MAG 17: Pique Dame

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Il matrimonio segreto 27

Wie ein Besessener Riccardo Minasi dirigiert unsere Produktion «Il matrimonio segreto» am Theater Winterthur. Bei einem Treffen in seiner Geburtsstadt spricht er über den «Geist des Fanatismus» und erklärt, warum der Begriff «Barock» aus unserem Vokabular verschwinden sollte.

W

er Riccardo Minasi in Rom zum Interview treffen will, muss nur den Touristenströmen folgen. Die kleine Bar, die er als Treffpunkt vorgeschlagen hat, liegt in der Nähe der Piazza Navona. Minasi ist gebürtiger Römer und die Altstadt östlich des Tibers seine Heimat. Hier lebt der Dirigent und Geiger mit seiner Familie, wenn er nicht auf Konzertreise ist. Hier liegt gleich um die Ecke das Gei­ genbauatelier seines Freundes Claude Lebet, der Violinen nach Modellen von Stradivari und Guarneri baut. Hier trinkt er seinen Caffè im Stehen. Weil aber der Märzabend draussen schon angenehm warm ist, schlägt er vor, das Gespräch un­ ter freiem Himmel auf der Piazza Farnese zu führen, als sei sie sein Wohnzimmer und die Brunnenmauer seine Sitzecke. Vor uns ragt der imposante, von Michelangelo umgebaute Palazzo Farnese auf, in dem die fatale Begegnung zwischen der Sängerin Tosca und dem Polizeichef Scarpia in Puccinis Tosca angesiedelt ist, und Riccardo Minasi sagt: «Als Musiker bin ich ein Fanatiker». Dass da etwas dran sein muss, kann man schon an dem Namen des Orchesters ablesen, das er vor zwei Jahren mit­ begründete und mit dem er als Chefdirigent bereits Erfolgs­ geschichte geschrieben hat – Il pomo d’oro (Der goldene Apfel). So heisst auch eine Oper von Antonio Cesti, die 1666 anlässlich der Hochzeit Leopolds I. mit der spanischen In­ fantin Margaretha Theresia in einem Wiener Freilichttheater vor etwa 5000 Zuschauern uraufgeführt wurde. Das Werk war ein Riesenspektakel mit zahlreichen Spezialeffekten wie einstürzenden Türmen, fliegenden Göttern und sinkenden Schiffen und dauerte eine ganze Nacht. In 48 Partien trat fast das vollständige Götterinventar der griechisch-römischen

Mythologie auf, ein gewaltiges Feuerwerk mit 73’000 Rake­ ten wurde abgeschossen und 300 Pferde tanzten ein Ballett. Wer sich ein solches Werk zum Vorbild nimmt, muss beses­ sen sein von dem, was er macht. Der 1978 geborene Musiker bekam als Dreijähriger zum ersten Mal eine Geige in die Hand und wandte sich bald der Barockvioline und der historischen Aufführungspraxis zu. Als Solist und Konzertmeister arbeitete er mit so renom­ mierten Ensembles wie Le Concert des Nations von Jordi Savall, Il Giardino Armonico und dem Concerto Vocale von René Jacobs. Als Dirigent leitete er zahlreiche bedeutende Orchester in ganz Europa. In der Bewegung der historischen Aufführungspraxis gehört Minasi sozusagen zur Enkelgene­ ration, die die stilistischen und instrumentalen Standards nicht mehr gegen Widerstände durchsetzen muss, sondern selbstverständlich mit ihnen aufgewachsen ist – und sie trotz­ dem ehrgeizig weiterentwickelt. Meisterkurse und Lectures führten Minasi bis an die Juilliard School in New York, und in letzter Zeit hat er sich neben seinen musikalischen Tätig­ keiten auch mit der kritischen Edition von Bellinis Norma beschäftigt, auf deren Grundlage die Aufnahme mit Cecilia Bartoli und dem Orchestra La Scintilla unter der Leitung von Giovanni Antonini entstanden ist. Minasi ist unermüdlich in seiner Arbeit. Soeben ist er aus Venedig zurückgekehrt, wo er – in nur einer Woche – eine ganze Oper aufgenommen hat. Seit seine ersten Aufnahmen mit dem Orchester Il pomo d’oro und Sängern wie Franco Fagioli, Xavier de Sabata und Max Emanuel Cencic vielbe­ achtet und mehrfach ausgezeichnet wurden, läuft seine CD-Karriere auf Hochtouren. Noch in diesem Frühjahr wird


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