GanzOhr 2019 #4

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

November 2019

#

04

ganzOHR

Wie wird in gehörlosen Familien gesprochen? Diagnose: Ihr Kind ist gehörlos

Gian Reto Janki, Heimkursleiter, Schweizerischer Gehörlosenbund

Nach der Erschütterung geht eine neue Welt auf

«Es berührt, wenn gehörlose Kinder ihre Gefühle mitteilen.»


«Nach der Erschütterung neue Welt aufgegangen.»

Sich mitteilen und verstehen, sich geborgen fühlen und entwickeln: Dazu bra Familie die Sprache. Familien mit gehörlosen Kindern müssen ihre gemeins erst finden. Die Gebärdensprache eignet sich dafür am besten. Das haben au ten und Simon Bolliger erkannt, deren einjähriger Sohn Jonas hochgradig sc

Véronique Murk Verantwortliche Frühförderung beim Schweizerischen Gehörlosenbund

Kinder früh fördern – wichtig fürs ganze Leben Was wäre ein Mensch ohne Sprache! Die Sprache von uns Gehörlosen ist die Gebärdensprache. Mit ihr verständigen wir uns, sie öffnet uns die Türe zu unserer Gemeinschaft und Kultur. Deshalb sollte ein Kind mit einer Hörbehinderung die Gebärdensprache möglichst früh lernen – idealerweise zusammen mit seinen hörenden Familienmitgliedern. So wird die Gebärdensprache zur gemeinsamen Familiensprache und ermöglicht, sich gegenseitig zu verstehen. Zudem wird die emotionale Entwicklung des Kindes gefördert, wenn es sich in seiner natürlichen, visuellen Sprache ausdrücken kann. Unsere Heimkurse, über die Sie in diesem ganzOHR mehr erfahren, stellen die Kommunikation in der Familie sicher. Doch es gibt auch die Welt ausserhalb der Familie. Deshalb sollte ein gehörloses Kind auch die gesprochene Sprache lernen. Das fällt ihm leichter, wenn es die Gebärdensprache schon einsetzt. So kann es sich in jeder Situation selbstbewusst ausdrücken und am gesamten Leben teilnehmen. Der Schweizerische Gehörlosenbund setzt sich dafür ein, dass diese Zweisprachigkeit schon im Kleinkindalter möglich ist und gefördert wird. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie uns dabei mit Ihrer Spende unterstützen.

Véronique Murk (gehörlos)

Sibylle und Simon haben uns an einem Sonntagnachmittag zu sich nach Hause eingeladen. Bald beginnt eine neue Lektion des Heimkurses, an dem sie und weitere Familienangehörige die Gebärdensprache lernen – ihre künftige Familiensprache. Doch bevor es losgeht, erzählen sie von ihren Erfahrungen mit der Gehörlosigkeit ihres einjährigen Sohnes. Simon beginnt: «Dass Jonas hochgradig schwerhörig ist, ist kurz nach seiner Geburt klar geworden. Die Diagnose ist für uns im ersten Moment eine Erschütterung gewesen. Wir haben uns dann an das Thema ‹Gehörlosigkeit› herangetastet und konnten bald abschätzen, was uns und Jonas erwarten würde.» Sibylle ergänzt: «Wir tauschen uns auch immer wieder mit anderen betroffenen Eltern aus. Man ist offen untereinander und trägt die schwierige Situation gemeinsam. Das ist sehr wertvoll. So ist für uns nach dem kurzen Weltuntergang Schritt für Schritt eine neue Welt aufgegangen, die unser Leben bereichert.» Jonas wird ein Cochlea-Implantat* erhalten. Doch die Technik wird ihm nicht stets zur Verfügung stehen und unterstützt ihn nur bis zu einem gewissen Grad. Simon meint dazu: «Er wird auch mit dieser Hörhilfe nie wie wir hören können. Deshalb soll er zweisprachig aufwachsen. So findet er sich in der Welt der Hörenden und der Gehörlosen zurecht. Deshalb haben wir uns für den Heimkurs

Jonas, Sibylle Christen, Simon Bolliger, Elina.

des Schweizerischen Gehörlosenbunds angemeldet. Es macht Sinn, wenn nicht nur wir Eltern daran teilnehmen, sondern alle Bezugspersonen von Jonas, also auch seine Grosseltern, Tanten, Onkel sowie seine Gote und sein Götti.» Sibylle lacht: «Und tatsächlich haben alle zugesagt! Seit Januar 2019 treffen wir uns alle drei, vier Wochen. Das ist immer ein besonderes Erlebnis und stärkt unsere Familienbande. Unser Gebärdensprachlehrer Gian Reto Janki macht seinen Job didaktisch wirklich sehr gut. Zudem gibt er uns immer wieder Tipps für den Alltag von Gehörlosen – er ist ja selbst gehörlos.»


ist eine

aucht es in jeder same Sprache zuuch Sibylle Chrischwerhörig ist.

stifte und Notizbücher vor sich – sowie Teller und Gläser. Denn es gibt nicht nur etwas zu lernen, sondern auch Flammkuchen und Getränke. Man trifft sich zum achten Mal zum Heimkurs.

Eine neue Sprache lernen – die Gebärdensprache: Die ganze Familie macht engagiert mit. Gian Reto Janki vermittelt die Gebärdensprache anhand alltäglicher Szenen in einer Stadt. Im Moment geht die Familie mit der Gebärdensprache noch spielerisch um. Doch sie kann das Gelernte bereits anwenden – auch mit Jonas. Der Spracherwerb ist in seinem Alter jetzt sowieso ein wichtiges Thema. Sibylle sagt: «Seine erste Gebärde ist ‹Himbeere› gewesen, passend zur Jahreszeit. Das hat uns alle sehr berührt. Auch unsere fünfjährige Tochter Elina macht gerne mit.» Simon fügt schmunzelnd hinzu: «Und für die Senioren der Gruppe ist das Erlernen der Gebärdensprache ein gutes Hirntraining.» Dann schweigen beide einen Moment. Etwas liegt ihnen noch am Herzen – Sibylle: «In der Gesellschaft bestehen viel

Unwissen und Vorurteile gegenüber gehörlosen Menschen. Oft hören wir die Frage: ‹Und was kann Jonas auch sonst nicht?› Unsere Antwort: ‹Er ist ein kompletter Mensch, der alles kann, ausser eben hören.› Es ist etwas mühsam, wenn man das immer wieder erklären muss. So sind wir froh, dass sich der Gehörlosenbund für die Information der Öffentlichkeit über die Gehörlosigkeit einsetzt. Er leistet wirklich eine grandiose Arbeit!» Die Lektion beginnt Nun nimmt die Familie am Esstisch Platz, zwölf Leute. Alle sind in aufgeräumter Stimmung und haben Schreib-

Nach der Begrüssung verteilt Gian Reto Janki allen die Illustration einer Strasse einer Stadt, auf der verschiedene Szenen zu sehen sind: Fussgänger, Fussgängerstreifen, Auto, Ampel. Er erklärt die Begriffe in der Deutschschweizer Gebärdensprache. Diese unterstützt er mit Mundbildern – das sind deutliche Bewegungen der Lippen und kaum hörbare Laute. Die gesprochene Sprache benutzt Gian Reto Janki nicht. Dabei kommen auch Feinheiten zur Sprache. So erklärt er anhand eines Glace-Stands, der sich an der Strasse befindet, den Unterschied zwischen «Glace mit dem Löffel essen» und «Glace am Stängel schlecken». Alle machen engagiert mit und es wird viel gelacht. Anschliessend sind die Teilnehmer an der Reihe. Sie erklären sich die Szenen gegenseitig, natürlich ist nur die Gebärdensprache erlaubt. Zum Schluss stellen sich alle im Wohnzimmer im Kreis auf. Nun muss jeder den anderen etwas in Gebärdensprache mitteilen. Elina setzt sich in die Mitte und amüsiert sich offensichtlich über das «Spiel» der Erwachsenen. * Das Cochlea-Implantat ist eine implantierte Hörhilfe für hörbehinderte Menschen und ermöglicht – abhängig von der Art der Hörbehinderung – eine gewisse Hörleistung.


Helfen Sie mit, Familien zu stärken!

Gebärden

Die Unterstützung gehörloser Kinder und ihrer Familien zählt zu unseren wichtigsten Anliegen. Deshalb bieten wir seit Jahren Heimkurse an. Dabei lernt ein gehörloses Kind bei sich zu Hause zusammen mit seinen Eltern, Geschwistern und Angehörigen die gemeinsame Familiensprache – die Gebärdensprache. Mit unseren Heimkursen unterstützen wir Familien beim Erlernen der Gebärdensprache. Ein Gebärdensprachlehrer besucht die Familien zu Hause und trainiert dort im vertrauten Rahmen mit dem gehörlosen Kind, seinen Eltern, Geschwistern und Angehörigen die Gebärdensprache. Die Teilnehmer können

schon nach wenigen Stunden einfache Gespräche in der Gebärdensprache führen und sie mit der Zeit als vollwertiges Kommunikationsmittel nutzen. Da die Lehrperson gehörlos ist, wird sie für das ebenfalls gehörlose Kind zur positiven Identifikationsfigur. Dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Heimkurse.

Gebärden- und gesprochene Sprache: Es braucht beide

Auf signsuisse.sgb-fss.ch finden Sie unser einmaliges Online-Gebärdensprach-Lexikon. Das visuelle Wörterbuch umfasst alle drei Gebärdensprachen der Schweiz: die schweizerdeutsche, französische und italienische. Die Begriffe werden in einem Video gezeigt, schriftlich erläutert und mit einem Anwendungsbeispiel ergänzt. Viel Vergnügen beim Entdecken! Passend zum Thema dieser Ausgabe von ganzOHR zeigen wir Ihnen die Gebärde für «Kommunikation»: Diese spielt auch in Familien mit gehörlosen Mitgliedern eine zentrale Rolle und wird durch unsere Heimkurse gefördert.

Für ein gehörloses Kind ist die Gebärdensprache seine natürliche Erstsprache. Mit dieser Sprachbasis findet es erwiesenermassen leichter Zugang zur gesprochenen Sprache. Kinder, die mit der Gebärden- und der gesprochenen Sprache aufwachsen, entwickeln ihr Potenzial besser. Dank dieser Zweisprachigkeit können sie in jedem Umfeld situationsgerecht kommunizieren und sich in der Kultur der Gehörlosen und jener der Hörenden entfalten. Wenn sie in beiden Sprachen unterrichtet werden, eignen sie sich den gleichen Schulstoff wie hörende Kinder an und haben somit eine bessere Chance auf eine gute Ausbildung: die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Deshalb zählt die zweisprachige Erziehung zu den Anliegen, für die

«Kommunikation»

wir uns seit Jahren engagiert einsetzen.

re Spende!

Herzlichen Dank für Ih

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«Es berührt, wenn gehörlose Kinder ihre Gefühle mitteilen.» Das sagt Gian Reto Janki. Er ist selbst gehörlos und führt für den Schweizerischen Gehörlosenbund seit drei Jahren Heimkurse durch. Im folgenden Interview gibt er Auskunft über seine Erfahrungen als Kursleiter. Soll ein Kind mit einer Hörbehinderung zweisprachig aufwachsen – also mit der gesprochenen und der Gebärdensprache?

Ja, unbedingt! Ich bin gehörlos und in einer Familie aufgewachsen, in der nur in der gesprochenen Sprache kommuniziert wurde. Das hat unsere Kommunikation enorm erschwert. So sind Gespräche oft nur oberflächlich verlaufen. Ich bin immer wieder ausgeschlossen gewesen, weil ich den Diskussionen nicht genug folgen konnte. Die Zweisprachigkeit ist damals noch kein Thema gewesen und es hat noch keine Angebote für Familien gegeben, gemeinsam die Gebärdensprache zu lernen. Da hat sich einiges getan – auch dank dem Schweizerischen Gehörlosenbund. Die Heimkurse des Gehörlosenbundes finden bei den Betroffenen zu Hause im Familienkreis statt. Was spricht für diese Form?

Der vertraute Rahmen ist für die gehörlosen Kinder und die weiteren Mitglieder der Familie sehr wichtig. In ihm fühlen sie sich sicher und unter sich. Das erleichtert ihnen das Lernen und den Austausch über die Probleme, die sich bei der Kommunikation innerhalb der Familie ergeben. Wichtig ist mir auch, dass ich die Situation und Wünsche der jeweiligen Familie erkennen und darauf eingehen kann.

Was sind für Sie als Kursleiter die besonderen Herausforderungen?

Jede Familie hat ihre eigenen Geschichten, Erfahrungen und Bedürfnisse. Wie schon gesagt, möchte ich darauf individuell eingehen. Das ist immer wieder eine Herausforderung – aber auch das, was mich an meiner Arbeit besonders reizt. Gibt es spezielle Erlebnisse, die Sie bei Heimkursen erlebt haben?

Ja, aber dafür reicht der Platz hier nicht aus. Es berührt mich aber immer, wenn ein gehörloses Kind seinen Eltern seine Gefühle oder Wünsche mitteilen möchte – auf seine eigene Art und Weise. Und es plötzlich verstanden wird! Und sei es nur, wenn es während dem Unterricht auf die Toilette gehen muss.

Welche Fragen stellen Ihnen die Familien oft?

Die Eltern möchten zum Beispiel wissen, wie sie ihrem Kind mitteilen, dass es sein Zimmer aufräumen soll. Oder wie sie am besten verstehen, warum sich ihr Kind gerade unwohl fühlt oder wo genau es Schmerzen hat. Zudem tauchen immer wieder Fragen zu Hörgeräten, Cochlea-Implantaten und zur Schulintegration auf. Wenn immer möglich versuche ich, meine Antworten auf solche Fragen in den Unterricht zu integrieren. Grundsätzlich gestalte ich den Unterricht mit Themen und Erfahrungen aus dem Familienalltag. Dabei setze ich als Methode oft das Lernen durch spielerische Kommunikation ein.

Gian Reto Janki arbeitet neben seiner Tätigkeit als Heimkursund Gebärdensprachlehrer (für Erwachsene) als Projektleiter beim Schweizerischen Gehörlosenbund. Wichtige Themen seiner Projekte sind die Gebärdensprache und die gesellschaftliche Partizipation von Gehörlosen im Alltag. In seiner Freizeit liest und reist er viel und spielt gerne Badminton.


Gebärdensprache spielerisch vertiefen Mit diesen unterhaltsamen Memospielen kann Gross und Klein seine Gebärdensprach-Kenntnisse spielerisch vertiefen. Jedes Spiel umfasst 72 Karten mit 36 Gegenständen und Menschen sowie den dazugehörigen Gebärden. So macht Lernen Spass! Memo «Handformen» Memo «Freizeit-Gebärden» Memo «Tier-Gebärden» Memo «Mein Tag – Gegensätze» Memo «Mein Tag – Haushalt»

CHF 25.– CHF 22.– CHF 25.– CHF 25.– CHF 25.–

Die Spiele sind auf die Gebärdensuchbücher 1 und 2 abgestimmt, die Sie ebenfalls in unserem Online-Shop erhalten. Sie können sie jedoch auch ohne diese Bücher spielen.

tlich Erhäl Shop: m e r e in uns ch/shop s. sgb-fs

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Peter Schläfli Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 31 000 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1


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