eine Restgröße. Berger: Dieser Eindruck ist falsch, Selbstverständlich gibt es in jeder Berufsgruppe Fehlverhalten, wie ja auch das Mogeln mancher Hartz-IV-Empfänger nicht für die große Mehrheit gilt. Gerade in jüngster Zeit haben wir erlebt, dass die Manager ihre Unternehmen mit großem Verantwortungsbewusstsein durch die Krise

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

geführt haben und mehr als in anderen Ländern Arbeitsplätze erhalten konnten.

BMS: Professor Meinhard Miegel meint, die Zeiten des Wachstums seinen vorbei. Ist das zu pessimistisch? Berger: Das ist nicht nur zu pessimistisch, sondern zeigt eine eher absurde Vorstellung von dieser Welt. Man kann vielleicht die Luxusfrage stellen, ob die oberen Zehntausend ein paar Jahre auf ein Wachstum ihres Vermögens verzichten können. Aber die weltweite Realität sieht deutlich anders aus: Über zwei Milliarden Menschen

Vom Nullwachstum zu reden, ist verantwortungsloses Geschwätz. müssen mit weniger als 200 Dollar im Jahr auskommen. Bis 2050, also in 40 Jahren, wird die Weltbevölkerung um weitere zweieinhalb Milliarden Menschen wachsen, die alle Nahrung, Wohnung, Kleidung und mehr Infrastruktur benötigen. Zudem müssen wir in Zeiten der Klimakatastrophe und des demographischen Wandels unsere Lebensformen umstellen. Dies alles bedeutet, dass wir eine Wirtschaft brauchen, die wesentlich mehr wächst als früher, denn wir müssen für all dies investieren. Jetzt von Nullwachstum zu reden ist verantwortungsloses Geschwätz.

BMS: Und die deutsche Industrie ist gut vorbereitet auf diese neuen Herausforderungen? Berger: Ich denke schon. Die deutsche Industrie ist die global am besten ausgerichtete. Die Unternehmen sind auch im Ausland in der Wertschöpfung stark und sie bieten erstklassige Güter und Dienste, die aufstrebende Schwellenländer zum Aufbau ihrer Infrastruktur und Wirtschaft benötigen. Sie haben Antworten auf die globalen Megatrends wie Verstädterung und ökologischer Energiebedarf. Gegenüber den amerikanischen, japanischen und zunehmend auch chinesischen Konkurrenten sind deutsche Firmen dafür am besten aufgestellt. BMS: Ein optimistischer Ausblick. Berger: Ich bin ein realistischer Optimist. Wir werden weiter erfolgreich bleiben, solange unsere Gesellschaft Leistung innerhalb eines klar definierten Wertesystems akzeptiert. Auch deshalb ist das bayerische Wertebündnis eine wichtige Zukunftsinvestition, deren Rendite nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. n

25


POLITIK & WIRTSCHAFT Marianne E. Haas

Bayerns Wirtschaft spricht Pfälzisch Seit fünf Jahren ist Bertram Brossardt Chef der bayerischen Wirtschaftsverbände

„Ist das nicht schön, wenn man sagen kann, dass man in seinem Job so richtig glücklich ist?“ Der gebürtige Pfälzer Bertram Brossardt bezeichnet sich selbst als einen „unerschütterlicher Optimist“ und ist überzeugt davon, dass jeder Tag ein guter wird, den man mit einem gewissen Grundoptimismus und gesundem Gottvertrauen angeht. Eine vortreffliche Seelenlage für den Multiposten, den der 50-Jährige seit fünf Jahren innehat: Brosssardt ist Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) und der bayerischen Metall- und Elektroverbände (vbm und bayme). In München hat er Rechtswissenschaften studierte, er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ein Workaholic war er schon immer. Einer, der von sich aus die Sachen vorantreibt und nicht wartet, bis etwas auf ihn zukommt. Das hat er schon im bayerischen Wissenschaftsministerium bewiesen, wo er 1988 zunächst Referent für Forschungsförderung und Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft, dann Büroleiter beim damaligen Staatssekretär Otto Wiesheu am Salvatorplatz war. Als dieser 1993 Wirtschaftsminister wurde, nahm er Brossardt zunächst in gleicher Funktion mit in die Prinzregentenstraße.

26


POLITIK & WIRTSCHAFT Doch schon bald wurde der sprachbegabte Brossardt (Englisch, Französisch, Spanisch und Pfälzisch) Ansiedlungsbeauftragter und schließlich Leiter der Abteilung Außenwirtschaft und Standortmarketing des Ministeriums. Dort lernte er die Breite der Wirtschaftspolitik kennen und, wie er sagt, auch seine ihm bis dahin nicht bekannten eigenen Fähigkeiten, was Marketing und Verhandlungen mit Unternehmen betrifft. „Dass ich das machen durfte, dafür bin ich heute noch dankbar.“ Immerhin gelang es seinem Verhandlungsgeschick, in drei Jahren hervorragende internationale Kontakte zu knüpfen und mehr als 150 Unternehmen nach Bayern zu holen. Als ihn der Ruf erreichte, Hauptgeschäftsführer der bayerischen Wirtschaftsverbände zu werden, reizte es ihn natürlich, in eine Welt mit neuen Spielregeln zu wechseln, obwohl sein damaliger Chef Wiesheu den Weggang seines langjährigen, geschätzten Mitarbeiters außerordentlich bedauerte.

Gut vernetzt und für Verhandlungspartner oft eine harte Nuss. Seit nunmehr genau fünf Jahren setzt Bertram Brossardt diese Fähigkeiten nach dem Motto „arbeiten am Puls der Zeit, schnell, flexibel und präzise“ mit großem Erfolg für die bayerischen Wirtschaftsverbände ein. Sie befanden sich damals in einem Reformprozess, in den Brossardt sehr schnell eingestiegen ist. „Ich glaube, dass ich diesen Weg in den vergangenen Jahren nachhaltig weitergeführt habe.“ Randolf Rodenstock, Präsident und Repräsentant der bayerischen Wirtschaftsverbände, bestätigte das und rühmte Brossardt bei dessen 50. Geburtstag „sein herausragendes Engagement und seinen großen Sachverstand“. Und den schätzen sogar seine Tarif-Gegner bei den Gewerkschaften, für die die gut vernetzte pfälzische Frohnatur als Verhandlungspartner allerdings sehr oft auch eine „harte Nuss“ ist. Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) ist eine freiwillige, branchenübergreifende und zentrale Vereinigung, die die Interessen der Wirtschaft gegenüber staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen „mit einer starken Stimme“ (Brossardt) vertritt. Ihr Einsatz gilt vornehmlich dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit bayerischer Unternehmen aufrechtzuerhalten und zu steigern. Daher sieht sie sich als „Stimme der Wirtschaft“ und ist deren mächtigste Lobbyorganisation in Bayern. Immerhin vertritt sie mehr als 80 bayerische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, 26 Einzelunternehmen aus den Bereichen Industrie, Handwerk, Bauwirtschaft, Verkehrsgewerbe, Einzel-, Groß- und Außenhandel, Banken und Versicherungen, Land- und Forstwirtschaft, Hotellerie und Gastronomie sowie Freie Berufe mit insgesamt 3,3 Millionen Beschäftigten. Aber auch als Landesvertretung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI) vertritt die vbw gemeinsame wirtschaftliche, soziale sowie gesellschaftliche Interessen. „So erhalten wir den Freiraum für wirtschaftliches Handeln und sichern gleichzeitig den sozialen Frieden“, sagt Brossardt. In den vergangenen Jahren hat sich die vbw, die bayernweit mit sechs Geschäftsstellen präsent ist, besonders stark mit zent-

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Bertram Brossardt wurde 1960 im pfälzischen Neustadt an der Weinstraße geboren. Nach dem Jurastudium an der LMU München begann er als Referent im Bayerischen Wissenschaftsministerium und wurde Büroleiter des damaligen Staatssekretärs Otto Wiesheu, der ihn 1993 ins Wirtschaftsministerium mitnahm. Zuletzt leitet er dort die Abteilung Außenwirtschaft und Standortmarketing, 2005 wurde er Hauptgeschäftsführer der Verbände vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V., VBM – Verband der bayerischen Metall- und Elektroindustrie e.V., sowie BayME – Bayerischer Unternehmensverband Metall und Elektro e.V. Der Vater zweier Kinder verbirgt auch bei öffentlichen Reden seine pfälzische Herkunft nicht.

ralen Aussagen für alle für die Wirtschaft relevanten Themen sichtbar gemacht. „Wir werden das ausdehnen und noch weitere Themenfelder aufgreifen: Beispielsweise die Internationalisierung des Mittelstands, ob und wie sich die internationalen Märkte und die Wertschöpfungskette durch die Krise verändert haben und Ratschläge geben, wie man darauf reagieren sollte. Wir werden beleuchten, wie die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen durch Kostenbegrenzung in Griff zu bekommen ist. Das heißt auch, die Kurzarbeit muss billiger werden für die Unternehmen und die Lohnzusatzkosten dürfen nicht weiter steigen. Wir werden daher mit eigenen Modellen eine nachhaltige Finanzierung der Sozialsysteme vorantreiben. Wir wollen ein deutsches Energiekonzept einfordern und legen hier die erforderlichen Vorschläge noch im ersten Halbjahr vor.“ Aber auch für das mittelfristige Zusammenführen von Familie und Beruf müsse ebenso noch einiges getan werden wie dafür, dass Frauen besser in die Arbeitswelt integriert werden. Der Einfluss der bayerischen Wirtschaftsverbände wird also immer stärker. Brossardt: „Wir sind der zentrale Ansprechpart-

27


POLITIK & WIRTSCHAFT

Gut vernetzt: Die drei bayerischen Wirtschaftsverbände gelten als starke Stimme der Unternehmen im Freistaat. Sie werden geführt von Präsident Randolf Rodenstock, als Chefmanager unterstützt ihn Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.

Regelmäßig veröffentlicht die vbw den Index zur Lage der bayerischen Wirtschaft. Die aktuelle Situation kommentiert Präsident Randolf Rodenstock verhalten optimistisch: Mit der bayerischen Wirtschaft geht es langsam aufwärts."

ner gegenüber der Politik in Bayern und aktiver Teil der pluralistischen Gesellschaft.“ Die Verbände vertreten die Interessen der Wirtschaft gegenüber staatlichen wie nichtstaatlichen Organisationen. Ihre ehrenamtlich tätigen Unternehmerinnen und Unternehmer bestimmen die Richtlinien der Verbandspolitik, die notfalls auch unbequem und hartnäckig sein kann.

Mittlerweile gibt es kein für die Wirtschaft relevantes Thema mehr, das die bayerischen Wirtschaftsverbände nicht initiieren oder aufgreifen, diskutieren und kritisieren. So wird die Presse täglich mit oft mehreren Stellungnahmen zu aktuellen Themen versorgt, meist gibt es mehrmals pro Woche auch Pressekonferenzen. Und der Veranstaltungskalender im Haus der Bayerischen Wirtschaft ist übers Jahr prall gefüllt.

Auch für die ebenfalls im Haus der Bayerischen Wirtschaft angesiedelten bayerischen Metall- und Elektroverbände vbm und bayme und deren Mitglieder hat Brossardt das praxisnahe Dienstleistungsangebot bereits erheblich ausgeweitet. Die Verbände haben insgesamt mittlerweile mehr als 1800 Mit-

Gemeinsames Ziel mit Otto Wiesheu: Bayerns Wirtschaft stärken. gliedsbetriebe – allein in den vergangenen fünf Jahren kamen neue 500 dazu – und damit eine Organisationsquote von 75 Prozent, die Brossardt schon ein bisschen stolz macht. Immerhin beschäftigen diese Betriebe etwa 700 000 Mitarbeiter. Der bayme setzt sich als Arbeitgeber- und Berufsverband für die Wahrnehmung gemeinsamer Belange ein und stellt seine Kompetenz für die Information und die Betreuung der Mitglieder zur Verfügung. Er informiert sie bereits im Vorfeld politischer und gesetzlicher Entscheidungen und bindet deren Standpunkte kompetent und gebündelt in die Meinungsbildungsprozesse ein. Der bayme bietet zahlreiche Dienstleistungen an, unter anderem auch eine arbeitsrechtliche, arbeitswissenschaftliche oder sozialrechtliche Betreuung und Vertretung. Alle Dienstleistungen sind auf den individuellen betrieblichen Alltag der Mitglieder zugeschnitten. Der vbm ist vor allem der starke Tarifverband. Seine zentrale Aufgabe ist eine verantwortliche Tarifpolitik, also die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch Verträge mit der Arbeitnehmerseite. In Brossardts Schaltzentrale, dem Haus der Bayerischen Wirtschaft an der Max-Joseph-Straße in München, sitzt viel Kompetenz für Sozial-, Wirtschafts-, Rechts- und Bildungspolitik. Und wo diese nicht ausreicht, werden Fachleute aus Unternehmen, Instituten, Hochschulen oder wo auch immer ins Haus geholt.

28

Brossardts atemberaubendes Arbeitstempo hält auch seine bayernweit 230 Mitarbeiter auf Trab. Arbeit gibt es für sie reichlich, denn obwohl sich das Dienstleistungsangebot und die Mitgliederzahl gesteigert haben, wurde die Zahl der Verbandsbeschäftigten nicht erhöht. Der Chef selbst geht mit bestem Beispiel voran. Mit einer 60-Stunden-Woche kommt er nicht aus, zumal er auch noch bei der Bundesagentur für Arbeit und als ehrenamtlicher Richter am Bundesarbeitsgericht engagiert ist. Umso mehr schätzt er es, wenn er sich am Wochenende beim Rennradfahren oder Fußballspielen mit seinen Söhnen erholen kann. Und mit seinem früheren Chef Otto Wiesheu hat Brossardt auch wieder engen beruflichen Kontakt: Denn seit einigen Monaten ist Wiesheu Präsident des einflussreichen Wirtschaftsbeirates Bayern. Beide verbindet ein gemeinsames Ziel: Bayerns Wirtschaft stärken und so mithelfen, dass möglichst viele Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen werden. „Selbstverständlich arbeiten unsere beiden Organisationen gut zusammen, zumal beide auf eine lebendige soziale Marktwirtschaft ausgerichtet sind. Denn zusammen erreichen wir mehr.“ n Marianne E. Haas berichtet seit mehr als 30 Jahren über die bayerische Wirtschaft. Ab 1994 leitete sie die Redaktion „Münchner Wirtschaft“ der Süddeutschen Zeitung. Seit 2004 betreut sie als freie Journalistin die Sonderseite „Finanzplatz Bayern“ des Süddeutschen Verlages. Sie moderiert den von vielen bayerischen Privatsendern ausgestrahlten „Wirtschaftstreff Bayern“ und ist bei münchen.tv und RTL München Live zuständig für „Business in Bayern“.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


www.tuev-sued.de

Was wird für die wirtschaftliche Entwicklung der Zukunft entscheidend sein? Künstliche Intelligenz? Roboter? Die Antwort ist viel menschlicher. Sie lautet: Gesundheit. TÜV SÜD unterstützt Sie, Ihre Mitarbeiter und Ihr Unternehmen gesund und leistungsfähig zu halten. Mit arbeitsmedizinischen, arbeitspsychologischen und sicherheitstechnischen Dienstleistungen von höchster Qualität.

Investieren Sie jetzt in gesunde Mitarbeiter und sichern Sie so den Erfolg Ihres Unternehmens!

TÜV SÜD AG • Westendstraße 199 • 80686 München • Tel.: 0800 888 4444


POLITIK & WIRTSCHAFT

Henning von der Forst

Steuerzahler künftig verschonen Nachhaltigkeit muss in der Finanzbranche künftig wieder wichtiger sein als der schnelle Erfolg

Jakob Fugger war vor gut 500 Jahren Europas reichster und bedeutendster Kaufmann und Bankier. Als der Augsburger Rat 1486 erstmals die Fuggerbank erwähnte, finanzierte das über ein Jahrhundert führende Bankhaus der frühen Neuzeit bereits die Päpste in Rom und die Kaiser aus dem Hause Habsburg. Unter anderem wurden die Fugger zu einem der wichtigsten Geldgeber Maximilians I. Konrad Peutinger wiederum war Maximilians Berater. Als auf dem Reichstag zu Speyer 1530 den Nürnberger Kaufleuten und den Fuggern Zinswucher und Monopolmissbrauch vorgeworfen wurde, trat Konrad Peutinger als Verteidiger der Kaufleute auf und sprach sich dabei gegen Eingriffe des Staates in die

30

Preisbildung aus. Er plädierte für freies Unternehmertum und betonte, dass die ökonomische Verfolgung des Eigennutzes die Wirtschaft insgesamt ankurbelt und somit auch zu einem gesteigerten Allgemeinwohl führt. Damit nahm er eine Argumentationslinie ein, die später die Grundlage des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft werden sollte. Auch in der heutigen Zeit wird der gesamten Finanzbranche pauschal vorgeworfen, Verursacher der größten Wirtschafts- und Finanzkrise nach dem Zweiten Weltkrieg zu sein, ohne weiter zu differenzieren. Zunehmend wird an den Kapitalmärkten die Bonität staatlicher Schuldner schlechter beurteilt: Das sogenannte „sovereign risk“ wird von vielen als das „Risiko des


POLITIK & WIRTSCHAFT Jahres“ gesehen. Der Fall Griechenland sollte ein Weckruf sein, insbesondere für die Länder mit den höchsten Defiziten, aber im Grunde für alle Staaten, ihre Haushaltsstruktur wieder langfristig belastbar auszurichten. Er zeigt aber auch, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt ein notwendiger Pfeiler für das Funktionieren der Währungsunion ist. Die Verletzung oder das Unterlaufen des Paktes durch „geschönte Statistiken“ führt in den betroffenen Ländern zu viel einschneidenderen Folgen, als es bei rechtzeitiger Beachtung des Paktes der Fall gewesen wäre. Auch dies ist eine wichtige Erkenntnis und Lehre der Krise. Trotz ökonomischen Sachverstands erscheint in Demokratien eine Rückführung der Staatsverschuldung nur vorübergehend möglich. Untermauert wird dies durch eine Aussage von Abbé Terray, französischer Finanzminister unter Ludwig XV. im 18. Jahrhundert: „Die ewige Dauer des Staates erfordert es, alle hundert Jahre den Staatsbankrott zu erklären, damit der Staat seine Bilanzen wieder in Ordnung bringe.“ Mit dieser Aussage wurde er unsterblich und ist auch heute noch – bedauerlicherweise – sehr zeitgemäß. Auch zu Zeiten Konrad Peutingers und Jakob Fuggers entstand durch den Zufluss an Gold und Silber eine säkulare Inflation, denn dem Zuwachs beim Münzhandel stand keine entsprechen-

Demokratien können Staatsschulden nur vorübergehend senken. de Vermehrung an Waren und Dienstleistungen gegenüber: So verstand Jakob Fugger in jedem Fall genug von Metallurgie, um seinem Hause das Monopol der alpenländischen Silberbergwerke zu sichern und aus „kurzer Münze“, wenn es für den Kaiser not tat, „lange“ zu machen. Das hieß, die Währung geringfügig zu strecken, wie eine moderne Regierung, ohne dass die Leute es merkten.

Kreditangebot verknappen. In der Praxis träfe dies vor allem Institute mit einem hohen Anteil von Mittelstands- und Privatkundengeschäft. Eine weitere Erkenntnis aus der Krise ist sicherlich auch, dass man den Risiken der Marktliquidität zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. So stand das Thema bei Aufsehern wie Banken viele Jahre im Schatten der Eigenkapitalregulierung. Ein Grund dafür war, dass vor der Krise Liquidität selbst in exotischen Marktsegmenten als selbstverständlich erschien. Die Krise hat damit gründlich aufgeräumt. Sie hat die Bedeutung einer soliden und diversifizierten Refinanzierung eindrucksvoll unterstrichen. Durch das massive Eingreifen der Notenbanken, welche die Märkte mit enormer Liquidität fluteten, konnte noch Schlimmeres und damit ein völliger globaler Zusammenbruch der Finanzströme und in der Folge von Finanzinstituten verhindert werden. Insgesamt hat Deutschland bislang 28 Milliarden Euro eingesetzt, um den in der Finanzkrise getroffenen Kreditinstituten mit neuem Kapital auszuhelfen. Weitere 155 Milliarden Euro hat es an Garantien ausgelegt. Bisher haben die Steuerzahler diese Kosten weitgehend getragen, obwohl insbesondere die Großbanken für die Misere verantwortlich waren. Das soll nicht noch einmal passieren. Es hat schon verschiedene Vorschläge gegeben, wie die betroffenen Banken letztendlich ihre eigenen Schieflagen auffangen können. Als erstes wurde eine Börsenumsatzsteuer (Tobin-Tax) intensiv diskutiert, die aber mit vielen Nachteilen behaftet ist. So liegt das Problem eben nicht bei den Börsengeschäften, sondern bei den Banken selbst. Viele Fondsmanager und Versicherungen, die an der Börse Wertpapiere handeln, hatten mit der Entstehung der Finanzkrise überhaupt nichts zu tun. Am 31. März wurde im Bundeskabinett eine Bankensteuer beschlossen, um Gewinne, die durch die Staatsinterventionen ermöglicht wurden, zum Teil wieder abzuschöpfen. Bisher wird

In der heutigen Situation ist es bemerkenswert, dass sogar aus den Reihen des Internationalen Währungsfonds gefordert wird, mittelfristig statt zwei Prozent ein vierprozentiges Inflationsziel anzustreben. Damit käme nämlich die Verankerung der Stabilitätserwartungen ins Rutschen, also das Grundvertrauen in einen langfristig stabilen Geldwert, das ja Generationen übergreifend angelegt sein muss. Niemand wäre sicher, ob nicht in einer späteren Krise noch höhere Inflationsziele genannt würden. Eine der ersten Erkenntnisse aus der Krise war, dass wir neben einer Finanzaufsicht auf Institutsebene auch eine Aufsicht brauchen, die den Gesamtmarkt beobachtet. Der ganzheitliche Blick auf Systemrisiken ist ein wichtiges Element auf der Suche nach stabileren Märkten. Ferner fehlt es an international abgestimmten Verfahren, die den gleichen Grundprinzipien verpflichtet sind. Was in der Krise ebenfalls offensichtlich wurde: Wir brauchen eine Reform der Eigenkapitalstandards bei Banken. So wurden deutliche Schwächen in der gegenwärtigen Methodik offenbart. Ein augenfälliges Beispiel sind die Grenzen der bisher benutzten mathematisch-statistischen Modelle, die Extremszenarien nicht hinreichend abbildeten. Generelle Eigenkapitalzuschläge ohne Rücksicht auf das Geschäftsmodell einer Bank würden prozyklisch wirken und vor allem bei Kreditinstituten mit relativ geringen Risiken die Kapitalkosten erhöhen und somit das

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Staatsbankrott ist ein Schreckenswort, tatsächlich aber geschehen sie sehr oft.

31


POLITIK & WIRTSCHAFT zwar im Ausland noch keine vergleichbare Steuer erhoben, so dass Wettbewerbsnachteile für deutsche Kreditinstitute entstehen könnten. Allerdings nährte die britische Regierung die „Hoffnung“ auf eine globale Bankenabgabe, die weltweite gleiche Bedingungen schaffen würde. Bei einem Volumen von circa 1,2 Milliarden Euro pro Jahr in Deutschland benötigt man allerdings Jahrzehnte, um aus diesem Topf die Folgen der letzten Finanzkrise zu begleichen. Der Beitrag der einzelnen Institute sollte ihre systemische Bedeutung widerspiegeln. Damit ist die gesamte Bankenbranche ungleich zu besteuern. Kleine Bankhäuser oder auch Volksbanken und Sparkassen, die über einen hohen Kundeneinlagenteil verfügen und damit kein oder nur ein kleines systemisches Risiko darstellen, sollten deshalb weniger oder gar nicht zahlen müssen. Die Kehrseite einer Bankenabgabe ist, dass die Eigenkapitalbildung der Banken beeinträchtigt würde, wodurch bei der Kreditvergabe wiederum stärkere Zurückhaltung erforderlich wäre. Um Steuerzahler bei der Bankenrettung zu verschonen, gibt es einen weiteren Vorschlag gegen Bankenpleiten. Dieser besteht darin, dass die Gläubiger, die letztendlich von der Bankenrettung profitieren, auch dafür bezahlen sollten. Das „rettende“ Instrument sollen „Coco-Bonds“ sein, eine neue Art von Wertpapieren zwischen Aktie und Anleihe. Es muss unser Ziel sein, auch große und stark vernetzte Finanz-institutionen im Falle ihres Scheiterns vom restlichen System zu isolieren und aus dem Markt ohne große systemische Verwerfungen ausscheiden zu lassen. Wir müssen verhindern, dass kranke Finanzinstitute gesunde Wettbewerber infizieren. So dürfen sich Banken nicht mehr darauf verlassen können, dass sie im Krisenfall aufgrund ihrer „systemischen Bedeutung oder Vernetzung“ ohnehin gerettet werden. Bei all den aktuellen Nachrichten stellt sich die Frage, inwieweit wir uns nur um die schwächeren Länder der EU Sorgen machen müssen oder ob wir uns nicht auch sehr um unser eigenes Land Sorgen machen sollten. Bei der Regulierung der Finanzmärkte sind vermeintlich einfache Lösungen oft nicht zielführend: Sie werden der Komplexität der Materie nicht gerecht. Eine sorgfältige Analyse und Abwägung der potentiellen Konsequenzen neuer

Henning von der Forst ist seit 1993 als Vorstandsmitglied der NÜRNBERGER Versicherungsgruppe verantwortlich für den Bereich Kapitalanlagen. Im vergangenen Jahr wurde er von der Fachzeitschrift Portfolio Institutionell für das beste Kapitalanlagemanagement der Versicherungswirtschaft in Deutschland ausgezeichnet. Die FÜRST FUGGER Privatbank KG hat er seit der mehrheitlichen Übernahme im Jahr 1999 durch die NÜRNBERGER Versicherungsgruppe zunächst als Aufsichtsrat begleitet, seit November 2005 ist er persönlich haftender Gesellschafter, seit Mai 2009 Sprecher der Geschäftsleitung.

Regulierung ist nicht nur legitim, sondern geboten, um unerwünschte Nebeneffekte möglichst zu vermeiden. Ferner müssen diese Regulierungen international abgestimmt sein. Die Wohlfahrtsverluste, ausgelöst durch nationale Alleingänge, können und sollten wir uns nicht leisten. Trotz vieler Herausforderungen, vor denen wir stehen, dürfen uns insbesondere die positiven Nachrichten aus der Realwirtschaft für die nähere Zukunft optimistisch stimmen. Trotzdem muss besonnen aber zügig, national und international gehandelt werden. Eines hat sich aber gerade in der Krise bewahrheitet: Das Prinzip der Nachhaltigkeit und Handeln nach Langfristigkeit und Beständigkeit darf niemals aus der Mode kommen und ist immer schnellem Erfolgsdenken vorzuziehen – ganz im Sinne Konrad Peutingers und Jakob Fuggers. n

Bedrohliche rote Balken: Die hohen Haushaltsdefizite in der EU sind der eigentliche Grund für die Finanzkrise.

32

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


The place to be... Do mog i hi! Informieren Sie sich Ăźber unsere Angebote unter

www.derwesterhof.de Westerhof Segelarrangement mit Grundkurs Segeln buchbar mit Anreise nreise an allen Wochentagen

ab sofort

Olaf-Gulbransson-StraĂ&#x;e 19 . D-83684 Tegernsee Fon +49 8022 188 988 . Fax 188 990 info@derwesterhof.de


POLITIK & WIRTSCHAFT Manfred Bayerlein

Die teure Weltreise der billigen Jeans Nachhaltigkeit wird ein großes Thema für die Wirtschaft – Der TÜV SÜD hilft dabei

Auch TÜV-geprüft: Die Tankanlage für einen mit Wasserstoff betriebenen Bus.

Die Wissenschaft versteht unter der Nachhaltigkeit: Gleichrangiges Verfolgen ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele. Das bedeutet, die ökonomischen Grundlagen für den Wohlstand dauerhaft zu sichern, die Umwelt durch Ressourcenschonung zu erhalten und soziale Verantwortung auch für künftige Generationen wahrzunehmen. Bevor man sich näher mit der Nachhaltigkeit beschäftigen kann, müssen zuerst einige Konfliktfelder der Zukunft erwähnt werden:

34

• Die wachsende Weltbevölkerung und der steigende Energieverbrauch bei begrenzten Ressourcen bedrohen die Versorgungssicherheit und den Wohlstand. Die Gefahr von Verteilungskämpfen und sogar Kriegen um Energie und Wasser wächst. • Die Erderwärmung durch Treibhausgase gefährdet die Ökosysteme. Die Gefahr ist groß, dass Flüchtlingsströme im großen Umfang in die Länder drängen, die sichere Ökosysteme verheißen.


POLITIK & WIRTSCHAFT • Die Globalisierung der Weltwirtschaft verlagert die Produktion von den Industrieländern in die Niedriglohnländer. Das bedeutet Gefahren für Produkte, Kunden, Mitarbeiter und Umwelt. TÜV SÜD befasste sich schon bei seiner Gründung vor 144 Jahren mit der Herausforderung der Nachhaltigkeit. Während der industriellen Revolution, bedrohten die technischen Neuerungen die Menschen, weil sie vielfach unausgereift auf den Markt kamen. Deshalb wurden die Technischen Überwachungsvereine gegründet, damals als „Gesellschaften zur Überwachung und Versicherung von Dampfkesseln“. Von Anfang an ging es um die Sicherheit von Produkten, also um die Sicherung des nachhaltigen Betriebes, aber auch um die technologische Weiterentwicklung und um die Schulung des Bedienpersonals. Die TÜVs waren so erfolgreich, dass ihre Tätigkeitsfelder sich sehr schnell ausdehnten. Der technische Fortschritt und das industrielle Wachstum in Deutschland und die Qualitätsmarke „Made in Germany“ wurden auch ganz wesentlich durch die TÜVs mit geprägt. Heute ist TÜV SÜD weltweit der viert-

Der TÜV SÜD muss auch für die Elektro­ autos Sicherheit und Zuverlässigkeit prüfen. größte Prüf- und Zertifizierdienstleister mit insgesamt 15.000 Mitarbeitern bei über 600 Standorten weltweit und einem Umsatz von 1,4 Milliarden Euro im Jahre 2009. „Nachhaltige Mobilität“ beschäftigt sich insbesondere mit alternativen Antrieben bei Fahrzeugen. Entscheidende Faktoren für die Akzeptanz und die Durchsetzung am Markt sind die Reichweite sowie die Sicherheit von Fahrzeugen und deren Infrastruktur. Dabei kommt den Batterien eine ganz besondere Bedeutung zu, von deren Kapazität die Reichweite ganz entscheidend beeinflusst wird. TÜV SÜD stellt durch seine Zertifizierungen sicher, dass die von den Herstellern angegebenen Reichweiten für Elektrofahrzeuge auch wirklich eingehalten werden. Elektromobilität stellt auch neue Herausforderungen an das Werkstattpersonal und an Rettungskräfte. Sie alle müssen im Umgang mit der neuen Hochvolt-Technologie geschult werden. Es ist Aufgabe von TÜV SÜD, nicht nur zu kontrollieren, sondern auch die Normen mit zu definieren, damit die künftige CO2 -arme Mobilität auch wirklich überall verfügbar ist. Bis 2030 wird mit fünf Millionen

Elektrofahrzeugen gerechnet. Besonders aufmerksam muss dabei die Entwicklung in China betrachtet werden. Gerade die Chinesen forcieren die Entwicklung der Elektromobilität. China sieht keine Chance, bei der heutigen „Verbrennungsmotorentechnologie“ aufzuholen. Auf dem Sektor „Elektromobilität“ hat Europa aber keinen oder nur einen ganz geringen Vorsprung, den die Chinesen mit umso größerer Intensität schnell wettmachen können. Die Bevölkerung wünscht sich Strom, der durch erneuerbare Energien produziert wird. Das ist der Markt der Zukunft. Für die Beurteilung der Nachhaltigkeit, sind bei der Stromerzeugung der Wirkungsgrad, die Erzeugungskosten und die CO2 -Emissionen wichtig. Strom aus erneuerbaren Energiequellen gilt als besonders nachhaltig, weil er ressourcenschonend und CO2 -frei ist. Die Erzeugungskosten sind aber sehr unterschiedlich, je nachdem, mit welcher Quelle der Strom erzeugt wird. Am wirtschaftlichsten ist Strom aus Wasserkraft, Kernkraft, Kohle und aus Wind. TÜV SÜD hat bei den regenerativen Energien insbesondere Dienstleistungen für Windkraftwerke und komplette Windparks sowie für solarthermische Kraftwerke und Photovoltaikanlagen entwickelt. 2009 wurden allein in Deutschland 596 Terrawatt-Stunden (TWh) Strom erzeugt, für 2030 wird mit einem Bedarf von 614 TWh gerechnet. 2009 lag der Anteil aus fossilen Energiequellen bei 58 Prozent, der Anteil aus Kernenergie betrug knapp 23 Prozent, und der aus regenerativen Energiequellen knapp 16 Prozent. Wenn die wirtschaftlich vertretbaren Potentiale zur Gewinnung erneuerbarer Energien in Deutschland ausgeschöpft werden, kann der Energiemix in 2030 wie folgt aussehen: regenerative Energien 43 Prozent, Kernenergie 22 Prozent, fossile Energie 31 Prozent und sonstige 4 Prozent. Letztlich ist eine Reduzierung des CO2 -Ausstoßes nur möglich, wenn die Kernenergie als Übergangstechnologie noch erhalten bleibt. Man sieht, dass regenerative Energien allein nicht genügen werden, um unseren Strombedarf auch nur annähernd zu befriedigen. Berücksichtigt man, dass regenerative Energien auch nicht ständig verfügbar sind, weil der Wind nicht ständig weht und die Sonne nicht Weil immer wieder Dampfkessel explodiert sind, wurden vor 144 Jahren Technische Überwachungsvereine gegründet.

35


POLITIK & WIRTSCHAFT ständig scheint, muss aus heutiger Sicht der nötige Anteil der traditionellen Energien immer noch hoch angesetzt werden. Die stark schwankende Verfügbarkeit ist das besondere Problem der regenerativen Energien. Wenn sie zu wenig Energie liefern, muss die Energieerzeugung aus fossilen Energieträgern oder aus Kernenergie einspringen. Dafür müssen permanent „Schattenkraftwerke“ vorgehalten werden. Wenn sie zu viel Energie liefern, müssen andere Kraftwerke zurückgefahren oder Energiemengen gespeichert werden. Für die Speicherung fehlen aber bisher ausreichende Kapazitäten. Diese müssen noch auf- und ausgebaut werden. Es fehlen bisher auch transeuropäische Netze, über die überflüssiger Strom weiterverteilt und weiterverkauft werden könnte. Es muss also bis auf Weiteres ein großer Teil der Energieversorgung über fossile Energieträger erfolgen. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, neue Technologien für eine ressourcenschonende und nachhaltige Energieerzeugung zu nutzen. So kann beispielsweise durch hitzebeständigere Werkstoffe die Dampftemperatur in Kohlekraftwerken von gegenwärtig 550 Grad auf 700 Grad erhöht werden. Damit wird der Wirkungsgrad von 35 bis auf 50 Grad gesteigert. So können bei der gleichen erzeugten Strommenge der Brennstoffeinsatz und der CO2 -Ausstoß deutlich verringert werden. TÜV SÜD unterstützt im Großkraftwerk Mannheim die Erprobung dieser 700-Grad-Technologie. Die Experten testen neue Werkstoffe auf Nickelbasis unter Realbedingungen, bewerten das entsprechende Konzept und entwickeln Betriebs- und Prüfkonzepte für die neuen Werkstoffe. Kohle als fossiler Energieträger ist in manchen Staaten noch lange vorhanden. In USA, Russland, China und Australien wird die Reichweite der Kohlevorräte bei heutigem Verbrauch auf etwa 300 Jahre geschätzt. Doch Kohle führt zu einem hohen CO2 -Ausstoß. Deshalb müssen die Abtrennung, Verflüssigung und Speicherung von CO2 vorangetrieben werden. Dabei aber bleibt das Problem,

Kohle wird noch lange als fossiler Energieträger genutzt werden. wie die unterirdischen Lagerstätten sicher gestaltet und betrieben werden können. CO2 ist geruchlos und schwerer als Luft. 1986 trat aus einem Vulkansee in Kamerun CO2 in großem Umfang aus. Es gab 1.500 Tote. TÜV SÜD begleitet die Energiewirtschaft bei der Entwicklung sicherer Verfahren für die Beherrschung der CO2 -Lagerung. Die Experten unterstützen Entwicklungsarbeiten, erstellen die Prüf- und Abnahmekonzepte und überprüfen vor allen Dingen auch die Betriebsgestaltung. Ein großer Energiefresser sind die Gebäude. Weltweit werden 40 Prozent der Energie durch Gebäude verbraucht. Sie erzeugen 25 Prozent des globalen CO2 -Ausstoßes. Es ist also eine besonders wichtige Aufgabe, gerade die Gebäude energiesparend zu gestalten. Rund 70 Prozent der 17 Millionen Wohngebäude und 1,5 Millionen Nichtwohngebäude in Deutschland wurden vor 1977 errichtet, die meisten ohne adäquate Wärmedämmung. Nach Schätzung von TÜV SÜD können 80 Prozent des Energiebedarfes für die Gebäudeheizung in Deutschland eingespart werden. Die Deutsche Energieagentur (DENA) hat bis 2020 ein Einsparpotenzial von jährlich 21 Milliarden Litern Heizöl berechnet. Ein Viertel der errechneten Einsparpotenziale kann durch bessere Klima- und Lüftungsanla-

36

Viel verschwendete Energie für eine Hose: Vom Garn bis zum Kleiderbügel legte eine Jeans bis zu 60.000 Kilometer zurück.

gen erzielt werden. Bei neuen Produktionsanlagen und Gebäuden unterstützt TÜV SÜD die Bauherren von vorne herein dabei, Energiesparkonzepte zu entwickeln. Eine spezielle Software errechnet den voraussichtlichen Energiebedarf (Prozesswärme, Gase, Abfälle). Daraus kann gemeinsam mit dem Bauherren oder Betreiber ein maßgeschneidertes Energiekonzept für die gesamte Nutzungsdauer entwickelt werden. So vergab TÜV SÜD beispielsweise das Zertifikat „Energieeffizientes Unternehmen“ an einen Hersteller von Abfüllanlagen für die Getränkeindustrie: Allein durch dünnere PET-Flaschen konnten 15 Prozent Energie einspart werden, bei der Flaschenreinigung wurden die Brennstoffkosten um fast ein Drittel reduziert. TÜV SÜD zertifiziert auch die Eigenschaften und die Produktionsprozesse von Textilien. Zum Beispiel im Hinblick auf chemische Inhaltsstoffe und Kinderarbeit. Dies ist schon allein deshalb wichtig, da die Herstellung über viele Stufen und Länder verteilt ist. Die gesamte Produktions- und Beschaffungskette ist weder für den Handel noch für die Kunden nachverfolgbar. Sehr eindrucksvoll ist der Weg einer Jeans vom Garn bis auf den Kleiderbügel: In Indien wird die Baumwolle angepflanzt und geerntet; von Indien reist sie in die Türkei, wo sie zu Garn gesponnen wird. Das gesponnene Garn geht nach China, wo es eingefärbt wird. Das eingefärbte Garn wird nach Polen transportiert und dort gewebt. In Frankreich werden zwischenzeitlich die Waschanleitungen, die Nieten und die Knöpfe hergestellt. Die in Polen gewebten Stoffe werden gleichzeitig mit den Produkten aus Frankreich auf die Philippinen geschickt, wo sie zu Jeans vernäht werden. Die auf den Philippinen genähten Jeans werden dann nach Griechenland transportiert und dort stone washed, moon washed, bleached oder over dyed gewaschen. So haben die Jeans und ihre Produkte gut 60.000 Kilometer zurückgelegt, ehe sie bei uns in den Handel kommen. Ein abenteuerlicher Weg, der unglaublich viel Energie frisst – und trotzdem bleibt die Jeans so preiswert. Das Beispiel der weitgereisten Jeans zeigt, wie notwendig es ist, über Nachhaltigkeit noch viel mehr und noch viel intensiver als bisher nachzudenken. Denn die Nachhaltigkeit ist eine Voraussetzung für den Bestand und die Weiterentwicklung moderner Zivilgesellschaften. n

Dr. Manfred Bayerlein, von 2003 bis 2010 bei TÜV SÜD in München, von 2004 bis 2010 als Vorstandsmitglied. In seinem Beitrag präzisiert er die künftigen Schwerpunkte des TÜV SÜD unter besonderer Berücksichtigung der Nachhaltigkeit.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


Gesundheit

Unser höchstes Gut – Beiträge auf den Seiten 38 bis 61

Gebrechlich einsteigen und jung wieder aus dem Wasser herauskommen, danach fröhlich tanzen und ein Festmahl feiern: „Der Jungbrunnen“, 1546 von Lucas Cranach dem Älteren gemalt.

37


GESUNDHEIT Ilse Aigner

Wohl bekomm’s Gesund ernähren ist kein Geheimnis – Genießen ist erlaubt und erwünscht

Wer an Zeitschriftenregalen vorbeikommt, sieht auf den Titelseiten im wöchentlich wechselnden Rhythmus zahlreiche Ernährungstipps. Doch zu einem gesunden Lebensstil gehört mehr. Die Bundesregierung hat dazu den nationalen Aktionsplan „IN FORM“ ins Leben gerufen. Erwachsene sollen gesünder leben, Kinder gesünder aufwachsen und alle sollen von einer höheren Lebensqualität und gesteigerter Leistungsfähigkeit profitieren. Wie zwei Seiten einer Medaille gehören bewusste Ernährung und mehr Bewegung zu einem gesunden Lebensstil. Nur wenn beides auf Hochglanz poliert ist, profitieren wir dauerhaft davon. Die Zutaten für eine bewusste Ernährung finden wir praktisch vor unserer Haustüre. Wo weiß man das besser als in Bayern, der „Heimat der Genüsse“. Gesunde Ernährung hat weder mit vorgegebenen Speiseplänen noch mit Ge- oder Verboten zu tun, sie setzt auf Genuss und Vielfalt. Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme, es ist Teil unserer Kultur. Es gilt: Genießen ist erlaubt und erwünscht! Das wissen wir in Bayern doch am besten.

Gemeinsam kochen macht auch den Kindern Spaß. Zu einer gesunden Ernährung gehört neben dem Genuss auch die Wertschätzung von Lebensmitteln. Doch das Wissen über die Herkunft unserer Lebensmittel ist heute leider nicht mehr selbstverständlich. Viele haben den direkten Bezug zur Landwirtschaft verloren und damit zu den Grundlagen der Nahrungsmittelerzeugung. Milch wächst eben nicht in Tetra-Paks und Semmeln nicht am Brotbaum. Unsere heimische Land- und Ernährungswirtschaft produziert vielmehr Tag für Tag eine große Vielfalt an sicheren Lebensmitteln. Dahinter stecken jede Menge Wissen, Können und Engagement. Auch das sollte sich in der Wertschätzung unserer Nahrungsmittel zeigen. Unter dem Dach von IN FORM haben sich so eine Vielzahl von Initiativen zur Ernährungsbildung für Groß und Klein zusammengetan. Gute Ideen und Projekte sollen miteinander verknüpft und bekannter gemacht werden. Wir wollen ein gutes Gewissen mit jedem Bissen und Freude an Bewegung vermitteln.

38

Gerade Kinder wissen nur noch wenig darüber, woher die Lebensmittel kommen und wie man sie frisch zubereitet. Beim aid-Ernährungsführerschein zum Beispiel lernen Grundschüler, wie man Obst und Gemüse richtig zubereitet und wie lecker Selbstzubereitetes schmeckt. Sie entdecken dabei gleichzeitig, welchen Spaß es machen kann, wenn man gemeinsam kocht. Nicht nur für Kinder bietet IN FORM etwas, sondern für jedes Alter. Wie sich der Geschmack und die Bedürfnisse des Körpers mit dem Alter verändern, so sollten sich auch die Koch- und Ernährungsgewohnheiten anpassen. Unter dem Motto „Fit im Alter – gesund essen, besser leben“ gibt es viele interessante Angebote von Kochkursen über Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsverpflegung in Senioreneinrichtungen bis hin zu Aktionen für die bessere Lesbarkeit von Etiketten. Wer mehr dazu wissen will, wie Deutschland IN FORM kommt, kann sich im Internet unter www.in-form.de informieren. In diesem Sinne: Wohl bekomm’s – denn gesunde Ernährung ist wahrlich kein Geheimnis! Entdecken Sie es selbst! n

Ilse Aigner ist Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die 44-Jährige Oberbayerin hat Elektrotechnik gelernt und arbeitete bei Eurocopter in der Hubschrauber-Entwicklung. Seit 1998 ist sie Mitglied im Bundestag und folgte im Oktober vergangenen Jahres Horst Seehofer ins Bundeskabinett nach, der nach Bayern gewechselt ist. Ilse Aigner verbindet Charme mit Durchsetzungskraft und wird von den Bauern als kompetente Gesprächspartnerin geschätzt.


GESUNDHEIT

39


GESUNDHEIT Paul Libera

Mit Herz und Verstand Das Deutsche Herzzentrum München ist Top-Adresse für Herzkranke weltweit – Schnellere Hilfe für Infarktpatienten

„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“. heißt es in Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Kein anderes menschliches Organ hat in allen Kulturen eine ähnliche Mystifizierung erfahren, wie das Herz. William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufes, erkennt 1628: „Das Herz der Lebewesen ist der Grundstock ihres Lebens, der Fürst ihrer aller, der kleinen Welt Sonne, von der alles Leben abhängt, alle Frische und Kraft ausstrahlt.“ Knapp vier Jahrhunderte später gilt das Deutsche Herzzentrum München unter seinem Kardiologie-Direktor Professor Albert Schömig als eines der weltweit führenden Kompetenzzentren für Herz- und Kreislauferkrankungen. Auch bei der dort vorherrschenden eher nüchternen Betrachtung des Herzens als reinen Hohlmuskel bleiben den Ärzten und Wissenschaftlern auch heute noch genügend Momente, immer wieder aufs Neue faszinierende Details an diesem Organ zu erkennen. Dies belegt die außergewöhnlich hohe Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen der Münchner Forscher in den letzten Jahren. Mit der großen Liste ihrer Publikationen nehmen sie seit Jahren in Deutschland einen Spitzenplatz ein. Gemeinsam mit der 1. Medizinischen Klinik und Poliklinik des Klinikums rechts der Isar bildet die Klinik für Herz- und Kreislauferkrankungen des Deutschen Herzzentrums München das Zentrum für kardiovaskuläre Erkrankungen an der Technischen Universität München. Mit jährlich über 6.000 Herzkatheter-Untersuchungen ist es eines der großen Spezialzentren deutschlandweit. Für die Versorgung von Patienten mit akutem Herzinfarkt steht rund um die Uhr ein Katheterteam zur Verfügung, wodurch die Zeitspanne von der Ankunft eines Infarktpatienten in der Klinik bis zur Wiedereröffnung des Infarktgefäßes im Mittel weniger als 70 Minuten beträgt.

40

Trotz aller medizinischen Fortschritte sind Herzkrankheiten in den Industriestaaten noch immer die Todesursache Nummer eins, weit vor allen Krebsarten zusammen. Und das, obwohl auf dem Gebiet der Herzerkrankungen hervorragende Fortschritte erzielt wurden – im Gegensatz zur Krebstherapie, bei der man immer noch auf den großen Durchbruch wartet. Besonders wichtig ist es, akute Infarktpatienten möglichst rasch behandeln zu können. Um dies zu erreichen, hat Klinikdirektor Professor Schömig das „Münchener Herzinfarkt-Modell“ initiiert. „Wir wollten erreichen“, so der stellvertretende Klinikdirektor Professor Melchior Seyfarth, „dass die Patienten direkt in die richtigen Kliniken, also in Kliniken mit einer 24-Stunden-Bereitschaft für einen Herzkatheter, gebracht werden. Wir hatten die Infrastruktur dafür, dass alle Patienten im Raum München ohne Zeitverlust in qualifizierten Herzzentren behandelt werden können. Doch leider wurde sie nicht optimal genutzt.“ Das hat sich durch die Initiative geändert, und Seyfarth kann ein ungewöhnlich positives Resümee ziehen: „Von den Patienten, die mit einem Herzinfarkt eingeliefert werden, konnten doppelt so viele gerettet werden. Wird das Münchner Herzinfarkt-Modell konsequent umgesetzt, sterben deutlich weniger Menschen an einem Herzinfarkt.“ Wissenschaftlich ist das Zentrum eines der erfolgreichsten Deutschlands: Was den Nürnberger Meistersingern bei Richard Wagner ihr Vorsingen war, ist den Forschern aus der Europäischen Union der Wettbewerb um Fördergelder: Hier setzten sich die Münchner Herzforscher um die Professoren Adnan Kastrati und Steffen Massberg vor einigen Wochen gegen starke europäische Konkurrenz durch und gewannen Forschungsmittel in Höhe von fast sechs Millionen Euro. Wenngleich es eine Zusammenarbeit mit der Industrie durchaus gibt, wie beispielsweise bei der Entwicklung neuer Herzkranz-

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


GESUNDHEIT gefäß-Stents oder bei medizinischen Großgeräten, so sind die Münchner Forscher dank beachtlicher staatlicher Fördergelder stolz auf ihre intellektuelle und finanzielle Unabhängigkeit von der Pharma- und der Medizinprodukte-Industrie. „Wir suchen nach der Wahrheit, also müssen wir unabhängig vom Einfluss der Industrie bleiben“, betont die Kardiologen-Professorin Julinda Mehilli. Sie beschäftigte sich in der Forschungsgruppe ISAR systematisch mit der blutverdünnenden Therapie bei Herzkranzgefäßverengungen. Eines der Ergebnisse war, dass bei den meisten Patienten, die eine Koronarintervention wegen verengter Herzgefäße benötigen, der von der Pharmaindustrie stark propagiert Wirkstoff „Glycoprotein IIb/IIIa“ unwirksam ist. Die Tochter einer Ärztefamilie aus Albanien studierte in Tirana und schlug die Kardiologen-Laufbahn ein. Als Albanien 1992 unabhängig wurde, wechselte sie im Rahmen eines Förderprogrammes nach München und setzte hier ihre Studien zum Thema „geschlechtsspezifische Unterschiede bei Männern und Frauen mit koronarer Herzerkrankung“ fort.

Technologie für medikamentenbeschichtete Stents entwickelt und optimiert. Studien haben belegt, dass dieses innovative Stentsystem eine verbesserte und sichere Behandlung von Herzkranzgefäß-Patienten erlaubt. In diesem Jahr ist eine weitere Behandlungsmethode hinzugekommen, die zurzeit großes Aufsehen erregt: Ein neues, nicht-operatives Verfahren zur Herzklappenbehandlung. Viele Menschen leiden an Herzklappenfehlern. Einer der häufigsten ist die Mitralklappeninsuffizienz, bei der die Mitralklappe undicht ist. Dadurch leiden die Patienten unter Atemnot und Leistungsschwäche. Bei der neuen schonenden Behandlung wird der neu entwickelte Clip über die Leiste eingeführt und an der Herzklappe so aufgestellt, dass er die beiden Segel der Herzklappe miteinander fixiert und somit die not-

Die bedeutendsten Entwicklungen der letzten Jahre wurden bei Ballondilatation und Stentimplantation erzielt. Durch sie wurde die Behandlung der Patienten mit Koronarerkrankungen grundlegend geändert. Falls die Ballondilatation nicht erfolgreich ist, führen die Kardiologen eine feine Metallhülse in das Gefäß ein, um es an der kranken Stelle zu stabilisieren und einer erneuten Verengung vorzubeugen. Diese Hülse heißt Stent. Das gesamte Spektrum der kardiologischen Patientenversorgung wird hier angeboten: Die elektrophysiologische Abteilung ist

In der Klinik mit Weltruf spricht man auch Russisch und Arabisch. eines der wenigen Zentren weltweit, das mit der neu entwickelten Magnetnavigation ausgestattet ist. Diese Behandlung wird insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit angeborenen Herzfehlern und Rhythmusstörungen angewendet. Die Abteilung für kardiovaskuläre Bildgebung arbeitet eng mit der Abteilung für Radiologie zusammen: Im Bereich der nicht-invasiven Bildgebung ist die Klinik eines der führenden Referenzzentren des Medizinischen Großgeräteherstellers Siemens weltweit. Weiterhin erlaubt eine neue dreidimensionale Technologie in der Ultraschall-Anwendung Klappenerkrankungen und andere komplexen Herzfehler besser beurteilen zu können. Im so genannten ISAR-Zentrum optimieren die Ärzte, insbesondere beim akuten Herzinfarkt, Katheter gestützte, nicht invasive Behandlungen der koronaren Herzerkrankung. Seit vielen Jahren werden im ISAR-Zentrum Studien zur Koronarintervention durchgeführt. Es hat sich zur weltweit anerkannten und kompetenten Institution entwickelt. So wurde in den letzten Jahren die

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

© Evalve Inc.

Unweit vom U-Bahnhof Maillingerstraße und mitten im dicht gebauten Neuhausen liegt in der Lazarettstraße 36 hinter einer Glasfassade das Herzzentrum. Die Klinik hat Weltruf, was sich schon bei den Patienten zeigt: Ein hoher Anteil kommt aus dem Ausland, vor allem aus Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Alle Wegweiser im Haus sind deutsch, russisch und arabisch. Über die Venen und mit einem nur minimalen Eingriff werden die Stents in die Herzkranzgefäße eingeführt.

wendige Dichtigkeit wieder herstellt. In der Regel ist hierfür nur ein kurzer stationärer Aufenthalt von Nöten, so dass die Patienten schon nach wenigen Tagen entlassen werden können und ihre neue Lebensqualität genießen können. Das Deutsche Herzzentrum München gehört hier zu den führenden Krankenhäusern in Europa mit der größten Erfahrung auf diesem Gebiet. Viele Insider sehen als einen Grund für den Erfolg, dass Professor Albert Schömig seit seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Kardiologie an der Technischen Universität die Klinik für Kardiologie am Deutschen Hertzzentrum und gleichzeitig die 1. Medizinische Klinik am Klinikum rechts der Isar leitet. Die gemeinsame Leitung stellte über Jahre in beiden Münchner Häusern die gleichen hohen Behandlungsstandards sicher, ermöglichte Ausbildungsrotationen zwischen beiden Häusern ebenso wie groß angelegte Studien mit höheren Patientenkollektiven. Diese beispiellose Erfolgsgeschichte zweier eng kooperierender universitärer Herzkliniken führte dazu, dass sich München und Bayern einen weltweiten Spitzenplatz in der kardiologischen Forschung sichern konnten. n Dr. Paul Libera ist Klinikmanager und Arzt in der Schweiz. 1966 in Augsburg geboren, studierte er an der TU München Medizin und arbeitete am Deutschen Herzzentrum und am Münchner Universitätsklinikum rechts der Isar. Der Schweizer Chirurg Professor Thierry Carrel holte ihn nach Bern, wo er zum Koordinator der Strategischen Allianz der Universitätsspitäler Basel und Bern im Bereich der Herzchirurgie berufen wurde.

41


GESUNDHEIT Horst Domdey

Maßgeschneiderte Medikamente

Biotechnologie macht künftig eine personalisierte Medizin möglich

„Maßgeschneiderte Medikamente“ versprechen vielen Patienten wesentlich bessere Chancen auf Heilung. Zwar unterscheidet sich ein menschliches Individuum auf der genetischen Ebene nur minimal von jedem anderen, doch diese minimalen genetischen Unterschiede haben in vielen Fällen das Potenzial, bei ihm über Krankheit und Gesundheit zu entscheiden. So kann der genetische Unterschied in einzelnen Fällen direkt den Krankheitsausbruch bewirken, viel häufiger jedoch sind die Fälle, bei denen ein kaskadengleiches Ineinandergreifen von molekularen Fehlern eine Krankheit auslöst. Ist dies für den Forscher und Arzt schon schwer zu durchschauen, so wird es bei der Auswahl einer geeigneten Therapie noch einige Grade komplexer: denn es ist wiederum der genetische Bauplan eines jeden Menschen, der – unter anderem – die Reaktionsfähigkeit des Patienten auf ein Medikament und damit auch die Wirksamkeit eines bestimmten Medikaments beim individuellen Patienten determiniert. Man spricht hier von der Pharmakogenomik oder spezieller Pharmakokinetik, da es etwa um die Frage geht, ob der individuelle Stoffwechsel einen Arzneistoff länger oder kürzer im Blutkreislauf belässt oder vor einer Wirkungsentfaltung bereits wieder abgebaut hat. Patienten, die über ähnliche solche Merkmale bei der Verstoffwechselung verfügen oder aber auch einzelne oder Gruppen von Gendefekten aufweisen, die als Vorhersagekriterium (sogenannte „Biomarker“) für die Entstehung schwerwiegender Krankheiten gelten, werden heute immer mehr in Patientengruppen zusammengefasst, für die sich die patientenspezifische Medikamentenentwicklung auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten lohnen kann. Denn die Pharmaindustrie muss die Entwicklungskosten, die bei einem Medikament heute bei rund einer Milliarde Dollar liegen, auch wieder verdienen.

42


GESUNDHEIT

Bisher lautete denn auch das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie, ein Medikament zu entwickeln, das bei möglichst vielen Patienten und wenn möglich auch noch bei mehreren Erkrankungen wirksam ist, um mit einem solchen „Blockbuster“ gutes Geld zu verdienen. Ein solches Wunschmittel (wie zum Beispiel das Aspirin) ist jedoch ausgesprochen selten entwickelt worden, sehr viel häufiger haben sich neben den positiven heilenden Wirkungen auch schlimme Nebenwirkungen bis hin zu Todesfolgen gezeigt, so dass die Industrie heute lieber ein wirklich wirksames Mittel für eine vielleicht kleinere Patientengruppe entwickeln würde, ohne dabei bei den Umsätzen große Abstriche machen zu müssen. Wem diese Betrach-

US-Studie: Fast jeder 4. stirbt an den Nebenwirkungen durch Medikamente. tungsweise zu sehr aus dem Industrieblickwinkel geraten ist, der muss sich nur vergegenwärtigen, dass natürlich auch der Patient stark profitiert, wenn er ein gut wirksames Medikament erhält, er nicht erst als Versuchskaninchen herhalten muss und dann höchstwahrscheinlich auch die Nebenwirkungen weniger schwerwiegend ausfallen dürften, als bei einem klassischen und daher nicht maßgeschneiderten Medikament „von der Stange“. Immerhin fast jeder vierte Todesfall in den USA wird bereits heute auf schädliche Nebenwirkungen von Arzneimitteltherapien zurückgeführt. Um dem Ziel einer solchen „personalisierten Medizin“ näher zu kommen, haben sich im Großraum München Biotechnologie- und Pharma-Unternehmen, Kliniken und wissenschaftliche Institutionen, also der gesamte Münchner Biotech Cluster, in einer gemeinsamen Initiative zusammengeschlossen und ein strategisches Konzept entwickelt, um das Ziels der personalisierten Medizin zu erreichen. Sie konnten damit eine hochkarätig besetzte Jury des so genannten „Spitzencluster-Wettbewerbs“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung überzeugen. Mit 40 Millionen Euro fördert der Staat nun in den nächsten fünf Jahren die Neuausrichtung der Münchner Biotechnologie- und Pharma-Unternehmen auf besagte personalisierte

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Das maßgeschneiderte Medikament als Zukunftsvision. Das Münchner Biotech Cluster investiert in den nächsten fünf Jahren bis zu 100 Millionen Euro in die Erforschung der „Personalisierten Medizin“.

Medizin unter dem Motto „m4 – eine neue Dimension in der Medikamentenentwicklung“. Die beteiligten Unternehmen wollen mindestens noch einmal so viel dazu geben. Auch das Land Bayern hat mindestens 14 Millionen Euro zugesagt, so dass sich das Gesamtvolumen auf fast 100 Millionen Euro summiert. Doch nicht die Geldbeträge sind dabei das Wesentliche, sondern die bessere Zusammenarbeit von industrieller Forschung und Entwicklung mit der angewandten Forschung in Universitätskliniken und -instituten. Neue Kooperationsprojekte von Firmen untereinander oder von Unternehmen mit akademischen Forschungsstätten sollen nun die Entwicklung neuer Medikamente verbessern und beschleunigen. Im Fokus des Großteils der Forschungs- und Entwicklungs­ arbeiten stehen dabei neue Diagnoseverfahren und Therapien für die in den meisten Fällen noch schwer therapiebaren Krebserkrankungen. Sie können nun mit den neuen Fördermitteln schneller zur Marktreife gebracht werden. Andere Projekte des Spitzenclusters setzten noch einen Schritt vorher an und beschäftigen sich mit der Wirkstoff-Findung. Das große Ziel des Münchner Ansatzes ist es dabei, sowohl die Effektivität eines Medikamentes im Patienten zu steigern, als auch die Effizienz bei der Produktentwicklung durch das Zusammenspiel der Partner zu verbessern. n

Prof. Dr. Horst Domdey, 1951 in SulzbachRosenberg geboren, studierte in Erlangen Chemie und Biologie, promovierte im Fach Chemie am Max-Planck-Institut für Biochemie in München und wurde 1989 an der LMU München im Fach Biochemie habilitiert. Er ist Mitgründer mehrerer Biotech-Firmen, war Geschäftsführer im Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IBZ) in Martinsried. Er ist Geschäftsführer der BioM Biotech Cluster Development GmbH in Martinsried und Sprecher des „Cluster Biotechnologie Bayern“ der bayerischen Staatsregierung.

43


GESUNDHEIT

Siegfried Balleis

Bundeshauptstadt der Medizinforschung © Siemens AG

Gesundheitswesen sichert in Erlangen jeden vierten Arbeitsplatz

Gesundheit als Wirtschaftsfaktor – vor zehn Jahren ein neuer Ansatz, heute von vielen durchaus akzeptiert. Nach der Devise „Stärken stärken“ hat sich Erlangen vor allem dank eines festen Schulterschlusses von lokaler Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Bürgerschaft im letzten Jahrzehnt als „Medical Valley“ fest etabliert. Medizin und Medizintechnik haben eine lange Tradition in unserer Stadt. Ob die Äthernarkose, das Röntgengerät, die künstliche Befruchtung oder der Operationssimulator, um nur einige Beispiele zu nennen – immer wieder war die Hugenottenstadt Schrittmacher für Deutschland. Natürlich waren es nicht nur diese Pionierleistungen Erlanger Wissenschaftler, die den Ausschlag dafür gaben, den Schwerpunkt des Erlanger Stadtmarketings auf den Bereich Gesundheitswesen zu legen. Vielmehr entstand der Gedanke und die Vision einer Art „Bundeshauptstadt der medizinischen Forschung, Produktion und Dienstleistung“ Mitte der 90er Jahre am Runden Tisch mit Wirtschaftsexperten, als es darum ging, das ökonomische Potenzial der Stadt zu analysieren, um dringend erforderliche Impulse für den Arbeitsmarkt zu schaffen. Eine Untersuchung

44

der spezifischen örtlichen Gegebenheiten zeigte eindeutig, dass ungewöhnlich viel ärztliche und medizintechnische Kompetenz in der Stadt versammelt ist. Am Sitz der zweitgrößten bayerischen Universität und Standort von weit über 200 Unternehmen mit den Schwerpunkten Medizintechnik, Pharmazie und medizinische Software mit dem Global Player Siemens Healthcare an der Spitze ist heute jeder vierte Arbeitsplatz im Gesundheitswesen angesiedelt. Natürlich spielt die Universität Erlangen-Nürnberg als bedeutende Bildungseinrichtung und zweitgrößter Arbeitgeber in Erlangen eine Schlüsselrolle. Die Medizinische Fakultät und das Klinikum mit seinen rund 6.000 Beschäftigten zählen zu den angesehensten in Deutschland. Mit ihrer Vielzahl von Forschungsverbünden zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sind sie an der Spitze unter den deutschen Universitäten. Ihre 24 Kliniken, aber auch das Klinikum am Europakanal und das Waldkrankenhaus St. Marien garantieren darüber hinaus eine ärztliche Versorgung auf hohem Niveau. Entscheidenden Rückenwind erhielten die Bestrebungen Erlangens, Kompetenzzentrum für Medizintechnik zu werden, vor allem auch durch die Entscheidung der

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


Der modernste Operationssaal der Welt, neueste Geräte und wissenschaftlich fundierte Diagnostik- und Therapie-Verfahren – das Universitätsklinikum Erlangen umfasst mit seinen 22 Kliniken, zehn Abteilungen, sechs Instituten und mit insgesamt 6000 Mitarbeitern alle Bereiche der modernen Medizin.

Selbst beim Frühchen können angeborene Herzfehler mit der europaweit modernsten Herzkathederanlage bei geringer Strahlenbelastung operiert werden. Das 1,5 Millionen teure und von Siemens entwickelte Gerät wird in der Erlanger Kinderkardiologie genutzt.

Siemens AG, die neue Med-Fabrik nicht im Ausland, sondern in Erlangen zu bauen. Seit 2000 werden hier modernste Magnetresonanztomographen gebaut. Mit diesem einzigartigen Wissenschafts- und Firmenportfolio, zu dem auch noch zwei Fraunhofer-Institute sowie ein MaxPlanck-Institut, das Bayerische Laserzentrum und vieles mehr gehören, ist Erlangen ein hervorragender Standort für ehrgeizige Forschung und erfolgreiche Produktinnovationen. Die Stadt schlüpft dabei in die Rolle des Moderators, der die Strukturen für eine enge Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft

Mit dem Titel „Exzellenzzentrum für Medizintechnik“ geschmückt. ausbaut, der Kontakte herstellt und Foren einrichtet, um die beiderseitige Zusammenarbeit künftig noch erfolgreicher zu gestalten. So unterstützt und initiiert die Kommune Kooperationsprojekte wie das Netzwerk „Kompetenzinitiative MedizinTechnik-Gesundheit“, die den Kontakt zwischen regionalen Firmen, Forschungseinrichtungen und Kliniken knüpft und den Austausch untereinander fördert. Die Vernetzung der vorhandenen Aktivitäten schließt auch die Existenzgründer ein, die optimale Voraussetzungen für ihre Firmen finden. Mit dem Bau des neuen Innovationszentrums für Medizintechnik und Pharma, in dem sich bereits knapp 30 junge Firmen erfolgreich angesiedelt haben und über 150 Arbeitsplätze geschaffen wurden, konnte ein weiterer Meilenstein erreicht werden. Erlangen als führende Region Deutschlands in der Medizintechnik voranzubringen und „Medical Valley“ als Dachmarke zu etablieren, hat sich der Verein Medical Valley Bayern e. V. zum Ziel gesetzt. Der Verein, den die Stadt Erlangen, die Universität

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Erlangen-Nürnberg, die Industrie- und Handelskammer und Siemens Healthcare 2007 gründeten, will die wissenschaftliche, technische und klinische Kompetenz im Bereich der Medizin und Medizintechnik konsequent ausbauen und gemeinsam mit der Metropolregion Nürnberg regional vermarkten. Der Verein trägt inzwischen ein ganzes Portfolio an Maßnahmen: von der berufsbegleitenden Weiterbildung in allen Fragen der Medizinprodukte-Entwicklung, Symposien zu Innovationen in der transnationalen Forschung an der Technischen Fakultät, EU-Projekten zur Förderung der mittelständischen Industrie bis zu Bürgerinformations- und Coachingveranstaltungen für die Prävention und Früherkennung der wichtigsten Erkrankungen. Allein im Bereich Medizin und Medizintechnik haben sich in den vergangenen zehn Jahren über 60 Firmen neu angesiedelt oder ihre Geschäftsfelder entsprechend erweitert. Eine wirtschaftsfördernde Kommunalpolitik, frühzeitige Weichenstellungen für eine weitsichtige Stadtentwicklung und die tatkräftige Förderung durch den Freistaat Bayern gehen hier Hand in Hand und tragen bereits viele reife Früchte. Der Bayerische Cluster Medizintechnik hat folgerichtig seinen Sitz in Nordbayern mit Erlangen als dem Herzstück des bayerischen Medical Valleys. Nirgendwo sonst findet man eine größere medizintechnische Kompetenzdichte. Derzeitiger Höhepunkt in der Erfolgsliste der gemeinsamen Anstrengungen ist der Sieg im bundesweiten SpitzenclusterWettbewerb. Erlangen darf sich künftig mit dem Titel „Exzellenzzentrum für Medizintechnik“ schmücken. Mit den damit verbundenen 40 Millionen Euro Fördergelder haben wir jetzt die Möglichkeit, unsere Führungsposition in der Medizintechnik noch weiter auszubauen und weitere Innovationen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. n Dr. Siegfried Balleis, 1953 in Nürnberg geboren, studierte an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Betriebswirtschaftslehre, promovierte im Bereich Politik und Kommunikationswissenschaften und begann seine berufliche Laufbahn bei Siemens. 1988 wurde der CSU-Politiker zum Wirtschaftsreferenten der Stadt Erlangen berufen und 1996 erstmals zum Oberbürgermeister der Universitätsstadt gewählt. Das Amt hat Balleis seither ununterbrochen inne.

45


GESUNDHEIT Michael Weiser

Sinnliche Weltreise Die Malayen zahlten den Bewohnern der Molukken umgerechnet eine Dukate für ein Bündel getrockneter Pfefferschoten. Das selbe Bündel kostete viele Monate später, nach einer Reise von tausenden Meilen über Berge, Wüsten und Meere, auf den großen Märkten in Brüssel oder London 100 Dukaten – eine Wertsteigerung von 10 000 Prozent! Die Menschen in Europa benötigten den Pfeffer neben Salz, um Fleisch haltbar zu machen oder mit dem scharfen Gewürz zumindest den Hautgout zu verdecken. Die Europäer zahlten also zähneknirschend - und suchten bald nach dem Geheimnis der fernen „Gewürzinseln“, um die Gewinne künftig selber einzustreichen. Könige und Kaufleute streckten das Geld vor und große Entdecker wie Magellan setzten die Segel zu neuen Ufern. So wurden Gewürze zum Motor für den europäischen Aufbruch in die Moderne. Und sie würzten unsere Sprache: Ein Pfeffersack ist noch heute als Kaufmann zu identifizieren, gepfefferte Preise erregen noch immer unseren Ärger und wem aufgetragen ist, doch dorthin zu gehen, wo der Pfeffer wächst, weiß wohl, dass seine Reise gar nicht weit genug weg führen kann. Um so überraschender, dass man Gewürze heute allenfalls als Bestandteile der hohen Küche wertschätzt, sie meistens aber in schmucklose Plastikdosen

presst. Dass Gewürze einst nicht nur dem Genuss dienten, sondern die Menschen inspirierten, sie heilten und auf die Begegnung mit den Göttern vorbereiteten, zeigt die sehens-, riechens- und schmeckenswerte Ausstellung im Rosenheimer Lokschuppen. Man reist nicht nur zu den Anbaugebieten in den entfernten Ländern dieser Welt, sondern auch in die Zeit zurück. Man erfährt, wie der Römer Apicius würzte, wie ein Gewürzhändler reiste, welche Heilkraft Hildegard von Bingen in ihnen sah und wie sich die Globalisierung früh beim Essen und Trinken ausbreitete. Schon im 15. Jahrhundert vor Christus wissen wir von Gewürzexpeditionen des Pharao Thutmosis III. Dank historischen Rezepten kann man die Zeitreise in der heimischen Küche fortsetzen. Die Präsentation lässt einen erahnen, warum sich Menschen um der Würzmittel willen auf abenteuerlichste Reisen begaben und sogar Kriege riskierten. Für den „Duft des Paradieses“ – so der arabische Name für Gewürze – nimmt man halt einiges in Kauf. Gewürze, so darf man nach dem Besuch im Lokschuppen feststellen, trieben die Weltgeschichte voran. Und da man das mit allen Sinnen erfahren hat, vielleicht sogar bei einer der Schuhbekschen Gourmetführung mit einer delikat abgestimmten Speisenfolge, darf man von einem tiefen Lerneffekt ausgehen. n „Gewürze. Sinnlicher Genuss. Lebendige Geschichte“, Lokschuppen Rosenheim, Rathausstraße 24, bis 10. Oktober, Montag bis Freitag von 9 bis 18, Samstag, Sonn- und Feiertag von 10 bis 18 Uhr. Weitere Infos unter www.gewuerze-ausstellung.de

„Pfefferernte in Indien“. Aus: Marco Polo „Buch der Wunder“

46

© BnF

Rosenheim – Küchenfreunde, denen das bloße Anschauen und Verkochen von Kardamom, Pfeffer und Co. zu fad wird, sind hier bestens aufgehoben: Die Ausstellung Gewürze in Rosenheim vermittelt Geschichte, menschlichen Alltag und Kultur auf sinnliche Art und Weise.


Safran

Curry

Lorbeer

Zimt

Muskat

Rosa Pfeffer

Sternanis

Chilli

Nelken

Koriander

Ingwer

Vanille

47


GESUNDHEIT Interview mit Eckhard U. Alt

Heilung aus der Stammzelle Münchner Mediziner erwartet: Mehr Gesundheit durch regenerative Kräfte aus dem eigenen Körper

In einem historischen Münchner Gebäude, der ehemaligen Geburts- und Frauenklinik der Stadt München und späterem Postscheckamt in der Sonnenstraße, und dem angrenzenden Rückgebäude wurde kürzlich nach zweijähriger Aufbauund Startphase das Isar Medizin Zentrum eröffnet. Es ist die neueste von inzwischen 34 Privatkliniken in der bayerischen Landeshauptstadt. Im Gespräch mit Peter Schmalz erläutert Prof. Dr. Eckhard U. Alt, Ärztlicher Direktor und Aufsichtsratsvorsitzender des Isar Medizin Zentrums, weshalb durch private Krankenhäuser die medizinische Versorgung verbessert wird, was am deutschen Gesundheitswesen verändert werden kann und welche großen Chancen die Stammzellenforschung erwarten lässt. Bayerischer Monatsspiegel: Noch eine private Klinik in München. War das notwendig? Eckhard U. Alt: Darüber entscheiden letztlich die Patienten. Das Isar Medizin Zentrum IMZ ist eine Gemeinschaftsaktion von Kollegen aus meiner früheren Zeit an der Technischen Universität München und mir. Wir haben schon vor zehn Jahren den Vorsatz gefasst, eine neue Plattform für die Medizin zu schaffen, die den Bedürfnissen des Patienten besser entspricht. BMS: Dieses Ziel wird auch jede Universitätsklinik für sich reklamieren. Alt: Aber es zu erreichen, wird dort wesentlich schwerer sein. Im Isar Medizin Zentrum haben wir ein Motto: Der Fortschritt der Medizin muss in der Lebensqualität des Patienten messbar sein. BMS: Der Satz klingt gut, aber was bedeutet er konkret? Alt: Schon unsere besondere Struktur hilft uns dabei, das Ziel zu erreichen. Wir haben ein Ärztehaus, in dem niedergelassene

48

Prof. Dr. Eckhard U. Alt ist ärztlicher Direktor und Aufsichtsratsvorsitzender des Isar Medizin Zentrums in München. Er zählt über die Grenzen Deutschlands hinweg zu den führenden Medizinern auf dem Gebiet der Inneren Medizin und Kardiologie. Er hat eine große Zahl neuer klinischer und therapeutischer Methoden entwickelt, besonders im Bereich der frequenz frequenzadaptiven Schrittmacher-Therapie und Defibrillatoren, Behandlungsverfahren für Vorhofflimmern und neuer Prinzipien auf dem Gebiet der interventionellen Kar Kardiologie. Sein derzeitiges Forschungsinteresse gilt den Stammzellen. Als Inhaber von mehr als 600 weltweiten Patenten wurde ihm in den USA im Februar 2009 der Health Care Hero Award verliehen.


GESUNDHEIT  Ärzte aus 20 Fachrichtungen arbeiten. Muss der ambulante Patient operiert werden, wechselt er in die Isarklinik und wird von demselben Arzt weiterbehandelt. Das vermeidet lästige und teure Mehrfachuntersuchungen, wie sie im bisherigen System doch vorkommen. In der Klinik sind rund 500 Mitarbeiter beschäftigt, davon rund 80 Belegärzte. Aber es gibt auch viele Ärzte, die im Haus direkt tätig sind. Bei der medizinischen Versorgung haben privat und gesetzlich Versicherte absolut den gleichen Standard. Privatpatienten und Selbstzahler genießen aber in unserer Pettenkofer Klinik eine gehobene Zimmerausstattung und erweiterte Speisekarte.

Ambulante und stationäre Behandlung enger zusammenführen. BMS: Fast zwei Jahre hat der Aufbau des Isar Medizin Zentrums in der Sonnenstraße in München gedauert. Haben sich die Patienten schon positiv dafür entschieden? Alt: Im Laufe unserer Aufbauphase haben wir rund 20 000 Operationen durchgeführt. Das ist eine Zahl, die sich sehen lassen kann. Wichtiger aber sind mir die Heilungsergebnisse: Wir haben eine extrem niedrige Komplikationsrate und Mortalität. Gerade über diese spricht man nicht gern, aber jeder Eingriff ist nun mal mit gewissen Gefahren behaftet. Patienten fragen immer wieder zu recht, ob denn gefährlich sei, was mit ihnen gemacht werden soll. Meine Antwort ist immer: Ja, aber die Gefahr ist eine relative. Wenn Sie über die Straße gehen, könnte Sie ein Auto überfahren, und dennoch tun Sie es, weil Sie sicher sind, dass Sie dieses Risiko einschätzen können, und weil Sie die Straße überqueren müssen. So ähnlich ist das auch in der Medizin. Die Frage ist nicht: Ist es gefährlich, dass wir den Eingriff machen, sondern: Was geschieht, wenn wir ihn nicht machen? Und wenn diese Gefahr größer ist als die erste, dann muss man zum Eingriff raten. Ein Restrisiko kann ich nie ausschließen. Unter den 20 000 Patienten, die wir operiert haben, ist kein Patient am Operationstag verstorben. Dieses Ergebnis ist für die Schwere der Eingriffe überdurchschnittlich. BMS: Welche medizinischen Schwerpunkte setzt das Isar Medizin Zentrum?

Alt: Wir haben zunächst mit dem orthopädischen Schwerpunkt begonnen – Wirbelsäule, Hüfte, Knie – und dann die allgemeine Chirurgie – Viszeralchirurgie, Urologie, Gefäßchirurgie – dazugenommen. Nun bauen wir einen kardiovaskulären Schwerpunkt auf. Grundlagen hierfür sind die beiden neu eingerichteten Herzkatheterlabors und eine moderne Radiologie, die es ermöglicht, einen Großteil des Herzens inklusive der Herzkranzgefäße nichtinvasiv darzustellen. BMS: Am deutschen Gesundheitswesen wird unablässig reformiert. Was braucht es wirklich? Alt: Dass endlich die wichtigsten Kenntnisse und Neuerungen zur Effektivitätssteigerung umgesetzt werden. In den letzten zehn Jahren habe ich viele Dinge verstehen gelernt. Das Erste ist: Der Grundsatz der Gesundheitsreform, ambulante und stationäre Versorgung zusammenzuführen, ist wichtig und sinnvoll. Daher praktizieren wir ihn auch aus Überzeugung. Bisher geht der Patient zum Hausarzt, der den Patienten in eine Klinik schickt. Dort wird er anonymisiert, ohne Kenntnisse der Vorgeschichte oftmals von neuem untersucht, oft sind die Unterlagen nicht auffindbar oder die Klinik glaubt den niedergelassenen Kollegen nicht, oder es ist finanziell lohnenswerter, die Untersuchung zu wiederholen, weil die Krankenkassen die Mehrkosten ohnehin bezahlt. Der Patient hat so nur Nachteile: Er wartet, bis er eingewiesen ist, bis er sein Bett hat, bis die Untersuchungen nochmals gemacht werden – jeder Arbeitstag, den der Patient in der Klinik wartet, verursacht zudem Sozialkosten, die die Gemeinschaft tragen muss. Wir müssen im stationären Bereich auch wegkommen von der dualen Finanzierung, bei der der Staat die Investition für ein kommunales Haus bezahlt und die Kasse die Kosten der Behandlung begleicht. Das ist eine Planwirtschaft, bei der am Patienten wie an der Nachfrage vorbei das Risiko besteht, dass viel Geld verschwendet wird. BMS: Sie betreiben seit acht Jahren an der amerikanischen Tulane University in New Orleans und seit einiger Zeit auch in Houston am Texas MD Anderson Cancer Center Forschungslabors und widmen sich vor allem der Grundlagenforschung über die Stammzellen. Mit welchem Ziel? Alt: An diesen beiden Universitätskliniken forschen mein Mitarbeiterstab und ich vor allem an der Frage nach den Mechanismen

Schon über 20 000 Operationen wurden in den hochmodernen Operationssälen der Isarkliniken durchgeführt. Die Erfolgsquote ist überdurchschnittlich hoch.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Einen schonenden, aber exakten Blick ins Herz und seine Kranzgefäße erlaubt die moderne Radiologie.

49


der Erneuerung des Gewebes durch Stammzellen sowie nach der Interaktion der Stammzellen bei Krebserkrankungen. Für mich hat diese Thematik jeden Tag aufs Neue große Faszination.

BMS: Stammzellenforschung ist in Deutschland ein heiß diskutiertes Thema. Alt: Wir arbeiten nicht mit embryonalen Stammzellen; ich glaube, die Zeit ist dafür nicht reif, aus Gründen der Moral, der Sicherheit und der immunologischen Reaktion. Wir beschäftigen uns stattdessen mit den autologen Stammzellen, also denjenigen, die vom Patienten für ihn selbst da sind. Diese Stammzellen sitzen in kleinen Blutgefäßen und wir finden sie überwiegend im Fettgewebe, in allen Organen, im Gehirn, in der Leber, im Herz – entwicklungsgeschichtlich bedingt ist es eine Reservearmee, aus der sich alles entwickeln kann: Haare, Augen, Knochen, Herz. Eine der wesentlichen Aufgaben der letzten Jahre in meinem Labor war es, zu verstehen, woher diese Stammzelle weiß, wohin sie sich differenzieren soll, und was die biologischen Vorgänge sind. Wir haben bereits viele wichtige und interessante

Auch der Herzmuskel kann sich über Stammzellen erneuern. Erkenntnisse erzielt, die jetzt helfen, Stammzellen als Therapie beim Patienten einzusetzen. Wir haben bereits viele Laborversuche inklusive notwendiger Tierversuche durchgeführt, um eine neue Therapie am Menschen einzusetzen und unter anderem auch Studien durchgeführt und diese entsprechend publiziert. Deshalb glaube ich, dass wir in absehbarer Zeit diese Zellen, die wir aus dem Fettgewebe in großer Zahl isolieren können, für therapeutische Zwecke einsetzen können – zum Beispiel bei Sehnen, die schlecht heilen, bei Knochen, Knorpel, Herzmuskel, bis hin zu plastisch-ästhetischen Zwecken wie der Erneuerung des Unterhautgewebes.

BMS: Der Start in eine neue medizinische Vision? Alt: Für mich ist die Frage ungeheuer spannend, ob und wie es möglich sein wird, die regenerativen Kräfte in unserem Körper auch in der Medizin einzusetzen. Und das sind die Stammzellen. Noch vor wenigen Jahren war man der Meinung, das Knochenmark sei die oberste Instanz der Stammzellen: ihr Panzerschrank. Heute glaubt man, dass Stammzellen überall im Körper sind und dass das Altern letztendlich ein Ungleichgewicht ist zwischen Zellen, die in einem Organ absterben, und Zellen, die dieses Organ wieder erneuern. Dazu gibt es zwei

50

Eher an die Rezeption eines Hotels erinnert der Empfang am Isar-Medizin-Zentrum in der Münchner Sonnenstraße. Weitere Infos unter www.isarkliniken.de

Organe im Körper, die sich nicht aus ihren eigenen Zellen erneuern: das Gehirn mit den Nerven und das Herz. Bei anderen Organen wie Leber oder Muskel können sich Zellen teilen und neue Tochterzellen bilden. Im Gehirn und im Herzen sind die Zellen terminal differenziert. Das heißt: Eine Herzmuskelzelle lebt eine bestimmte Zeit und stirbt ab, sie wird sich nicht mehr vermehren. Die Erneuerung kommt nur aus Stammzellen, die immer wieder nachwachsen. Auch viele und zahlenmäßig bedeutsame Krankheiten sind von einem Ungleichgewicht geprägt zwischen den Zellen, die absterben, und den Zellen, die sich erneuern, wie Alzheimer, die Herzinsuffizienz oder die Altersniere. Normalerweise sterben im Herz 0,01 Prozent der Zellen ab. Bei Diabetikern oder Bluthochdruckpatienten schnellt diese Zahl nach oben, und aus 0,01 Prozent werden ein oder zwei Prozent. Und irgendwann kommen die Stammzellen, die im Herzen sitzen, nicht mehr nach, die absterbenden Zellen zu ersetzen. So entsteht ein Ungleichgewicht, eine Organfehlfunktion.

BMS: Ein Jungbrunnen aus der Stammzelle heraus? Alt: Der Jungbrunnen weckt zu viele Hoffnungen, die wir nicht – oder zumindest noch nicht – erfüllen können. Aber ich glaube, in der Erforschung solcher Prozesse wird der Fortschritt der Medizin liegen. Und das ist auch meine Vision: die grundsätzliche Erneuerungskraft unserer autologen Stammzellen konzentriert an den Ort zu bringen, an dem wir die Erneuerung brauchen. Wir konnten gerade in mehreren Studien, auch im Tierversuch am Schwein, dessen Herzgröße dem Menschen entspricht, zeigen, dass sich durch den Einsatz autologer Stammzellen – also vom selben Tier – die Herzfunktion um 30 Prozent verbessert und die Infarktgröße vermindert hat, weil die von uns injizierten Stammzellen Herzmuskelzellen entwickeln. Beim Herzinfarkt stirbt ein Areal von Trillionen von Zellen ab. Die lokalen Stammzellen können das nicht ersetzen, sie ersetzen nur die Zellen, die im täglichen „Gebrauch“ absterben. Aber nicht die Masse eines Infarkts oder Schlaganfalls oder auch einer Verletzung am Knie. Da sehe ich die nächste Therapiegeneration. Ich erwarte, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren lernen, bei welchen Patienten Stammzellen sinnvoll eingesetzt werden können, um seine Selbstheilungskräfte wieder dahin zu bringen, wo er sie braucht – im Sinn einer natürlichen Heilung und auch einer Vorbeugung von Alterungserscheinungen. n

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


Gebündeltes Licht bringt scharfe Sicht Innovative Augenlaser-Methode kann die Lesebrille überflüssig machen In München entwickelt und seit Frühjahr 2009 europaweit zugelassen, gilt das Intracor-Verfahren in der Augenchirurgie als bahnbrechend. Die Zahl potenzieller Patienten geht in die Millionen, und immer mehr Menschen lassen ihre Alterssichtigkeit auf diese Weise beheben. Es fängt harmlos an, wird immer störender und trifft irgendwann jeden: Kleingedrucktes liegt vermeintlich im Nebel, die Arme können beim Lesen gar nicht mehr lang genug sein – Alterssichtigkeit macht sich bemerkbar. Ursache für diese von Medizinern „Presbyopie“ genannte Abnutzungserscheinung

Mikrometergenau und sekundenschnell korrigiert der Augenlaser die Hornhaut. Das Gerät wurde von der Münchner Firma Technolas Perfect Vision entwickelt. Rechts Geschäftsführer Dr. Kristian Hohla.

Ein Quantensprung Augenlaser korrigiert Alterssichtigkeit schnell und schonend Am Münchner Marienplatz praktiziert der einzige Arzt, der in Bayern mit dem Augenlaser Intracor Alterssichtigkeit behebt. Im Gespräch mit dem Bayerischen Monatsspiegel erläutert der Augenchirurg Tobias H. Neuhann die Gründe, weshalb er die neue Methode einsetzt, und für welche Patienten sich die Behandlung eignet. Bayerischer Monatsspiegel: Sie gelten als Augenlaser-Pionier und sind Intracor-Anwender der ersten Stunde. Was hat Sie für das Verfahren eingenommen? Dr. Tobias H. Neuhann: Die Tatsache, dass sich Alterssichtigkeit damit schneller, schonender und weit weniger aufwändig korrigieren lässt als mit bisher bekannten chirurgischen Methoden. BMS: Worin liegen die speziellen Vorzüge für Patienten? Neuhann: Die Behandlung verläuft minimal invasiv. Das heißt: Der sonst beim Lasern übliche Hornhautschnitt bleibt Patienten erspart – ein Quantensprung! Und: Wer sich nach gründlicher Voruntersuchung als Intracor-geeignet erweist, hat die Chance, später zeitlebens ohne Lesebrille auszukommen. Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

der Augen: Für gewöhnlich zu Beginn des fünften Lebensjahrzehnts verlieren die Linsen an Elastizität; sie lassen sich nicht mehr ausreichend verformen und erreichen die für scharfe Sicht im Nahbereich erforderliche Brechkraft nicht mehr. Wer in fortgeschrittenem Alter ohne Lesebrille leben will, hat die Wahl zwischen verschiedenen chirurgischen Methoden zur Korrektur der Sehschwäche. Bei dem von einem international besetzten Expertenteam der Münchner Hightech-Schmiede Technolas Perfect Vision entwickelten Intracor-Verfahren fokussiert der Arzt Laserstrahlen auf einen bestimmten Bereich innerhalb der Hornhaut (lat.: Cornea). „Das Licht dringt dorthin vor, ohne die Hornhaut zu beschädigen, dann erst entfaltet es seine Wirkung“, erläutert Geschäftsführer Dr. Kristian Hohla. Dabei bringt der Laser exakt berechnete winzige Ringe ins Gewebe ein, um es zu entlasten. Wölbung und Brechkraft der Hornhaut verändern sich, die Nahsichtfähigkeit kehrt zurück. Großer Vorteil des IntracorVerfahrens: Anders als bei herkömmlichen Laserbehandlungen entfällt hier der Hornhautschnitt. Nach Voruntersuchung und eingehender Beratung ist der Eingriff in weniger als einer Minute überstanden, und schon nach wenigen Stunden stellt sich der gewünschte Effekt ein. Künftig kann man beim Lesen dann endlich wieder wirklich entspannen. n www.intracor.net DS BMS: Für welchen Patientenkreis eignet sich Intracor? Neuhann: Für alterssichtige Menschen ab 40 Jahren, die keine Augenerkrankung und nur eine geringe zusätzliche Sehschwäche haben. Die Alterssichtigkeit darf zwischen +1,5 und +3 Dioptrien liegen. BMS: Was kostet die Behandlung? Neuhann: Circa 2500 Euro für ein Auge, für beide Augen etwa 4500 Euro. Meist reicht es aus, ein Auge zu lasern, es übernimmt dann die Nahsicht allein. Krankenkassen tragen die Kosten allerdings nicht. BMS: Gibt es Risiken oder Nebenwirkungen? Neuhann: Der ambulante Eingriff vollzieht sich absolut schmerzfrei und verursacht keine offene Wunde, daher liegt das Infektionsrisiko nahe Null. Es tritt eine leichte Augenrötung auf, und womöglich sieht man nach der Behandlung eine Weile leicht verschwommen – beides vergeht jedoch rasch wieder. n Dr. med. Tobias H. Neuhann praktiziert als einziger Augenchirurg in Bayern das Intracor-Verfahren zur Korrektur von Alterssichtigkeit: Augenklinik am Marienplatz, Marienplatz 18/19, 80331 München, Tel.: 089/23 24 10-0, www.augenklinik-marienplatz.de.

51


GESUNDHEIT Martin Marianowicz

Das Kreuz mit dem Kreuz 80 Prozent aller Rücken-Operationen sind unnötig Probleme mit der Wirbelsäule sind in Deutschland der zweithäufigste Anlass für einen Besuch beim Arzt und der häufigste Grund für eine Krankmeldung beim Arbeitgeber. Rund 85 Prozent aller Deutschen haben irgendwann im Leben einmal Rückenbeschwerden – eine wahre Volkskrankheit also. Das Spektrum reicht dabei von Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich über den plötzlichen Hexenschuss bis hin zum mehrfachen Bandscheibenvorfall. Allen Rückenleiden gemein sind oft starke Schmerzen, die die Betroffenen an den Rand der Verzweiflung treiben können. Rund 25 Millionen dieser Schmerzgeplagten sind jeden Tag auf der Suche nach der erlösenden Therapie. Und landen dabei nicht selten auf dem OP-Tisch. 230 000 Wirbelsäulen-Operationen finden pro Jahr in Deutschland statt, von denen rund 40 Prozent nicht zum gewünschten Erfolg führen. Viele Rückenoperierte müssen bedingt durch Narbenbildung sogar mit Dauerschmerzen leben. Eine unvorstellbar hohe Quote, die besonders tragisch ist vor dem Hintergrund, dass 90 Prozent aller durch Bandscheibenvorfälle und Ähnliches hervorgerufenen Schmerzen durch eine konservative Behandlung innerhalb von 6 bis 12 Wochen von alleine abklingen. Und: Diverse Studien belegen, dass auf lange Sicht konservativ,

Viel Bewegung hält den Rücken fit. also ohne Operation behandelte Bandscheiben sogar die deutlich bessere Prognose haben. Denn unser Körper verfügt über erstaunliche Selbstheilungskräfte. Heilung bedeutet gerade in der Orthopädie nicht das Wiederherstellen von alten Zuständen. Das ist gerade bei degenerativen Problemen auch nicht möglich. Das Ziel ist vielmehr ein Arrangement des Körpers mit den neuen Zuständen, der zu einem Zustand der Schmerzfreiheit und damit wieder zu einer deutlich verbesserten Lebensqualität führt. Oder anders gesagt: Ein guter Orthopäde sollte seinem Patienten dabei helfen, zum Manager seines Schmerzes zu werden. Dabei gehen meine Kollegen und ich nach einem von uns mit über 20 Jahren Erfahrung entwickelten 5-Stufen-Plan vor. Am Anfang setzen wir dabei, falls erforderlich, auf Schmerzmittel und Entzündungshemmer kombiniert mit Physiotherapie, der Medizinischen Kräftigungstherapie (MKT), Osteopathie, Akupunktur sowie Entspannungsmethoden. Auf der nächsten Stufe folgen Schmerzmittelinjektion unter Bildkontrolle beispielsweise direkt an die gereizte Nervenwurzel, die für den Schmerz

verantwortlich ist. Das nennen wir auch die interventionelle Schmerztherapie. Bleibt auch das erfolglos, setzen wir Schmerzkatheter oder die moderne Mikrotherapie ein, bei der deformierte Bandscheiben mit Laser, Radiofrequenz-Energie, Wärme oder starkem Wasserdruck zum Schrumpfen gebracht werden. Reicht das nicht aus oder sind die Schmerzen chronisch, kann eine stationäre Komplextherapie in unserer Rückenklinik sinnvoll sein. Hier stehen zusätzlich zur Schmerztherapie, physiotherapeutischen Methoden und Wassertherapien Psychosomatik und Stressabbau auf dem Programm, denn Rückenschmerzen sind oft eng mit Stress und der Psyche verknüpft. Erst ganz am Ende steht bei uns die große Operation, die es aber unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Gradmesser der Behandlung ist immer der Schmerz des Patienten und nicht das Röntgen- oder Kernspinbild. Denn Röntgen sagt gar nichts, Kernspin leider wenig darüber aus, wie es dem Rücken wirklich geht. Mehr noch: Bei der Hälfte aller „Rückengesunden“, bei über 70-jährigen sogar bei 92 Prozent, sieht man auf dem Bild starke degenerative Veränderungen oder sogar einen Bandscheibenvorfall, obwohl diese Menschen völlig schmerzfrei leben. Andere dagegen haben Schmerzen an Stellen, an denen auf Bildern wenig zu sehen ist. Der Schmerz sollte deshalb gezielt da behandelt werden, wo der Patient ihn wahr nimmt. Die Entzündung bestimmt also das Geschehen. Unser bewegungsarmes Leben ist die Hauptursache dafür, dass immer mehr Menschen unter Rückenschmerzen leiden. Musste der Mensch am Ende des 19. Jahrhunderts täglich noch rund 13 Kilometer zu Fuß gehen, sind es heute im Schnitt kümmerliche 500 Meter! Auch unsere Kinder verbringen heute in der Regel viel mehr Zeit im Internet-Chatroom als auf dem Fußballplatz. Kein Wunder also, dass bereits 67 Prozent aller Kinder zwischen 12 und 15 Jahren unter Haltungsschäden und gelegentlichen Rückenschmerzen leiden. Das A und O für einen gesunden Rücken heißt Bewegung. Sie sorgt dafür, dass die Bandscheiben ausreichend mit Nährstoffen versorgt werden, schult die Koordination und baut Muskeln auf, die wiederum die Wirbelsäule wie ein natürliches Korsett stützen und so Verschleiß und Schmerzen vorbeugen. Idealerweise trainiert man die Muskulatur unter Anleitung eines Arztes, eines Physiotherapeuten oder Sportpädagogen. Wichtig ist jedoch moderate Bewegung im Alltag. Im Büro alle Stunde für 10 Minuten aufstehen und umherlaufen, Dehnübungen am Computer, die Treppe gehen statt Lift fahren, auch mal ins Büro radeln und abends eine Runde spazieren gehen. Denn: Jede Form von Bewegung hilft dem Rücken. n

Martin Marianowicz, 55, ist seit 1986 Facharzt für Orthopädie, Chirotherapie und Sportmedizin in München. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Wirbelsäulen-Endoskopie und Vorsitzender der Sektion Mittelund Osteuropa des World Institute of Pain. In Europa gilt er als einer der führenden Wirbelsäulen-Spezialisten. Marianowicz ist ein Wegbereiter der modernen, operationsvermeidenden orthopädischen Schmerztherapie und der minimal-invasiven Rückenbehandlung. Er leitet in München zwei eng vernetzte Orthopädie-Kompetenz-Zentren sowie die Rücken-Klinik am Jägerwinkel in Bad Wiessee am Tegernsee und hat seine Erfahrungen in dem Buch „Aufs Kreuz gelegt“ (288 Seiten, Goldmann Arkana Verlag, 17,95 Euro) zusammengefasst.

52

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


GESUNDHEIT

Siegfried Gallus

Gesund und regional Bayerns Wirte sind die Hüter der regionalen Küche

„Die einzige Methode, gesund zu bleiben, besteht darin, zu essen, was man nicht mag, zu trinken, was man verabscheut, und zu tun, was man lieber nicht täte.“ Eigentlich schade, dass ich Mark Twain, von dem dieser Ausspruch stammt, nicht mehr vom Gegenteil überzeugen kann. Gesundheit beginnt schon außerhalb des eigenen Körpers, wer sich billig ernährt, den wird es später teuer zu stehen kommen. Lebensmittel sind im wahrsten Sinne

53


GESUNDHEIT Landgasthof Altwirt, Holzkirchen Ideale Nerven- und Magenerholung für Staugeschädigte auf der Salzburger Autobahn. Kulinarischer Kurztrip für Münchner. Sonnenterrasse mit Traumblick ins Oberland. www.hotel-altwirt.de

Gasthof Wasner, Birnbach Urige Wirtstuben, Fleisch und Wurst aus eigener Metzgerei. Rottaler Küche, verbunden mit der Chaine des Rotisseurs. Im überdachten Hofgarten Live-Diskussionen mit Polit-Prominenz. www.gasthofwasner.de

Hier gilt es Aufklärungsarbeit zu leisten, deshalb hat der Bayerische Hotel- und Gaststättenverband Bayern (BHG) gemeinschaftlich mit der AOK Bayern die Aktion „Cook Mal – gesund und regional“ gestartet. Gemeinsames Ziel ist es, den Verbrauchern eine gesunde Ernährung möglichst schmackhaft zu machen. Oft wurde ich gefragt, warum ausgerechnet der Gaststättenverband Gästen und Endverbrauchern das Kochen beibringen will. Ob wir damit nicht die eigene Kundschaft weg von

Nur wer selber kocht, erkennt den Wert der regionalen Produkte.

Weinstuben Juliusspital, Würzburg Traditionsweingut mit Spitzenweinen, Frankenküche, angereichert mit Fischgerichten aus dem Main und anderen Gewässern. Mediterraner Innenhof für lauschige Sommerabende. www.juliusspital.de

Gasthof Stirzer, Dietfurt Seit 1611 Brauerei im romantischen Altmühltal, das Restaurant im alten Brauhaus. In der Gaststube sitzt man auf 120 Jahre alten Holzbänken. Ideale Raststätte für Radwanderer. www.stirzer.de

uns und hin an den häuslichen Herd locken würden. Doch ich bin fest überzeugt: Das Gegenteil ist der Fall. Unsere Gäste werden für gesunde, regionale Küche sensibilisiert. Und gleichzeitig wächst die Freude am genussvollen Essen ebenso wie das Verständnis für unsere Arbeit. Denn nur wer selbst kocht, kann Aufwand, Wertigkeit und gesundheitliche Vorteile der regionalen Küche richtig erkennen. Wer weiß, was frische regionale Zutaten im Einkauf kosten und welche Arbeit dahintersteckt, diese in der Küche zu veredeln, kann auch das Preis-Leistungs-Verhältnis in der Profi-Gastronomie richtig einschätzen. Zudem bin ich mir sicher, je mehr hochwertige Kochzutaten in privaten Haushalten verwendet werden, desto mehr steigt auch die Nachfrage danach in unseren Betrieben. Die Zeit für gesunde Produkte aus der Heimat ist einfach reif. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen: Die deutsche Küche ist der Deutschen liebstes Kind. Endlich wieder. Vorbei die Zeiten, als erst italienisch, dann griechisch und asiatisch die genussvolle Hitliste anführte. Mittlerweile verwendet jeder vierte Gastronom regionale Produkte in seiner Küche. Gegenüber 2003 stieg der Anteil der Haushalte,

Kühner's Landhaus, Kissing Wurde schon Schwabens bestes Wirtshaus genannt. Vielfach ausgezeichnet für seine Spezialitäten aus dem Wittelsbacher Land. Künstliche Aromen und Geschmacksverstärker sind tabu. Zu empfehlen ist der „Wittelsbacher Ochsentopf“. www.kuehnerslandhaus.de

54

des Wortes Mittel zum Leben. Für mich ist es daher vollkommen unverständlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der viele ohne mit der Wimper zu zucken 20 Euro für einen Liter speziell auf die Bedürfnisse des Automotors abgestimmtes Markenöl ausgeben, für den eigenen Körper aber ein x-beliebiges Öl für unter einen Euro aus dem Discounter ausreichen muss.

Alle drei Jahre ermittelt der Wettbewerb „Bayerische Küche„ die besten Wirtshäuser aller Regionen im Freistaat. Ihre Leistungen werden mit Gold, Silber und Bronze belohnt. In diesem Jahr haben sich Über 600 Betriebe beteiligt. Links stellen wir fünf Goldgewinner vor. Der Band kann im Internet online bestellt oder heruntergeladen werden unter www.stmelf.bayern.de (unter der Rubrik „Hauswirtschaft“ den Punkt „Projekte“ anklicken.)

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


GESUNDHEIT

die mindestens einmal pro Woche heimische Kost zubereiten, von 39 auf 42 Prozent. Und rund 73 Prozent unserer Mitbürger bevorzugen deutsche Gerichte auf ihrem Teller. Dass dabei die bayerische Küche die beste und beliebteste Deutsch-

zum wohlmundenden Zwetschgendatschi. Im traditionellen Gasthaus schmeckt nicht nur der Schweinebraten. Immer mehr Wirte verstehen sich auch als Hüter der regionalen Küche und tischen lange vergessene, gesunde Genüsse auf.

Bayerns Küche ist die beste.

Neben ihrer hohen Qualität spricht für Produkte aus der Region insbesondere, dass sie ohne lange Transportwege, großen Lageraufwand und kostspielige Verpackung frisch von Feldern und Äckern, aus Flüssen, Teichen und Seen oder aus „wilder“ Flur direkt in die Küche geliefert werden. Frischer geht es nicht. Und orientiert sich der Koch am Angebot der regionalen Märkte, dann sorgen zudem die Jahreszeiten für eine natürliche Abwechslung auf der Speisekarte. Somit erfüllen heimische Produkte alle Voraussetzungen für die moderne und gesundheitsbewusste Ernährung. Unsere bayerischen, schwäbischen oder fränkischen Gasthäuser sind dafür die besten Adressenr. n

lands ist, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Wobei man von der bayerischen Küche eigentlich gar nicht sprechen darf. Wer sich auf eine Genusstour quer durch unseren Freistaat aufmacht, wird begeistert sein, wie groß die regionale Vielfalt unserer heimischen Produkte ist. Und vor allem: wie unterschiedlich gleiche Produkte innerhalb der einzelnen Regionen zubereitet werden. Es ist unglaublich, was man aus ein und derselben Zutat nur durch von Ort zu Ort unterschiedliche Rezepturen zaubern kann. Wie gut regionale Küche ankommt, hat sich jüngst beim Wettbewerb Bayerische Küche wieder gezeigt. Gutes Essen hat in Bayern Tradition. Sowohl als Koch, Hotelier und Gastronom, als auch in meiner Funktion als Präsident des BHG erlebe ich tagtäglich, welche lukullischen Schätze Bayern hervorbringt. Und ich spreche hier ganz bewusst von „Schätzen“. Wir brauchen uns hinter niemanden zu verstecken. Bayern bietet kulinarisch so unglaublich viel – ganz gleich auf welchem Gebiet. Angefangen vom leckeren Aischgründer Karpfen bis

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Siegfried Gallus, 1954 in Dinkelsbühl geboren, wurde Küchenmeister, arbeitet in renommierten Häusern wie Rebstock in Würzburg und Königshof in München. Gemeinsam mit Ehefrau Astrid betreibt er in Beilngries das Hotel „Gallus“. Seit 2006 ist Gallus Präsident des Bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands.

55


GESUNDHEIT Michael Weiser

Der Schatz der Mönche Würzburger Wissenschaftler erforschen die Klostermedizin

Bild: Zabert & Sandmann

Zu Heilungsmöglichkeiten und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Abt oder Klosterbruder: Die Klostermedizin ist ein über Jahrhunderte gereifter Schatz, dessen Wert Wissenschaftler der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg seit zehn Jahren erforschen. Am Anfang, so denkt Johannes Gottfried Mayer, stand möglicherweise nagender Hunger. „Die Menschen wichen dann auf alles aus, was im Wald und auf der Flur wuchs“, meint der Gelehrte der Würzburger Universität. „Mitunter stießen sie dann auf Pflanzen mit wohltuender Wirkung.“ Durch Versuch und Überlieferung bildete sich im Laufe der Jahrhunderte ein Schatz der Heilkunst. Ein Schatz, den Mayer und eine Handvoll Mitstreiter in der Forschungsgruppe Klostermedizin heben wollen. Was den Menschen der Vorzeit noch wie Magie vorgekommen sein mag, wurde im hellen Licht der Mittelmeerkulturen endgültig zur Wissenschaft. Was Ärzte wie Hippokrates und Galenus auf Papyrus notierten, bestimmte die Heilkunst noch

56

Schätze, verborgen in Papier: In den alten Aufzeichnungen der Klosterbibliotheken stoßen Medizinhistoriker immer wieder auf vielversprechende Kräuter und Rezepturen.

für lange Jahrhunderte – allerdings vor allem im islamischen Kulturkreis und nicht so sehr in Europa. In den Wirren der Völkerwanderung geriet viel Wissen der Antike in Vergessenheit. In dieser europäischen Kulturwüste gab es allerdings Oasen: die Klöster. Seit der modellhaften Regel des Benedikt von Nursia gehörten nicht nur Arbeit und Gebet, sondern auch Lehre und Heilkunst zu den Pflichten der Mönche. Die Klöster verfügten auch über die wirtschaftliche Fähigkeit, Spezialisten zu unterhalten. In Idealform lässt sich dieses frühe Cluster-Konzept im St. Galler Klosterplan aus dem 9. Jahrhundert nachlesen. Neben Wirtschaftsbetrieben und Schulräumen findet man einen Garten für Heilpflanzen, dazu ein Spital, Krankenräume, Arztzimmer und Baderäume. Ein Bauplan, ausgerichtet an dem weniBayerischer Monatsspiegel 156_2010


GESUNDHEIT gen, was man aus der Antike bewahrt hatte. Die Mönche ließen sich dabei durch die Lehre des griechischen Arztes Galenos von der vier Temperamente und Säfte leiten, die den Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser entsprechen: Es galt, die Harmonie im Quartett zu bewahren. Wer sich in dieser von alters her stammenden Heilkunde heute zurecht finden will, braucht Wissen auf den Gebieten der Botanik und der Philologie ebenso wie Kenntnisse der Medizin,

Warum die Chemiekeule schwingen, wenn Kräuteraufgüsse auch wirken? Philosophie und Geschichte. Die Forschungsgruppe Klostermedizin fahndet seit zehn Jahren in alten Schriften nach wertvollem Wissen und weckt damit auch bei der Pharmaindustrie Aufmerksamkeit. In Seminaren und Ausstellungen geben die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse an Interessierte weiter: Warum die Chemiekeule schwingen, wenn’s Kräuteraufgüsse auch bringen? Auch einem Hersteller von gesunden Tees stehen die Würzburger beratend zur Seite. Immer wieder entdecken Mayer und seine Gruppe Überraschendes. Ob Birke oder Beinwell, ob Zimt oder Kürbis: Die Mönche waren über die Wirkungen der Pflanzen oft erstaunlich gut im Bilde. Sie schöpften nicht nur aus den rudimentären Überlieferungen der Antike, sondern auch aus dem Wissen arabischer Ärzte, wie dem in Europa als Avicenna bekannten Ibn Sina. Und sie hatten wenig Scheu vor der Volksmedizin. So schrieb der Benediktinermönch Walahfrid Strabo vom Kloster Reichenau über den Fenchel: „Sein Same mit Milch einer Mutterziege getrunken, lockre, so sagt man, die Blähung des Magens und fördere lösend alsbald den zaudernden Gang der lange verstopften Verdauung.“ Die positive Wirkung, die Mütter von Babys zu schätzen wissen, kann Mayer erklären: „Das ätherische Öl des Fenchels fördert die Magen- und Darmbewegung und kann tatsächlich krampflösend wirken.“ „Geradezu fasziniert“ ist Mayer vom Hopfen. Der wurde bereits unter dem Franken Pippin im 8. Jahrhundert systematisch gepflanzt. Getränken zugegeben, verleiht der Hopfen Haltbarkeit.

„So kam er wahrscheinlich auch ins Bier“, meint Mayer. Bemerkungen der Medizin-Pionierin Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert, der Hopfen mache melancholisch, führe also zu einem Überfluss der schwarzen Galle, kann Mayer teilweise beipflichten. Immerhin regt Hopfen die Produktion des Schlafhormons Melathonin an, nimmt dem Menschen also die Agilität. Mayer weiß: „Hopfen wirkt beruhigend und fördert den Schlaf.“ Bier will er dennoch als Lebensmittel verstanden wissen und nicht als Arznei. Denn dazu, so Mayer, „ist einfach zu wenig von dem Wirkstoff darin vorhanden.“ Andere Pflanzen sind wahre Alleskönner, wie etwa der Alant: Seit der Antike verwendet man die auch als Schlangen- oder Helenenkraut bekannte Pflanze zum Würzen und als Mittel zur Luftverbesserung. Sie hilft auch gegen Husten und soll laut Plinius die Verdauung unterstützen. Mayer hat einen weiteren Einsatzbereich im Sinn: Der Alant bietet dank seiner speziellen Mischung hochwertiger Kohlenhydrate einen guten Nährwert. „Es könnte für Diabetiker in Frage kommen oder auch bei einer Diät.“ In Zusammenarbeit mit Pharmalabors stellt die Forschungsgruppe regelmäßig ihre Beobachtungen auf den Prüfstand. Und dabei können selbst gestandene Wissenschaftler und Empiriker ins Grübeln geraten. Denn oft ist nicht bekannt, welcher Stoff in einer Pflanze genau die erwünschte Wirkung auslöst. Aber verblüffend sei, „dass der Cocktail in seiner natürlichen Zusammensetzung eben doch wirkt“, meint Mayer. Dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile – auch diese Erkenntnis stammt von den Alten. n

Johannes G. Mayer, Bernhard Uehleke, Kilian Saum Handbuch der Klosterheilkunde Neues Wissen über die Wirkung der Heilpflanzen. Vorbeugen, behandeln und heilen. Zabert Sandmann Verlag 430 Seiten, 24,80 Euro

57


GESUNDHEIT Interview mit Otto Greither

Heilkraft der Naturkräuter Salus bedeutete den Römern Wohlergehen und Heil. Solches will die gleichnamige Firma aus dem oberbayerischen Bruckmühl vermitteln: Seit 1916 produziert Salus Naturarzneimittel. „Wir verarbeiten nach konsequenten Produktionsrichtlinien nur reine und saubere Naturkräuter“, betont Otto Greither, der Sohn des Firmengründers, im Interview mit dem Bayerischen Monatsspiegel. Bestrahlte oder gentechnisch veränderten Rohstoffen lehnt er entschieden ab. Den Großteil der Rohstoffe bezieht Salus inzwischen aus einer ökologisch vorbildlichen Region im Süden Chiles. Vor kurzem wurde er 85 Jahre alt. Seit 65 Jahren, also unmittelbar nach dem Krieg seit 1945 leitet er das Salus Haus und hat es zu seiner heutigen Blüte gebracht. Blüte in jeder Weise. Nicht nur für 400 Mitarbeiter bei 100 Mio Umsatz, sondern Blüte auch

bei den natürlichen Arzneimitteln, die seit den 90iger Jahren auch in Chile in luftiger Höhe, garantiert naturrein, produziert werden. Salus ist auch ganz konsequent ein Gegner der Versuche, die Natur zu patentieren. Deshalb ist Salus auch gegen die Gentechnik, weil sie die Grundlage des biologischen Anbaus zerstört. Der Bayerische Monatsspiegel hat ein Interview mit Otto Greither geführt.

Bayerischer Monatsspiegel: Jüngst gab es wieder einen Artikel in einem Magazin, in dem große Zweifel an Bio-Artikeln angemeldet wurden. Deutlich teurer, aber nicht unbedingt reiner oder gesünder. Otto Greither: Unser Haus verfolgt seit 1916 ganz konsequent eindeutige Produktrichtlinien: Nur reine und saubere Naturkräuter werden bei uns verarbeitet. Wir haben in jahrzehntelanger

58

Foto: Salus

Kürzlich feierte Otto Greither seinen 85. Geburtstag. Seit 1945, also unmittelbar nach dem Krieg, leitet er das von seinem Vater gegründete Salus Haus. Das Unternehmen hat sich voll der Natur verschrieben: Seine mittlerweile 400 Mitarbeiter verarbeiten im Jahr gut 1.000 Tonnen pflanzliche Rohstoffe zu NaturArzneimittel und erzielen einen Umsatz von 100 Millionen Euro. Seit den 90iger Jahren wird auch in Chile unter äußerst günstigen Umweltbedingungen naturrein und biologisch angebaut. Unser Bild zeigt Otto Greither in einem blühenden Echinacea-Feld.


Foto: Salus

mühevoller Kleinarbeit alle unsere Lieferanten davon überzeugt: Nichts ist besser, als die reine Natur. Wir haben auf Pestizide und damit auch auf große Ertragssteigerungen zugunsten der sauberen und naturreinen Produktion verzichtet. Wir prüfen unsere Lieferanten ständig und wir prüfen auch die bei uns angelieferten Heilkräuter. Unser Labor ist mit allen wissenschaftlichen Prüfgeräten ausgestattet und weist bei Verunreinigungen die Waren konsequent zurück.

BMS: Wie schützen Sie Ihre Kräuter vor Verunreinigungen durch die Luft? Wo gibt es denn bei uns noch wirklich „saubere“ Luft? Greither: Genau dieses Problem stellte sich uns in aller Härte nach dem Atomreaktorunfall von Tschernobyl am 26. April 1986. Als wir nach diesem Unfall unsere Lieferungen auf radioaktive Verseuchung untersuchten, gab es einen riesigen Schock: In ganz Europa, einschließlich Türkei und Russland konnten wir keine Kräuter mehr bekommen, die nicht erheblich strahlenbelastet waren. Das war für unsere Firma existenzgefährdend. Die Radioaktivität von Tschernobyl hat eine Halbwertszeit von 35 Jahren. Es war also klar, auf absehbare Zeit gibt es in Europa keine unbelasteten Arzneikräuter. Deshalb habe ich für unsere Firma nach langem Suchen einen Platz gefunden, der auf absehbare Zeit absolut saubere und reine Heilkräuter garantiert. Im Süden von Chile, in einem Land, das keine Atomreaktoren hat, und das hinter den Anden geschützt liegt, haben wir uns

Ich bin mit dem Satz aufgewachsen: „Die Gesundheit ist unser höchstes Gut.“ eine eigene Kräuterfarm aufgebaut. Alle Prüfungen ergaben: Der Boden dort ist frei von Verseuchung, frei von irgendwelchen Umweltgiften. Er liegt in über 350 Meter Höhe, hat einen eigenen klaren Bergquell und klare, pollenfreie Luft. Mit hohen Investitionen haben wir dort sichergestellt, dass unsere Heilkräuter auf garantiert natürliche Weise und ohne Beeinträchtigung von Umweltgiften wachsen. Heute erhalten wir pro Jahr mehr als 100 Tonnen Heilpflanzen aus Chile. Wir bauen diese Kräuter auf 600 Hektar an.

BMS: Heißt das, dass es in Bayern, in Deutschland, keine „reinen“ natürlichen Produktionsstätten mehr gibt? Greither: Doch, wir haben auf eigenen Feldern unter penibler Kontrolle naturreine Produktionen von Heilkräutern aufgebaut, auch zusammen mit unseren Lieferanten. Tschernobyl hat uns Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

In der Münchner Rosenstraße eröffnete Salus eines der ersten Reformhäuser Deutschlands.

lange zu schaffen gemacht. Inzwischen können wir aber wieder die Reinheit unserer Heilkräuter nachweisen, die in unserer Umgebung angebaut werden.

BMS: Wie halten Sie sich denn selbst so vital und produktiv? Sie sind jetzt 65 Jahre Unternehmer in Ihrer Firma, die Sie zu einem anerkannten ökologischen und biologischen Musterunternehmen aufgebaut haben. Greither: Schon von Kindheit an bin ich mit dem Satz aufgewachsen: „Die Gesundheit ist unser höchstes Gut“. Dieses Motto meines Vaters war nicht nur Firmenphilosophie, sondern wurde in unserer Familie gelebt. Ich lebe es noch heute. Soweit ich mich erinnern kann, gab es zum Frühstück immer Müsli und Tee aus unserem eigenen Anbau. Schon mein Vater hat immer Wert gelegt auf körperliche Aktivitäten. Noch heute schwimme ich täglich 20 Minuten, um mich auf den Rest des Tages – vorwiegend im Büro – vorzubereiten. Skifahren ist immer noch meine große Leidenschaft, darauf verzichte ich auch jetzt nicht, mit 85 Jahren. Ich habe deshalb auch mein Gewicht immer sehr gut im Griff behalten können. Außerdem beginne ich nach wie vor den Tag immer mit einem unserer Kräutertees BMS: Wie sichern Sie die natürlichen Werte in Ihren Heilkräutern? Greither: Salus verzichtet konsequent auf Konservierungsstoffe, gleich welcher Art in Arznei und Lebensmitteln. Wir fügen auch keine künstlichen oder naturidentischen Aromen hinzu. Auch den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft und in der Pflanzenzüchtung lehnen wir ab. Für uns ist immer wieder Vorbild, was der Indianer „Big Thunder“ (großer Donner) gesagt hat: „Die Erde ist unsere Mutter, sie nährt uns. Was wir in sie hineinlegen, gibt sie uns zurück.“ Alle unsere Produkte erfüllen die strengen Anforderungen des Arzneimittelrechtes. Der Fertigungsprozess wird mit modernsten Technologien, wie computergesteuerten Fallstromverdampfern und Vakuum-Bandtrocknern betrieben. Wir haben bei jedem Produkt fünf verschiedene Kontrollstufen eingebaut, um die Qualität zu sichern. Nicht nur der Eingang, sondern auch alle Produktionsschritte werden mikrobiologisch kontrolliert bis hin zur Überprüfung der Keimfreiheit und der Kontrolle durch Rückstandanalysen. Insgesamt verarbeiten wir jedes Jahr auf dieses Weise 1.000 Tonnen Rohstoffe. BMS: Geht Ihr Motto „Der Natur verbunden und der Natur verpflichtet“ über die Produktion und den Verkauf von Naturheilmitteln hinaus?

59


Greither: Ja, der ökologische Gedanke hört bei uns nicht bei der natürlichen Aufzucht und der Vermarktung von Heilkräutern auf. Wir haben beispielsweise zwei eigene Wasserkraftwerke in Bruckmühl, die jährlich rund 2000 Megawattstunden Strom liefern. Das entspricht unserem kompletten eigenen Strombedarf. Außerdem haben wir auf unserem Verwaltungsgebäude eine Photovoltaik-Anlage, die pro Jahr circa 10.000 Kilowattstunden umweltfreundlichen Strom erzeugt. Der Überschuss wird ins örtliche Stromnetz eingespeist. Schließlich haben wir mit besonders viel Freude in unserer unmittelbaren Umgebung ein Auwaldbiotop entwickelt. Das haben wir 1995 übernommen und seitdem konsequent ausgebaut. Wir haben den alten Auwald erhalten und neue Feuchtflächen geschaffen. Insgesamt sind es 27.000 Quadratmeter Auwald, in dem fast alle in Bayern heimischen Bäume und Sträucher wachsen. Wir haben dort ein Moorbiotop, das Alpinum mit dem Heilkräuter-Lehrpfad, ein Insektenhotel, einen Lehr-Bienenstand, ein Hochmoor und ein Torfmuseum. Unser Auwald ist ein Refugium für alle Tiere und die Vögel. Schließlich haben wir mit einem Tierkundemuseum auch gleich ein Lehrgebäude dazu gestellt. BMS: Sie haben sich sehr deutlich gegen die grüne Gentechnik ausgesprochen, insbesondere auch gegen Patente auf die Natur.

„Die grüne Gentechnik ist nicht beherrschbar – ich lehne sie ab.“

Foto: Salus

Früher auch gab es heftigen Widerstand gegen die rote Gentechnik, also medizinische Hilfsmittel, die gentechnisch produziert wurden. Die rote Gentechnik hilft vielfach. So ist künstliches Insulin heute für viele Zuckerkranke unverzichtbar. Die rote Gentechnik ist inzwischen akzeptiert. Auch die grüne Gentechnik hilft den Bauern, bei der Produktionssteigerung oder Schädlingsbekämpfung. Warum haben Sie so viel Bedenken bei der grünen Gentechnik? Greither: Die rote Gentechnik befürworte ich. Ich sehe auch viele Erfolge bei der weißen Gentechnik, so bei der gentechni-

Seit 1968 produzieren die Salus-Werke im oberbayerischen Bruckmühl. Jährlich werden etwa 1.000 Tonnen pflanzliche Rohstoffe verarbeitet.

schen Verarbeitung von Müll und ähnlichen mehr. Diese beiden Gentechniken sind beherrschbar. Wenn in der Medizin ein genverändertes Medikament nicht funktioniert, schadet es vielleicht dem Patienten, es kann aber problemlos vom Markt genommen werden. Ähnlich ist es auch bei der weißen Gentechnik der Fall. Das Problem der grünen Gentechnik ist die mangelnde Beherrschbarkeit. Wie wollen Sie es verhindern, dass durch Pollen-

60

Foto: Salus

GESUNDHEIT

Auf drei nahezu 600 Hektar großen Salus-Farmen bei Villarrica in Süd-Chile werden über 100 Pflanzen ökologisch angebaut. Die Anlage gilt auch bei chilenischen Behörden als vorbildlicher Musterbetrieb.

flug, durch Bienen oder andere Insekten die Samen weit verstreut werden? Die bisher angegebenen Schutzzonen können mich nicht überzeugen. Die grüne Gentechnik ist also nicht beherrschbar, deshalb lehne ich sie ab. Sie ist auch sehr häufig völlig überflüssig. Der Mais ist dafür ein sehr gutes Beispiel: Monsanto hat einen Gen-Mais entwickelt, der gegen den Maiszünsler, einen großen Schädling, schützt. Dieser Schutz wäre gar nicht erforderlich, wenn die Bauern wie früher eine mehrjährige Fruchtfolge einhalten würden, also die Felder nur alle drei Jahre mit Mais nutzen. Zwischenzeitlich wäre der Maiszünsler ausgestorben, der Boden hätte sich erholt. Stattdessen bauen sie aber den Mais jedes Jahr aufs Neue an, um die Produktion zu verstetigen. Das ist unvernünftig und laugt den Boden aus, es sichert auch dem Maiszünsler das Überleben. Die Politik sollte also die bewährte, den natürlichen Boden schonende Nutzung unterstützen. Patente auf Naturprodukte lehne ich ab, die Natur ist nicht patentierbar. Außerdem können solche Patente zum Ruin vieler Landwirte führen, wenn sie großen Konzernen wie Monsanto Lizenzen für Produkte zahlen sollen, die sie vielleicht gar nicht haben wollen. Es ist ja völlig ungeklärt, was geschieht, wenn ein gentechnisch veränderter Mais, von Monsanto geschützt, ungewollt auf fremden Äckern sprießt. Deshalb hat es schon Prozesse gegeben, die Bauern nahe an den Ruin geführt haben.

BMS: Sie haben auch Spitzenathleten wie Magdalena Neuner oder Verena Bentele gefördert. Helfen Ihre Kräuter auch dem Spitzensport? Greither: Ich freue mich sehr, dass unsere Förderung bis heute noch Früchte trägt. Viele dieser Athleten haben wir von ihren sportlichen Anfängen bis auf das Siegertreppchen begleitet. Wir sind im Sportsponsoring besonders präsent gewesen mit unserem Eisentonikum „Kräuterblut-Floradix“. Dieses Produkt richtet sich insbesondere an Sportler mit erhöhtem Eisenbedarf. Das ist gerade bei den Spitzensportlern überall der Fall. BMS: Wie ist Salus mit der Reformhauskette Vitalia verbunden? Greither: Mein Sohn Peter Greither ist Investor bei der VitaliaGruppe, die 85 Reformhäuser betreibt. Seine Investition hat den Erhalt dieser Reformhäuser gesichert. Vitalia ist aber ein eigenständiges Unternehmen und gehört nicht zur Firma Salus. n

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


GESUNDHEIT

Meeresstrand im Bayernwald Angerhof wurde zur Wellness-Topadresse in Europa Vor 25 Jahren kam Franz Wagnermayr mit Ehefrau Maria aus dem Österreichischen herüber in den Bayerischen Wald, übernahm im Luftkurort St. Englmar ein 26-Bettenhaus, in dem sich sommers gern Westberliner einquartierten, um frische und freie Luft zu atmen. Aus dem biederen Beginn wurde eine Gesundheits-Oase der besonderen Art: Der Angerhof, inzwischen in mehrern Stufen auf 140 Zimmer ausgebaut, trägt die Auszeichnung als „Wellnessressort des Jahres in Deutschland“ und wurde von einem Fachmagazin unter die vier besten Wellnesshotels in Europa gewählt.

dem Toten Meer schweben oder im Salzstollen die Stadtluft aus dem Lungen atmen. Dafür ließ Wagnermayr eigens aus Bad Reichenhall einen Lastzug voller Salzsteine anrollen. Und seit vergangenem Jahr kann man nach der Wanderung durch den Bayernwald sich drinnen an einem Sandstrand räkeln und dem Meeresrauschen lauschen. Rings ums Haus ist auf 30 000 Quadratmetern ein Naturareal gewachsen mit einem Bio-Schwimmteich, dessen weiches Quellwasser solarerwärmt wird. Auf Anfänger wie auf mutige Kletterer wartet eine Angerhof-Ostwand. Bogenschießen und Biken sind üblich, doch zu Wagnermayr kommt auch Ralleyweltmeister Walter Röhrl und

Ob Bio-Teich oder Salzgrotte: Oberstes AngerhofZiel ist das Wohlbefinden der Gäste.

„Man muss sich halt was einfallen lassen“, schmunzelt der vielfach ausgezeichnete Hotelier und lüftet ein klein wenig das Geheimnis seines Erfolgs: „Vergessen wir die Unternehmensberater, viel besser ist es, in die Gäste hineinzuhorchen.“ Das Gehörte, gepaart mit einer kräftigen Portion Mut, beschert dem Haus nun eine 2000 Quadratmeter große, gewiss einzigartige Wellnessund Spawelt. In einer Klangwelt und auf 40 Grad warmen Wasserbetten können die Gäste entspannen, in einer Solelösung aus

veranstaltet für die Gäste eine Porsche-Woche. Den Appetit stillt Ralf Geese, der in Baiersbronn in der Traube Tonbach, dem besten deutschen Gourmettempel, gelernt hat. Er serviert bayerisch und mediterran und verrät bei Kochkursen auch manches Küchengeheimnis. „Wir sind ein sportliches Hotel haben uns von Kopf bis Zehenspitze auf Wellness eingestellt“, meint Wagnermayr. Und die schönste Auszeichnung ist für ihn eine Prozentzahl: 70 Prozent derer, die im Angerhof einchecken, sind Stammgäste. n PS

Sport- und Wellnesshotel Angerhof Familie Wagnermayr St. Englmar, Tel: 09965-1860 www.angerhof.de

61


BAYERN & KULTUR Walter Beck

Sachsen-Braut schenkt den Bayern die Wiesn

Am 17.Oktober vor genau 200 Jahren feierten die Münchner das erste Oktoberfest. Austragungsort war ein Areal außerhalb der Stadt, vor dem Sendlinger Tor, „seitwärts der Straße, die nach Italien führt“. Dieses Ur-Münchner Fest hat seitdem eine unglaubliche Entwicklung genommen. Jedes Jahr strömen gut sechs Millionen Besucher auf das 53 Hektar große Gelände zu den Bierzelten, Geisterbahnen und Loopingbahnen. Viele reisen aus dem Ausland an, vorwiegend aus Italien, USA, Japan und Australien, zwischenzeitlich immer mehr auch aus China. Heuer wird das Oktoberfest, das jeweils am Samstag nach dem 15. September

62

Bilder: Stadtmuseum München

Mit der Hochzeit von Kronprinz Ludwig mit Prinzessin Therese begann vor 200 Jahren das Oktoberfest


beginnt und 16 Tage dauert, um einen Tag verlängert, weil der dritte und letzte Wiesn-Sonntag ein Feiertag ist (der 3. Oktober und somit Tag der Deutschen Einheit), wird ihm der Montag als zusätzlicher Festtag angehängt. Als Kuriosum erscheint, dass das Oktoberfest überwiegend im September stattfindet. Dies geht auf einen Beschluss des Münchner Stadtrats aus dem Jahr 1872 zurück, wonach wegen der meist schönen und warmen Tages des Altweibersommers das Fest in die letzten zwei Wochen im September vorverlegt wurde. Doch um den Namen zu behalten, wurde der Schlusspunkt auf das erste Oktoberwochenende gesetzt. Das Oktoberfest ist längst zum größten Bierfest der Welt aufgestiegen. Auch heuer werden 60 000 Hektoliter Bier durch die Kehlen fließen und 500 000 Brathendl verzehrt, allein auf der Festwiese wird mit einem Umsatz von 450 Millionen Euro gerechnet, der gesamte wirtschaftliche Nutzen der Stadt ist noch höher. 12 000 Personen sind auf dem Vergnügungsareal beschäftigt, darunter 1600 Bedienungen, die weiblichen von ihnen im oft offenherzogen Dirndl. Der wahrscheinlich berühmteste Hilfsarbeiter auf dem Oktoberfest war Albert Einstein, der als Lehrling einer Elektrofirma im Schottenhamel-Festzelt die Glühlampen in die Fassungen drehte. Zu den Gründen für diesen unglaublichen Erfolg zählt sicher auch die Verbindung zwischen den bayerischen Königen (die sehr gerne feierten) und dem bayerischen Volk (das früher wie heute auch sehr gerne feiert). Auch die Tatsache, dass das Haus Wittelsbach über fast 800 Jahre Bayern, insbesondere Altbayern mit München, regiert hat, führte zu dieser tiefen Verwurzelung. Anlass für das Oktoberfest war die Hochzeit des bayerischen Kronprinzen Ludwig mit Therese von Sachsen-Hildburghausen

Im damals sächsischen Hildburghausen (heute Thüringen) fand der spätere König Ludwig I. seine Frau, die Prinzessin Therese aus dem Geschlecht der Wettiner.

aus dem sächsischen Geschlecht der Wettiner. Ähnlich wie die Wittelsbacher in Bayern und in der Pfalz regierten, so regierten die Wettiner in Sachsen und in den benachbarten Staaten. Dazu gehörte Thüringen, in dem auch Hildburghausen liegt. Durchaus typisch für die damalige Zeit ist die Vorgeschichte: Ludwig wurde in Straßburg geboren. Sein Vater war damals an fünfter Rangstelle in der Erbfolge für die baierische Kurwürde. Sein Großvater war zunächst evangelisch und ist dann nach „intensiver Gewissensprüfung“ zum katholischen Glauben übergetreten. Dies war die notwendige Voraussetzung, damit er in der Erbfolge im Hause Wittelsbach aufgenommen wurde. Baiern hatte damals noch ein „i“, kein „y“. Als es um die Erhebung Baierns zum Königreich ging, forderte Napoleon „Blutzoll“. Ludwigs jüngere Schwester, Auguste Amalia Ludovika, musste den Verwandten von Napoleon, Eugène Beauharnais, heiraten. Sonst wäre ihr Vater Max Joseph nicht König geworden. Eugène war der Stiefsohn von Napoleon. Die Heirat fand statt und das Haus Wittelsbach konnte 1806 mit der Königskrone geadelt werden. Ludwig hasste Napoleon und die Franzosen. Er befürchtete ein ähnliches Schicksal wie seine Schwester. Die Heirat mit einer französischen Prinzessin. Er erkannte: „Ich muss unbedingt heiraten. Ist das einmal geschehen, können solche Anschläge auf meine Freiheit von Paris her nicht mehr gemacht werden.“ Ludwig war damals schon verlobt. Mit 13 Jahren hatte seine Familie die Großfürstin Katharina von Russland als seine künftige Frau ausgewählt. Diese Verlobung wurde gelöst; was galt schon ein Frauenschicksal, wenn es um Baiern ging. Vater Max machte Ludwig auf die schönen Prinzessinnen in Sachsen-Hildburghausen aufmerksam. Als Ludwig nach Hildburghausen kam, sah er die beiden Schwestern. Nur die jüngere war frei für Ludwig, denn die 18jährige Therese war bereits mit dem Erbprinzen Georg von Mecklenburg-Strelitz verlobt. Doch Ludwig bestand auf Therese. Also musste auch diese Verlobung

Die Bavaria als fesche Festwirtin auf einer Postkarte von 1900.

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

63


Bilder: Stadtmuseum München

BAYERN & KULTUR

gelöst werden. Was ist schon Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich zu einer künftigen Königin in Baiern! Therese war evangelisch, Ludwig wollte sie zum katholischen Glauben bekehren. Das verweigerte Therese. Trotzdem kam es zu der dringend notwendigen Verlobung. Nur zur Erinnerung: Der Großvater von Ludwig war zunächst auch noch evangelisch. Auch wenn Therese selbst eine Sächsin war: Ihre Urahnin, Kurfürstin Elisabeth, Gemahlin von Kurfürst Ernst, der die sächsische Teilung betrieben hatte, kam aus München, sogar aus der altbayerischen Linie der Wittelsbacher. Vater Max, damals in Paris zur Feier mit Napoleon, schrieb ihm:„Die Ursache, dass ich dir so spät antworte, ist diese: In dem Publicum ging 8 Tage lang die Rede, der Kaiser würde deine künftige Frau heirathen. Stell dir meine Angst vor, auch wie er mir auf einem Ball bei By-Savari selbst davon anfing zu sprechen ...“ Nun wollte Ludwig so schnell wie möglich heiraten. Therese reiste nach Baiern, die Hochzeit sollte – wie auch andere höfische Feste – am Namenstag von Vater Max stattfinden, also am 12. Oktober 1810. Es war die erste Hochzeit des Herrscherhauses seit der Erhebung Baierns zum Königreich. Deshalb wollte das Haus Wittelsbach dieses neue Königtum mit einem großen Fest sehr nachdrücklich feiern. Kronprinz Ludwig war schon damals ein großer Freund Griechenlands (20 Jahre später wurde sein zweiter Sohn Otto als 16-Jähriger König von Griechenland). Ludwig begeisterte sich für die Idee, im Stil der antiken Olympischen Spiele in München ein Pferderennen zu veranstalten.

Noch ohne Bier und Hendl: Das Fest zur Hochzeit war 1810 ein Pferderennen auf einer weiten Fläche vor den Toren der Stadt, die später Theresienwiese genannt wurde.

Die Nationalgarde-Kavallerie stellte dafür Ross und Reiter. Therese gestattete huldvoll, dass diese Wiese ihren Namen führen durfte, also zur Theresienwiese wurde. Das Fest war so erfolgreich, dass es im folgenden Jahr wiederholt und mit der ersten deutschen Landwirtschaftsausstellung verbunden wurde. Die Baiern gewöhnten sich rasch an ihr Oktoberfest, dennoch fiel es bereits 1813 aus. Zum Festtermin tobte die Völkerschlacht in Leipzig, die das Ende der Herrschaft von Napoleon bedeutete. Danach aber wuchs die Wiesn jedes Jahr. Die Münchner waren so begeistert, dass die Stadtväter ab 1819 die Organisation und Verwaltung des Oktoberfestes übernahmen. Es wurde beschlossen,

Der König schenkte dem Oktoberfest eine Bavaria ganz aus Bronze. dass dieses Fest jährlich stattfinden soll. Übrigens: Als Ludwig Vater Maximilian I. am 13. Oktober 1825 gestorben war und der Sohn König wurde, war nur sieben Tage später eine seiner ersten Handlungen ein Erlass, in dem er festlegte, dass Baiern künftig mit „y“ zu schreiben sei. Seit 1819 fiel das Oktoberfest nur aus, wenn Krieg oder Krankheiten wüteten 1854 und 1873 war es die Cholera, 1866, 1870, 1914 bis 1918, 1939 bis 1949 fiel das Fest dem Krieg zum Opfer. Insgesamt 24 Mal ist das Oktoberfest ausgefallen. Wir feiern also 200 Jahre Oktoberfest und gleichzeitig das 177. Oktoberfest. Schon in einigen Jahren können wir uns auf das 200. Oktoberfest freuen. König Ludwig hielt das Oktoberfest auf der Theresienwiese für so wichtig, dass er den Auftrag gab, dort eine Bavaria und eine Ruhmeshalle zu errichten. Die Bavaria soll die erste Statue seit der Antike werden, die gänzlich aus gegossener Bronze gefertigt wurde, zu damaliger Zeit eine technische Meisterleistung und auch ein wichtiger Schritt für den König bei seinem Bemühen, die Bayern als Stamm im Rahmen einer größeren deutschen NatiEine Gaudi war's, wenn auf dem Teufelsrad die Röcke flogen und auch verbotene Blicke gewährten.

64

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


on zu einen. Die Bavaria war für ihn ein weiteres Monument zur Einheit Bayerns, wie die Konstitutionssäule im unterfränkischen Gaibach, die Walhalla in der Nähe von Regensburg, die Befreiungshalle in Kehlheim und später die Ruhmeshalle in München. Alles Denkmäler, die der König aus eigener Tasche finanziert hat. 1834 beauftragte Ludwig seinen Baumeister Leo von Klenze, eine Ruhmeshalle in München zu errichten. Ihm imponierte die gewaltige Bavaria, die Klenze vorsah, er schrieb: „Nur Nero und ich können solche Kolosse bauen.“ Schließlich kam es 1837 zu einem Vertrag zwischen dem König, Klenze und dem Bildhauer Ludwig Schwanthaler. Die Erzgussarbeiten fielen an Johann Baptist Stiglmaier und dessen Neffen Ferdinand von Miller, der später das Deutsche Museum gründen wird. Schwanthaler lehnte die klassizistischen Vorgaben von Klenze ab. Ludwig versuchte zwischen beiden Künstlern eine Synthese und so wurde aus dem Entwurf Klenzes eine echte bayerische Bavaria mit einem Eichenkranz, dem speziellen deutschen Baum, mit einem wehrhaft gezogenen Schwert und mit

Auf der Theresienwiese geht es auch um die Einheit Bayerns. den Löwen. Der Löwe hatte für die Herrscher Bayerns seit jeher einen festen Platz. Als Pfalzgrafen bei Rhein führten ihn die Wittelsbacher in ihrem Wappen. Die Bavaria, genau 18,42 Meter hoch und 87,36 Tonnen schwer, wurde in vier Etappen gegossen: Kopf, Brust, Hüfte, untere Hälfte und Löwe. Allein der Steinsockel ist 8,52 m hoch. Ludwig wollte den Bronzeguss als besonders edles Material. Deshalb ließ er eine neue Gießstätte für Bronzeguss errichten, die königliche

Damals wie heute: Zur Wies’n-Maß gehört eine Brezn.

Erzgießerei an der Nymphenburger Straße. Noch heute zweigt von ihr die Erzgießereistraße ab. Stiglmaier starb, bevor mit dem Gießen begonnen wurde, Miller vollendete die Arbeiten. Die Bronze für den Kopf der Bavaria wurde aus türkischen Kanonen gewonnen. Diese Kanonen waren 1827 im griechischen Befreiungskrieg mit der ägyptisch-türkischen Flotte untergegangen. Ludwigs Sohn König Otto von Griechenland ließ diese Schiffe heben. Die Kanonen wurden als Recycling-Material verkauft und gelangten nach Bayern. Seit 1850 wacht nun die bronzene Bavaria über München und für jeweils zwei Wochen im Jahr auch über das Oktoberfest. Zweifelsohne hat auch diese festliche Umrahmung der Theresienwiese die Einzigartigkeit des Volksfestes betont. Schließlich ging es auch um die Einheit Bayerns. Wenn sie auch noch mit einem Fest gefeiert werden konnte – umso schöner. n

Amüsant und lehrreich In zwei Jahrhunderten hat sich in München eine solche Fülle an Erinnerungen an das Oktoberfest angesammelt, dass das Stadtmuseum mit Fug und Recht behaupten kann, in seinen Archiven befinde sich der weltweit größte Exponatenschatz über das größte Bierfest der Welt. Aus diesem reichen Fundus wurde eine einzigartige Ausstellung komponiert – von den Anfängen mit dem schönen Brautpaar, dem Pferderennen weit vor den Toren der Stadt, als die Theresienhöhe ein unbebauter Hügel war, bis schließlich die Bavaria aufgestellt wurde und den Lorbeerkranz über die Festgemeinde halten konnte. Die Schau ist ein amüsanter und lehrreicher Spaziergang durch die Historie eines Festes und seinen Wandlungen. Zum ältesten Bierfass Münchens von 1829 gesellen sich Kasperlfiguren und Steinzeugbierkrüge, Preisfahnen und eine besondere Ehrung, die längst nicht mehr auf dem Programm steht: Der Weitpreis für den Besucher, der die weiteste Anreise hatte. Damals war sogar der Weg herüber von Niederbayern schon preiswürdig. Das Pferderennen ist verschwunden, aus den Bierbuden wurden gigantische Festhallen, die einst sensationellen Völkerschauen sind elektronisch gesteuerten Illusionsvergnügen gewichen. Und doch spürt der Besucher am Ende der zweistöckigen Ausstellung, dass sich die Wiesn über die Zeit treu geblieben ist – als eine Volksbelustigung, die sich zwar in die jeweilige Mode gewandet, aber eben eine große Gaudi war, ist und hoffentlich auch bleibt. PS. Die Ausstellung „Das Oktoberfest 1810 bis 2010“ ist Stadtmuseum München bis 31. Oktober geöffnet. Der Katalog (272 Seiten, 24,90 Euro) ist zugleich die offizielle Festschrift der Stadt München.

65


BAYERN & KULTUR  KULTUR Paul Kirchhof

Freude am Erfolg des anderen Vier Überlegungen im Sinne von Konrad Peutinger – Eine Dankesrede

Ich nehme diese Peutinger-Medaille, eine goldene, die ich als Goldmedaille pflegen werde, mit einem großen Dank entgegen. Sie ist für mich Ehrung und Verpflichtung. Und so will ich Ihnen vier kurze Überlegungen vortragen, die an das anknüpfen, was Konrad Peutinger uns gegeben hat und versuchen, dieses in die Gegenwart zu denken. Das Erste: Konrad Peutinger war Stadtschreiber in Augsburg und hat viele Rechtstexte herausgegeben. Er war sich bewusst und hat bewusst gemacht, dass Recht die Bürger nur in der Sprache erreichen kann. Und deshalb möchte ich diese einmalige festliche Gelegenheit nutzen, um einige wenige Worte zum Verhältnis von Recht und Sprache zu sagen. Das Zweite: Sie ist ein Freiheitspreis, und es muss deshalb etwas zum Stichwort „Freiheit“ kommen. Das Dritte: Peutinger war ein hoch angesehener Kaufmann, der den damaligen Weltmarkt erreichte, bibliothekarisch insbesondere bis nach Italien erschlossen hat. Deswegen ein Wort zum Markt und seinen globalen Bedingungen in der Gegenwart. Und schließlich sagte Konrad Peutinger, der Mensch braucht realistische Visionen und da werde ich einige Anmerkungen machen zur Staatsverschuldung und zum Steuerrecht. Als Konrad Peutinger seine Bibliothek aufgebaut hat, wurde das Recht nicht nur in Sprache vermittelt, sondern auch in Gesten. Das Reichen der Hand als Instrument der Verständigung, das Hinwerfen des Handschuhs als feindselige Ansage des zukünf-

66

„Die Peutinger-Medaille ist für mich Ehrung und Verpflichtung zugleich“: Deutschlands renommiertester Steuerexperte Prof. Dr. Paul Kirchhof bei seiner Dankesrede vor dem Peutinger-Collegium im Bayerischen Hof.

tigen Krieges, der Pantoffel im Haus als Zeichen der Herrschaft der Frau, das Trinken des Weines als Besiegelung eines Vertrages oder auch das Feiern eines Festes. Und manchmal hat man sehr drastische Gesten gewählt. Jakob Grimm, ein Meister der Sprache und ein Meister des Rechts, berichtet uns in seinem Buch „Poesie und Recht“, dass die Menschen damals, zu Peutingers Zeit, wenn sie einen Vertrag geschlossen haben, der besonders wichtig war, einen jungen Menschen, ein Kind mit langer Lebenserwartung mitgenommen haben, nach dem Vertragsschluss plötzlich und ohne Grund geohrfeigt haben, damit sich dieser Mensch ständig an dieses Geschehen erinnern konnte. Das sind die alten Formen des Notariats gewesen, wir kennen es heute ein bisschen anders. Und oft hat man das Recht in Bildern überbracht. Wo kein Hahn ist, da kräht die Henne. Das war der Rechtssatz prinzipiell männliche Erbfolge, aber wenn der männliche Erbe fehlt, wird die Frau Erbin. Oder wo der Esel sich wälzt, da muss er Haare lassen. Ausdruck des Gerichtsstandes für den Deliktsfall. Wo das Delikt begangen wurde, da wird der Prozess entschieden. Und der Meyer, der Schulze, der Bürgermeister bleibt so lange im Amt, als er sich dort ungehalten halten kann. Unser gegenwärtiges Recht setzt ausschließlich auf die Schriftsprache. Wir haben einen im Bundesgesetzblatt verkündeten Gesetzestext, kein Bild, keine Geste, kein Sprecher, der diese


BAYERN & KULTUR Sprache überbringen könnte. Allein die nüchterne Geschäftsmäßigkeit des Textes. Und dennoch ist auch unser gegenwärtiges Recht immer sehr stark auf das Gespräch und den Dialog angelegt. Hören wir genau auf unseren Verfassungstext: Da ist die Rede von dem Parlament, das in öffentlicher Debatte das Gesetz diskutiert; der Abgeordnete gibt seine Stimme ab; der Bundesrat erhebt Einspruch oder erteilt Zustimmung; der Wortlaut des Gesetzes wird verkündet. Und wenn der Bürger nicht einverstanden ist, wendet er sich an die Rechtsprechung. Er erhebt Widerspruch, Klage, geht in Berufung und der Richter entscheidet über Anspruch oder Freispruch. Unser ganzes Recht ist ein Vorgang des Sprechens. Und wenn der Gesetzgeber verschwiegen ist, weil er geschwiegen hat, haben wir ein eigenes Organ, die dritte Staatsgewalt, die Rechtsprechung, die diesen Verfassungsstaat sprechfähig macht. Wenn wir uns das bewusst machen und wenn wir dann gelegentlich die jüngsten Steuergesetze anschauen, wie die einfache Vorschrift des Paragraphen 32 a EStG über die Höhe des Steuersatzes. Da steht eine mathematische Formel mit Plus und Minus und Klammer auf und Klammer zu. Da verweigert der Gesetz-

Der Staat soll dem Bürger zutrauen, dass er selber weiß, wie er sein Einkommen anlegt. geber das Gespräch mit dem Bürger. Der Bürger kann das nicht verstehen. Er kann es in seinen Computer eingeben, natürlich, aber Steuerrecht steht unter Gesetzes-, unter Sprachvorbehalt, nicht unter Computervorbehalt. Und wenn das Recht in der Sprache lebt oder stirbt, wenn das Recht nur in Sprache nicht verstanden werden kann, es nicht als gerecht empfunden werden kann, dann zeigt sich in diesem Sprachwirrwarr das ganze Dilemma des gegenwärtigen Rechtes. Wer das, was er politisch will, nicht in einfachen Begriffen zum Ausdruck zu bringen vermag, hat seinen Gegenstand intellektuell nicht begriffen oder er will ihn dem Betroffenen nicht verständlich machen. Mein zweiter Punkt ein kurzes Wort zur Freiheit: Freiheit ist das Recht, sich vom anderen unterscheiden zu dürfen. Der eine wird freiwillig Arzt, der andere wird freiwillig Rechtsanwalt. Deren Berufsbiografie und damit wesentliche Teile ihres Lebens werden sich in Zukunft grundlegend voneinander unterscheiden. Und in 20 Jahren können sie nicht ihren Beruf tauschen, sondern sie sind auf die Bahn ihrer Freiheit angewiesen. Das ist die Idee von Freiheit. Jeder hat seine Chance und sein Risiko in seiner persönlichen Lebensgestaltung. Der eine lebt sportlich, kann einen Marathon laufen und der andere ist musikalisch und kann gut Klavier spielen. Am Anfang, in der Startposition, sind sie gleich, in der Wahrnehmung der Freiheit grundverschieden. Und zwei gründen eine glückliche und zwei gründen eine holprige Ehe. Jeder ist seines Glückes Schmied. Unsere Rechtsordnung anerkennt diese Verschiedenheiten im Ausgangspunkt, im Weg, im Ziel, auch im Einkommen. Und wer diese Verschiedenheit nicht erträgt und meint, er müsse sie prinzipiell von Staats wegen umverteilen, kann die Idee der Freiheit nicht ertragen. Früher haben wir gemeint, die Freiheit sei im wesentlichen durch das staatliche Recht bedroht, das uns die Freiheit nimmt. Das ist bei uns glücklicherweise nicht mehr der Fall. Heute ist

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

unsere Freiheit substantiell bedroht durch das staatliche Geld, das den Menschen in Deutschland als käuflich definiert, ihm Verlockungen vor die Augen hält und der Mensch sich darauf einlässt. Das Steuerrecht ist ein dramatisches Beispiel. Es hat uns verlockt, in die Filmwirtschaft zu investieren, in den Schiffsbau zu investieren, in die Solarindustrie zu investieren. Es hat uns veranlasst, in Personengesellschaften einzutreten mit einem Partner, den wir nicht kennen lernen wollen, wegen eines Produkts, das uns nicht interessiert, an einem Standort, den wir nie betreten werden, allein in der Sehnsucht nach Verlusten. Da hat der demokratische Gesetzgeber das Gesetz eingesetzt, um unser Wirtschaftssystem auf den Kopf zu stellen. Deshalb ist eines der großen Ziele, die vor uns liegen, den Abbau der Steuern anzupeilen. Das Freiheitsvertrauen wieder herstellen, dass dieser Staat dem Bürger zutraut, selber zu wissen, wie er sein selbst verdientes Einkommen anzulegen hat. Wir brauchen wieder den selbstbewussten, den stolzen, den engagierten Bürger, der sich seine Freiheit nicht beschneiden lässt. Als Konrad Peutinger, mein dritter Punkt, am Markt erfolgreich tätig war, da war er ein Verantwortungseigentümer. Er hat sein Unternehmen betrieben, indem er mit seinem Namen und seinem Vermögen für die Qualität seiner Leistung einstand. Eine Gesellschaft wie auch immer mit beschränkter Haftung gab es noch nicht. Jeder Freie stand für das ein, was er tat. Unser heutiger Weltmarkt, und das stellen wir nicht in Frage, ist ganz anders strukturiert. Die Akteure sind anonyme Kapitalgesellschaften. Der Kapitalgeber, der Eigner, ist nicht mehr ein Aktionär, der diesem Unternehmen auf 30, 40 Jahre verbunden ist, sondern dieser Aktionär spielt an seinem Computer und ist in der Börse in Tokio, in Frankfurt und am selben Tag in New York. Er springt dorthin, wo die größte Rendite zu erwarten ist. Und der andere Anleger gibt sein Geld einem Fondsmanager und dieser schickt das Geld um den Erdball, platziert es dort, wo die größte Rendite zu erwarten ist und ob der Anleger mit seiner Kapitalmacht Weizen anbaut oder Waffen produziert, ist völlig unerheblich. Er soll es nicht wissen und er will es nicht wissen. Wir haben die Rendite von der Eigentümerverantwortlichkeit, also dem Einstehen müssen für das, was mit meinem Geld ge-

Zu allen Zeiten haben die Menschen über die Steuerlast geklagt. Früher musste sie in Form von Naturalien geleistet werden, darunter auch Hühner, wie der Holzschnitt aus dem Mittelalter zeigt.

67


BAYERN & KULTUR

schieht, systematisch getrennt. Und teilweise gibt es ganze Branchen im Finanzmarkt, wo das Nichtwissen Bedingung des Geschäfts ist. Auch hier müssen wir überlegen, ob wir nicht die Kultur der verantwortlichen Freiheit rekultivieren müssen.

Festlicher Abend im Königssaal des Bayerischen Hof: Mitglieder des Peutinger Collegiums (Bilder oben und auf dieser und der nächsten Seite unten) bei der Verleihung der Goldenen Peutinger-Medaille an Prof. Dr. Paul Kirchhof.

Wir alle haben die Hoffnung, dass die jüngst aufgespannten Rettungsschirme eine politische Klugheit waren und manches spricht dafür, dass sie Deutschland verlässlicher und schneller aus der Krise herausführen, als dies in anderen Länder geschieht. Aber wir müssen beunruhigt darüber nachdenken, ob es richtig war, dass alle Akteure des Finanzmarktes ihre ganze Fantasie der Rettung allein auf den Staatshaushalt gerichtet haben, also auf den Griff in die Staatskasse. Die freiheitliche Idee ist eine andere. Und wenn wir mal theoretisch überlegen, der Staat hätte nicht geholfen, dann hätten die Bankiers nicht ihre Bücher zugeklappt und wären nach Hause gegangen, sondern sie hätten ihre ganze Fantasie, ihre ganze Erfahrung, ihre ganze Geschäftsbeziehung, die Kraft ihres Kapitals ein-

kasse in Rechtsansprüche umzusetzen. Und dann klagen sie ihre Ansprüche ein, währenddessen flüstern die Parteien und Verbände ein, es könnte mehr sein, der Anspruch ist zu gering und dann gewinnen sie ihren Prozess und bekommen das gezahlt, was ihnen von Rechts wegen zusteht und sind dennoch unzufrieden, weil es ja zu wenig ist. Dieses System entsolidarisiert.

Wir müssen die Staatsschuld ächten, denn sie überfordert den Staat und belastet unsere Kinder. gesetzt, um diesen Finanzmarkt zu ändern. Und was ist die Wirkung eines Schirmes? Die einen stehen im Trockenen, die Konkurrenten bleiben im Regen stehen und die Steuerzahler oder die zukünftigen Steuerzahler, unsere Kinder, geraten in die Traufe. Auch hier stellen sich Grundsatzfragen, dass wir mal innehalten sollten und uns besinnen sollten, ob diese Erwartungen an den Staat richtig sind. Gegenwärtig gelingt es den Menschen, ihre Hoffnung auf den Zugriff auf die Staats-

68

Und deswegen gehe ich mit meinem Vorschlag zu meinem vierten Punkt über: Dass die Staatsverschuldung in unserer heutigen Situation, die den Staat überfordert und die Gegenwart zu Lasten unserer Kinder begünstigt, ein Übel ist. Wir müssen die Staatsschuld ächten. Wenn Konrad Peutinger Grundsatzvergewisserungen in seiner Gegenwart wollte, dann müssen wir heute elementar neu denken und fragen, ob die Begründung für die Staatsverschuldung, die bis vor einem Jahr im deutschen Grundgesetz stand, richtig ist. Da stand nämlich, wenn der Staat investiert, also Güter schafft, Universitäten, Krankenhäuser, Straßen, die noch unseren Kindern zugute kommen, dann sollen die Kinder, vermittelt über die Staatsschuld, an der Finanzierung dieser Investitionen teilhaben. Denn sie müssen die Schuld von heute später mit Zins und Zinseszins zurückzahlen. Ich meine, dies ist eine sehr kleinmütige Interpretation des Generationenvertrages. So haben wir eigentlich unser Erbrecht nicht gedacht. Nun wird gesagt, unsere Inlandsnachfrage sei schwach. Das ist richtig, weil wir zu wenige Kinder haben. Und deswegen


BAYERN & KULTUR müssen wir Kredit finanzieren und Impulse geben, damit die Inlandsnachfrage wieder ansteigt. Auch dies ist in der Gegenwart, in zwei, drei Jahren richtig gedacht, denn das belebt natürlich die Konjunktur, aber es ist zeitlich eng gedacht. Denn mittelfristig ist diese Konjunkturbelebung durch Staatsverschuldung eine gewaltige konjunkturelle Belastung. Stellen wir uns mal heute vor, wir hätten die 41 Milliarden Euro, die gegenwärtig im Bundeshaushalt allein für Zinsen, nicht für Tilgung, ausgegeben werden, für Krankenhäuser, Universitäten, Kitas zur Verfügung. Das wäre ein Konjunkturprogramm heute, wenn wir uns nicht vor 20 Jahren verschuldet hätten. Und auch deswegen müssen wir spürbar machen, dass die Staatsverschuldung für die Menschen von heute eine Last ist. Und deswegen mein Vorschlag, immer dann, wenn die Staatsverschuldung um 1 Prozent steigt, sinken alle Staatsleistungen. Industriesubventionen, Beamtengehälter, die Sozialhilfe. Jeder spürt dann: Wenn die da oben sich verschulden, geht es mir schlechter. Und plötzlich werden wir eine Gemeinschaft der wirtschaftlichen Solidarität. Alle sind dagegen, dass die Staatsverschuldung bleibt. Wenn wir das geleistet haben, ist der Weg frei für die große Steuerreform. Die Steuer ist das Gesicht des Staates, nicht eine Nebenerscheinung. Als sich die alten Römer mit Tributum, also einer Kriegsanleihe, finanziert haben und die Kredite von ihnen finanziert wurden durch die jeweilige Kriegsbeute, musste wegen der Art der Finanzierung dieser Staat ständig auf Eroberungskriege gehen und erfolgreich sein. Als im Mittelalter der Kaiser das Reich, das Heer, die Gerichtsbarkeit, die Beamten aus den Erträgnissen seiner Domänen finanzieren musste, also als Großlandwirt finanzieren musste, war klar, man konnte nur eine kleine Handvoll von Menschen, die wirtschaftlich ganz erfolgreich waren, zum Kaiser wählen. Die Finanzierung bestimmte das Wahlsystem. Als die Kameralisten sagten im 17. Jahrhundert, jeder schuldet seine Arbeitskraft, die Kraft seines Geistes diesem Staat in gleicher Weise, war die Folge die Kopfsteuer. Für die gleiche Schuld pro Kopf, die diesem Staat erbracht werden muss, besteuern wir die Köpfe, den Millionär, den Habenichts, jeder 1000 Euro im Monat. Heute ist die Steuer der Preis der Freiheit. Wenn der Staat die Produktivität der eigenen Arbeit durch Garantie der Berufsfreiheit in private Hand gibt, die Produktivität des Kapitals durch Garantie der Eigentümerfreiheit in privater Hand belässt, der also strukturell auf das Staatsunternehmertum verzichtet, dann kann er sich nur durch Teilhabe am Erfolg der privaten Wirtschaft finanzieren. Richtig und freiheitsgerecht ist der Gedanken, das der Staat dann, wenn der Bürger freiwillig an den Markt geht und dort erfolgreich ist, den Preis durch die Steuern verteuert. Der Lohn muss höher sein, weil Lohn-

steuer zu zahlen ist, der Kaufpreis muss höher sein, weil 19 Prozent Umsatzsteuer abzuführen sind. Ein sehr kluger, freiheitsgerechter Gedanke. Wir müssen ihn nur wieder freilegen von allen Überwucherungen, Verfremdungen, die wir gegenwärtig haben. Wenn ich das Einkommensteuerrecht nehme, da gibt es gegenwärtig 534 Ausnahmeprivilegien und Lenkungstatbestände. Bei dieser großen Zahl hat mindestens jeder drei. Aber da meint er, das System ist fürchterlich, aber mir geht es ja gut. Ich bin auf Seiten der Begünstigten. Und er ahnt gar nicht, dass sein Freund 10 Privilegien hat, sein Konkurrent 20 und sein Feind 30.

Auf Kapitaleinkünfte haben wir bereits die Einheitssteuer. Würden wir also alle Privilegien abschaffen, hätte der Staat sehr viel mehr Einnahmen, die er den Steuerzahler durch Absenkung der Steuersätze zurückgeben kann. Das Steuerrecht wird ganz einfach und es bildet sich wieder ein allgemeines Rechtsbewusstsein von Steuern. Der ehrbare Kaufmann, der redliche Bürger weiß im Steuerrecht wieder, was sich gehört. Und jetzt eine Schlussbemerkung: Haben wir eine Chance? Wir haben eine einmalige Chance für eine Einheitssteuer bei vereinfachter Bemessungsgrundlage. Und zwar deshalb, weil dieser Einheitssteuersatz seit 1. Januar 2009 in Deutschland bereits mit der Abgeltungssteuer gilt. Leider nur für die Einkünfte aus privatem Kapitalvermögen. Da kommt es nicht darauf an, ob Sie tausend, hunderttausend oder eine Million verdienen, ein Viertel ist genug. Allerdings sind es aus den Einkünften aus Arbeit weiterhin 42 oder 45 Prozent. Wenn die Menschen erst einmal merken, dass sie bei Erträgen aus Kapital 25, bei Erträgen aus Arbeit aber 45 Prozent zahlen, dann wird das deutsche Staatsvolk sagen: So haben wir unsere Gerechtigkeit nicht gedacht. Das ist ein schlechthin unerträgliches Unrecht. Und dann stehen wir vor der Frage: Stellen wir Gleichheit her bei 45 oder bei 25 Prozent. Doch die Frage ist entschieden, denn der internationale Finanzmarkt gibt mehr als 25 Prozent nicht her. Ergo müssen die Parlamente von 45 auf 25. Dann fehlt dem Finanzminister sehr viel Geld und er muss alle Ausnahmen, Befreiungen und Privilegien abschaffen. Und dann ereignet sich für diesen Staat etwas Wunderbares: Alle Menschen in Deutschland wissen, wenn einer im Einkommen sehr erfolgreich ist, liefert er 25 Prozent in die Gemeinschaftskasse ab. Wer eine Million verdient, zahlt 250.000 für uns und alle denken, wenn er im nächsten Jahr zwei Millionen verdienen könnte, gäbe es für unsere Gemeinschaftskasse 500.000. Und so haben wir gemeinsam erstmals Freude am Erfolg des anderen und dann sind wir für die Freiheit bereit. n

69


BAYERN & KULTUR Georg Fahrenschon

Im Dickicht der Vorschriften Bürger wünschen mehr Steuergerechtigkeit – Laudatio des bayerischen Finanzministers Den Namen Paul Kirchhof verbindet die breite deutsche Öffentlichkeit mit einer Revolution, einer unblutigen, aber vielen Menschen aus der Seele sprechenden Steuerreform. Wie kein anderer haben Sie im Jahre 2003 mit Ihrem Vorschlag, die Einkommen- und Körperschaftssteuer auf ein völlig neues System zu stellen, im Kern ad persona eine Diskussion beflügelt über die grundlegende Erneuerung unseres deutschen Steuersystems. Das Bayerische Finanzministerium hatte Ihre Arbeit im Rahmen der Forschungsgruppe Bundessteuergesetzbuch finanziell wie persönlich unterstützt. Und ich kann aus vollem Herzen sagen, diese Investition, die hat sich gelohnt. Die Menschen sind hungrig nach einem fairen, konzeptionell grundlegend erneuerten Steuergesetz. Mit diesen Worten darf ich Sie zitieren, um die Leitlinien Ihrer Forschungsarbeiten zu skizzieren. Sie sprechen damit den meisten Menschen noch heute aus der Seele. Bei keinem anderen Rechtsgebiet besteht in der öffentlichen Wahrnehmung ein derart hoher Reformbedarf wie im deutschen Steuerrecht. Dabei müssen zweifelsohne auch die Steuervergünstigungen und die Ausnahmetatbestände auf den Prüfstand gestellt werden. Mit anderen Worten: Steuervereinfachung muss auf der Prioritätenliste ganz weit oben platziert werden, denn es ist richtig, dass Ungerechtigkeit dort entsteht, wo der Bürger im Dickicht der Vorschriften sein Recht nicht mehr erkennen kann. Um gerecht zu sein, muss das Steuerrecht aber auch einen klaren Belastungsgrund folgern. Besteuert werden darf nur das mehr oder weniger frei verfügbare Einkommen. Denn nur hier spiegelt sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines jeden einzelnen wieder. Um das zu gewährleisten, muss das Steuerrecht an die Lebenswirklichkeiten anknüpfen. Und das Leben ist oftmals komplizierter, als dem einzelnen lieb ist. Steuervereinfachung kann sehr wohl zu mehr Steuergerechtigkeit führen. Andererseits muss uns aber auch klar sein, dass die Vereinfachung Grenzen hat. Kernelement Ihres Vorschlags aus dem Jahr 2003 war die Einführung der so genannten Flat Tax, mit der erhebliche Vereinfachungspotentiale verbunden sind. Dabei ging es Ihnen nicht darum, dass jeder

70

„Die Vereinfachung des Steuerrechts hat seine Grenzen in der Steuergerechtigkeit“: Bayerns Finanzminister Georg Fahrenschon bei der Laudatio auf Professor Paul Kirchhof.

seine Steuerschuld im Kopf berechnen kann. Denn die Komplexität des deutschen Einkommensteuerrechts ist schließlich nicht durch den Tarif, sondern vor allem durch die Vorschriften zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage, also der Basis, auf der der Tarif aufsetzt, begründet. Die echten Vereinfachungspotentiale eines proportionalen Steuertarifs liegen vielmehr in der abschließenden Besteuerung von Einkünften an der Quelle sowie im Verzicht auf komplexe Vorschriften, wie etwa dem Progressionsvorbehalt oder der Besteuerung außerordentlicher Einkünfte begründet. Die einzelnen Beispiele ließen sich nahezu endlos aufzählen. Dabei kommt man immer mehr zum Ergebnis, dass Ihr Reformvorschlag aus dem steuersystematischen Blickwinkel noch heute kaum an Genialität zu übertreffen ist. Doch der Grund, weshalb eine Flat Tax auf alle Einkünfte ein theoretischer Ansatz geblieben ist, liegt auch in der Frage, wer welchen finanziellen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwohls zu leisten hat. Dabei geht es um eine gerechte Verteilung der Steuerlast. Natürlich zahlt auch bei einer Flattax derjenige, der viel verdient, mehr als derjenige, der weniger verdient. Da die Steuerlast proportional zu seiner Einkommenshöhe ansteigt. Man darf aber bei der Frage, warum es dieser an Genialität kaum zu übertreffende Vorschlag trotzdem so schwer hat, nicht ausblenden, dass der heutigen Einkommensteuer eine weitergehende Umverteilungsfunktion zukommt. Ein progressiver Einkommensteuertarif will immer auch die Ungleichheit in der Einkommensverteilung nivellieren. Dieser Effekt ging bei einem proportionalen Steuersatz verloren. Und deshalb muss man auch mit Blick auf die momentane gesellschaftliche Debatte darauf hinweisen, dass der Grundsatz, wonach starke Schultern mehr tragen können als schwache, gerade heute mehr und mehr an Bedeutung erhält. Dieser Grundsatz, der sich in der Geometrie eines progressiven Einkommensteuertarifs widerspiegelt, gewinnt in einer Zeit, in der sogar eine zunehmende Polarisierung der Einkommen auch in Deutschland feststellbar ist, durch seine Schlichtheit. Dies darf die

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


BAYERN & KULTUR Politik nicht einfach ignorieren, und das ist der Grund, weshalb der Freistaat Bayern im Herbst ein eigenes Steuerkonzept präsentieren will, das sich mit der Frage von Steuerentlastung für die kleinen und mittleren Einkommensbezieher unter den veränderten finanzpolitischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen wird. Tarifkorrekturen werden sich dabei, so zeichnet sich heute schon ab, innerhalb des linear progressiven Tarifs bewegen. Einen Stufentarif, wie er von anderen Kräften in Deutschland diskutiert wird, sehe ich nicht als Alternative. Ein Stufentarif bringt einerseits steuersystematisch keine Fortschritte, verursacht andererseits an den Stufen aber erhebliche Belastungssprünge, die für die

Wir müssen die Belastungen durch die steigende Staatsverschuldung bewusst machen. Bürgerinnen und Bürger noch weniger nachvollziehbar sind, als eine beständige, aber moderat ansteigende Steuerbelastung. Hinzu kommt ein weiteres: Ein Finanzminister ist von Amts wegen janusköpfig, weil er einerseits den gestalterischen Anspruch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu vertreten hat, auf der anderen Seite aber auch mit der Krämerseele eines Buchhalters darauf achten muss, dass die Ausgaben sich an den Einnahmen orientieren und nicht andersherum. Wollte man einen Stufentarif konstruieren, der angesichts der aktuellen angespannten Lage der öffentlichen Haushalte auch vertretbar erscheint, müsste man mindestens fünf, sechs oder gar sieben Stufen in Kauf nehmen. Dann aber wäre eine Vereinfachung nicht mehr möglich, das erinnert eher an die spanische Treppe. Mit Blick auf die dramatisch angestiegene Verschuldung der öffentlichen Haushalte haben Sie jüngst vorgeschlagen, entsprechend dem Anstieg der Staatsverschuldung die Leistungen des Staates zu kürzen, um die Minderausgaben zum Defizitabbau einzusetzen. Doch so nachvollziehbar dieser Vorschlag ist, so lässt er sich leider nicht ohne weiteres umsetzen. Der dahinter stehende Gedanke ist allerdings unverzichtbar: Es muss der Politik gelingen, den Bürgerinnen und Bürgern die Belastung durch die steigende Staatsverschuldung bewusst zu machen. Und dadurch das Verantwortungsbewusstsein des einzelnen für ein funktionieIn prachtvoller Uniform, aber ohne ihre Gewehre: Vier Mitglieder der Gebirgsschützenkompanie Tegernsee – Leutnant Hannes, Fritz Günther, Günther Gasteiger, Hauptmann Fredi Baier (v. li.) – im Königssaal.

rendes Gemeinwesen schaffen. Denn nachhaltige Haushaltskonsolidierung kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir die Menschen auf diesen mit Sicherheit nicht einfachen Weg auch mitnehmen. Professor Kirchhof ist aber auch nicht nur ein bemerkenswerter Impulsgeber für unser Steuerrecht, er ist auch der Verfassungsrichter Kirchhof. In der Zeit von 1987 bis 1999 waren Sie als Berichterstatter des 2. Senats Architekt wichtiger und zentraler Urteile, die bis heute Auswirkungen auf die politischen Entscheidungen in Deutschland haben. Dazu gehört etwa das Urteil, mit dem das Verfassungsgericht die Bundeswehr zu einer Parlamentsarmee erklärt hat, oder das Urteil über den Maastricht-Vertrag, das letztendlich die Einführung des Euro in Deutschland möglich machte. Es möge sich jeder ausmalen, was passiert wäre, wenn es in den letzten Jahren 27 nationale Währungen in Europa gegeben hätte. Was wir als die Volkswirtschaft, die am stärksten von der Weltwirtschaft abhängt und die trotzdem die stärkste in Europa ist, hätten ausgleichen müssen, wenn die D-Mark und nicht der Euro zum Spielball unterschiedlicher Interessen der freien Weltmärkte geworden wäre. Die D-Mark wäre heute aufgewertet in höchste Höhen und um uns herum hätten alle anderen Währungen abgewertet. Unsere Produkte wären überteuert und wir könnten über die Weltmärkte kaum wesentlich dazu beitragen, dass wir schneller die Krise hinter uns lassen. Im Bereich des Steuerrechts sind vor allem Ihre Urteile zum Kinderexistenzminimum sowie zur Vermögensteuer zu erwähnen. Letzteres hat dazu geführt, dass die Vermögensteuer seit 1997 nicht mehr erhoben wird. Vielleicht wäre auch Ihr Arbeitseifer eine Hilfe gewesen, in Sachen Erbschaftsteuer schneller zu besseren Ergebnissen zu kommen. Mit Ihrem Wirken haben Sie bleibende Akzente für die Entwicklung des Rechts in Deutschland gesetzt. Dieser Beitrag ist unverzichtbar für eine lebendige Demokratie. Sie sind einer der herausragendsten Gelehrten unserer Zeit, die Goldene Peutinger-Medaille ist nicht nur eine Anerkennung für das, was Sie bislang für unser Land und unsere Gesellschaft geleistet haben, sie soll Sie auch darin bestärken, Ihren Weg in der Zukunft weiter unbeirrt fortzusetzen. n Georg Fahrenschon ist Bayerischer Staatsminister der Finanzen. 1968 in München geboren, studierte er in München und Augsburg Wirtschaftswissenschaften und schloss als Diplom-Ökonom ab. 2002 zog der CSU-Politiker in den Bundestag ein. Das Mandat legte er nieder, als er 2007 Staatssekretär im bayerischen Finanzministerium wurde. Ein Jahr später wurde er in diesem Ressort zum Minister berufen.

71


BAYERN & KULTUR Hannes Burger

Südwind-Milliarden

Karikatur: Horst Haitzinger

Vor allem SPD-regierte Länder kassieren hohe Summen aus dem Länderfinanzausgleich – Bayern muss jährlich fünf Milliarden Euro zahlen

Es war noch im April, aber nicht als Scherz gemeint: „Bayern wird mit Abstand am höchsten belastet!" So empörte sich der haushalts- und finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag, Volkmar Halbleib. Mit dieser späten Erkenntnis ist ihm zum Thema Länderfinanzausgleich ein Licht aufgegangen, das schon seit Jahren blinkt wie ein Rotlicht am Bahnübergang. Anhand von Daten der „vorläufigen Jahresrechnung“ des Bundesfinanzministeriums für 2009 erkannte der Sozialdemokrat richtig: „Bei einem Volumen des bayerischen Staatshaushalts von 41 Milliarden sind fünf Milliarden Euro, die Bayern an andere Länder abgibt, eine gravierende Größenordnung." Dafür könnte Bayern jedes Jahr in Kärnten eine marode Bank kaufen oder in Griechenland eine eigene Insel.

72

In Europa wehren sich die wirtschaftlich stärkeren Staaten, allen voran Deutschland, gegen einen Finanzausgleich mit EU-Staaten, die nicht genug Geld einnehmen, es aber großzügig ausgeben. So einen Ausgleich gibt es jedoch sowohl horizontal zwischen 16 deutschen Ländern untereinander, als auch vertikal zwischen Ländern und Bund (seit 1995 im Solidarpakt). Dabei soll mit einem komplizierten Berechnungssystem allen Ländern ein etwa gleiches Steueraufkommen pro Kopf garantiert werden. In der Praxis hat es dazu geführt, dass Länder, die gut wirtschaften und haushalten, mit Abzügen bestraft werden. Die anderen profitieren davon gut und gern. Sie erhöhen ihre Bedürftigkeit noch mit sozialen Wohltaten, die sich sparsame Geberländer nicht leisten.


BAYERN & KULTUR Derzeit ist in der Tat Bayern mit 3,5 Milliarden direkt und mit der Umsatzsteuer-Verteilung insgesamt mit fünf Milliarden „Hauptsponsor“ für die anderen 11 Länder. Nur noch Hessen mit zwei und Baden-Württemberg mit eineinhalb Milliarden – alle aus dem Süden! – sind nennenswerte Zahlerländer. Eher mit Kleingeld – 49 Millionen – ist Hamburg beteiligt und mit 61 Millionen auch Nordrhein-Westfalen; das größte Land ist erst heuer unter der nun abgewählten schwarz-gelben Regierung vom Empfänger wieder zum Zahler „aufgestiegen“, was unter dem neuen rot-grünen Frauen-Duo sich bald wieder ändern dürfte. Alle fünf Zahler – ein Jahr zuvor nur vier – werden von der Union geführt, alle SPD-geführten Länder gehören zu den 11(12) Empfängern am Tropf des Bundes und leistungsfähiger Geber, von denen Bayern allein die Hälfte aufbringt. Der Finanzexperte von Bayerns SPD hat aus der richtigen Einsicht in diese Ungerechtigkeit leider die falschen Schlüsse gezogen und die üblichen Verdächtigen beschuldigt. Bayerns Staatsregierung und die CSU hätten zwar „am Finanzausgleich immer wieder Kritik geübt, aber keinerlei Konsequenzen gezogen“. Er fordert daher eine Initiative, aber nicht von seinen rot-rot-grünen Genossen oder der CDU in den leistungsschwachen Ländern vom „Stamme Nimm“, sondern von Bayern:

Für die Nehmerländer lohnen sich eigene Anstrengungen nicht. „Die Staatsregierung muss endlich ein Reformmodell für den bundesstaatlichen Finanzausgleich mit konkreten Zielen, Ausgleichsmechanismen und Modellrechnungen vorlegen!“ Die Korrekturwünsche der Geber liegen längst vor. Aber was dann? Sollen Bayern, Baden-Württemberg und Hessen die 11 oder 12 Empfängerländer umzingeln und im Bundestag oder Bundesrat majorisieren? Einen von der CSU-Fraktion angeregten überfraktionellen Antrag zur Änderung dieses ungerechten Ausgleichsystems will Bayerns SPD aber nicht mittragen, denn das könnten ihnen ja ihre sehr gern kassierenden Genossen übelnehmen. Beim Länderfinanzausgleich werden nur Steuer­ einnahmen ausgeglichen – ohne Rücksicht auf Ausgaben, Haus­haltsführung, Sparmaßnahmen, Prestigeobjekte, noble Sozialleistungen und hohe Staatsschulden. Egal, ob diese Bundesländer nur Nachholbedarf oder strukturelle Übergangsprobleme haben, ob sie schlecht wirtschaften, zu wenig sparen oder seit 60 Jahren von Haus aus und für immer nicht lebensfähig sind – sie halten nur die Hand auf und bekommen quasi vom „Südwind“ Milliarden in die Kassen geweht. Zu den „überzähligen“ Steuereinnahmen jener Länder, die solide Wirtschaftspolitik betreiben, sparen und weniger Schulden haben, kriegen sie noch Geld vom Bund. Auch die Verteilung der Umsatzsteuer begünstigt einkommensschwache Länder stärker; das ist Teil des Solidarpakts, geht aber wenigstens 2019 einmal zu Ende. Der horizontale Finanzausgleich besteht schon viel länger und ohne ein absehbares Ende. Auch Bayern hat bis 1986 zu den Empfängern gehört und sich dafür in Bonn wie Berlin viel Herablassung und Spott anhören müssen – mit dem Tenor: Die tüchtigen Deutschen arbeiten fleißig in den Ländern mit Kohle und Stahl, mit Welthandel, Werften, Autobauern

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

und Großbanken. Deren Steuerkraft verdanken es die urigen, bei ständigem Feiern um ihre Maßkrüge schuhplattelnden und jodelnden Bayern, die von Touristen und vom Finanzausgleich erhalten werden. Bayern hat sich aber angestrengt, hat seine Energieversorgung und die Wirtschaftsstruktur verbessert und sich vom Agrarland zur modernen Industrieregion gewandelt. Von 1987 bis 1993 pendelte der Freistaat mit kleinen Summen noch zwischen Geben und Nehmen hin und her, bekam aber 1992 die letzte Ausgleichs-Mark aus dem Topf. Seit 1993 ist Bayern nur Zahler – und das mit weit höheren Summen in Euro. „Bayerns Wirtschaft steht insgesamt gut da“, sagt Ministerpräsident Horst Seehofer, „sie hat sich nicht so anfällig für die Wirtschaftskrise gezeigt wie die in anderen deutschen Ländern. Darum müssen wir jetzt schon 11 Bundesländer mit Bayerns Steuern mitfinanzieren!“ Als Dank bekommen die Geberländer Belehrungen über ihre angeblich falsche Politik. Nun haben Baden-Württemberg und Hessen zugesagt, sich einer Klage Bayerns vor dem Bundesverfassungsgericht anzuschließen. Aber dort ist ein Erfolg nicht sicher. Das Gericht hat 1999 als Ziel des Grundgesetzes bestätigt: die Länder sind zur Solidarität verpflichtet, um gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn der Ausgleich auch bei den Leistungen hergestellt wird. Doch bessere Regeln konnte Bayern damals im Bund unter Rot-Grün nicht durchsetzen. Die für die fünf Geberländer ausbeuterische Praxis ist für die Nehmer sehr angenehm. Eigene Anstrengung lohnt sich da gar nicht: Wer bessere Rahmenbedingungen für seine Wirtschaft herstellt und so seine Steuereinnahmen erhöht, wird als der Dumme abgeschöpft. Die Bittsteller leisten sich dagegen locker kostenlose Kindergärten, verzichten auf Studiengebühren und vieles mehr. Da Bayern und vier andere Länder dafür zahlen müssen, haben die 11 Geld-Empfänger nicht das geringste Interesse, in Bund und Ländern an einer Reform mitzuwirken. Politisch wäre eine Reform nur durchzusetzen, wenn die SPD mitziehen würde. Doch wenn Bayern für die hoch verschuldeten Nehmerländer auch nur eine Schuldenbremse fordert, dann heißt es: Erpressung! Finanzminister Georg Fahrenschon weiß, dass die Bayern stolz sind auf Eigenständigkeit und eigene Leistung. Aber der Freistaat sei auch dankbar für die erhaltenen Hilfen und habe sich bemüht, das im Ausgleich empfangene Geld sparsam und effektiv einzusetzen. „Allen, die sich ähnlich anstrengen, helfen wir gern“, sagt er, „aber Bayern hat damals von Anfang an das Ziel gehabt, finanziell unabhängig zu werden. Und das erwarte ich jetzt mit Recht auch von anderen Ländern!“ n

Hannes Burger, 1937 in München-Schwabing geboren, war Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung und Bayern-Korrespondent der WELT. 22 Jahre lang schrieb er die Salvator­reden für den Stark­bier­anstich auf dem Nockherberg. Heute lebt er im Bayerischen Wald und trägt den Ehrentitel „Botschafter Niederbayerns“.

73


BAYERN & KULTUR Gerd Sonnleitner

Agribusiness – Eine Branche mit Zukunft Schnell ist man im Zeitalter von Hightech und Informationstechnologie geneigt, die Landwirtschaft als Nische mit zum Teil musealem Charakter einzuordnen. Mir ist es ein großes Anliegen, den Agrarsektor aus dieser gedanklichen „Nische“ herauszuholen. Denn das Agribusiness – also die Land- und Forstwirtschaft mit vor- und nachgelagertem Bereich – ist ein wichtiger Teil der Volkswirtschaft, der wie ein Zahnrad mit den anderen Wirtschaftsbereichen in enger Wechselbeziehung steht. Zwar sind aufgrund des tiefgreifenden Strukturwandels in den vergangenen Jahrzehnten nur noch gut zwei Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland direkt in der land- oder forstwirtschaftlichen Primärproduktion beschäftigt, doch die volkswirtschaftliche Bedeutung der Land- und Forstwirtschaft ist ungleich größer. So stehen über vier Millionen Arbeitsplätze in Deutschland und jeder siebte Arbeitsplatz in Bayern mit der Land- und Ernährungswirtschaft unmittelbar in Verbindung. Dazu zählen die vielen handwerklichen und industriellen Betriebe im Ernährungsgewerbe, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse wie Milch, Getreide oder

74

Gemüse weiterverarbeiten. Der Großteil dieser Arbeitsplätze ist im Übrigen in ländlichen Räumen angesiedelt, die ansonsten nicht selten strukturschwach sind. Die Landwirtschaft ist ein Jobmotor. Zudem sind die Bauern gute Kunden und fragen für ihre Produktion umfangreiche Betriebsmittel, Investitionsgüter und Dienstleistungen nach. Sie kaufen Saatgut, Dünger, Jungtiere, Futtermittel und Landmaschinen ein. In Bayern sind allein im vergangenen Jahr etwa 700 Ställe mit einem Investitionsvolumen von je über 250.000 Euro gebaut worden. Durch ihre rege Investitionstätigkeit wirken die Bauern als Motor im Wirtschaftsgefüge. Beispielsweise

Agrarbranche erwirtschaftet jährlich über 50 Milliarden Euro. haben sie im Jahr 2008 in Deutschland zwölf Milliarden Euro in Gebäude und Maschinen investiert. Auch im Dienstleistungssektor sind Bauern sehr präsent, sie lassen ihre Traktoren reparieren, beauftragen Lohnunternehmer mit anfallenden Arbeiten, lassen Steuerberater ihre Buchführung erledigen und ihre Erzeugnisse durch Unternehmen aus der Qualitätssicherung zertifizieren. Mit ihren Erzeugnissen erzielte die deutsche Landwirtschaft in den vergangenen Jahren einen jährlichen Produktionswert von annähernd 50 Milliarden Euro. Damit liegt sie erheblich höher als beispielsweise das gesamte deutsche Textil- und Bekleidungsgewerbe oder die Papierwirtschaft. Im gesamten Agribusiness werden etwa


BAYERN & KULTUR 15 Prozent des Produktionswertes unserer deutschen Wirtschaft erarbeitet. Als vergleichsweise widerstandsfähig im Angesicht der Wirtschaftskrise zeigen sich derzeit die Agrarexporte. Deutsche Lebensmittel sind – wohl aufgrund hoher Qualität und Vielfalt international auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten EU- und weltweit gefragt. Im Jahr 2008 haben die deutschen Agrarexporte einen Wert von über 50 Milliarden Euro erreicht; der Löwenanteil davon ging in den europäischen Binnenmarkt. Die Haupt-Ausfuhrprodukte der bayerischen Landwirtschaft sind Käse, Fleisch und Fleischwaren, Milch und Milcherzeugnisse, Bier und Hopfen. Wie gefragt unsere Produkte im Ausland sind, zeigt auch die Tatsache, dass mehr bayerischer Käse nach Frankreich exportiert wird als französischer Käse nach Bayern.

kette erhalten, in dem das Ausnutzen der Macht des Lebensmitteleinzelhandels gegenüber Verarbeitern und Bauern massiv kritisiert wird. Nun ist das EU-Parlament an der Reihe, hier tätig zu werden. Auch das Bundeskartellamt sollte gegen diese Übermacht vorgehen. Eine entscheidende Besonderheit der Land- und Forstwirtschaft ist die Standortgebundenheit ihrer Produktion. Die Bauern können nicht Teile ihrer Produktion ins kostengünstigere Ausland auslagern, wie es in anderen Wirtschaftsbereichen sinnvoll und oftmals erforderlich ist. Sie müssen auf ihren heimischen Flächen, mit hiesigen Produktionsmitteln und Kostenniveaus arbeiten. Und sie unterliegen den hiesigen Umwelt- und Sozialstandards, die deutlich

Nachdem das Agribusiness ein wichtiges Rad im Getriebe der deutschen Wirtschaft ist, ist es nur natürlich, dass wir vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie andere Branchen. Da ist zunächst der fortwährende Abwehrkampf gegen immer neue bürokratische Belastungen. Diese verursachen auf den Höfen einen hohen Zeitaufwand sowie erhebliche Kosten und tragen weder dem hohen Ausbildungs- und Wissensstand der Betriebsleiter genügend Rechnung noch der Tatsache, dass sich das Wirtschaften in und mit der Natur und mit Lebewesen nicht in ein festes Schema pressen lässt. Dies sollte zu einer Politik höherer Eigenverantwortung führen. Probleme liegen beispielsweise auf der Hand, wenn dem Bauern bis ins Detail vorgeschrieben wird, welche Arbeiten er wann auf seinen Feldern erledigen darf oder nicht. Oder wenn eine verlorene Ohrmarke zur Rinderkennzeichnung zu hohen Abzügen bei den Direktzahlungen führt. Ein weiteres Handlungsfeld, das in ähnlicher Konstellation in allen Wirtschaftsbereichen anzutreffen ist, ist für die Landwirtschaft die äußerst unbefriedigende Situation in der Lebensmittelkette. Den rund 350.000 landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland stehen etwa 6.000 Unternehmen der Ernährungsindustrie und nur 10 große Konzerne im Lebensmitteleinzelhandel gegenüber, die etwa 99 Prozent Marktanteil besitzen. Diese Macht ist schlicht erdrückend. Auch wenn ich nie ein Verfechter von immer neuen Regulierungen war, bin ich doch überzeugt davon, dass wir hier ohne ein Eingreifen der Politik nicht vorankommen, um mehr unternehmerische Gesellschaftsverantwortung in diesem Bereich zu erreichen. Unterstützung haben wir hier von der EU-Kommission über deren aktuellen Bericht zur Lebensmittel-

Jobmotor Landwirtschaft: Mit hohen Investitionen, auch in Maschinen und Gebäude, sichern die Bauern jeden siebten Arbeitsplatz in Bayern.

höher liegen als in den Billiglohnländern. Durch ihre Standortgebundenheit produzieren die Bauern aber auch dringend benötigte Wertschöpfung im Ländlichen Raum und stärken die dortigen Wirtschaftskreisläufe. Vor allem aber sind ihre Produkte komplett „Made in Germany“, was zunehmend wieder zu einem Qualitätsbegriff und Gütesiegel wird. Mit ihrer standortgebundenen Produktion erbringen unsere Bäuerinnen und Bauern eine Vielzahl von gesellschaftlichen Leistungen, die nicht vom Himmel fallen, aber oft als selbstverständlich wahrgenommen werden. Diese durch die Landwirtschaft

75


BAYERN & KULTUR bereitgestellten öffentlichen Güter werden jedoch nicht über die Produktpreise abgegolten. So ist der Erhalt unserer attraktiven Kulturlandschaft, ein Koppelprodukt aus der Tätigkeit unserer Bäuerinnen und Bauern, das nicht importierbar ist. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Deutschen als Reiseweltmeister verstärkt wieder auf inländische Urlaubsorte zurückbesinnen. Gerade Bayern nimmt hier neben den deutschen Küsten den Spitzenplatz ein. Eine perfekte Umgebung mit der durch Bauern gepflegten Kulturlandschaft haben auch alle diejenigen, die sich beim Spazierengehen, Wandern, Laufen oder Radfahren in der Natur erholen. Diese Besonderheiten sind der Grund dafür, warum wir keine völlige Liberalisierung der Agrarmärkte wollen. Anfang der neunziger Jahre hat sich der Staat bei der europäischen Landwirtschaft sukzessive aus der Preis- und Mengenpolitik zurückgezogen und seitdem sind die Betriebe viele Schritte hin zur Marktorientierung mitgegangen. Dennoch können wir Landwirtschaft nicht völlig ungeschützt den freien Marktkräften überlassen. Ich setze mich weiterhin für eine soziale Marktwirtschaft für die Bauern ein. Die Erfahrungen aus der Entgrenzung und völligen Liberalisierung der Finanzmärkte müssen die Politik national, in Europa und international dazu bestärken, auf dieses Wirtschaftsmodell zu setzen. Unsere Bauernfamilien brauchen weiterhin die Direktzahlungen und Marktordnungsinstrumente als „Sicherheitsnetz“ einer sozialen Marktwirtschaft für ihre Betriebe. Wesentlich hierfür ist auch, dass ein Mindestmaß an Außenschutz beim WTORegelwerk und bei den bilateralen Handelsabkommen weiterhin erhalten bleibt. Aufgrund unserer hohen europäischen Standards im Bereich Lebensmittelsicherheit, Umweltschutz und Tierschutz muss es rechtens sein, Europas Bauern und Verbraucher schützen zu können. Ich kann nicht verstehen, wenn bisweilen moniert wird, der europäische Agrarhaushalt binde angeblich zu viel Geld. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass die Agrarpolitik nach wie vor der einzige Politikbereich ist, der europäisch geregelt und finanziert wird. Vor allem aber kommt es auf die Betrachtungsebene an. Fährt man einen fairen Vergleich der Budgets, dann muss man nationale und europäische Ausgaben für die einzelnen Politikbereiche ad-

Die Ausgaben für Ernährung sinken deutlich.

76

Der Produktionswert der Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei liegt deutlich über dem Wert, den andere wichtige Branchen erwirtschaften (in Milliarden Euro, ohne Mehrwertsteuer).

dieren. So betrachtet, liegen die Ausgaben für die europäische Agrarpolitik nur noch bei rund einem Prozent der Gesamtausgaben der öffentlichen Hand. Der aktuelle Subventionsbericht der Bundesregierung weist für die Landwirtschaft einen Anteil von fünf Prozent und für den größten Subventionsempfänger, die gewerbliche Wirtschaft, einen Anteil von 55 Prozent aus. Mein Fazit ist daher: Landwirtschaft in Europa leistet viel und kostet wenig. Die guten Gründe für staatliche Zahlungen an Landwirte wollen wir auch der Bevölkerung nahebringen. Deshalb haben wir über den Deutschen Bauernverband eine Öffentlichkeitskampagne gestartet, mit dem Titel „Arbeit mit Leidenschaft – Die deutschen Bauern“. Wie schon in der Vergangenheit wird auch in Zukunft die Produktion von sicheren und hochwertigen Lebensmitteln Kernaufgabe

„Mein Fazit: Landwirtschaft leistet viel und kostet wenig“. der Landwirtschaft sein. Unsere Landwirte ernähren Tag für Tag 500 Millionen Menschen in Europa. Noch nie waren die Lebensmittel so sicher und gut kontrolliert wie heute und noch nie mussten die Verbraucher dafür so wenig berappen: Nur noch 11 Prozent des Einkommens geben die Deutschen für Nahrungsmittel aus. Dabei stehen wir vor steigenden Herausforderungen. Wenn die Weltbevölkerung, wie die FAO schätzt, bis zum Jahr 2050 von derzeit sechs auf dann neun Milliarden Menschen ansteigt, bedeutet dies einen Rückgang der verfügbaren Ackerfläche pro Kopf von derzeit 2.700 auf dann nur noch 2.000 Quadratmeter. Bis 2050 wird die weltweite Nachfrage nach Lebensmitteln um die Hälfte steigen. Um diese zu decken, sind auch wir deutschen Bauern gefragt. Eine gesicherte Nahrungsmittelversorgung ist ein globales machtpolitisches Thema. Neben dem landwirtschaftlichen Hauptstandbein der Nahrungsmittelproduktion sind Land- und Forstwirtschaft auch zu den wichtigsten Akteuren beim Zukunftsthema der erneuerbaren Energien geworden. So ist Heizen mit Holz wieder im Kommen. Ein Ster trockenes Nadelholz ersetzt 175 Liter Heizöl. Und in diesem Jahr dürfte der Bestand an Holzpellet-Heizungen in Deutschland locker die 150.000er Grenze überspringen. Mit Rapsöl, das auf 1,5 Hektar Ackerfläche erzeugt worden ist, könnte ein umgerüstetes Fahrzeug einmal die Erde umrunden. Ein Hektar Mais liefert über die Verwertung in einer Biogas-Anlage so viel Strom, wie circa fünf Haushalte im Jahr verbrauchen. Jeder siebte Haushalt in Bayern wird Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


inzwischen mit Strom aus landwirtschaftlichen Biogasanlagen versorgt. Gerade im Bereich der erneuerbaren Energien laufen Innovationen und Weiterentwicklungen auf Hochtouren. Wir setzen uns bei der Stromerzeugung aus Biogas sehr für die Nutzung des Nebenproduktes, der Wärme, ein, um die Effizienz noch weiter zu steigern und keine Energie verpuffen zu lassen. Hochinteressant ist die Aussicht, dass die Landwirte bei passenden Gegebenheiten möglicherweise zukünftig das Biogas nach einer Aufbereitung direkt ins Gasnetz einspeisen können, ohne den Umweg einer Verstromung zu nehmen. Gerade der Bereich Biogas bietet viele Potenziale, Reststoffe aus der Land- und Forstwirtschaft nutzbar zu machen. Der größte Teil der Biogasanlagen in Bayern wird mit Gülle befüttert. Dadurch werden unter anderem die Emissionen bei der späteren Ausbringung deutlich gemindert. Mit Nachdruck widerspreche ich Aussagen, die Erzeugung von Bioenergie sei die Hauptursache für eine Verknappung von Nahrungsmitteln. Fakt ist, dass in der EU-27 bisher lediglich rund zwei Prozent der gesamten Getreideernte für Biokraftstoffe verwendet werden. Zum Vergleich: Allein schon normale, witterungs-

Die Agrarbranche produziert immer produktiver.

bedingte Ernteschwankungen haben wesentlich höhere Ausschläge von oftmals 5 bis 10 Prozent. Ich halte es für unredlich, das Zukunftsthema der erneuerbaren Energien mit Hinweis auf Hunger und Armut in der Welt in ein schlechtes Licht zu rücken. Denn nur mit Hilfe der erneuerbaren Energien können wir im Klimaschutz vorankommen. Land- und Forstwirtschaft sind die einzigen Branchen, die systemimmanent einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, denn sie binden durch ihre Produktion klimaschädliches CO2 und produzieren Sauerstoff. Nur ein Beispiel: Ein Zuckerrübenacker setzt innerhalb einer Vegetationsperiode so viel Sauerstoff frei, dass damit ein Jahr lang 54 Menschen komplett versorgt werden könnten. Gleichzeitig bindet dieser Rübenacker während der Vegetationsperiode 26 Tonnen CO2 aus der Atmosphäre, die erst beim Verzehr wieder freigesetzt werden. Diese CO2 -Neutralität macht auch den großen Beitrag der nachwachsenden Rohstoffe zum Klimaschutz aus. Für wenig zielführend und zu kurz gesprungen halte ich hingegen den Aufruf, Rindfleisch vom Speiseplan zu verbannen und damit das Klima zu schützen – ganz abgesehen davon, dass sich Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Mit Bioenergie schaffen sich die Landwirte ein zusätzliches Einkommen.

kein Verbraucher vorschreiben lässt, was er zu essen hat. Denn gerade in Bayern haben wir über ein Drittel Dauergrünland, das ist mehr als die Fläche des gesamten Regierungsbezirkes Schwaben. Der Großteil dieser 1,1 Millionen Hektar ist aus pflanzenbaulichen Gründen nur für die Grünlandnutzung geeignet, wodurch im Übrigen dauerhaft der Kohlenstoff im Boden fixiert und somit die Atmosphäre entlastet wird. Und das Grünland wird wiederum erst durch die Wiederkäuermägen für den Menschen nutzbar. Auf die Nutzung dieses Grünlands zu verzichten, wäre aus Gründen des Naturschutzes und der Landschaftspflege kontraproduktiv und angesichts der weltweit steigenden Nachfrage nach Nahrungsund Futtermitteln unverantwortlich. Für viel sinnvoller sind die Aufrufe zu einer bewussten Ernährung mit gesunder Mischkost aus heimischer Erzeugung. Denn während beispielsweise die erzeugte Rindfleischmenge in Deutschland seit 1995 um 20 Prozent abgenommen hat, ist die weltweite Rindfleischerzeugung, insbesondere in Asien sowie Mittel- und Südamerika, auf dem Vormarsch. Durch die Transporte für den Import entstehen erhebliche Klimakosten. Unsere Bauern tragen auch viel dazu bei, dass das Landleben für die „landferne“ Bevölkerung erschließbar und erfahrbar wird. Nicht von ungefähr ist der Urlaub auf bayerischen Bauernhöfen – unbeeindruckt von der Finanzkrise – nach wie vor eine Erfolgsgeschichte. In Bayern übernachtet inzwischen jeder siebte Feriengast auf einem der 7.000 Urlaubsbauernhöfe. Ich bin davon überzeugt, dass jeder dieser persönlichen Kontakte zu den Bauernfamilien hilft, gegenseitiges Verständnis und auch größere Sensibilität für gesunde, heimische Lebensmittel zu schaffen. Wenn ich von Umfragen höre, denen zufolge die Landwirte nach den Ärzten und Lehrern als die drittwichtigste Berufsgruppe gilt, dann freut mich das besonders. Auf dieses Vertrauen wollen wir weiter aufbauen und weiterhin eine Bereicherung für den Ländlichen Raum und die Gesellschaft sein. Vor diesem Hintergrund sehe ich im Agribusiness in Deutschland und in der bayerischen Landund Forstwirtschaft eine Branche mit Zukunft. n

Gerd Sonnleitner ist Präsident des Deutschen und des Bayerischen Bauernverbands. Der 61-jährige staatlich geprüfte Landwirt führt in seinem Heimatort Ruhstorf einen 100 Hektar großen Betrieb, der seit dem 13. Jahrhundert im Familienbesitz ist.

77


BAYERN & KULTUR

Magisches Theater Dem Wiederverzauberer zum 50.: Eine Doppel-Retrospektive in Leipzig und München feiert Neo Rauch Es wird demonstriert, das ist klar, doch ahnt man nicht, gegen was. Aus einem Rathaus peitscht ein Mann die Menge auf, im Vordergrund lässt sich eine Frau von ihrem Hund ablenken, ein mörderisches Vieh. Rechts kauert, an einen Baum gefesselt, ein Nackter; ein Stephanus vielleicht, der noch der tödlichen Pfeile harrt. Die kleine Gestalt in der Mitte übersieht man fast; ein Polizist, mit seinem Vollbart einem zaristischen Polizisten ähnlich, schiebt sie unwillig weiter, ohne auf den Sprengstoffgürtel zu achten, die sich jener Giftzwerg umgeschnallt hat. Ein typischer Neo Rauch, dieses Bild „Demos“, 2004 gemalt. Es ist nicht genau nachzuvollziehen, welche Geschichte der Leipziger da erzählt, aber es erinnert uns in seinen gedeckt bunten Farben an irgendwas. Es wird wohl eine Szene aus einem Traum gewesen sein, in der etwas Bedrohliches mitschwingt. Und man fragt sich, wie ist

„Was ist das für ein seltsames Bild, woher kommt es?“ es beschaffen, jenes Volk, das da gleichzeitig zornig und gleichgültig Transparente in die Höhe reckt? Viel Rätselstoff liefert Rauch in diesen Tagen in Leipzig und in München, wo man dem Star der „Leipziger Schule“ zum 50. Geburtstag opulente Retrospektiven mit jeweils 60 Bildern widmet. Der Leipziger selbst spricht vom „Wiederverzauberungsversuch der Realität“. Neo Rauchs Geschichten speisen sich aus Erinnerungen und Träumen. „Ich frage mich dann auch, was ist das für ein seltsames Bild, woher kommt es, wer sendet es mir, was soll ich jetzt damit?“, beschreibt er den Schaffensprozess, dieses Aufsteigen bunter Bilder aus den Sedimenten seiner Persönlichkeit.

78


Seine Kunst zitiert aus der Malerei von El Greco und Francis Bacon, von Tintoretto und Max Beckmann, von Werner Tübke und aus der Popart, zu einem Amalgam verschmolzen, vielfach gebrochen, mit rätselhaften Leerstellen, die der Vorstellung des Betrachters Raum zur Entfaltung geben. Rauch verwendet den Kanon der Kunst, gestaltet ihn gleichzeitig um und stellt ihn in absurde und alarmierende neue Zusammenhänge. Ebenso wie das seltsam unzeitgemäß gewandete Personal seiner Bilder, mal wie aus alten Arbeiterbildern, mal im Gehrock oder mit Zylinder: Er verwendet diese seine „Begleiter“ wie ein Kind, das scheinbar unterschiedslos Cowboyfiguren neben Zinnsoldaten stellt, um eine ganz eigene, tief versponnene Geschichte zu erzählen. Damit ist seine Kunst so aktuell wie beunruhigend – und anziehend: Beide Retrospektiven verzeichneten bis Mitte Juni jeweils mehr als 100 000 Besucher. Von einem „Ausstellungsereignis“ spricht daher auch stolz Klaus Schrenk, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Da schadete auch die niemals abreißende Diskussion über Rauch nicht. Malt er nicht einfach Agitprop, routiniert zur Collage gefügt? Die Vorbehalte in Westdeutschland – hier hatte man sich auf Abstraktion eingeschworen – waren ein Grund, warum sich Bilder des 50-jährigen Viel-Malers vor allem in Privatsammlungen finden. Besser, man macht sich selber ein Bild, in München und in Leipzig. Und stellt dann vielleicht fest, dass Neo Rauchs Kunst ungefähr so realistisch ist wie Marquez’ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“. n Michael Weiser Links: Quecksilber, 2003, Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, Privatsammlung Oben: Kamuna 2010, Öl auf Leinwand Mitte: Demos, 2004, Öl auf Leinwand Unten: Das Blaue, 2006, Öl auf Leinwand, 300 x 400 cm, Privatsammlung

Fotos: VG Bild-Kunst, Bonn 2010

Pinakothek der Moderne, München, Barer Straße 40, bis 15.8.2010. Öffnungszeiten: Di - So 10 - 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Mo geschlossen. Museum der bildenden Künste Leipzig, Katharinenstr. 10, bis 15.8.2010. Öffnungszeiten: Di - So 10 - 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr, Mo geschlossen.

79


FÜR SIE GELESEN

Kai Diekmann (Herausgeber)

Helmut Kohl – Auf dem Weg/In Geschichte und Gegenwart (Doppelband im Schuber) Collection Rolf Heyne, 192 Seiten, 39,90 Euro Die Bilder der Geburtstagsfeier wirken noch nach: Von den Folgen eines Sturzes schwer gezeichnet, müht sich Helmut Kohl, der Schar der versammelten Lebensgefährten seinen Dank auszudrücken und auch seinen Stolz auf sein Lebenswerk zu artikulieren. Ein außergewöhnliches Geschenk zum 80. präsentiert Kai Diekmann. Der Bild-Chefredakteur, zu einem Vertrauten des Alt-Kanzlers herangereift, legt einen großformatigen Doppel-Bildband vor, der Kohl im Aufstieg, in der Vollendung der Einheit und auch im Abschied von der Politik in historischen, aber auch berührend intimen Momenten zeigt. „Kanzler-Fotograf“ Konrad Rufus Müller (er hat alle Kanzler der Bundesrepublik porträtiert) und Daniel Biskup haben die 120 Bilder beigesteuert. Doch eine Seite fällt besonders auf. Sie zeigt kein Foto, sondern Auszüge aus den von Kohl schnell hingeschriebenen Notizen für seine spontane Rede in Dresden am 19. Dezember 1989. „Mein Ziel beliebt“, ist da zu lesen, „wenn die geschichtliche Stunde es zulässt: Die Einheit der Nation.“ In dem auf diese Passage ausbrechenden Jubel erkannte der Kanzler: Die Einheit ist nicht mehr aufzuhalten. „Kohl verstand, dass alles entscheidende Augenblicke flüchtig sind und nicht für später aufbewahrt werden können“, schreibt Henry Kissinger in einem der beiden Essays. „Niemand tat mehr, um die Vereinigung seines Landes zu erreichen, als er. Er war einer der Baumeister des vereinten Europa.“ Der zweiter Beitrag

80

stammt von Uwe Tellkamp, dem Autor des DDR-Endzeit-Romans „Der Turm“. Er formuliert einen Satz, der gerade heute, wo DDR-Nostalgie und Einheits-Häme Konjunktur haben, eine mahnende Erinnerung ist: „Dass der Osten Deutschlands einigermaßen glimpflich davongekommen ist, verdankt er zu guten Teilen Helmut Kohls politischer Begabung und Weitsicht, seiner Beharrlichkeit, als es darauf ankam, beharrlich zu sein, den ablenkenden Stimmen zu widerstehen; seinem Mut, als es hieß, behutsam, doch entschlossen zu handeln.“ Deutsche Merk-Sätze. Als besondere Reverenz an den Kanzler der Einheit und Ehrenbürger Europas legt der Verlag nun eine limitierte SammlerEdition vor: 500 nummerierte Exemplare in einer Leder-Kassette, angereichert mit zwei bisher nicht veröffentlichten Original-Abzügen der beiden Fotografen und ausgezeichnet mit dem stolzen Preis von 498 Euro. PS.

groteske Abgründe, wo sich Gewalterfahrungen der Kinder mischen mit schauerlichen Kriegserlebnissen der Invaliden. Eine so atemberaubende wie magische Kinderwelt, surreal und monströs. Wahrlich kein Kinderbuch, aber ein faszinierender Kindheits-Roman. mpw.

Benjamin von Stuckrad-Barre

Auch Deutsche unter den Opfern Verlag Kiepenheuer&Witsch 336 Seiten, 14.95 Euro

Georg Klein

Roman unserer Kindheit Rowohlt Verlag 446 Seiten, 22,95 Euro Ein niedlicher Titel, der freche Bubenstreiche und helles Mädchenkichern verspricht. Und so lockt Georg Klein den Leser auch mit einer Rasselbande in einer Neubausiedlung am Rande seiner Heimatstadt Augsburg zu Beginn der sechziger Jahre. Mit der Schicken Sybille, dem Ami-Michi, den Witzigen Zwillingen und vor allem mit dem von Erzählsucht befallenen Älteren Bruder, der sich am Fahrrad ein Bein zerschindet und nun von seiner Clique auf einem umgebauten Kinderwagen durch die Nachkrieg-Erwachsenenwelt geschoben wird. Doch der Autor zerschlägt die brüchige Idylle, dehnt die langen Sommerferien in

52 Texte hat der Autor zu einem Buch zusammengefasst, Gesellschaftsreportagen, Interviews, politische Essays, geschrieben für Zeitungen wie BZ und Welt-am-Sonntag, wo üblicherweise schnell verderbliche Ware veröffentlicht wird. Benjamin von Stuckrad-Barre sitzt mit Til Schweiger im Kino und plaudert mit Marcel Reich-Ranicki übers Fernsehen, er beobachtet Angela Merkel im Rheingold-Express und fährt mit der Juso-Chefin Drohsel im ICE. Mit dem Grünen Cem Özdemir isst er im Asia-Imbiss und am Reichstag reiht er sich in die Besucherschlange. Er beschreibt Szenen und Momentaufnahmen, die am Tag der Veröffentlichung amüsieren, doch in ihrer präzisen, meist leicht ironischen und stets hintergründigen Art ein Spiegelbild der Gesellschaft sind. „Eine höchst unterhaltsame Inventur deutscher Verhältnisse“, schwärmt die Zeit, „ich lerne mit jeder Seite“, gesteht Hans Magnus Enzensberger. Selbst der Titel „Deutsche unter den Opfern“ ist eine kleine Gesellschaftspitze über den stereotypen Zusatz bei Katastrophenmeldungen. In seinen Reportagen sind nur Deutsche die Opfer. Sie alle überleben und haben, falls sie das Opfer-Buch lesen, sogar noch einen Gewinn dabei. PS. Bayerischer Monatsspiegel 156_2010


FÜR SIE GELESEN tige Gestaltung der Welt – und nicht nur auf ihn: „Ich sehe ja auch den Dalai Lama kritischer als die Deutschen, die ihre Religion verloren haben und nun eine neue suchen. Dabei ist die tibetische Form des Buddhismus eine Art Schamanentum!“ Scholl-Latour ist unabhängig in seiner Bewertung, gerade sein Alter befähigt ihn zu Aussagen, die der Political Correctness nicht entsprechen. Doch das ist SchollLatour egal. Und schon deshalb ist das Buch eine erfrischende Lektüre. WB.

Peter Scholl-Latour

Stefan Riße

Die Angst des weißen Mannes

Die Inflation kommt! Die besten Strategien, sich davor zu schützen

Ein Abgesang

FinanzBuch Verlag 295 Seiten, 19,90 Euro

Propyläen-Verlag 457 Seiten, 24,90 Euro Die Wahl von Barack Obama ist für SchollLatour der Schlüssel für seine Analyse. Mit vielfachen Beispielen legt er dar, dass „der weiße Mann“ und seine Kultur die Zukunft der globalen Welt nicht mehr prägen wird. Die meisten Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien wenden sich von der europäischen Kultur ab und suchen wieder ihre eigenen Wurzeln und Traditionen. Gerade der Krieg in Afghanistan zeigt, dass der Westen sich gegen diese Entwicklung wehrt, auch gegen eine Entwicklung, bei der die Demokratie nach westlichem Vorbild nicht im Blickpunkt steht. Freilich sind viele seiner Aussagen aus früheren Büchern übernommene Erfahrungen. Das ändert aber nichts an ihrer Aktualität. Schließlich sind es 60 Reise-Jahre, die Peter Scholl-Latour um die ganze Welt geführt haben. Das ist ein Erfahrungsschatz, den in diesem Umfang und in dieser Tiefe nur ganz wenige Menschen haben. Wie immer gelingt es SchollLatour, Geschichten flüssig zu erzählen und auch die oft sehr abweichenden Facetten seiner Gesprächspartner glänzend zu beschreiben. Sein 30. Buch zeigt: Europa ist nicht der Nabel der Welt. Insofern treffen die Aussagen von Scholl-Latour auch die Überlegungen von John Naisbitt in seinem Buch „Mind Set“; Naisbitt hat mit seinem Weltbestseller „Megatrends“ den Begriff „Globalisierung“ bekannt gemacht hat. Er geht davon aus, dass Europa mittelfristig eher ein betulicher Schauplatz für Nostalgiker ist, aber kein Entwicklungsschwerpunkt für die zukünfBayerischer Monatsspiegel 156_2010

Eckhard Nagel/Katrin Göring-Eckhardt

Aber die Liebe … Christsein aus ganzem Herzen Kreuz Verlag 180 Seiten, 14,95 Euro Der kleine Band rundet den 2. Ökumenischen Kirchentag in besondere Weise ab. Entstanden ist er aus den Diskussionen im Vorfeld, als noch gerungen wurde um das Leitwort, als die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe im Mittelpunkt standen. Man einigte sich auf das Motto „Damit Ihr Hoffnung habt“. Den darin nicht ausdrücklich erwähnten Begriff der Liebe heben die beiden Autoren (der Augsburger Mediziner und Kirchentagspräsident Nagel und die Bundestagsvizepräsidentin und Präses der evangelischen Synode Göring-Eckardt) nun mit der Hoffnung hervor, den Diskurs vor dem Münchner Kirchentreffen fortzusetzen und zu vertiefen. Sie meinen damit weniger das romantische, nicht selten verkitschte Bild der Liebe, sondern die Liebe als eine Kraftquelle des christlichen Handelns. Eine Liebe, die die Kirche als Institution begründet und erhält und die sie als Konstitutivum der menschlichen Existenz begreifen. mpw.

Um die Konjunktur anzukurbeln, werden sich die Staaten weiter verschulden. So ist die nächste Krise absehbar. Eine weitere Zinssenkung wird dann aber nicht mehr möglich sein. Billiger als jetzt können die Kredite nicht mehr werden. Es bleibt daher für die Staaten nur die Inflation als Ausweg, um ihre Schulden abzubauen. Freilich verliert dabei auch das Geldvermögen der Bevölkerung an Wert. Gold sieht Stefan Riße als besten Schutz vor der Inflation. Goldbarren und Anlegermünzen sind aus seiner Sicht eine gute Investition. Besonders elegant ist es, wenn man in börsengehandelte Goldfonds investiert. So kann man von dem nach seiner Auffassung unvermeidlich weiter steigenden Goldpreis profitieren. Bei Immobilien gilt die alte Regel: Lage, Lage, Lage. Nur hochwertige Immobilien sind ein Schutz vor der Inflation. Auch substanzstarke Aktien sollte man kaufen. Sie trotzen der Inflation, weil die Werte dieser Firmen auch in der Inflation mit steigen. Der Autor, Deutschland-Chef des britischen Finanzdienstleisters CMC Markets und Kolumnist bei Focus Money, rät als Schutz vor Inflation zu folgendem Mix: Je zu einem Drittel Gold, substanzhaltige Aktien und inflationsgeschützte Anlagen. Diese Mischung kann ergänzt werden durch qualitativ hochwertige Immobilien. Die Ergebnisse, die der Autor präsentiert, sind nicht neu, sie bestätigen aber: Die bewährten Regeln gelten nach wie vor. Wer sich von einem schnellen „Reichwerden“ blenden lässt, kann schnell in Armut erwachen, aber konservative Regeln überleben aus gutem Grund alle Finanz-Fantastereien. WB.

81


BAYERN & KULTUR

Des Porzellans kleine Schwester Prächtige Fayencen in Schloss Höchstädt

Galanter Jäger hofiert eine Dame (Manufaktur Niederweiler, um 1770).

„Über den Tellerrand“ soll man schauen, dazu fordert schon der Titel der neuen Dauerausstellung auf. Das kann man im Schloss Höchstädt tatsächlich auf vielerlei Arten und Weisen: Man kann die Augen über erlesene Keramik schweifen lassen und dahinter immer noch interessantere Stücke entdecken. Man kann sich darüber hinaus aber auch über viele Aspekte der Geschichte informieren, über die des Alltags ebenso wie über Industrie- und Kulturgeschichte. „Wir können das Leben und die Zusammenhänge in dieser Zeit mit den Fayencen begreifbar machen“, sagte Finanzminister Georg Fahrenschon, der zugleich Chef der bayerischen Schlösser ist. „Diese Zeit“ – damit ist vor allem die Blütezeit der Fayence im 17. und 18. Jahrhundert gemeint. Ihre Geschichte beginnt mit dem Aufstieg des Porzellans, ohne das bald kein Fürstenhof und Patrizierhaus mehr auskommen wollte. Doch die geheimnisvolle Keramik war vorerst nur immens teuer aus China zu beziehen. Bei den Versuchen, Porzellan nachzuahmen, entwickelten die Alchemisten jene Art der Keramik, die nach der italienischen Stadt Faenza benannt wurde und sich bald größter Beliebtheit erfreute. Auf gut 900 Quadratmetern kann der Besucher über 1000 Exponate aus 58 Manufakturen bestaunen. Dabei öffnen sich Einblicke in die Hof- und Zermonialkultur von Barock und Rokoko. Zur vorbildlich gedeckten Tafel gibt es den Plan zum Tischdecken, so kompliziert wie die Blaupause eines Computerchips. Tischbrunnen, Flofallen, die hohe Damen einst in ihrem Dekolleté bargen, Nachttöpfe, delikate Schäferszenen und Vasen, in denen Blumen quasi batterieförmig auf dem Tisch präsentiert wurden, sagen einiges über die Spiel- und Schmuckfreude der Oberen Zehntausend jener Epoche. In einer anderen Abteilung informiert die Schau über die Kunstfertigkeit der Macher und Maler der Fayencen, über Transportwege und Märkte, über Kaffeehäuser und neue Formen der Kommunikation. Die Ausstellung ist vieles, nur nicht langweilig. Auch für junge Besucher nicht. Die finden gleich im Eingangsbereich eine Kis-

82

senlandschaft in einer riesigen Schüssel und dürfen an den einzelnen Stationen fühlen, hören, probieren und Rätsel lösen. Die Museumsabteilung der Schlösserverwaltung habe nicht zuletzt an die „ganz jungen Besucher“ gedacht, die in manch anderem Museum „leider oft nur die Beine der Erwachsenen und die Sockel der Vitrinen sehen“, sagte Fahrenschon. Jung und Alt dürften sich gleichermaßen auch an den drolligen Mopsfiguren freuen. Sie standen einst für die Mopsorden, jene freimaurerähnliche Vereinigungen, die sich dem Fortschritt des Menschengeschlechts und der Brüderlichkeit verschrieben hatten. Kandidaten mussten Prüfungen auf sich nehmen und ihren Eintritt besiegeln – mit dem Kuss aufs Hinterteil eines Fayence-Mopses. n MW.

Öffnungszeiten: April – September: 9 – 18 Uhr, Montags geschlossen, Oktober – März: geschlossen. Eintrittspreise: 4 Euro / 3 Euro ermäßigt.

Mops gibt Pfötchen (Manufaktur Höchst, um 1760).

© Bayerische Schlösserverwaltung


LEBEN & GENIESSEN

Im Kreise seiner Koch-Freunde: Curnonsky am 29. August 1950 bei den Gründungsfeierlichkeiten der „Chaîne des Rôtisseurs“.

Gourmet mit schneller Feder

Münchner Autorin entdeckt das aufregende Leben von Curnonsky – Er war Wiederbegründer der „Chaîne des Rôtisseurs“ Zwei antike Gartenvasen und eine Privatbibliothek mit seltenen Erstausgaben lockten die Münchner Antiquitätenhändlerin Inge Huber nach Paris. Als Dreingabe nahm sie noch einige Kisten volle Kladden, Bilder, Menükarten und Briefen mit. Die Vasen stellten sich als längst nicht so alt heraus wie angegeben, doch mit dem Inhalt der Kisten war die Käuferin in ihrer Wohnung in der Münchner Türkenstraße sieben Jahre lang beschäftigt. Das sensationelle Ergebnis: Ein reich bebilderter Band über Curnonsky. Cur? Wer? In Deutschland ist der Franzose mit dem russisch klingenden Namen nahezu unbekannt, auch in Frankreich ist er inzwischen eher den Genießern als der Allgemeinheit bekannt. Doch vor hundert Jahren war der Curnonsky zeichnete sich selbst für das Michelin-Blatt „Bibendum“ bei einer seiner Gast-Touren durch Frankreich. Hier hat er ein Schaf überfahren und bietet dem Bauern Entschädigung an.

füllige Hüne der allseits geachtet Gastronomie-Star – nicht als Koch, sondern als Kenner. Er war ein begnadeter Vielschreiber, hinterließ 63 Romane und eine 28-bändige Buchreihe über die besten Küchen der Grand Nation. Notgedrungen nutzte er für die Recherche das ungeliebte Automobil und überlebte in acht Jahren 30 Unfälle. Er gilt als Geburtshelfer der französischen Sterneküche, aus seinem Werk ging der Guide Michelin hervor. In hohem Alter hauchte er der 1254 gegründeten Confrérie de la Chaîne des Rôtisseurs“ neues Leben ein. 1872 in der Loire-Provinz Anjou als Maurice-Edmond Sailland geboren, setzte er sich in Paris sein Pseudonym aus den lateinischen Worten cur (warum) und non (nicht) zusammen und hängBayerischer Monatsspiegel 156_2010

te der damaligen russischen Mode folgend ein „sky“ hintendran. „Warum nicht?“ wurde seine Maxime. Er feierte am anrüchigen Montmartre mit ebensolchen Damen, er lektorierte Colettes ersten Roman und animierte die spätere Berühmtheit, weiterzuschreiben. Er fuhr mit Toulouse-Lautrec in der Kutsche an den Strand der Normandie, begleitet von zwei Varietés-Tänzerinnen und einem Kormoran, den der Maler darauf abgerichtet hatte, Fische zu fangen. Curnonsky schaffte zwei Menüs am Abend und konterte den Vorwurf, er sei bestechlich, weil er sich einlade ließ: „Ich bin der einzige unbestechliche Gastro-Journalist – weil ich wirklich überall gratis esse.“ So anspruchsvoll sein Gaumen war, so einfach war seine kulinarische Messlatte: „Gute Küche heißt, dass die Dinge so schmecken, wie sie sind.“ 1927 krönten ihn 3000 Köche zum „Gewählten Prinz der Gastronomie“, zum 80. Deckten 80 Pariser Restaurants seinen Stammplatz mit Blumen und dem Hinweis, dieser Ehrenplatz gehöre dem „Verteidiger und Illustrator der französischen Küche. 84-jährig stürzte Curnonsky aus dem Fenster seiner Pariser Wohnung in den Tod – ob freiwillig oder durch Unfall, blieb ungeklärt. Inge Hubers amüsantes Buch erhellt ein nicht nur kulinarisches Sittengemälde aus wilden und köstlichen Pariser Jahren. n Peter Schmalz

Inge Huber Curnonsky Oder das Geheimnis des Maurice-Edmond Sailland Collection Rolf Heyne 256 Seiten, 39.90 Euro

83


LEBEN & GENIESSEN

Interview mit Christian Jürgens

„Ich bin ein Gefühlstäter“ Zwei-Sterne-Koch gibt Tipps zur gesunden und genussreichen Küche Den einen ist er der „Liebling des Jahres“ (FAS), den anderen der „Koch des Jahres“ (Feinschmecker 2009): Christian Jürgens vom Gourmet-Restaurant Überfahrt am Tegernsee gilt als einer der 12 besten Köche Deutschland. Im Gespräch mit Peter Schmalz verrät er, wie er schlank und fit bleibt und womit man sein Herz erweichen kann. Bayerischer Monatsspiegel: Gesund essen klingt nach Schrot und Korn und wenig schmackhaft. Geht auch „Gesund und Gourmet“? Christian Jürgens: Na klar. Gourmet heißt ja im weitesten Begriff, sich bewusst und mit Geschmack ernähren. Also nicht wahllos etwas in sich hinein essen, was man zur Nahrungsaufnahme braucht. Sondern essen, was einem besonders gut schmeckt. Und was sehr gut schmeckt, ist meist auch aus guten Zutaten hergestellt. Mit schlechten Zutaten kann man kein Menü zaubern, das in Geschmack und Qualität etwas Besonderes ist. Ich würde sagen: Bewusst ernähren aus hervorragenden Produkten. BMS: Das wird dann aber schnell eine Frage des Preises. Jürgens: Das meinen viele, das muss aber nicht so sein. Gute Produkte werden schon dadurch günstiger, dass man sich am Wechsel der Jahreszeiten orientiert. Also Obst und Gemüse kaufen, wenn die Natur sie anbietet. Bis in den Juni hinein gab es Spargel, und wer dann noch vom Bauern direkt kaufen kann, der bekommt

84

superfrische Ware zu moderaten Preisen. Erdbeeren schmecken im Sommer am besten, wenn sie bei uns oder in Italien und Spanien reifen. Auch im Winter gibt es gute Erdbeeren, aber die kommen aus Chile und kosten ein Vielfaches. BMS: Im Winter reift bei uns halt wenig… Jürgens: …aber trotzdem braucht’s nicht unbedingt eine Erdbeere. Da kann ich doch etwas Tolles aus saftigen und vitaminreichen Zitrusfrüchten machen, die dann Saison haben. BMS: Passen gesund und genussreich mit Diät zusammen? Jürgens: Aber sicher, man darf Diät nur nicht verstehen als den Versuch, sich und dem Körper etwas wegzunehmen. Unsere Politiker leben doch von ihren Diäten auch gut. Diät bedeutet für mich nicht, zu verringern und den Geschmack zu schmälern, sondern einen bewussten Ausgleich für das zu schaffen, was dem Körper verloren geht. Der Körper braucht Brennstoff, also Energie. Und das sind die Kohlehydrate. Da kann ich mir über den Tag sehr gute, sehr wertvolle Mahlzeiten zubereiten, die den Körper dann mit Energie versorgen, wenn er sie benötigt und auch verbrauchen kann. Zum Beispiel morgens ein mit allen wichtigen Stoffen und Minerallen angereichertes Müsli, in das ich einen saftigen Apfel reibe. Zum Mittag ein Stück Fleisch oder einen Fisch mit Reis. Mittags ist auch Salatzeit, denn der Körper tut sich schwerer, Salate abends zu verarbeiten. Am Abend würde ich auf Kohlehydrate ganz verzichten und mir eine Suppe aus frischen Gemüsen zubereiten, oder gekochtes Gemüse vielleicht mit einem Fisch. Da gibt es viele


LEBEN & GENIESSEN Möglichkeiten, kulinarisch hochwertig zu essen und dabei fit, gesund und schlank zu bleiben. BMS: Und ein Gläschen in Ehren… Jürgens: …sollten wir nicht verwehren. Untersuchungen haben ja gezeigt, dass ein Glas Rotwein, mit einem Blauschimmelkäse genossen, gut für den Organismus und gegen den Herzinfarkt ist. Es muss ja nicht gleich eine ganze Flasche sein. Ich halte nichts davon, sich zu kasteien. Da besteht nur die Gefahr, dass man erst recht einen Heißhunger entwickelt. Und dann isst man plötzlich eine ganze Tüte Kartoffelchips leer. BMS: Sind das Tipps aus eigenem Erleben? Jürgens: Auch ich bin kein Asket, aber ich versuche, mich bewusst zu ernähren. Ich stehe den ganzen Tag am Herd, erlebe alle Köstlichkeiten der Küche, probiere hier und dort, aber trotzdem habe ich keine Gewichtsprobleme, weil ich mich vernünftig ernähre und immer auf genug Bewegung achte. Das muss kein Powertraining sein, es genügen auch zweimal in der Woche zwei Stunden Spazierengehen. Auch das regt den Körper zum ganz normalen Fettabbau an. BMS: Hat aber nicht Genuss auch mit Sünde zu tun? Wer jede Butterflocke scheut, wird viele Geschmackserlebnisse nie erfahren. Jürgens: Sünde gehört zum Leben. Und Sünde kann so köstlich sein und so wunderbar schmecken. Wer danach zum Beichten geht, befreit sein Gewissen, bekommt damit aber die Kalorien nicht weg. Besser hilft dagegen am nächsten Tag eine halbe Stunde zusätzliche Bewegung. BMS: Denkt ein Sternekoch in der Küche an die Gesundheit seiner Gäste? Jürgens: Eigentlich gar nicht. Ich bin ja kein Arzt. Mir ist das Wohlfühlen meiner Gäste das Wichtigste. Das aber ist sehr eng damit verknüpft, dass die Komposition auf dem Teller nicht nur

Wer sich kasteit, fördert nur seinen Heißhunger. die Sinne anregt, sondern dass sie auch für den Organismus bekömmlich und gut verdaulich ist. Ich bin am Herd weder Apotheker noch Lebensmittelchemiker. Ich bin ein Gefühlstäter. Und ich koche sehr gerne mit Kräutern, die richtig komponiert und dosiert ein Wohlgefühl befördern können. Und so sind meine Gäste in der Lage, ein Acht-Gänge-Menü mit zwei Amuse Bouche vorweg und einem Kuchen zum Abschluss unbeschwert zu genießen und sich wohl zu fühlen. Ich möchte ja nicht, dass meine Gäste nur noch ermattet dem Sommelier ein Handzeichen geben können, er möge ihnen rasch einen Schnaps bringen. Sie sollen mit dem Gefühl aufstehen, gut gegessen zu haben, und sie dürfen keine Sorge haben, dass ihnen ein Hinkelstein im Bauch den Schlaf raubt. Das ist bei uns im Hotel das Schöne: Wir bekommen schon am nächsten Tag das Feedback unserer Gäste. BMS: Wir haben den Schweinen über Jahrzehnte das Fett von den Rippen gezüchtet. War das eine gute Entwicklung? Jürgens: Und jetzt züchten wir’s wieder drauf. Ich war auch beim Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Fleisch schon immer der Meinung, dass das beste Produkt das natürlich gewachsene ist. Und wir haben hervorragende Schweine auch bei uns in Deutschland. Das Schwäbisch-Hellische zum Beispiel. BMS: Auch wenn’s etwas mehr Fett hat? Jürgens: Fett gehört zum Schweinefleisch und auch zum Braten. Ich esse auch beim Schweinekotelett gerne ein Stückchen vom ausgebratenen Fett, aber dann sollte es nicht auch noch eine Sauce Hollandaise dazu geben. Besser wäre ein leichter Vogerl- oder Kopfsalat mit einer Vinaigrette. Deren Säure macht das Ganze wieder schön bekömmlich. BMS: Kaufen Sie nach dem Label „Bio“ ein? Jürgens: Wo da schon überall Bio draufsteht, da kann man kaum noch glauben, dass auch tatsächlich überall Bio drin ist. Ich kaufe nicht nach einem Modewort, sondern nach Qualität und Geschmack. Ich weiß, woher mein Gemüse, mein Fleisch und der Fisch herkommen. Wenn etwas toll ausschaut und toll schmeckt, dann mag es nicht nach wissenschaftlicher Genauigkeit, aber nach meiner persönlichen Genauigkeit richtig hergestellt sein. Ich würde meinen Gästen nichts anbieten, was ich nicht auch selber essen würde. BMS: Ist die Qualität der Produkte in den vergangenen Jahren gestiegen? Jürgens: Eigentlich nicht. Wir hatten schon immer eine sehr hohe Qualität. Was sich aber verändert hat, ist das Qualitätsbewusstsein der Verbraucher. Immer mehr verlangen nach guten Produkten, das ist erfreulich. Auf der anderen Seite aber gibt es nicht wenige, die ihr Geld für alles Mögliche ausgeben, aber immer weniger für gute Nahrungsmittel. Da öffnet sich eine Schere immer weiter. Wir haben ja schon darüber gesprochen: Sich gut und gesund zu ernähren, ist keine Frage des Geldbeutels. Eine frisch zubereitet Gemüsepfanne kann billiger sein als ödes Fastfood. Und nicht zu vergessen: Der Spaß am Kochen, am besten am gemeinsamen Kochen, auch das ist ein Teil des Genusses. BMS: Was macht der Koch des Jahres mit der Weißwurst? Jürgens: Mal essen, aber vor Zwölf. BMS: Serviert er sie auch? Jürgens: Ich? Nein! Weißwurst gibt’s eh nicht, weil unser Gourmetrestaurant erst nach Zwölf öffnet. Ich glaube auch nicht, dass unsere Gäste für Weißwurst und Leberkäs zu uns kommen. Dafür haben wir im Hotel eine bayerische Stube. Aber die bayerische Küche ist doch viel mehr als Leberkäs und Weißwurst. Zum Glück kommen jetzt auch die guten Schmorgerichte wieder. Wenn ich von einem Landgasthof höre, dass er eine supergute Rindsroulade hat, mit Gemüsestreifen drüber und einem Kartoffelstampf dazu, da muss ich hin. Damit können Sie mein Herz erweichen. n Das Gourmet-Restaurant ist der kulinarische Höhepunkt im Seehotel Überfahrt, der 5-Sterne-Wellness-Adresse an der Südspitze des Tegernsees. Thomas Althoff, Eigner mehrerer Grandhotels, holte Zwei-Sterne-Koch Christian Jürgens von der Oberpfälzer Burg Wernberg-Köblitz nach Rottach-Egern, Überfahrtstraße 10. Reservierungen unter: 08022-669-2916.

85


LEBEN & GENIESSEN  GENIESSEN

Hans-Joachim Epp

Petit-Paris an der Donau Im Orphée in Regensburg wird Bistro-Stil fröhlich aufgetischt

Spannende Küche, schon vergessene Aperitifs, nie gehörte Teesorten. Weine, die zum Sitzenbleiben verführen, Crêpes und Tartes, die aus Neugierde versucht werden und ein freundlicher, schneller Service. Wir sind im Orphée in Regensburg. Regensburg ist UNESCO-Weltkulturerbe; nicht nur der Dom, die Steinerne Brücke, die vielen Kirchen, und Türme, nein, die gesamte Altstadt und Stadtamhof. Hier mittendrin in diesem Gewirr aus oft so engen Gassen, dass diese nicht einmal mit Kleinwagen befahren werden können, wo 16 000 Menschen leben und im Sommer täglich ebenso viele Touristen schlendern, wo mit gut 700 Kneipen die größte Dichte und Vielfalt in Deutschlands Gastro-Szene angesiedelt sein soll, muss das Kaffeehaus und Restaurant Orphée als Salon der Stadt gesehen werden. Das Ambiente dieses „angestammten Platzes für Wein, gutes Essen, Liebe und Faulheit“ (Eigenanspruch) ist einzigartig. Nichts passt zusammen: Die dunklen Wandpannele aus dem 19. Jahrhundert sind Restbestand und Erinnerung an die Zeit als Säuferkneipe und Brauereiausschank. Das Mobiliar wurde in den 7Oer

Das Mobilar ist so bunt gemixt wie die Gäste, die Stimmung ist so prächtig und wie die Küche: Das Orphée in der Regensburger Alstadt garantiert eine fröhliche Bistro-Atmosphäre, garniert mit einem kulinarisch hohen Nivaeu.

86


LEBEN & GENIESSEN Unverwüstlich wie das Orphée, steht das Escalope Forestiere seit 1977 in unveränderter Rezeptur auf der Karte und hat seine Fangemeinschaft. Die Sauce mit den Geschmacksträgern Sahne und Armagnac punktet durch grob geschnittenen Estragon, die beigefügten Champignons runden das Gericht ab. (14,80 E). Die Desserts sind sämtlich Klassiker der Bistroküche: Mousse au chocolat (6,80 E), Crème brûlèe (7,40 E), Schokosoufflé mit crème Chantilly (7,80 E) überzeugen handwerklich. Die Weinkarte konzentriert sich auf die klassischen Weinanbaugebiete in Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Österreich. Jahren von Kurhotels, US-Army-Casinos oder Flohmärkten zusamIm Fokus stehen ambitionierte Winzer der jeweiligen Regionen, mengekauft. Als Beleuchtungskörper dienen umgewidmete und oft mit Gewächsen aus deren Öko- beziehungsweise Bio-Anbau. umgedrehte Straßengaslaternen. Angst vor der leeren Fläche bestimmt durchgängig die Dekoration der Räume: Alte Emaille-Wer- Das Angebot umfasst mehr als 60 Kreszenzen. Unter ihnen ein beschilder, Kino- und Stierkampfplakate, Spiegel, Fotografien und trockener Müller-Thurgau aus Regensburg, Winzer Dr. Riess, ein einfacher Landwein, aber ein Exot. Rund 50 werden als FlaschenBilder aller Stilrichtungen haben ihren Platz an den Wänden geweine serviert (zwischen 18 und 60 E): Auf eine Beschreibung der funden. Alles passt beim Zusammenspiel Atmosphäre, gastronomische Leistung und frohgestimmte Gäste. Tipp: Genießen Sie an einem warmen Sommertag draußen in der eng bestuhlten Gasse ein Petit déjeuner de luxe. Schinken und Salami aus Italien, Ziegen- und Briekäse aus Frankreich, hausgemachte Quiche, Frittata, Lachstatar, Braten, Krabbencocktail süß abgerundet mit Joghurt, Müsli, Früchten, Konfitüren und Schokotarte.

Für zwei Personen kostet dieser lukullische Einstieg in den Tag, flink von adretten jungen Damen an den Tisch gebracht 17,80 E. Der hierbei eingesetzte Charme führt zu Umsatzsteigerungen für den Wirt. Das Zusatzangebot aus frisch gepressten Säften, Backwaren, Eierspeisen und Heißgetränken ist zu vielfältig und verführerisch, um es auszuschlagen. Nach einem solchen Frühstück wird man an einem ausgedehnten Spaziergang an der Donau entlang Gefallen finden. Ab halb zwölf warten schon Spätaufsteher, Stadt- und Einkaufsbummler und Arbeitsunterbrecher auf frei werdende Plätze. Bis etwa halb drei wird montags bis freitags ein zweigängiges so genanntes kleines Mittagsmenü serviert für 14,50 E inklusive Wasser, Wein und Kaffee. Die zur Wahl stehenden Vorgerichte Suppe, Salat oder eine kleine Vorspeise wie kalter Braten mit Knoblauch, Rosmarin und Tomatenconcasse machen Appetit auf den Hauptgang. Angeboten wird ein vegetarisches, Fisch- oder Fleischgericht. Diese Gerichte überzeugen durch eine gekonnte Mixtur aus einfach und raffiniert. Die große Karte bestätigt den verpflichtenden Anspruch des Hauses, klassische französische Bistroküche zu bieten. Moderne, Sterne-, mediterrane, regionale, molekulare Küche wird weder gekocht und noch vermisst. Cornelius Färber, Gründer, Chef und Miteigentümer des Restaurants, gibt als Ziel der Küche vor, aus erstklassigen natürlichen Zutaten einfallsreiche Gerichte zuzubereiten. Ausdrücklich verboten ist Dekoration mit Salatblatt und Tomatenecke. Tipp: Vorspeise: Lachstatar und Thunfischmousse (9,80 E) Hauptgang: Coq au vin, der französische Klassiker mit Schalotten angebraten, in einer gezogenen Jus mit Rotwein abgelöscht und im Sud gegart. Die frischen Kräuter – alles was zusammen wächst harmoniert auch – und ein aromatischer Spritzer vom grünen Pistou vermitteln einen Gaumenausflug in die Provence. Das dazu gereichte Kartoffelpüree hätten wir gern getauscht gegen krosses Baguette (15,80 E).

Bayerischer Monatsspiegel 156_2010

Dekoration mit Salatblatt und Tomatenecke ist strikt verboten.

Weine, Nennung der jeweils typischen Charakteristika wird leider verzichtet. Eine önologische Beratung durch den Service (Anbaugebiete, Jahrgänge, Rebsorten) darf nicht erwartet werden. Es wird empfohlen, aus dem gut sortierten Angebot an offen ausgeschenkten Weinen zu wählen. Der Viertelliterschoppen zwischen 3,90 und 6,20 E. Tipp: 2009 Riesling Kabinett aus der Pfalz vom Bio-Weingut Sauer, Schoppen 5,10 E. 2007 Oibelos, Zweigelt & St. Laurant, aus dem Wagram vom Demeter-Weingut Soellner, 5,90 E.

Die Getränkeauswahl ist für ein Restaurant – Bistro – Café sehr umfangreich. Alles, was zum Aperitif einfällt: Kir, Ricard, Pernod, Pastis, steht fein aufgereiht neben einer ebenbürtigen Selection an Digestifs: Cognacs und Liqueuren in einem Ungetüm von Möbelstück in der Bar. Ursprünglich war das die Rückseite eines Wohnzimmerschrankes aus Berlin-Moabit aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts. Die Verkaufsstrategie ist eindeutig: Jeder Erstbesucher des Orphée will das Möbelungeheuer sehen und bleibt – zunächst mit den Augen – beim Alkohol hängen. Tipp: Pastis 51 mit Eiswasser (3,50 E).

Künstler, Studenten, Touristen und Geschäftsleute treffen sich hier, ein Stück Frankreich in Regensburg zu genießen. Für Selbstdarsteller nicht geeignet, dafür ist das Orphée zu sehr geerdet. n

Orphée, Untere Bachgasse 8, 93047 Regensburg täglich geöffnet von 08.00 bis 01.00 Uhr (Reservierung angeraten) Tel. 0941/52977, E-Mail: info@hotel-orphee.de

Hans-Joachim Epp ist Sachverständiger für das Hotelwesen und Mitglied der Chaîne des Rôtisseurs Oberbayern.

87


Veranstaltungen des Peutinger Collegiums

Gerd Sonnleitner, Präsident des Deutschen und Bayerischen Bauernverbandes, im Gespräch mit Peutinger-Präsident Prof. Dr. Walter Beck und dem Landtagsabgeordneten Albert Füracker, dem Vorsitzenden des Landtags-Agrarausschusses. Der CSU-Politiker sprach das Schlusswort (oben, v. r.).

Neues Ehrenmitglied des Peutinger-Collegiums: Prof. Dr. Walter Beck überreicht Staatssekretär a. D. Dr. h. c. Alfred Bayer die Ehrenurkunde.

PR-Spezialist und Privatbanker im Gespräch v. li.: Bernd Nobis (NBB GmbH) und Stefan Blaukat (Reuschel & Co. Privatbankiers München). Der Menschheit auf der Spur (v. li.): Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel, Humanethologe und Ethnomediziner am Max-Planck-Institut, vor seinem Vortrag „Zur Humanethologie menschlicher Universalien“. Neben ihm Herr Dipl.-Ing. Karl Schmid und Karlrobert Stöhr. Er kennt den Ort, wo die Gedanken entstehen: Prof. Dr. Ernst Pöppel, Direktor des Institutes für Medizinische Psychologie der LMU München und Schlussredner bei Prof. Schiefenhövel, mit Prof. Dr. Eva Ruhnau, Geschäftsführerin des Humanwissenschaftlichen Zentrums der LMU München.

TÜV-Vorstand Dr.-Ing. Manfred Bayerlein bei seinem Vortrag zum Thema „Nachhaltigkeit – was macht der TÜV SÜD?“

Aufmerksame Zuhörer beim TÜV Süd.

Ein volles Haus hatte der TÜV SÜD AG, als er das Peutinger-Collegium und den Wirtschaftsbeirat Bayern zum Vortrag seines Vorstandsmitgliedes Dr.-Ing. Manfred Bayerlein eingeladen hatte.

88


Goldene Peutinger-Ehrung für Paul Kirchhof Für seine Verdienste „für den steten Kampf um ein faires, einfaches und verständliches Steuerrecht“ erhielt Bundesverfassungsrichter a. D. Prof. Dr. Paul Kirchhof die Goldene Peutinger-Medaille, überreicht von Peutinger-Präsident Prof. Dr. Walter Beck und PeutingerCo-Präsident Dr. Marcus Ernst (oben, v. r.). Während der Festveranstaltung im Bayerischen Hof (unten li.), an der auch Evi Brandl, Geschäftsführende Gesellschafterin der Vinzenz Murr GmbH, Politologieprofessor Dr. Werner Weidenfeld und Christian SchmidtSommerfeld, Präsident des Landgerichts München II (Bild unten li.) teilnahmen, sprach Bayerns Finanzminister Georg Fahrenschon die Laudatio, in der sich der CSU-Politiker für ein vereinfachtes Steuersystem aussprach, jedoch auch die Grenzen der Vereinfachung aufzeigte. Musikalisch umrahmt wurde die Feierstunde von: Kay-Na Shy: Oboe, Tonia Oberle: Fagott, Stephan Oberle: Klarinette (Bild rechts, v.li.). Lesen Sie die Laudatio des Ministers und die eindrucksvolle Dankesrede von Prof. Kirchhof auf den Seiten 64 – 69.

89


BAYERN & BAYERN  & KULTUR  &  KULTUR

Junge Peutinger heben ab Simulationsflug mit dem Kampfhubschrauber Tiger durchs Altmühltal In diesem Cockpit sind Gefühl und Realität in heftigem Widerstreit: Die Augen fliegen mit dem Kampfhubschrauber Tiger durchs idyllische Altmühltal, doch der Körper bleibt sitzen in einer Halle in Fürstenfeldbruck. Möglich wird dies in einem Simulator, der aus einem 1:1-Nachbau eines TigerCockpits besteht. „Ein gigantisches Erlebnis“, schwärmt Tilmann Röder. Das Fluggefühl der besonderen Art erlebten die Jungen Peutinger bei einem Besuch der Firma ESG Elektroniksystem- und LogistikGmbH in Fürstenfeldbruck, einem der innovativsten Unternehmen in Deutschland. Seit vier Jahrzehnten entwickelt, integriert und betriebt es Elektronik- und IT-System für Militär, Behörden und Betriebe. Vor allem die Automobil- sowie die Luft- und Raumfahrtindustrie zählen zu seinen Kunden. So entwickelte ESG für den Tiger, der bei Eurocopter in Donauwörth gebaut wird und der bald auch die Truppen in Afghanistan unterstützen soll, ein Simulationstool, das die heikle Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine auf ein Höchstmaß zu optimieren hilft. Nachdem diese

Aufgabe weitgehend abgeschlossen ist, werden nun im Simulator die Missionsaufgaben geübt. Die vier wichtigsten sind: Bodenkräfte zu unterstützen, Hubschraubern Begleitschutz zu geben sowie feindliche Panzer aufzuklären und zu bekämpfen. Die Jungen Peutinger bekamen aber auch Einblick in eine weitere Hubschrauber-Technologie, die bereits in mehreren Bundesländern eingesetzt wird. Dabei gilt es, die Leistungsfähigkeit der Polizeihubschrauber dadurch zu steigern, dass die zunehmende Zahl an polizeitaktischen Einsatzsystemen über ein einheitliches

„Charly“ hilft Soldaten, den Stress im Einsatz besser zu verarbeiten. System zu bedienen sind. Mit diesem Konzept, das den Polizeihubschraubern künftig den Einsatz als Führungsmittel ermöglichen soll, ist die ESG Technologieführer im Marktsegment Polizeitaktische Arbeitsplätze. Verblüfft waren die Jungen Peutinger über eine weiteres ESGEntwicklung, die nicht zuletzt durch den Bundeswehreinsatz in Afghanistan an Bedeutung gewinnt: „Charly“ heißt das Programm, das gemeinsam mit dem psychologischen Dienst der Bundeswehr entwickelt wurde und das helfen soll, schwere psychosoziale Belastungen besser zu bewältigen. Durch „Charly“ erfahren die Soldaten Zusammenhänge von traumatischen Stress und der eigenen Stressreaktion, sie erkennen Symptome und Wirkungen von Stressbelastung und sie trainieren die eigene Kompetenz, mit traumatischem Stress umzugehen. Ein Programm, das auch Polizei- und Rettungskräften hilft, die oft erschütternden Erlebnisse besser durchzustehen und zu verarbeiten.

Ein unvergessliches Erlebnis: Im Tiger-Ckockpit durchs Altmühltal – wenn es auch nur ein Flug im Simulator ist.

90

Fotos: ESG Elektroniksystem- und Logistik-GmbH

ESG, seit über zwei Jahrzehnten auch Partner der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer, hat Standorte in Europa und Amerika und verfügt über ein globales Netzwerk. „Wir waren sehr beeindruckt, von der Innovationskraft dieses Unternehmers“, betont Dr. Marcus Ernst nach dem Besuch. „Wir haben ein hochentwickeltes Kompetenzcenter für System- und Softwareentwicklung, für Systemintegration und Product Support erlebt.“ n Markus Neumayer


VORSCHAU

Veranstaltungen des Peutinger Collegiums Vorschau auf 2011

Donnerstag, 23. September 2010 Dr. Thomas Enders, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Luft-und Raumfahrtindustrie e.V. (BDLI), CEO von Airbus

Viviane Reding, EU Kommissarin für Justiz, Stellvertretende Präsidentin der EU-Komission

Christian Thielemann, Generalmusikdirektor München

Karl Marx, Erzbischof von München und Freising Montag, 18. Oktober 2010 Prof. Dr. Harald Lesch, Astrophysiker, Naturphilosoph, Institute for Astronomy and Astrophysics, Ludwig-Maximilians-Universität München

Josef Klaus Lutz, Vorstandsvorsitzender der BayWa AG

Peter Meyer, Präsident des ADAC

Montag, 29. November 2010 Dr. Ludwig Spaenle MdL, Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus

Symposium „Unsere Zukunft“ zusammen mit dem TÜV SÜD

Preisträger der Goldenen Peutinger-Medaille

Impressum

1977

Dr. Dr. Ludwig Huber, Staatsminister a. D.

1979

Sir Dawda Jawara, ehemaliger Staatspräsident von Gambia

1983

S. E. Dr. Josef M. Luns

1986

Dr. Ing. Ludwig Bölkow

1988

Kardinal Dr. Franz König

Redaktion Peter Schmalz (Chefredakteur) Julius Beck Schellingstraße 92 · D-80798 München redaktion@bayerischer-monatsspiegel.de Leserbriefe an die Redaktion oder an leserbriefe@bayerischer-monatsspiegel.de

1991

Peter Schmidhuber, Staatsminister a. D., EU-Kommissar a. D.

1992

S. K. H. Erzherzog Otto von Österreich

1996

Klaus-Dieter Naumann, General a. D.

2000

Prälat Prof. Dr. Johannes Neuhardt

2001

Prof. Dr. Irenäus Eibl-Eibesfeldt

2004

Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident a. D.

2007

Prof. Dr. Ernst Pöppel

2009

Dr. Václav Klaus, Staatspräsident der Tschechischen Republik

2010

Prof. Dr. Paul Kirchhof

Verlag & Anzeigen Bayerischer Monatsspiegel Verlagsgesellschaft mbH Schellingstraße 92 · D-80798 München Tel: +49 89 600 379-66 · Fax: +49 89 600 379-67 www.bayerischer-monatsspiegel.de Herausgeber Prof. Dr. Walter Beck, Peutinger Collegium Gestaltung, Realisierung & Anzeigen NBB Kommunikation GmbH · Ridlerstraße 33 80339 München · www.nbbgmbh.de Druck Stulz Druck und Medien GmbH · Bodenseestr. 226 81243 München · www.stulz-druck-medien.de

91


Keine Versicherung ist wie die andere. Wenn es um Ihre Gesundheit geht – NÜRNBERGER Krankenversicherung.

Ostendstraße 100, 90334 Nürnberg Telefon 0911 531-5, Fax -3206 info@nuernberger.de www.nuernberger.de


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.