MAG 14: Fidelio

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Fidelio 13

der Gegenwart hat nicht zuletzt mit Überforderung zu tun. Die Komplexität der Moderne verstellt den Blick über die Gegenwart hinaus in die Zukunft. Die Welt, so weit sie überhaupt steuerbar ist, kann nur noch auf Sicht gefahren werden. Früher, so hat der ZEIT-Journalist und Gegenwartsdiagnostiker Thomas Assheuer vor einiger Zeit geschrieben, seien soziale Utopien aus einem Stillstand der Verhältnisse heraus entstanden und hätten sich gegen den Mangel an Zukunft gerichtet. Heute verhalte es sich umgekehrt: Es gebe zu viel an Zukunft. Unablässig bedränge sie die Gegenwart, nehme von ihr Besitz und lasse die Grenze zwischen heute und morgen verschwinden. Während das alte Bewusstsein, in einem stabilen Zeit-Raum zu leben, verschwinde, verwandele sich die Gegenwart in den Durchlauferhitzer der Zukunft und die Permanenz des Übergangs: «Die Zukunft stirbt, weil sie immer schon da ist.» Aus diesem Zeitgefühl entstehe eine auf Abwehr gepolte Haltung, die die politische Fantasie ersticke. Natürlich hat sich inzwischen längst eine Gegenbewegung wider den Utopieverlust formiert. Der Mensch kann nicht leben, ohne über seine Gegenwart hinaus zu träumen. Das zarte Pflänzchen wird wieder bewässert. Aber es sind weniger die grossen Gesellschaftsentwürfe, über die nachgedacht wird, sondern eher kleine Projekte und punktuelle Fantasien von einem besseren, gerechteren und zukunftssichernden Leben, denen sich neue Utopisten wie der Soziologe Harald Welzer verschrieben haben. Die von ihm gegründete Stiftung mit dem passenden Titel FUTURZWEI etwa forscht über alternative Lebensstile und Wirtschaftsformen jenseits von Wachstumsideologie und ökologischem Raubbau. An der grundsätzlichen Visionsarmut der Gegenwart ändern solche Initiativen vorerst freilich wenig. Was bleibt, ist die Kunst. Sie bewahrt, was der Gesellschaft abhanden zu kommen droht: Sie öffnet den Horizont für die grossen Träume von Freiheit, beschwört die Macht der Liebe, nährt die Sehnsucht nach Menschlichkeit und gibt der Möglichkeitsform einen Raum. In seinem Fidelio hat Beethoven dem Glauben Ausdruck verliehen, dass der Mensch zur weltrettenden Tat fähig ist, wenn er nur wie die mutige Frau und grosse Liebende Leonore das Äusserste zu wagen bereit ist an Courage, Selbstlosigkeit und Verantwortungsbewusstsein. «Wer du auch seist, ich will dich retten!» singt sie und löst die Ketten des Mannes, der zwar ihr Gatte ist, aber auch jedes andere Opfer von Unmenschlichkeit sein könnte. Der Philosoph Ernst Bloch vernahm im Fidelio den Nachhall des Sturms auf die Bastille und fand, die Oper

habe «die Revolution schlechthin als Handlungsraum». Eine solche Wahrnehmung mag uns heute wie der Blick durch ein umgedrehtes Fernglas vorkommen – alles ganz weit weg. Aber sie offenbart die Grösse des Themas, an dem Beethoven sich an seiner einzigen Oper abgearbeitet hat. Mehrmals hat er sie umgearbeitet, ohne je zu einer einheitlichen Werkgestalt zu gelangen. Der Versuch, eine deutsche Spieloper und ein Ideendrama, einen problematischen Text und hochfliegende Musik zusammenzuzwingen, der gewagte szenische Dreischritt von der «Ruhe stiller Häuslichkeit» hinein in ein apokalyptisches Weltdunkel, hinauf zum Licht der Freiheit, die Rätselhaftigkeit des Spielorts zwischen einem hermetischen Innen und einem unbestimmten Aussen – das alles will sich zu keiner Einheitlichkeit fügen und verleiht der Oper eine Querständigkeit, die nicht zuletzt in ihrem Fragmentcharakter und an ihren Bruchkanten Beethovens utopischen Anspruch markiert. Der Augenblick, der im Fidelio-Finale besungen wird, ist eben ein ganz besonderer Moment. •

FIDELIO Oper von Ludwig van Beethoven (1770-1827) Musikalische Leitung Fabio Luisi Thomas Rösner (8, 11 Jan) Inszenierung Andreas Homoki Bühnenbild Henrik Ahr Kostüme Barbara Drosihn Lichtgestaltung Franck Evin Video Alexander Du Prel Choreinstudierung Ernst Raffelsberger Dramaturgie Werner Hintze Der Minister Don Pizarro Florestan Leonore Rocco Marzelline Jaquino Erster Gefangener Zweiter Gefangener

Ruben Drole Martin Gantner Brandon Jovanovich Anja Kampe Christof Fischesser Julie Fuchs Mauro Peter Alessandro Fantoni Christoph Seidl Philharmonia Zürich Chor der Oper Zürich

Premiere 8 Dez 2013 Weitere Vorstellungen 12, 15, 18, 20, 29 Dez 2013 1, 5, 8, 11 Jan 2014

Ein Kulturengagement der


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