Bayerischer Monatsspiegel #150

Page 60

TÜRKEI & EUROPA

© Bosch AG

Wirklich einschneidend war freilich im Jahr 2002 der Wahlsieg Tayyıp Recep Erdog˘ans und seiner AKP nach der Los­ lösung von Necmettin Erbakan sowie sein Clou, durch Änderung des Wahlgesetzes die absolute Mehrheit im Parlament zu erlangen. Damit stellt erstmals eine dezidiert islamische Partei die Regierung. Fast unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit hat unmittelbar nach dem Amtsantritt Erdog˘ans 2002 der Islam in der türkischen Regierung ein zweites Standbein

erhalten; denn seither gibt es einen Staatsminister für Reli­ gionsangelegenheiten (Mehmet Aydın) und den Präsidenten des vom Osmanischen Reich überkommenen Amt für Religionsangelegenheiten, des Diyanet Isleri Baskanlıgı (Ali Bardakoglu). Es verfügt über 80.000 Mitarbeiter und stellt das Moschee-Personal – auch für die DITIB-Moscheen in Deutschland –, die Muftis etc. Es ist nicht zuständig für den schulischen Religionsunterricht, für die universitäre Theologen­ ausbildung und die religiösen Imam-Prediger-Schulen. Jedoch führt es mehrmonatige Koran-Kurse durch. Im Jahr 2007 haben an den 4.322 mehrmonatigen Korankursen des Diyanet 155.285 Schüler teilgenommen, unter ihnen lediglich 17.891 Knaben. Demnach sind binnen eines einzigen Jahres rund 140.000 Mädchen außerschulisch durch den semi-säkularen

Staat islamisch geprägt worden. Das besagte Amt ist direkt dem Ministerpräsidenten zugeordnet und verfügt heute – nach einer enormen Steigerung des vom Staat zugewiesenen Budgets (2005: um 15,3%; 2006: um weitere 16,2 % und 2007: über weitere 25,2 %) – von 1.638.393.000 YTL – für 2008 sind rund 2 Milliarden vorgesehen; das entspricht knapp 1 Milliarde Euro. Nur der Etat für das Militär ist höher.

Zunehmender Einfluss des Islam Lange Jahre hat es mehr Theologie-Dozentinnen an den Hochschulen in der Türkei gegeben als an deutschen Universitäten. Das Amt für Religionsangelegenheiten hat 2004 im Zuge einer „positiven Diskriminierung“ 600, 2006 bereits 2.700 Planstellen für Frauen bereitgestellt. 2005 wurde in dessen Leitungsgremium erstmals eine Frau aufgenommen. Frauen sollen möglichst bald auch als stellvertretende Muftis eingesetzt werden können, wobei sie allerdings ausschließlich für Familien- und Frauenprobleme zuständig sein werden. Als Imame dürfen sie nicht nur in Frauen-Gottesdiensten, sondern unter bestimmten Umständen sogar vor Frauen und Männern das Freitagsgebet leiten. Dieser unerwarteten Entwicklung steht jedoch der Benimmleitfaden entgegen, den das Diyanet seit 2005 auf seiner Homepage anbietet. Er empfiehlt Frauen, in der Öffentlichkeit keine Parfüms zu benutzen und nicht mit fremden Männern zu sprechen – Keuschheit und Ehre seien nicht von einander zu trennen. „Ehebruch“ könne man auch mit einem anzüglichen Wort oder einem Blick begehen.

Nie gekannte Solidarität

• seit 2005 werden „Ehrenmorde“ als Morde abgeurteilt und entsprechend bestraft

Die Vorstellung, dass die Frauen eine zu beschützende Gruppe seien und dem islamischen Wertekanon gemäß zu leben haben, findet man auch in der geplanten Verfassungsänderung wieder. Die türkischen Frauenverbände argwöhnten, dass in dem Entwurf der für 2008 vorgesehenen Änderungen das in der Präambel des Grundgesetzes verankerte LaizismusPrinzip des Kemalismus gestrichen und an Stelle des „Ein­heitsstaates“ „Föderativer Vielvölkerstaat“ stehen soll. Als dies ruchbar wurde, zog die AKP ihren Entwurf zurück. 86 Frauenvereinigungen und -verbände – und zwar türkische wie kurdische, säkulare wie islamische und alle sonstigen politischen Richtungen – haben in nie gekannter Solidarität eine gemeinsame Plattform (Anayasa Kadin Platformu) gegründet, um einen Gegenentwurf zu dem Text zu verfassen, der die mühevoll durchgesetzte Passage zur „Gleichheit von Mann und Frau“ in Artikel 10 nicht durch den eingangs angeführten Zusatz der Frauen als „geschützte Gruppe“ aushebeln soll, weil sie sich durch diese geplante Umformulierung diskriminiert sehen. Der Verdacht, dass trotz gegenteiliger Beteuerungen die Rechte der Frauen islamisch zurückgestuft werden sollen, lässt sich so leicht nicht von der Hand weisen.

• ca. 140.000 Mädchen werden außerschulisch durch staatliche Behörden islamisch geprägt

Die moderne Türkin und die AKP

Zahlen & Fakten: Frauen in der Türkei • 600.000 Kinder, meist Mädchen besuchen keine Schule • 29% der über 44jährigen Frauen sind Analphabetinnen

• Frauen sollen bald als stellvertretende Muftis eingesetzt werden können

60

Das Verhältnis der AKP zu den Frauen ist äußerst ambivalent. Ohne die weiblichen AKP-Mitglieder wäre es sicher nicht zu solch einem fulminanten Wahlsieg (46,58 %) gekommen.

Bayerischer Monatsspiegel 150_2008


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.