Kinderkram 236

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Forschen macht Spaß!

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Noch einmal Forschen lernen Als Kind habe ich immer gerne geforscht. Ostberlin zu DDR-Zeiten war dafür genau das richtige Pflaster. Selbst als Grundschüler konnte man sich ob der geringen Autodichte und der „Werktätigkeit“ der Eltern relativ unbeaufsichtigt und frei durch seinen Kiez bewegen. Rausfinden, ob man von einer Querstraße zur anderen nur durch Hinterhöfe kommt. Nachschauen, ob nicht irgendwo eine Dachbodentür offen ist. Und natürlich mit dem besten Freund auf Schrottplätzen irgend­ etwas aus Spulen, Draht, Seil und Metallschienen zusammenbauen, mit dem man aus der DDR flüchten kann. Hab ich andauernd gemacht. In meinem Geburtsjahr flohen zwei Familien beim dritten Versuch mit einem selbstgenähten Heißluftballon erfolgreich über die Mauer. So etwas verpflichtet wohl. Aber bevor Sie jetzt anfangen zu mutmaßen, dass ich vorhaben könnte, hier ostalgisch zu werden oder darüber in Wehklagen zu verfallen, wie wenig abenteuerlustig die Kinder von heute sind, will ich die Katze aus dem Sack lassen. Jetzt habe ich Sie ja weit genug in diesem Text drin. Nein, um diese Dinge wird es heute nicht gehen. Sondern darum, dass uns Erwachsenen der Forschungsdrang abhandengekommen ist und welche Folgen das hat. Forschen beginnt bei der Erkenntnis, etwas nicht zu wissen, die sich mit der Neugier und der Lust daran mischt, etwas herauszufinden. Gerade Kinder haben diesen Drang zu forschen und stellen die entsprechenden Fragen: Warum ist der Himmel blau? Wie näht man einen Fußball zusammen? Wann lebte der erste Mensch? Weshalb kacken Wombats kleine Würfel? Wie kann ich Astronautin werden? Die Sendung mit der Maus ist seit 50 Jahren ein wunderbares Beispiel dafür. Ein sehr schlechtes Beispiel hingegen geben in dieser Pandemie gerade viele Erwachsene ab. Das hat etwas mit dem zu tun, was immer auch Teil des

Foto: Luzia Lux / photocase.de

Nils Pickert über die Forschungslust der Kinder und die Fähigkeit, Irrtümer zu erkennen

Forschens ist: Irren und die Möglichkeit, sich zu irren, in Betracht ziehen. Je länger diese Pandemie dauert, umso mehr Leute stellen ihre Unlust zum Erforschen der Dinge zur Schau. Zu viele wollen nicht länger etwas herausfinden, wie damals als sie Kinder waren, sondern „Schon -immergewusst-haben“ und es durch die selektive Wahrnehmung von Indizien und Anekdoten bestätigt finden. Ich will Sie hier gar nicht lange mit dem Thema Impfen belästigen. Dazu wurde alles gesagt, die Fakten liegen auf dem Tisch. Deshalb nur so viel: Diese vielbeschworene „Spaltung der Gesellschaft“ verläuft nur oberflächlich entlang derer, die sich impfen lassen, und denen, die es ablehnen. Sie besteht vielmehr zwischen Menschen, die Irren als Möglichkeit in Betracht ziehen, und Menschen, die das de facto ausschließen. Gute Forscherinnen und Forscher sind jederzeit in der Lage, selbst für ihre unverrückbarsten Über-

Liebe auf Augenhöhe Am 9. Februar erscheint das neue Buch unseres Kolumnisten Nils Pickert über den Zusammenhang zwischen Liebe und Gleichberechtigung. Liebe ohne Augenhöhe ist möglich, aber sie hat keine Zukunft, das ist seine These. Doch was genau bedeutet es, auf Augenhöhe zu lieben? Ist Romantik der Schlüssel zu ewiger Liebe oder doch der Sargnagel für jede Langzeitbeziehung? Das Bild der romantischen Liebe geht im Kern vieler Bücher, Filme, Songs oder Statements in den sozialen Netzwerken nämlich immer noch von Ungleichheit aus. Dieser Ungleichheit hält Nils Pickert das Konzept der gleichberechtigten Lebenskomplizenschaft entgegen, die Romantik frei von Klischees zulässt. Er hinterfragt, welche Rolle Sex, Geld, Kinder, Karriere und unterschiedliche Bedürfnisse dabei spielen. Ein radikales und tabuloses Buch zur eigenen Standortbestimmung, das ungeschminkte und berührende Einsichten in den Alltag von Paarbeziehungen bietet und zeigt, wie gleichberechtigte Liebe gelingen kann. „Lebenskompliz*innen – Liebe auf Augenhöhe” von Nils Pickert, Beltz Verlag 2022, 19,- € Kinderkram Nr. 236 · Februar 2022

zeugungen mögliche Fakten zu benennen, die sie vom Gegenteil überzeugen würden. Sie und ich mögen davon überzeugt sein, dass Bill Gates uns nicht alle durch Impfungen Mikrochips implantieren lässt. Aber wir sollten doch in der Lage sein, zumindest theoretisch zu benennen, was uns womöglich umstimmen würde. Ein gerichtsfestes Geständnis zum Beispiel und eine Flut an Körperscans, bei denen Mikrochips nachgewiesen werden können. Leider sind wir aber mittlerweile an dem Punkt, an dem Menschen, die sagen, dass es morgen mit Sicherheit regnet, im Falle ausbleibenden Niederschlags anfangen zu behaupten, morgen sei gar nicht morgen. Oder mit Regen wäre etwas völlig anderes gemeint gewesen. Einfach damit sie sich nicht geirrt haben und an ihrer Überzeugung nicht rütteln brauchen – und sei sie auch noch so unhaltbar. Aber es hat nun einmal nicht geregnet. Deshalb wünsche ich mir für 2022, dass wir aufhören mit Leuten zu reden, die sich „auf gar keinen Fall irren können“. Es ist Zeitverschwendung. Lassen Sie uns lieber mit Leuten sprechen, die „vielleicht falsch liegen“. Lassen Sie uns diese Leute sein. Und lassen Sie uns alle Anstrengungen unternehmen, die Forschungslust unserer Kinder zu erhalten und zu fördern. Damit „ich habe mich geirrt“ nie das Ende ihrer Welt bedeutet, sondern immer der Anfang einer neuen ist.

Nils Pickert ist vierfacher ­Vater, Journalist und ­Feminist. Jeden ­Monat lässt er uns an seiner ­ edankenwelt teilhaben. G


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