Ganz Ohr #3 2019

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

September 2019

03

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ganzOHR

Familienalltag gehörlos meistern Eltern gehörlos, Kinder hörend

Martin Hermann, Gemeindeschreiber von Eglisau:

Wie die Bilens in ihrem Alltag zurechtkommen

«Der Gehörlosenbund ist unsere erste Anlaufstelle.»


«Wir sind Menschen wie du und ich.»

Das sagt Tamara Bilen. Sie und ihr Ehemann sind gehörlos – ihre Kinder höre Gebärden- und der gesprochenen Sprache versteht man sich innerhalb der F Schwierig wird die Kommunikation für die Eltern jedoch mit ihrem Umfeld – den Behörden. Da erleben sie Benachteiligungen, die es nicht mehr geben dü

Rolf Perrollaz Kampagnenleiter SGB-FSS

Familie sucht Kontakt Neben Liebe, Geborgenheit, Zusammenhalt und vielem mehr spielt in jeder Familie die Kommunikation eine wichtige Rolle. Innerhalb einer Familie mit gehörlosen Mitgliedern stellt vor allem die Gebärdensprache die Verständigung sicher. Doch keine Familie lebt für sich allein. Es gibt vielfältige soziale Kontakte nach aussen, unter anderem zur Gemeinde, in der man lebt. Da wird die Kommunikation für gehörlose Menschen schwieriger – sei es mit den Behörden, der Schule, den Nachbarn oder beim Teilhaben am politischen Leben. Da erleben wir immer wieder, dass unserem hörenden Gegenüber das Verständnis fehlt, was es heisst, gehörlos zu sein. In gewissen Alltagssituationen kann man darüber hinwegsehen. Doch häufig muss eine unmissverständliche Kommunikation sichergestellt sein – zum Beispiel bei Elterngesprächen in der Schule oder im Kontakt mit Gemeindeämtern. Natürlich können wir nicht erwarten, dass unsere Gesprächspartner die Gebärdensprache beherrschen. Doch wenigstens das Beiziehen eines Gebärdensprach-Dolmetschenden sollte selbstverständlich sein. Dass dem nicht so ist, empfinden wir als Diskriminierung. Dagegen wehrt sich der Gehörlosenbund. Herzlichen Dank, dass Sie uns mit Ihrer Spende unterstützen.

Rolf Perrollaz (gehörlos)

Wir wünschen uns weniger Kommunikationshürden. Wir treffen die Familie Bilen an ihrem Wohnort in Eglisau. Ein lauschiger Sommermorgen liegt in den Gassen des schmucken Städtchens am Rhein. Tamara und Mustafa Bilen kommen uns mit ihren vier Kindern entgegen, diese sind zwischen zwei und zehn Jahre alt. Eine Familie wie viele andere? Ja und nein. Die Eltern sind gehörlos – die Kinder hörend. «Wir leben wie eine normale Familie. Dass wir gehörlos sind und unsere Kinder nicht, ist für uns kein Problem», sagt Tamara. Eine Familie, zwei Sprachen Die Kommunikation zwischen den Eltern und Kindern erfolgt hauptsächlich in der Gebärdensprache, unterstützt durch die gesprochene Sprache. Die Gebärdensprache ist die Sprache, die die Kinder von ihren Eltern gelernt haben – es ist ihre Muttersprache. Mustafa meint: «Das funktioniert gut so. Natürlich wäre es manchmal praktisch, wenn

wir unsere Kinder hören könnten. Wir müssen immer schauen gehen, was sie machen, wenn sie zum Beispiel in ihren Zimmern sind. Andere Eltern hören das vom Wohnzimmer aus. Und wenn uns die Kinder auf einem Spaziergang etwas zeigen wollen, müssen sie uns zuerst immer berühren. Wenn sie einfach rufen, hören wir es nicht.» Ihr zehnjähriger Sohn Molu sagt: «Ich finde es gut, dass ich mit der Gebärdensprache schon jetzt eine zweite Sprache gelernt habe. Etwas schwierig ist es, wenn ich mit Freunden und meinen Eltern zusammen bin. Dann vergesse ich schnell, dass ich gebärden oder meine Eltern anschauen muss, damit sie mich verstehen.» Sein Vater nickt und ergänzt: «Ja, wir Gehörlosen sind sehr visuelle Menschen. Der Augenkontakt ist für uns wichtig.» Das sagt er mit seinen Händen, die durch die Luft fliegen, und durch seine deutliche Mimik.


en. Dank der Familie gut. – der Schule, ürfte.

«Gegenseitiges Verständnis ist wichtig – wir können alles, ausser eben hören!» Tamara

Gehörlose sind sehr visuelle Menschen. Der Augenkontakt ist sehr wichtig. Schwierige Kommunikation in der Gemeinde Schwieriger wird es für Tamara und Mustafa bei ihren Kontakten nach aussen – zur Welt der Hörenden. «Wir fühlen uns in der Gemeinde schon etwas als Aussenseiter. Man scheut den Kontakt mit uns. Das hat damit zu tun, dass die Hörenden zu wenig über die Gehörlosigkeit wissen. So begegnen sie uns meist hilflos. Einmal wollte uns ein Wohnungsnachbar etwas mitteilen. Er hat es uns aber nicht direkt gesagt, sondern die Gemeindeverwaltung gebeten, uns über sein Anliegen zu unterrichten. Das war komisch. Wir möchten nicht, dass man uns als Problemfall betrachtet. Wir sind eine normale Familie.»

Gespräche mit nur einem Gegenüber können ohne Gebärdensprach-Dolmetschende möglich sein, wenn das Gegenüber beim Sprechen ein gutes Mundbild hat. Das bedeutet, dass die Person nicht nuschelt oder den Mund kaum öffnet beim Sprechen. Und selbst mit deutlicher Artikulation ist das Lippenlesen für Tamara und Mustafa sehr anstrengend, denn sie müssen sich voll konzentrieren. Versuchen Sie es selbst einmal: Stellen Sie den Fernsehen an und machen Sie den Ton aus: Wie viel vom Gesagten können Sie noch verstehen? Bei offiziellen Gesprächen mit der Schule oder den Behörden geht es nicht ohne Dolmetscher. Mustafa sagt: «Vom Recht

her müssten die offiziellen Stellen eigentlich einen Dolmetscher aufbieten, wenn sie wissen, dass ihr Gegenüber gehörlos ist. Das wird aber oft unterlassen – vielleicht aus Unkenntnis oder weil man die Kosten sparen möchte. So kommt es gelegentlich vor, dass wir wieder nach Hause gehen müssen, ohne dass ein Gespräch stattgefunden hat. In solchen Situationen fühlen wir uns diskriminiert.» Mehr Verständnis, weniger Benachteiligungen Tamara und Mustafa wünschen sich, dass ihre Rechte als gehörlose Menschen selbstverständlicher befolgt werden und es im Alltag weniger Kommunikationshürden gibt. Sie sind froh, dass sich der Schweizerische Gehörlosenbund dafür engagiert. Und auch, dass er der hörenden Welt mit seiner Informationsarbeit diejenige der Gehörlosen näherbringt. Denn wie Tamara sagt: «Gegenseitiges Verständnis ist wichtig. Wir sind Menschen wie du und ich, selbst wenn wir zum Sprechen unsere Hände brauchen und eine sonderbare Stimme haben. Wir können alles, ausser eben hören.»


Familien zu ihren Rechten verhelfen Familien mit gehörlosen Mitgliedern werden im Alltag mit vielen Herausforderungen und Benachteiligungen konfrontiert. Der Rechtsdienst des Schweizerischen Gehörlosenbunds hilft ihnen, Lösungen zu finden und zu ihrem Recht zu kommen. Unser Rechtsdienst interveniert, unterstützt und begleitet betroffene Familien bei rechtlichen Angelegenheiten und Diskriminierungen im Zusammenhang mit Hörbehinderung oder Gehörlosigkeit. Zu seinen Dienstleistungen zählen: • Beratung bei juristischen Fragen und Ansprüchen, zum Beispiel gegenüber Behörden und Schulen • Unterstützung bei Kostenübernahmen von Gebärdensprach-Dolmetschenden für Elterngespräche, Behördengänge, Weiterbildung usw. sowie bei Ansprüchen gegenüber der Invalidenversicherung (IV) • Auskunftstelle für Behörden, Unternehmen und Vereine zu rechtlichen Themen im Zusammenhang mit Gehörlosigkeit

Gehörlosensprache fördern Auf politischer Ebene setzen wir uns unter anderem dafür ein, dass die Gebärdensprache endlich als vollwertige Landessprache anerkannt wird. Denn sie ist die Muttersprache der gehörlosen Menschen. Sie gibt ihnen Identität und ermöglicht ihnen, sich zu verständigen. Darüber hinaus lernen in unseren Heimkursen gehörlose Kinder zusammen mit ihren hörenden Eltern, Geschwistern und Angehörigen die Gebärdensprache – als gemeinsame Familiensprache.

Gebärden Auf signsuisse.sgb-fss.ch finden Sie unser einmaliges Online-Gebärdensprach-Lexikon. Das visuelle Wörterbuch umfasst alle drei Gebärdensprachen der Schweiz: die schweizerdeutsche, französische und italienische. Die Begriffe werden in einem Video gezeigt, schriftlich erläutert und mit einem Anwendungsbeispiel ergänzt. Viel Vergnügen beim Entdecken! Passend zum Thema dieser Ausgabe von ganzOHR zeigen wir Ihnen die Gebärde für «Gemeinde». Gehörlose Menschen nehmen am Leben ihrer Wohngemeinde teil und kommunizieren mit den Behörden.

Tag der Gebärdensprache Jahr für Jahr findet am 23. September weltweit der Tag der Gebärdensprache statt – so auch 2019. In der Schweiz organisieren wir die Kampagnen und Anlässe, die diesen Tag begleiten. Auf sgb-fss.ch/news/itdg finden Sie mehr

© SGB-FSS

«Gemeinde»

Informationen.

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«Der Gehörlosenbund ist für die Gemeinde die erste Anlaufstelle.» «Nicht zu klein und nicht zu gross: Wir sind eine typische Schweizer Gemeinde», sagt Martin Hermann, Gemeindeschreiber von Eglisau im Kanton Zürich. Ländliche Ortschaften wie Eglisau bieten vielen Menschen der Schweiz ein attraktives Zuhause – dazu zählen auch gehörlose Familien.

Herr Hermann, wie kommuniziert die Gemeindeverwaltung mit ihren gehörlosen Einwohnern?

Wie informieren Sie sich über Gehörlosigkeit und Gebärdensprache?

Als durchschnittlich grosse Gemeinde sind unsere Mitarbeitenden vor allem Allrounder. Anders als in einer Grossstadt haben wir keine Ressourcen für Fachleute in allen Bereichen. Die Gebärdensprache behandeln wir als normale Fremdsprache. Für kompliziertere Anliegen, wie Elterngespräche in der Schule, ziehen wir GebärdensprachDolmetschende bei. Es ist wichtig, dass gehörlose Personen auf sich aufmerksam machen und das Bedürfnis für einen Dolmetscher bei uns anmelden. Einfachere Anliegen, wie den Antrag eines Lernfahrausweises, erledigen wir ohne Dolmetscher.

Der Schweizerische Gehörlosenbund ist als Dachverband unsere erste Anlaufstelle. Aus unserer Sicht ist es seine Aufgabe, über die Welt und die Kultur der Gehörlosen zu informieren. Ausserdem ist sein Rechtsdienst für uns eine wichtige Kontaktstelle bei rechtlichen Fragen.

Weiss die Gemeinde, welche Leistungen sie gehörlosen Menschen erbringen muss?

Auf jeden Fall, wir kennen die Gesetze und Verordnungen. Diesen Anforderungen kommen wir nach und stellen etwa die Kostenübernahme für Dolmetscher sicher. Auch der barrierefreie Zugang zu Informationen gehört dazu, zum Beispiel über unsere Website. Sie versenden regelmässig wichtige schriftliche Informationen, zum Beispiel über Abstimmungen. Die Schriftsprache ist für gehörlose Menschen eine Fremdsprache. Wie stellen Sie sicher, dass trotzdem alle Inhalte verstanden werden?

Wo sehen Sie noch Informationsbedarf bezüglich Gehörlosigkeit?

Wichtige Informationen zu aktuellen Themen und neuen Verordnungen bekommen wir über die Newsletter des Gehörlosenbundes. Zusätzlich helfen würde uns ein Informationsblatt über die Kultur der Gehörlosen: Was muss man als hörende Person wissen und was ist wichtig in der Kommunikation mit gehörlosen Menschen?

Wir bemühen uns, alle schriftlichen Unterlagen in einfacher Sprache zu verfassen. Das heisst, wir verwenden kurze Sätze und möglichst wenige Fremdwörter. Dabei geht es nicht nur um die Kommunikation mit gehörlosen Personen, sondern allgemein mit Menschen, die mit der geschriebenen Sprache Schwierigkeiten haben.

Martin Hermann ist Gemeindeschreiber der Zürcher Gemeinde Eglisau, dem «lebendigen Landstädtchen am Rhein». In der Ortschaft direkt an der Grenze zu Deutschland leben über 5000 Einwohner. In seiner Position erlebt Martin Hermann die Herausforderungen der Kommunikation mit den unterschiedlichen Anspruchsgruppen der Gemeinde.


Der Gehörlose, der sich ins Rampenlicht wagte Christoph Staerkle wurde 1952 in Luzern geboren und zählt zu den grossen Pantomimen der Gegenwart. Seine pantomimische Ausbildung erhielt er unter anderem bei Bernie Schürch, Andres Bossard, Samy Molcho und Jacques Lecoq. Die Kunst des nichthörenden Mimen – Staerkle ist von Geburt an gehörlos – besticht durch ihre treffende Interpretation menschlicher Alltagssituationen und Verhaltensweisen. «Staerkle spricht auch ohne Worte Bände», schrieb eine Zeitung. Und in der Tat: In seinem mimischen Kabarett charakterisiert er mit präziser Stilisierung, feinsinniger Karikatur und bissiger Parodie Figuren des Alltags, ihre Mimik und Gestik. Staerkles Kunst wurde vielfach international ausgezeichnet. In «Mein Leben als Mime» lesen Sie seine Lebenserinnerungen, aufgezeichnet von Johanna Krapf. Sie verfolgen seinen künstlerischen Weg von der Strassenkunst zum internationalen Theater und erkennen die Bedeutung seiner Gehörlosigkeit für die Entwicklung seiner Kunst. Das Buch ist eine ungewöhnliche, episodenreiche, von feinem Humor und genauer Beobachtung geprägte Künstlerbiografie. Sie lernen einen Menschen kennen, den das Leben vor vielerlei Herausforderungen stellt und dessen Wahrnehmung und Ausdrucksformen sich von der Allgemeinheit unterscheiden.

Zentrales Missverständnis Christoph Staerkle sagt im Buch: «Ein zentrales Missverständnis möchte ich an dieser Stelle ausräumen: Die allermeisten Hörenden denken, Nichthörenden fehle ‹nur› das Gehör, doch immerhin sei ja die schriftliche Sprache kein Problem. Dem ist leider nicht so: Wer die Lautsprache nie gehört hat, muss nicht nur deren Laute, sondern auch ihren Wortschatz Wort für Wort lernen, so wie sich Hörende eine Fremdsprache aneignen. Deshalb ist das Lesen und Schreiben ungleich anstrengender für Nichthörende als für Hörende, und aus diesem Grund machen sie beim Schreiben auch mehr Fehler.»

«Mein Leben als Mime» von Christoph Staerkle und Johanna Krapf. 224 Seiten, 13,6 x 21,3 cm, gebunden mit Schutzumschlag, ca. 12 Abbildungen. Alle Besteller/innen erhalten ein persönlich signiertes Buch. Preis: CHF 29.90 Erhältlich in unserem Online-Shop: sgb-fss.ch/shop

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Pirmin Vogel Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 25 000 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1


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