MAG 34: Il viaggio a Reims / Restless

Page 33

Volker Hagedorn trifft… 31

teilung entschieden haben, nur umgekehrt: «Er kümmert sich um die Kinder, um das Haus und um mich», sie lacht, «und er kocht leidenschaftlich gern. Wir wollten nicht, dass jemand Fremdes auf die Kinder aufpasst. Da sie bei meinem Mann sind, hab ich nie das Gefühl, dass ich sie vernachlässige. Aber wenn ich zwei Wochen lang weg bin wie zuletzt in Brasilien, vermisse ich sie wahnsinnig. Das ist viel zu lang.» Als sie selbst ein Kind war, die mittlere von drei Schwestern, kam zu beiden musikmachenden Eltern noch eine wichtige dritte Person – die Grossmutter. «Sie hatte die unglaubliche Gabe, Kindern das Singen beizubringen, also die Töne zu treffen, die Stimme zu bilden. Als wir zwei, drei und fünf Jahre alt waren, haben wir schon dreistimmig gesungen.» Das ist allerdings auch typisch lettisch, das legendäre «Liederfest» gibt es dort schon seit 1873. «Singen war ein Mittel, als Volk zusammen­ zukommen. Die Letten wurden immer von anderen beherrscht, darum ist es unser nationaler Stolz, Musik in die Welt zu bringen.» Mit der Folge, dass es in Lettland eine Fülle von fast gebührenfreien Musikschulen gibt. Baiba Skride begann mit vier Jahren, Geige zu spielen. Zuerst lernte sie auf der Musikschule, dann auf der Spezialschule für Musik. «Ab der neunten Klasse hatte ich kein Mathe mehr, gar nichts. Ich kenne mich überhaupt nicht aus! Ich könnte nie einen Job bekommen, wenn ich nicht einigermassen gut auf der Geige geworden wäre. Im Rückblick ein bisschen beängstigend, was meine Eltern da riskiert haben. Aber die Mentalität, sich abzusichern, kennt man in Lettland nicht. Man ist etwas kreativer.» Ausserdem: «Ich kann es nicht Gott nennen, aber ich denke, irgendwo ist unser Leben schon ein bisschen vorgestimmt.» Oder meint sie «vorbestimmt»? Baiba Skride hat in der Philharmonie bei Schostakowitsch ohne einen Funken von Nervosität die Kadenz nach den tonnenschweren Orchesterschritten der Passa­ caglia erreicht und zeichnet Linien der Freiheit in die Luft. Mitunter so leise und doch so nah an unseren Ohren, die Seele erreichend, als flösse der Ton hinein. Wenn sie Töne verbindet beim Bogenwechsel, gibt es nicht den Hauch einer Nahtstelle, aber die Geschmeidigkeit der rechten Hand ist nur eine technische Erklärung für diesen Zauber. Baiba Skride macht die Stradivari verantwortlich, die Gidon Kremer ihr geliehen hat. Mit ihm gebe es auch «diese lettische Verbundenheit, bei der man das Gefühl hat, man kennt einander besser, als man zeigt.» Das Lettische könne man in der Musik ihres Landsmanns Pēteris Vasks hören: «So eine Mischung aus Melancholie und extremer Stärke. Bei Vasks gibt es fast eine permanente Traurigkeit, aber dann kommt hintendran so eine Stärke von unten, die uns weiterbringt.» Traurig wirkt Baiba Skride keineswegs, aber sie ist schon ein nachdenklicher Mensch, auch beim Auftritt kein Rampenfeger. Nach dem fulminan­ ten Ende der Burleske, der Bogen schwebt noch in der Luft, lächelt sie kurz, als sei sie selbst etwas überrascht von den Rasereien, die da eben zu hören waren. Auf ihren geliebten Repertoireschlachtrössern Tschaikowski, Brahms, Beetho­ ven macht sie es sich nicht bequem. Vor drei Jahren hat sie etwa das kaum gespielte Violinkonzert des Schweizers Frank Martin aufgenommen, in der Hoffnung, ihm auf den Podien ein Publikum zu gewinnen. «Es gab bis jetzt nur ein Orchester, das es riskiert hat. Leider wollen viele auf den Plakaten nur das sehen, was bekannt ist.» Sie wünscht sich mehr Neugier im Konzertleben. Und was noch? Besseren Musik­ unterricht in ihrer Wahlheimat Deutschland. «Das Angebot für Schüler kommt nicht annähernd an das heran, was ich in Riga als normale musikalische Erziehung erlebt habe. Notenschreiben gehört zur Grundausbildung, das kann man mit sechs Jahren lernen wie eine Sprache!»


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.