MAG 04: Der fliegende Holländer

Page 3

Editorial 1

Auf grosser Fahrt Liebes Publikum Israel Hands ist wirklich ein übler Geselle. Er ist nur eine Nebenfigur in unserer Abenteueroper Die Schatzinsel, aber ein Pirat der finstersten Sorte. Einer, der unliebsame Matrosen über Bord wirft und ohne die Miene zu verziehen den Schiffskapitän absticht. Mit der Spitze seines langen Mörderdolchs pult er in seiner Freizeit den Dreck unter den Fingernägeln hervor. Und wenn er drohend den Zeigefinger in die Luft stösst («Pass bloss auf, was du sagst!»), weichen alle angstzitternd einen Schritt zurück. In der Schatzinsel, unserer Familienoper für Kinder ab sechs Jahre, die Sie auf keinen Fall verpassen sollten, sind die Bösen böse und die Guten gut, und ein Schiff hat einen Mast mit einem Segel dran, und die Piraten kämpfen mit Säbeln, und am Ende leuchtet ein Schatz, und der ist aus Gold und gerät in die Hände der Guten. So einfach kann Theater sein, und so einfach muss man es – insbesondere wenn es für Kinder erdacht ist – auch auf die Bühne bringen dürfen. Es gilt dann, was die sehr erwachsene Berliner Schauspielerin Sophie Rois kürzlich, genervt von schlechtem Einfühlungstheater, in einem Interview erklärte: «Es ist wie im Kaspertheater. Beim Kasper und beim Krokodil willst du auch nicht wissen, ob die Probleme in der Kindheit hatten.» Sehr weit weg erscheint nach der Schatzinsel-Premiere die Jenůfa, mit der wir unsere Spielzeit im September eröffnet haben. Denn diese von Dmitri Tcherniakov beklemmend inszenierte Menschenstudie richtete den Blick sehr wohl tief hinab in die psychischen Abgründe, Traumata und Nöte des Daseins. Täter- und Opferverhalten, individuelles und gesellschaftliches Versagen erlebte man darin bis zur Ununterscheidbarkeit verkeilt. In den nicht einmal drei Monaten, in denen das Opernhaus Zürich nun unter seinem neuen Kapitän Andreas Homoki segelt, hatte ausserdem mit

Christian Spucks Romeo und Julia eine an die ganz grossen Gefühle appellierende Ballettproduktion Premiere (die so schnell ausverkauft war, dass wir eine Zusatzvorstellung ins Programm genommen haben), und Christoph Marthaler hat mit seinem desparat-melancholischen Händel-Pasticcio SALE auf sehr marthalerische Weise mit der Opernform experimentiert. In kürzester zeitlicher Abfolge waren so höchst unterschiedliche Erzählweisen von Musiktheater zu erleben. Das ist – wie immer Sie als Publikum das im Einzelfall bewerten – ein Anspruch, den die neue Direktion des Zürcher Opernhauses einzulösen versucht: Dass die Öffnung des Hauses sich auch auf Regiehandschriften und musikalische Interpretationen bezieht; dass erst ein ästhetischer Facettenreichtum (der nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln ist) die Kunstform Oper spannend und diskussionswürdig macht. Unsere nächste Neuproduktion (die Premiere ist am 9. Dezember) schliesst da nahtlos an: Der Intendant Andreas Homoki inszeniert selbst. Die Sängerbesetzung ist mit Anja Kampe, Bryn Terfel, Matti Salminen, Marco Jentzsch und anderen an stimmlicher Qualität und Prominenz kaum zu übertreffen. Und am Pult steht mit Alain Altinoglu eine grosse Dirigentenhoffnung der jüngeren Generation. Der Fliegende Holländer von Richard Wagner spielt wie die Schatz­insel in der Welt der Seeleute. Aber ein echtes Schiff mit Mast und Segel, so viel sei verraten, wird in dieser Pro­ duktion nicht vor Anker gehen. Wenn sich der Vorhang zum neuen Holländer hebt, wird auch die raubeinige Pira­ tenromantik der Schatzinsel schon wieder weit weg sein. Eine neue Erzählung beginnt. Lassen Sie sich überraschen. Claus Spahn

Unser Titelbild zeigt Bryn Terfel, fotografiert von Florian Kalotay. Lesen Sie ein Porträt des Sängers auf Seite 22


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.