MAG 04: Der fliegende Holländer

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Im selben Jahr 1602, in dem die Niederländische Ostindien-­ Kompanie in Amsterdam gegründet wurde, erschien in Leiden der Erstdruck einer deutschsprachigen, antijüdischen Flugschrift mit dem Titel: Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahassverus. In diesem Text wurde die Geschichte eines jüdischen Schuhmachers aus Jerusalem erzählt, der zur Zeit Jesu lebte und mit­ge­ holfen habe, den «Verführer» zu fangen. Auf dem Kreuz­ weg sei Jesus am Haus des Schusters vorbeigeführt worden, habe ihn «starck» angesehen und gesagt: «Ich wil stehen vnd ruhen / du aber solt gehen». Im selben Augenblick habe der Mann sich auf den Weg gemacht, sei nie mehr nach Jerusa­ lem zurückgekehrt, habe Frau und Kind nicht wiedergese­ hen; er sei auch nicht gestorben, sondern kürzlich erst nach Hamburg und Danzig gekommen.

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Das Motiv vom rastlosen Seemann oder vom wandernden Schuhmacher Ahasver kann auf ältere Sagen vom wilden Jäger oder von wiederkehrenden Toten zurück­geführt wer­ den; an diese Traditionen erinnern noch die Erzählungen von Gespensterschiffen, bis zu B. Travens sozialkritischem Roman Das Totenschiff. Zugleich verweisen diese Moti­ve auf elementare Widersprüche menschlicher Kulturge­ schich­te: etwa auf den Widerspruch zwischen Sesshaftigkeit und Mobilität. Der Ägyptologe und Gedächtnisforscher Jan Assmann hat die Hypothese entwickelt, dass zahlreiche Religionen um «mytho­motorische» Vorstellungen kreisen, die auf politische Integration oder Separation, Reichsgrün­ dung oder Exodus, zielen. Mit diesen Vorstellungen verbin­ den sich Lebensformen wie Ackerbau oder Viehzucht; fast von selbst versteht sich, dass Bauern nicht umherziehen und Viehhirten nicht sesshaft leben können. Nach Massgabe einer groben Einteilung lassen sich drei Typen historischer Antworten auf den Widerspruch zwischen Sesshaftigkeit und Mobilität unterscheiden, die bestimmten Epochen der menschlichen Geschichte zugeordnet werden können: nämlich der Zeit der Jäger und Sammlerin­nen, der Zeit agrarischer Kulturen sowie der (vergleichsweise neuen) Zeit industrieller Gesellschaften. Jäger und Sammlerinnen reisten nicht; sie waren stets zu­ gleich unterwegs und doch zuhause. Sie nahmen unentwegt ihre Heimat mit; nicht umsonst waren noch die eurasischen Hirtennomaden davon überzeugt, dass ihre Zeltstangen als kultisch relevante Mittelpunkte an den jeweiligen Standor­ ten fungierten. Der Himmel erschien ihnen wie ein aufge­ spanntes Zelt über dem Boden der Erde, das gestützt wird

von einer Weltsäule oder einem Lebensbaum, der als axis mundi Himmel und Erde verbindet. Die typische Reise wird erst nach Errichtung der ersten Städte angetreten. Im Gefolge der sogenannten «neolithi­ schen Revolution» teilt sich der bewohnte Raum in einen agrarisch bewirtschafteten, bäuerlichen Sektor und in den urbanen Sektor der Handwerker, der von Kriegern ge­ schützt und von Priestern und Fürsten regiert wird. Die Städte waren klein, aber ziemlich dicht besiedelt, und auch im bäuerlichen Sektor war reicher Kindersegen – als Zu­ ge­­­winn neuer Arbeitskräfte – sehr erwünscht. Interne Be­ ziehungen wurden durch strenge Verwandtschafts- und Zugehörigkeitsordnungen sowie durch eine Ökonomie der Vorratshaltung geregelt, die externen Beziehungen durch Handel und Krieg. Unter Bedingungen gesteigerter Sess­ haftigkeit organisiert sich das Bedürfnis nach Mobilität vor allem in Eroberungsfeldzügen, aber auch in den Religionen:

Jäger und Sammlerinnen reisten nicht; sie waren stets zugleich unterwegs und doch zuhause. Sie nahmen unentwegt ihre Heimat mit. Das Paradies ist der Ursprungsort menschlicher Einwande­ rung, und ein himmlisches Jenseits gilt als das versprochene Land einer gerechten Erfüllung aller Wünsche und Hoff­ nungen. Die biblischen Erzählungen vom Sündenfall – der Vertreibung aus dem Paradies – und vom Exodus ins gelobte Land sind die elementaren Mythen der Sesshaftigkeit. In dieser Epoche ent­w ickelte sich eine Funktionsordnung des Reisens, die uns auch heute noch vertraut vorkommt: ein Arrangement, gebildet aus der Abreise, der Passage, der An­kunft (am fremden Ort) und der Heim­kehr. So reiste Odysseus und so reisten auch die Hebräer, nachdem sie Ägypten mit seinen «Fleischtöpfen» verlassen hatten und durch die Wüste gewandert waren, um zuletzt das Gelobte Land zu erreichen.

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Moderne Reisen zeichnen sich aus durch eine Relativierung der agrarischen Ordnung von Abreise, Passage, Ankunft und Heimkehr. Während der Reisende ehemals sein Haus bestellte, Abschied nahm von der Familie und den Freun­ den, durchaus im Bewusstsein einer womöglich letzten


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