Infrarot 224 - Die Linke und der Staat

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MAGAZIN FÜR JUNGSOZIALIST*INNEN

INFRAROT

Juni 2022


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Editorial LIEBE*R LESER*IN In dieser Ausgabe des Infrarots widmen wir uns dem Verhältnis der Linken zum Staat. Marx’ Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsform im Kapital hat Generationen von Linken inspiriert und bleibt bis heute relevant. Doch wer bei Marx nach einer ebenso scharfen Analyse des Staates sucht, wird nicht fündig. Marx schaffte es – obwohl geplant – zu Lebzeiten nicht mehr, ein Buch zum Staat zu schreiben. Der Linken fehlt also ein staatstheoretischer Bezugspunkt von der Wichtigkeit des Kapitals.

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Entsprechend unterschiedlich sind die Positionen zum Staat in den verschiedenen Strömungen: Während reformistische Parteien sich durch Beteiligung an Parlamenten und Regierungen erhoffen, das System von innen zu verbessern, bewerten revolutionäre Organisationen die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des Systems als ungenügend und sehen daher die Lösung in einem revolutionären Umsturz der Verhältnisse durch Bildung und Organisation der Massen. Linksradikale, anarchistisch geprägte Bewegungen schlagen nochmals einen anderen Weg ein: Durch direkte Aktion sollen «Inseln» der Selbstverwaltung geschaffen und Hierarchien hinterfragt werden. Dieses breite Spektrum wird in der Ausgabe genauer beleuchtet: Auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Regierungsbeteiligung geht die Pro-Contra-Rubrik ein, eine Gegenüberstellung betrachtet die Unterschiede zwischen der leninistischen und anarchistischen Staatslehre. Auch mit zentralen Themen wie unserem Verhältnis zu Polizei, Armee und Nationalismus haben wir uns auseinandergesetzt. Weitere Artikel beschäftigen sich mit dem Prison Industrial Complex in den USA, dem bedingungslosen Grundeinkommen sowie Antislawismus und dem Krieg in der Ukraine.

Viel Spass beim Lesen! Die Redaktion

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JUSO Schweiz | 3

Inhalt 04

Regierungsbeteiligung Pro/Contra

06

Die Beziehung zwischen linker Politik und staatlicher Ordnungsmacht

07

Warum Staatskritik gelernt sein will

08

Zerschlagen, abschaffen oder absterben lassen was machen wir mit dem verdammten Staat?

10

Vom Nationalismus und Internationaler Solidarität

11

Der Prison Industrial Complex in den USA

12

Armee und Schweizer Einheit

12

Aus den Sektionen

13

Bedingungsloses Grundeinkommen

14

Antislawismus – Rassismus gegen weisse?

15

Wie diskutieren wir über Israel-Palästina?

16

Bananenrepublik 2.0

17

Leser*innenbrief: «Korrektur Mehrwert»

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Links sein im Krieg

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Der Erfolg der KPÖ in Graz und seine Möglichkeiten


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Regierungsbeteiligung Pro/Contra Text: Sandro Covo (Pro) und Daria Vogrin (Contra)

Sollen sich linke Parteien an Regierungen beteiligen? Die Gretchenfrage der Linken ist nicht erst seit Corona Anlass für hitzige Diskussionen. Zwei Positionen aus der JUSO.

PRO:

Die Regierungsbeteiligung der SP ist kein Ersatz für eine sozialistische Revolution. Der Schweizer Staat ist und bleibt auch mit linker Regierungsbeteiligung ein bürgerliches Instrument. Dessen primärer Zweck ist die Hochhaltung der bestehenden Ordnung. Er schützt - in unterschiedlichen Ausprägungen - den Finanzplatz, die Pharma, die Rohstoffkonzerne. Neben diesen globalen Interessen des Kapitals kümmert sich der Staat auch um die Stabilisierung des Systems “zu Hause”. Sozialstaat und ein bisschen soziale Gerechtigkeit: ja, aber auf keinen Fall ein Hinterfragen des Systems. Begeben sich Linke in die Regierung, fallen sie fast unweigerlich in dieses kapitalistische Denkmuster. Dann setzen sich SP Regierungsrät*innen aus Basel Stadt für die Steuerprivilegien der Pharmakonzerne ein. Sie stellen sich schützend vor “ihre” Polizei, wenn diese wegen Racial Profiling oder anderen strukturellen Problemen in Kritik steht. An Städten mit nominell linker Mehrheit in der Regierung sieht man auch klar, dass dies nicht einfach ein Problem der Mehrheiten in den Regierungen ist. Auch eine linke Regierung in der Stadt Zürich kann sich der kapitalistischen Logik der Schweiz nicht entziehen. Trotzdem bin ich für die Beteiligung der SP in der Regierung. Denn das Mitwirken in der Regierung bietet die Möglichkeit, linke Pro-

CONTRA:

jekte durchzusetzen und in einem begrenzten Rahmen Alternativen aufzuzeigen. Das geht natürlich nicht nur durch Regierungsbeteiligung. Aber in der Regierung gibt es Möglichkeiten, die wir sonst nur schwer erhalten. Dazu gehört etwa die Möglichkeit, innerhalb von Gemeinden den gemeinnützigen Wohnungsbau zu fördern oder den Ausverkauf von kommunalem Boden zu verhindern. Das geht zwar auch auf legislativem Weg, doch aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten ist die Beteiligung in der Regierung ein wirkungsvolles Mittel, um an Handlungsspielraum innerhalb des bürgerlichen Staates zu kommen, wenn auch nur über ein Departement. Die Hoffnung, durch eine reine Oppositionspolitik könnten wir die Mehrheitsverhältnisse zu unseren Gunsten wenden, halte ich für ziemlich illusorisch. Vor allem innerhalb der kurzen Zeit, die uns bleibt, um die grossen Krisen der Gegenwart zu bekämpfen. Es braucht uns an allen Positionen: auf der Strasse, in den Parlamenten und auch in der Regierung. Das Mitwirken in den Regierungen ist keine Geheimwaffe gegen die Gräuel des herrschenden Systems. Doch es gibt dennoch Möglichkeiten, das Leben für einige Menschen zumindest partiell zu verbessern. Es spielt eben trotz allem eine Rolle, ob Karin Keller Sutter dem Migrationsamt vorsteht oder Simonetta Sommaruga. Auch an-

März 2014, JV der JUSO Schweiz. Das Thema: brav an das Kollegialitätsprinzip haltend, trugen Berset und SomRegierungsbeteiligung. Zugegebenermassen maruga die Entscheide mit. Doch in dieser Frage kann es keine Kolhabe ich mir bis dahin noch keine grossen Gedanken dazu gemacht. legialität geben: Schweigt man, macht man sich mitschuldig daran, Schnell komme ich aber zu einem festen Schluss: Die SP muss in dass Tausende unnötigerweise sterben und noch einmal mehr Leute der Regierung bleiben. Immerhin ist sie die einzimit Long Covid zu kämpfen haben. Das ist «Statt das kapitalistische ein Verrat an der arbeitenden Klasse – den ge halbwegs vernünftige Partei, die im Bundesrat Elend in der Regierung sitzt. Nicht auszudenken, wie die Schweiz ausMenschen, die die SP vorgibt zu vertreten. sehen würde, wenn die SP nicht da wäre, um die zu verwalten, muss die SP Trotzdem: Linke können in Regierungen bürgerlichen Hirngespinste abzufedern! nach einer Verankerung in kleine Dinge bewegen, die für das Leben marginalisierter Gruppen einen riesigen der Bevölkerung streben. Unterschied machen. Ist es also nicht priApril 2022, ich schreibe die Gegenposition zur Diese kann nicht von oben vilegiert zu behaupten, dass die Linke in Regierungsbeteiligung im Infrarot. Woher kommt herab geschaffen werden, der Regierung nichts zu suchen hat? mein Sinneswandel? Betrachten wir das aktuNein. Aktuell liegt die Macht in der Gesondern nur durch unellste Beispiel: Die SP im Bundesrat während der sellschaft ausserhalb der Parlamente ermüdliche Arbeit an der und Regierungen bei der Wirtschaft. Der Coronakrise. Die Coronapolitik in der Schweiz war um einiges weniger restriktiv als im Umland. Staatsapparat ist – in Form von Politik, Basis.» Maskenpflicht, Lockdowns, Testangebot – im NaRecht und staatlichen Organen – darauf men der Wirtschaft wurde auf vieles verzichtet. Denn: Wenn jemand ausgerichtet, sie am Laufen zu halten. Zumeist gehorcht der Staat stirbt, dann sicher nicht die Profite des 1 %. also der Wirtschaft, nicht umgekehrt – egal ob an seiner Spitze eine Das Gesicht der Schweizer Pandemiepolitik? Genosse Alain Berset. linke oder eine bürgerliche Regierung steht. Natürlich wurden die Entscheide vom Gesamtbundesrat getroffen Daher gleichen die Erfolge der SP in der Regierung einem Würfelund sind somit die Entscheide der bürgerlichen Mehrheit. Aber sich spiel, bei dem ab und zu eine Sechs gewürfelt wird. Die Integration


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dere Projekte, die die Linke innerhalb der Regierung durchsetzen kann, versuchen, die Lebensumstände der weniger Privilegierten zu verbessern. Nicht auf die Regierungsbeteiligung der SP angewiesen zu sein, ist ein Privileg. Mir kann es egal sein, ob die SP in der Regierung ist oder nicht, für andere ist es eine Frage von Leben und Tod. Denn der Staat hat eben neben seiner repressiven Seite auch die Möglichkeit, verletzliche Menschen «Nicht auf die Regierungszu schützen. Diese lässt sich unter den aktuellen beteiligung der SP angewieUmständen durch die Beteiligung an der Regiesen zu sein, ist ein Privileg. rung nutzen.

Mir kann es egal sein, ob die SP in der Regierung ist oder nicht, für andere ist es eine Frage von Leben und Tod.»

Das bedeutetet aber auf keinen Fall, dass die SP oder gar die JUSO sich staatstragend hinter die eigenen Regierungsverterter*innen stellen soll. Das Kollegialitätsprinzip und die Mehrheitsverhältnisse dürfen kein Blanko-Check für die menschenfeindliche Politik der Regierung sein. Den Vertreter*innen in der Regierung muss ihre Aufgabe bewusst sein. Sie müssen nicht den Bürgerlichen zeigen, wie gut sie mit ihnen zusammenarbeiten, sondern sich mit allen Mitteln für die Verbesserung der Lage der Menschen einsetzen. Dafür braucht es in der Partei und bei den Vertreter*innen der SP in der Regierung ein klares Bewusstsein über Sinn und Zweck einer Regierungsbeteiligung. Dass es möglich ist, Oppositionspolitik zu betreiben, ohne die Beteiligung in der Regierung aufzugeben, zeigt die SVP gut auf. Sie weiss es, die Widersprüchlichkeit des Staates zu nutzen und ihre Regierungsvertreter*innen spielen ihren Part.

Die Beteiligung in den Regierungen ist keine glorreiche Aufgabe. Aber wollen wir unsere Hände lieber in Unschuld waschen oder die Welt zum Besseren verändern?

der Linken in die Apparate des Staates macht sie zahnlos, Sachzwänge drängen sie in die Enge. Es ist den Bürgerlichen viel lieber, wenn die SP in der Regierung sitzt und an Glaubwürdigkeit verliert, denn das 1 % ist eher zu Zugeständnissen bereit, wenn die breite Masse Forderungen stellt. Die Alternative zur Regierungsbeteiligung ist also nicht vornehmes Nichtstun, um sich die Hände im Namen der reinen Lehre nicht dreckig zu machen – die Alternative ist Druck von unten und der Aufbau einer Opposition. Dafür braucht es Mut und Vertrauen: in sich als Partei und in die 99 %. Denn es reicht nicht, sich einfach aus den Regierungen zurückzuziehen und sich nur auf die Parlamente zu konzentrieren. Die SP muss dort Fuss fassen, wo die arbeitende Bevölkerung tatsächlich ist: in den Betrieben, Schulen, Universitäten und Quartieren. Dort müssen die 99 % organisiert werden. Tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel passiert nicht von heute auf morgen. Zuerst müssen die 99 % lernen, dass sie über die Macht verfügen, die Dinge zu verändern. Nur so kann eine sozialistische Perspektive überhaupt erst Gehör finden. Denn das Vertrauen der Arbeiter*innen muss sich die SP zuerst verdienen – insbesondere, nachdem sie es sich mit der Regierungsbeteiligung verspielt

hat. Dass die Organisation der 99 % möglich ist, zeigt das enorme Mobilisierungspotenzial von Bewegungen wie den Frauen- und Klimastreiks. Es gilt also, den Sozialismus nicht als blosse Gedankenspielerei aus dem WSWS I zu sehen, sondern als das Ziel unserer politischen Arbeit. Statt das kapitalistische Elend in der Regierung zu verwalten, muss die SP nach einer Verankerung in der Bevölkerung streben. Diese kann nicht von oben herab geschaffen werden, sondern nur durch unermüdliche Arbeit an der Basis.


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Die Beziehung zwischen linker Politik und staatlicher Ordnungsmacht Text: Nathalie Ruoss

Sommer 2020. Ein unbewaffneter Zivilist verliert durch die US-Politen der herrschenden Verhältnisse. Davon profitieren nach wie vor zei auf brutale Weise sein Leben. Ein Video des Vorfalls kursiert im überwiegend Kapitalist*innen. Die Institution der Polizei wurde als Internet. Weltweit finden Proteste gegen Polizeigewalt statt. Und Apparat des Kapitalismus geschaffen - und das bleibt sie auch. während sich in der Gesellschaft eine wichtige Debatte über die Problematiken der Polizei entwickelt, tut diese vor allem eines: Mit Tränengas und Gummigeschossen die Proteste niederschlagen und Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass die Abneigung auf Gedamit genau deren Anliegen bestätigen. Diese Gegebenheit ist nur genseitigkeit beruht. Linkseingestellte Menschen werden von der einer von vielen Gründen, warum die AblehPolizei oft als oppositionell, sogar gefährlich nung der Polizei innerhalb der Linken gross ist. «Die ursprüngliche Auf- wahrgenommen. Ein produktiver Austausch auf Augenhöhe wird also praktisch verunmöggabe der Polizei bestand licht. demnach darin, MassenDie Entstehung der modernen Polizei nahm ihre Anfänge im 19. Jahrhundert. Damals war aufstände von Arbeiter*insie jedoch keineswegs für die Aufklärung von Da der derzeitige Polizeiapparat mit einer linnen niederzuschlagen.» Verbrechen oder die Sicherheit der Bevölkeken Einstellung ideologisch im Konflikt steht, rung gedacht. Vielmehr wurde sie von der setzten die meisten Menschen innerhalb der Oberschicht als Reaktion auf die grösser werdende Arbeiter*innenLinken auf eine Abschaffung oder zumindest auf eine Reformierung bewegung gegründet. Denn die Elite hatte Interesse daran, ihr Pridessen. Wie eine zukünftige Gesellschaft ohne die heutige Polizei vateigentum zu beschützen. Sie setzte sich gegen die Bedürfnisse konkret aussehen soll, ist nicht im Detail klar. Die Entwicklung eines der Arbeiter*innenklasse und für die Perpetuierung der bestehenalternativen Sicherheits- und Organisationssystems ist jedoch zenden Verhältnisse ein. Die ursprüngliche Aufgabe der Polizei bestand tral. In der Zukunft soll ein System möglich sein, das nicht überdemnach darin, Massenaufstände von Arbeiter*innen niederzuwiegend einem kleinen Teil der Gesellschaft dient, sondern durch schlagen. Es ist also naheliegend, warum die Linke von Beginn an welches ein friedliches Zusammenleben aller Menschen ermöglicht ein natürlicher Feind des Polizeiapparats war. Er stellte sich gegen werden kann. die Arbeiter*innenklasse und somit auf die Seite der Kapitalist*innen. Seit der Gründung der Polizei ist viel Zeit vergangen. Folglich stellt sich die Frage, ob sich deren Rolle seit damals verändert hat. Tatsächlich konnten verschiedene positive Umgestaltungen im Polizeisystem etabliert werden. Beispielsweise wurde die Ausbildungszeit von Polizist*innen verlängert, was zu einem Rückgang von Polizeigewalt geführt hat. Trotzdem hat sich das weitverbreitete Bild der Polizei als «Freund und Helfer» innerhalb der Linken nie durchgesetzt. Dies hat vielseitige Gründe. Einerseits liegt es an den gewalttätigen, oftmals rassistischen Taten, die Die Entwicklung eines alternativen Sicherheitsdie Polizei in den letzten Jahren begangen hat. Andererseits liegt es daran, dass linkspolitische Demonst- und Organisationssystems ist jedoch zentral. rationen oft brutal niedergeschlagen werden, was bei rechtspolitischer Ausrichtung in der Regel nicht der Fall ist. Zusätzlich sorgt die Repression von Kundgebungen für das Aufrechterhal-


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Warum Staatskritik gelernt sein will Text: Pedro Schön

Der bürgerliche Staat ist ein widersprüchlicher. So hat er ein grosses Interesse am Schutz des Privateigentums und bestehender Herrschaftsverhältnisse. Gleichzeitig wird durch das Gesetz auch seinen Bürger*innen, zumindest theoretisch, Schutz vor Diskriminierung und Gewalt geboten. Dass der Staat sowohl emanzipatorische, also auf Gleichstellung, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung bedachte, und anti-emanzipatorische Elemente hat, erklärt zumindest teilweise, weshalb die Meinungen über ihn innerhalb der Linken sehr weit aus- Sowohl die ambivalente einandergehen. Die JUSO hat es sich in ihrem Einstellung der Liberaletzten Positionspapier über ihr Verhältnis zum Staat zum Auftrag gemacht, «den Staat len als auch die der Fain seiner Widersprüchlichkeit» zu verstehen schisten gegenüber dem und die «sich daraus ergebenden Handlungs- Staat basiert darauf, wie spielräume» zu nutzen.1 So weit so gut.

sie staatliche Herrschaft rechtfertigen. Eine linke Staatskritik hingegen arbeitet nicht auf die Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen hin. Vielmehr analysiert sie diese, um anschliessend die Emanzipation voranzubringen.

Wo sich aus Widersprüchen Handlungsspielräume ergeben, ist man jedoch selten allein. So hat die Linke das Zusammenspiel von Kritik und Stärkung des bürgerlichen Staats keineswegs für sich gepachtet. Vielerorts kämpfen liberale Politiker*innen gegen einen starken Staat. Dabei geht es in der Regel um staatliche Ausgaben für unsere Sozialwerke, die Bildung oder den Klimaschutz – Ausgaben also, die den 99% zugutekommen und eine emanzipatorische Wirkung haben. Dass es trotzdem kein Widerspruch ist, wenn der deutsche Finanzminister und FDP-Politiker Christian Lindner andernorts sagt, «auch ich will einen starken Staat», liegt daran, dass er den Satz mit mit «etwa beim Thema Bundeswehr» ergänzt.2 Stark soll und muss ein liberaler Staat sein, wenn es um den Schutz von Privateigentum und Herrschaftsverhältnissen geht. Scheinbare Widersprüche gibt es auch am äussersten Rechten Rand. Die Neonazis von der Jungen Tat sprechen bei Coronamassnahmen von unverhältnismässigen Restriktionen durch den Bund, werden sie verhaftet, handelt es sich um Repression. Ebendiese Repression finden sie wichtig, wenn es um Grenzkontrollen geht. Dass sie sich in letzter Konsequenz einen totalitären Staat erträumen, muss ihnen nicht auf der Stirn geschrieben stehen, um offensichtlich zu sein. Neben auf der linken, auf Gleichstellung bedachten Kritik, gab und gibt es also «stets auch reaktionäre bis faschistische Kritiken des bürgerlichen Staates.»3 Das ist jedoch kein Grund, mit Hufeisen um sich zu werfen: Die Kritiken sind nicht nur inhaltlich sehr verschieden, sondern unterscheiden sich in einem weiteren wichtigen Punkt, den der Historiker und Politikwissenschaftler Moritz Zeiler

in seinem Buch «Materialistische Staatskritik» herausarbeitet. Sowohl die ambivalente Einstellung der Liberalen als auch die der Faschisten gegenüber dem Staat basiert darauf, wie sie staatliche Herrschaft rechtfertigen. Für erstere ist der Staat legitim, wenn er Privateigentum schützt, für letztere, wenn er die Volksgemeinschaft vor Fremden schützt. Eine linke Staatskritik hingegen arbeitet nicht auf die Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen hin. Vielmehr analysiert sie diese, um anschliessend die Emanzipation voranzubringen.

Zumindest sollte sie das. Nimmt man in der Analyse nämlich Abkürzungen, kann es sein, dass man wie die «Freien Linken» an Coronademos den Neonazis von der Jungen Tat hinterherläuft. Die Annahme, der Staat sei dort, wo Menschen in einer Gemeinschaft leben, notwendig, und nicht etwas historisch Gewachsenes, birgt wiederum die Gefahr, dass man die eigenen Handlungsmöglichkeiten unnötig einschränkt. Beim Nutzen der Handlungsspielräume, die sich aus der Widersprüchlichkeit des Staates ergeben, darf die JUSO also nie aufhören, den Staat zu analysieren und eine Alternative zum Zusammenleben in diesem aufzuzeigen.

https://soz.li/jusothesen/ https://soz.li/starker_lindner_staat/ 3 Zeiler, Materialistische Staatskritik, 2017. 1 2


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GEGENÜBERSTELLUNG

ZERSCHLAGEN, ABSCHAFFEN ODER ABSTERBEN LASSEN – WAS MACHEN WIR MIT DEM VERDAMMTEN STAAT? Text: Xaver Bolliger und David Sommer

Lenin und der Staat Verdammte dieser Erde

Auf zum letzten Gefecht

Für Lenin war die Revolution immer die einzige Option, dieses Der Name “Lenin” löst in linken Parteien, Gewerkschaften und anSystem in seinen Grundfesten zu zerschlagen und ein neues aufderen Organisationen immer viele Reaktionen aus. Der Revolutionär zubauen. Im kommunistischen Manifest schreiben Karl Marx und fällt nicht nur durch seinen politischen Werdegang auf. Für viele sind Friedrich Engels, dass eine proletarische Revolution “die Erhebung das grösste Erbe Lenins dessen Werke, welche bis in die heutige des Proletariats zur herrschenden Klasse” bedeuten wird. Lenin Zeit als Standardlektüre für Ökonom*innen, Politiker*innen und führt dies in “Staat und Revolution” noch genauer aus: Es reiche links Politisierende gelten. Eines der bekanntesten Bücher Lenins nicht, nur die Macht in der parlamentarischen Politik zu übernehist “Staat und Revolution”. Darin erläutert und führt er die Theorien men. Für eine proletarische Revolution müsse der bürgerliche Staat Marx› und Engels› zum Thema Staat genauer aus. Gemäss Lenin zerschlagen werden. ist der momentan herrschende Staat ein sogenannter bürgerlicher Gemäss Engels ist der Staat “eine besondere Repressionsgewalt”. Klassenstaat. Seine Hauptfunktion ist, Das heisst, er hat die Aufgabe, die Macht die besitzende Klasse (die Bourgeoisie; «Gemäss Engels ist der Staat zu sichern. Anders als im Anarchismus, in das 1 %) reicher zu machen und das dem man die Form des Staates abschafft, kapitalistische System zu schützen. Die “eine besondere Repressionsgebesitzlose Klasse (das Proletariat; die 99 walt”. Das heisst, er hat die Aufga- wollen ihn Marxist-Leninist*innen in die eigenen Hände nehmen und so umwan%) wird dabei ausgebeutet und unter- be, die Macht zu sichern. Anders deln, dass er abstirbt. drückt. Solange es einen Staat gibt, gibt als im Anarchismus, in dem man es also auch Klassen mit entgegenstellDiese Welt wird unser sein ten Interessen. (Lenin; Staat und Revo- die Form des Staates abschafft, lution, Seite 9) wollen ihn Marxist-Leninist*innen Bei der Revolution wird das Proletariat die Produktionsmittel in seinen Besitz überin die eigenen Hände nehmen nehmen und die Staatsgewalt ergreifen. Lenin hält nicht sehr viel von den daund so umwandeln, dass er abAb diesem Punkt stirbt der Staat ab. Dies maligen Demokratien. Sie seien “Deklingt erst mal sehr spektakulär und unmokratien für die Reichen”. Dies zeige stirbt.» klar, deswegen folgt hier ein Erläuterungssich auch an der Menge der “politisch versuch: bewussten Lohnsklaven”. Damit meint er die tiefen MitgliederzahIm absterbenden Staat wird der ehemalige Parlamentarismus erlen von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien. Die neuert. Aus den Parlamenten werden “arbeitende Parlamente», welDemokratie sei überall beschränkt und bleibe ein Mittel zum Erhalt che ihre Entscheide selbst ausführen und kontrollieren, damit sie des bürgerlichen Staates. Lenin war überzeugt von der Partei als die Auswirkungen direkt sehen und die Verantwortung der Gesetze politisches Instrument. Diese sollte das Proletariat in den Sozialisklarer ersichtlich ist. Dabei sollen die “Beamten” also die Personen, mus “führen” und “die neue Ordnung leiten und organisieren”. Er welche in den Räten arbeiten, gleichen Lohn erhalten wie die Arbeiverstand dabei die Gewerkschaften eher als Hilfsquelle, aber nicht ter*innen in den Fabriken. So stirbt dieser Staat mit der Zeit ab, weil als Ausgangspunkt einer Revolution. Zudem sah er, wie gefährlich die Produktionsmittel der ganzen Gesellschaft gehören und die Eineine Gewerkschaft werden kann, wenn sie unter die “Fittiche der teilung in Klassen überflüssig wird. Bourgeoisie” gelangt, weil sie dort ihre revolutionäre Sprengkraft verlieren und zu einem Mittel des bürgerlichen Staates würde.


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Anarchismus und der Staat Wer hat uns verraten?

Freiheit ist die zentrale Idee des anarchistischen Denkens. Somit ersetzt, die auf Gleichheit und Freiheit aufbaut. Dabei unterscheiden steht dieser Begriff für eine Abschaffung des Staats und aller auf sich der Anarchokommunismus und er Anarchosyndikalismus nicht Macht begründeten Beziehungen. Darum stehen Anarchist*innen gross von rätekommunistischen und libertären Ideen. der Parteipolitik und der Gründung sogenannter “Arbeiter*innenparteien” kritisch gegenüber, da sie der Meinung sind, dass die repräsentative Politik nie den Willen aller Menschen erfassen kann. So Anarchie ist Ordnung. kann ein Erfolg in einem Parlament mit einem «Die Vorstellung, wie eine Die Vorstellung, wie eine zukünftige anKompromiss mit der bürgerlichen Gesellschaft gleichgesetzt werden. Arbeiter*innen sollen zukünftige anarchistische archistische Gesellschaft aussehen könnte, bleibt der anarchistischen Natur gemäss sich in wirtschaftlichen Vereinigungen zusamGesellschaft aussehen vage. Ideen und Bedürfnisse anderer können menschliessen und organisieren. Dabei sollen diese Gewerkschaften konstant den täglichen könnte, bleibt der anarchis- nicht im Voraus bestimmt werden. Das ist Kampf für Verbesserungen und den allgemei- tischen Natur gemäss vage. der Faktor, welcher den Anarchismus anderen linken Theorien gegenüber massgeblich nen Kampf zur Überwindung des Kapitalismus Ideen und Bedürfnisse unterscheidet. Anarchist*innen basteln nicht verbinden. Diese Art von Organisation ist der anderer können nicht im irgendwelche Strukturen, Institutionen und Kerngedanke der anarchosyndikalistischen Bewegung. Kurzfristig sollen die Gewerk- Voraus bestimmt werden.» Apparate in ihren Hirnen aus, die dann von sich aus das Heil gebären werden. “Die Anschaften Streiks und andere direkte Aktionen archie führt zum Kommunismus und der Kommunismus zur Anarwie Boykotte und Blockaden gegen den Kapitalismus organisieren. chie.”, führt Kropotkin in “Die Eroberung des Brotes” aus. Denn AnDabei kategorisiert Ralph Chaplin von der IWW (siehe Box) diese archist*innen sind der marxistischen Idee nicht abgeneigt, jedoch Streiks in vier Kategorien. Er spricht von Streiks in der Gemeinmuss diese konsequent libertär und dezentralisiert umgesetzt werschaft, in einer Industrie, in einem Land und dem revolutionären den. So kann eine staatliche Kontrolle durch die Natur ihrer Sache Klassenstreik – dem Generalstreik. immer nur auf der Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit aufgebaut sein. Dabei geht der Anarchismus einen Schritt weiter: Nicht nur die Abschaffung der Klassen soll erreicht werden, sondern Auf die Barrikaden! auch die jeglicher Formen von Hierarchie. Hierarchie wie sie in der Langfristig soll der Kampf der Gewerkschaften zu einem globalen Familie, in romantischen Beziehungen oder gegenüber ethnischen Generalstreik führen. Dabei soll ein umfassender Unterbruch des Gruppierungen existiert. Denn wenn der Mensch die Befreiung jegAlltags erreicht werden. Wenn die Fabriken und Büros stillstehen, licher Unterdrückungs- und Hierarchieformen erlebt hat, wird er nie die Arbeit allgemein niedergelegt wird und sich die Menschen als in eine andere Art von Gesellschaft zurückwollen. Menschen zusammenschliessen, entsteht ein Machtvakuum, welches für die Revolution genutzt wird. Diese soll eine Ausschaltung von Staat und Verwaltung erreichen, welche eine Neuorganisation der Gesellschaft nach anarchistischem Vorbild ermöglicht. Der KaIndustrial Workers pitalismus soll durch eine Gesellschaft ersetzt werden, in der die Arbeter*innenklasse ihre Betriebe und Gemeinden selbst kontrolof the World (IWW) liert. Das höchste Ziel des Anarchismus ist der Sieg der arbeitenden Die 1905 in Chicago gegründete Klasse über den Kapitalismus und die Abschaffung aller Staaten. IWW ist eine anarchosyndikalistische, Sie werden durch eine allgemeine Föderation lokaler Vereinigungen basisdemokratische Gewerkschaft. Sie machte sich schon immer, anders als die traditionellen Gewerkschaften, Disclaimer für Frauen und People of Color stark. Dieser Text ist ein Versuch verschiedene Ideen aus Die IWW vertritt das Konzept von “One anarchosyndikalistischer und anarchokommunistischer Theorie aus der Perspektive des Autors zusamBig Union”. Dabei sollen Arbeiter*innen menzuführen. Keineswegs kann und soll dieser Text nicht klassisch in verschiedenen Gedie anarchistische Meinung vollständig umfassen und werkschaften nach Branchen aufgeteilt definieren. werden, sondern sich in einer grossen vereinen.


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Vom Nationalismus und Internationaler Solidarität Text: Gian Caduff & Diego Loretan

Ob Eiffelturm, Brandenburger Tor oder Kolosseum. Ganz Europa leuchtet momentan in blau und gelb den Nationalfarben der Ukraine. In Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und ihrem Leiden unter der russischen Aggression haben sich zahlreiche Menschen, darunter auch viele Linke, für die Souveränität und territoriale Integrität des ukrainisches Nationalstaates lauthals stark gemacht.

zunächst gegen die Kolonialmacht Frankreich und später gegen die imperialistischen und antikommunistischen Interessen der USA verteidigen mussten und dabei den Kampf für nationale Unabhängigkeit und eine sozialistische Gesellschaft verband.

Aber wie verträgt sich das alles mit linker Ideologie, die ja typischerweise international denkt? Zwar herrscht innerhalb der Linken ein breiter Konsens darüber, dass Sozialismus immer auch international gedacht werden muss und dass Klassen, und nicht Nationen, die massgebenden kollektiven Identitäten sind. In konkreten Fällen Es dürfte wohl vielen klar sein, dass ein beträchtlicher Teil der wurde von linker Seite aber immer wieder ein erstaunlicher Pragrussischen Bevölkerung diesen Krieg ablehnt. Und doch ist dieser matismus an den Tag gelegt und es wurde der anachronistisch anmutende Konflikt ein wei«Im Wesentlichen fabri- «Kommunismus in einem Land» einer risikoterer trauriger Zeuge für einen Kampf einer reicheren Weltrevolution vorgezogen. ziert der Nationalismus Elite, der auf dem Rücken der Arbeiter*innen ausgetragen wird. Wir haben uns gefragt, wie eine gemeinschaftliche Es stellte sich wiederholt die Frage, ob eine sich die Linke in diesem Spannungsfeld zwilinke Revolution innerhalb eines Staates tatIdentität, die letztendlich schen internationaler Solidarität und nationasächliche Solidarität erzeugen kann, die über ler Souveränität traditionellerweise positioniert arbiträr und häufig wider- die Landesgrenzen hinausgeht oder ob Natiosprüchlich ist.» und ob es so etwas wie linken Nationalismus nalismus dieser nicht vielmehr im Weg stehe. geben kann. Denn ein Merkmal des Nationalstaates ist, Im 19. Jahrhundert entstand in Europa ein breitflächiger Nationalismus, der typischerweise den Studierenden-Bewegungen entquoll, welche die Nationalstaatsidee propagierten und an ein Gefühl der nationalen Zugehörigkeit und Solidarität appellierten. Als Produkt der sozialen Umordnung entstanden Verfassungen und Gesetzesnormen, die klar definierten, wer zur Nation gehörte und wer nicht. Im Wesentlichen fabriziert der Nationalismus eine gemeinschaftliche Identität, die letztendlich arbiträr und häufig widersprüchlich ist. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer konstruierten Gemeinschaft muss aber nicht zwingend negativ sein. Aus einer gezielten Errichtung von kollektiven Identitäten kann Solidarität und Kooperation hervorgehen. So wurden in der Schweiz aus Katholiken und Reformierten Schweizer*innen. Auch sprachlich-kulturelle Gräben konnten so zumindest teilweise zugeschüttet werden. Nationalstaaten waren also gewissermassen Wegbereiter für lokale Konfliktbewältigung, technologischen Fortschritt und auch gewisse soziale Reformen durch verstärkte Kooperation und Spezialisierung.

dass er auf kultureller und räumlicher Exklusion basiert. Die Nation wird ex negativo definiert: «Wir sind das, was die anderen nicht sind.» Eine solche Spaltung stehe einem Klassenbewusstsein und der damit einhergehenden Emanzipation im Weg, wurde immer wieder vorgebracht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Internationale Solidarität weiterhin von der Mehrheit der Linken gross geschrieben wird. Sie wird einem engstirnigen Nationalismus, der lediglich für die Arbeiter*innen diesseits der Landesgrenzen einsteht, grundsätzlich vorgezogen. Allerdings sollte diese Solidarität auch stets den Kampf gegen jegliche Form von Imperialismus und somit das Recht auf nationale Unabhängigkeit mit einbeziehen und einfordern. Denn, wie Engels sagte: «Ein aufrichtiges internationales Zusammenwirken der [europäischen] Nationen ist nur möglich, wenn jede dieser Nationen im eigenen Haus vollkommen autonom ist.» (Engels, 1892)

Während der Dekolonisation war der Nationalismus ein wichtiges Mittel, um sich als Einheit gegenüber den Kolonial- und Imperialmächten zu behaupten und Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit einzufordern. Von linker Theorie inspiriert kämpften Befreiungsbewegungen zusätzlich oft für eine Befreiung im marxistischen Sinne. Sinnbildlich hierfür steht die vietnamesische Befreiungsbewegung, die sich während des Vietnamkriegs

Text von Eleonora Trifunović


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Der Prison Industrial Complex in den USA Text: Nathalie Ruoss

Kommt man in den USA als schwarzer Junge zur Welt, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Teil seines Lebens in Haft verbringen. Ganze drei von vier jungen schwarzen Männern müssen mit einer Inhaftierung rechnen. Wächst man zusätzlich in einer armen Nachbarschaft auf, ist der Gefängnisaufenthalt praktisch garantiert. Dieser Umstand resultiert aus dem sogenannten Prison Industrial Complex und betrifft spezifisch schwarze US«Bekamen schwarze Bürger*innen und andere ethnische MinderheiMenschen von der USten in den USA. Doch wie genau funktioniert der Prison Industrial Complex? Und wer profitiert im Regierung bestimmte Geheimen, während andere leiden? Die Beziehung zwischen den USA und ihren schwarzen Bürger*innen war seit ihren Anfängen ausbeuterisch. Zu Zeiten der Sklaverei profitierte die weisse amerikanische Elite von der Arbeit schwarzer Menschen. Doch auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei wurden immer wieder neue Wege gefunden, ein unterdrückendes System zu erhalten und den Profit an schwarzen Menschen zu perpetuieren.

Rechte zugeschrieben, wurde von weissen, konservativen Politiker*innen als Reaktion darauf ein anderes, neuartiges System von Kontrolle etabliert.»

von Drogen inhaftiert: Ganze 13-mal öfter als weisse Menschen. Dies ist jedoch nicht aufgrund höherer Kriminalität der Fall, sondern aufgrund von höherer Polizeipräsenz in schwarzen Nachbarschaften. Denn Studien belegen immer wieder: Alle Ethnien verkaufen und konsumieren illegale Drogen in nahezu gleichen Mengen.

So gelingt es mithilfe des Justizsystems und rassistischen Neigungen in der Bevölkerung eine neues unterdrückendes System zu schaffen. Die Strafverfolgung kann sich hinter neutralen Gesetzen verstecken, während rassistische Vorurteile dafür sorgen, dass die weisse Bevölkerung der USA die Masseninhaftierung schwarzer Menschen nicht hinterfragt. Ausserdem können grosse Unternehmen so von unterbezahlter Gefängnisarbeit profitieren, ohne dass die breite Öffentlichkeit etwas davon mitbekommt.

Dies lief im Prinzip immer gleich ab: Bekamen schwarze Menschen von der US-Regierung bestimmte Rechte zugeschrieben, wurde von weissen, konservativen Politiker*innen als Reaktion darauf ein Währenddessen wird die schwarze Bevölkerung in Haft zu einem anderes, neuartiges System von Kontrolle etabliert. Als schwarze stimmlosen Volk. Sie kriegen den «Verbrecher»-Stempel aufgeMenschen das Wahlrecht in den USA bekamen, wurden kurz darauf drückt und verlieren einen grossen Teil ihrer Bürgerrechte. Auch Wahlsteuern und Alphabetismus-Tests eingeführt. Wer diese Steunach dem Gefängnisaufenthalt ist es ihnen oft nicht mehr gestattet ern nicht bezahlen konnte oder zu wenig gut Lesen und Schreizu wählen, einer Arbeit nachzugehen oder staatliche Unterstützung ben konnte, um die Alphabetismus-Tests zu bestehen, verlor sein für die Finanzierung von Behausungen anzufordern. Sie verlieren Wahlrecht. Dies betraf damals natürlich überwiegend die schwarze also dieselben Rechte, die ihnen im Laufe der ganzen US-GeschichBevölkerung. Zusätzlich wurde Arbeitslosigkeit gesetzlich verboten, te schon weggenommen wurden. Geändert hat sich lediglich die wodurch viele schwarze Menschen im Gefängnis landeten. SklaveSprache, mit der wir dies rechtfertigen. rei wurde somit ganz einfach durch Gefängnisarbeit ersetzt. Auch die Jim Crow Gesetze, die besagten, dass schwarze und weisse Menschen separiert leben mussten, sind ein Beispiel für ein solches Kastensystem. «So gelingt es mithilfe des Justizsystems und ras-

sistischen Neigungen in der Bevölkerung eine neu-

In den 1980ern erklärte der damalige US-Präsident Ronald Reagan den Drogen den Krieg. Wie der Name schon es unterdrückendes System zu schaffen.» verrät, richtete sich dieser gegen die Verbreitung und Konsumierung illegaler Drogen. Ab diesem Moment schoss die Anzahl inhaftierter Menschen in die Höhe: In weniger als 30 Jahren stieg sie von 300›000 auf unglaubliche 2 Millionen. Dadurch wurden die USA nicht nur zum Land mit den meisten Inhaftierungen überhaupt, sondern auch zum Land mit dem höchsten Anteil von schwarzen Menschen in Haft. Denn diese werden überproportional oft aufgrund


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Armee und Schweizer Einheit

Sektionen Update

Text: Siro Fadini und Silvan Steinegger

Text: Elias Erne

Gibt es neben den Hierarchien auch Gleichberechtigung?

Die Schweiz ist ein sehr heterogenes Land. Es ist praktisch unmöglich, Traditionen zu finden, die beispielsweise Genf, Frauenfeld und Lugano vereinen. Denke man hier z.B. nur an die kulinarische Vielfalt. Es ist deshalb oft schwierig, Elemente zu finden, die die Eidgenossenschaft vereinen, die uns alle als «Schweizer*innen» fühlen lassen. Aber es gibt scheinbar eine Ausnahme: die Armee! Eine Organisation, in der alle gleich sind, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Traditionen, Sprachen und Geschlechter dieselbe Uniform tragen, die gleichen Funktionen haben und die gleichen Befehle entgegennehmen. Wie auf der offiziellen Website der Armee zu lesen ist, sind Integration und Diversität eine Herausforderung und eine Quelle des Stolzes für diese Institution, ein Symbol für den Zusammenhalt und die Einheit der Schweiz! Aber ist das wirklich der Fall? Obwohl in der Armee theoretisch alle die gleiche Ausgangsposition haben, verbergen sich in dieser Organisation sehr ausgeprägte Machtverhältnisse: nicht nur Machtmissbrauch und Schikanen durch höher gestellte Militärs, sondern auch Rassismus, Mobbing und Diskriminierung kommen immer wieder vor. Das jüngste Ereignis, datiert auf Februar 2022, betrifft das Video einer Demütigung zweier Soldaten, die gezwungen wurden, auf dem Boden zu kriechen, während sie von einem Unteroffizier angeschrien, getreten und heftig mit einem Stock geschlagen wurden. Solche Vorfälle ereignen sich vor allem gegen Minderheiten, z. B. sprachliche Minderheiten. Die überdurchschnittlich häufigen Fälle von Mobbing gegen Tessiner*innen zeigen, wie weit die Utopie einer vorurteilslosen und einenden Armee von der Realität entfernt ist. Trotz andauernden Bemühungen die Situation zu verbessern, fördert die Armee mit ihren hierarchischen und paternalistischen Strukturen, die Diskriminierung von Minderheiten in der Schweiz. Und wenn wir etwas suchen, das unsere Eidgenossenschaft eint, dann sollten wir vielleicht zuerst einmal von unserer Armee wegschauen und uns bewusst machen, dass Kantons- oder Landesgrenzen eigentlich nur historische Konventionen sind.

Wir haben drei Sektionen gefragt, was bei ihnen läuft und folgende Antworten erhalten:

Zuerst einmal der Blick über die Sprachgrenze: Die JS Genève hat uns folgenden Beitrag geschickt:

“Da Genf eine internationale Student*innenenstadt ist, sind unsere Mitglieder (und ihre Interessen!) sehr vielfältig und nicht immer in Genf verankert, was dazu führt, dass es viele Wechsel im Vorstand und unter den aktiven Mitgliedern gibt. Wir sind auch eine Stadt mit einer sehr breiten Aktivist*innenlandschaft und arbeiten viel mit anderen linken Organisationen zusammen. Wir nehmen oft an Demonstrationen teil, unterzeichnen Communiqués mit und haben jede Menge informellen Austausch. Zum Beispiel haben wir gerade mit anderen jungen linken Organisationen eine Initiative für kostenlose öffentliche Verkehrsmittel gestartet.”

Aus einem anderen Rand der Schweiz, dem Kanton Schaffhausen, erreichte uns folgende Zuschrift:

“Wir von der JUSO Kanton Schaffhausen sind eine junge und belebte Sektion. Manche sagen uns auch, wir seien noch ‘etwas grün hinter den Ohren’. Doch sind wir sehr stark im Wachstum und hatten 50 Prozent Mitgliederzuwachs im letzten Jahr. Dies ist super, da unser bürgerlich dominierter Kanton immer mehr Rot, das unsere Mitglieder einbringen, vertragen kann. Unsere Sektion hat ausserdem ein weibliches Co-Präsidium und eine starke kreative Ader.”

Zu guter Letzt gehen wir noch in die Innerschweiz, nach Obwalden:” In unserem bürgerlichen Kanton haben wir es nicht leicht, so werden wir oft belächelt. Trotzdem bleiben wir motiviert und erhalten mit unseren kleineren, sowie grösseren Aktionen durch die lokalen Medien viel Aufmerksamkeit und sind mittlerweile die Partei mit der grössten Medienpräsenz im Kanton. So versuchen wir den Diskurs nach links zu verschieben. In OW hat die JUSO auch als Treffpunkt eine wichtige Bedeutung, so können wir für junge Linke einen Safe-Space bilden. Wir übernehmen auch die Neumitgliederbetreuung für Nidwalden und hoffen, dort wieder eine aktive Sektion zu haben”


JUSO Schweiz | 13

Bedingungsloses Grundeinkommen Text: Alena Häseli

Hast du dir schon mal überlegt, wie es wäre, einer Weiter- oder Ausbildung nachzugehen, ohne Monate und Jahre dafür sparen zu müssen? Dass du dich voll auf dein Studium konzentrieren könntest, ohne dich mit zehrenden Nebenjobs durchschlagen zu müssen? Dass deine Care-Arbeit finanziell wertgeschätzt würde? Das alles wäre möglich, wenn wir in der Schweiz ein bedingungslosen Grundeinkommen hätten. Dies würde bedeuten, dass alle Personen in der Schweiz monatlich einen fixen Betrag vom Staat erhalten würden, unabhängig von Lohn und Vermögen. Die Vorteile Momentan werden wären vielfältig: Es wäre möglich, vielen Personen die ExistenzängsUnterschriften gesamte zu nehmen, ihnen ermöglichen, sich weiterzubilden oder sich melt für die Eidgenössische Volksinitiative «Leben in Würde – Für umzuorientieren, sorgenfreier zu studieren, mehr unbezahltes, ziein finanzierbares bedingungsloses Grundeinkommen». Die Initiaviles Engagement zu leisten, die Chancengleichheit zu erhöhen und tive wurde von einem parteilosen Komitee noch vieles mehr. Gerade die Coronapandelanciert. Für die Finanzierung liegt bei «Es wäre möglich, vielen mie hat aufgezeigt, wie schnell finanzielle dieser Vorlage der Schwerpunkt auf verAbsicherungen zusammenbrechen können. Personen die Existenzängste zu schiedenen Bereichen der Volkswirtschaft. Das Hauptgegenargument ist wie immer: nehmen, ihnen ermöglichen, Bereits bestehende Steuereinnahmen, die «Wie sollen wir das alles nur bezahlen?». sich weiterzubilden oder sich Sozialwerke und insbesondere der FinanzBestimmt fällt dir innert zehn Sekunden sektor, Tech-Unternehmen und digitale mindestens eine Sache ein, wofür Bürgis umzuorientieren, sorgenfreier Plattformen, die bisher nicht angemessen sehr bereitwillig Milliarden gesprochen hazu studieren, mehr besteuert wurden, sollen einen fairen und ben. Ausserdem ist es schon lange an der unbezahltes, ziviles Engagesolidarischen Anteil dazu beitragen. DaZeit für eine grosse Steuerreform mit einer durch wurde eine grosse Schwäche der ment zu leisten, die Chancensolidarischeren Gestaltung in der Schweiz. letzten Initiative verbessert.

gleichheit zu erhöhen und

Im Juni 2016 kam die Volksinitiative «Für noch vieles mehr.» Das Hauptziel der neuen Initiative ist die ein bedingungsloses Grundeinkommen» Existenzsicherung aller Personen in der vor das Volk. Damals waren Initiativtext und Absichten leider nicht Schweiz. Das Menschenrecht auf ein Leben in Würde und Selbstüberzeugend und somit wurde die Vorlage mit 76.9% versenkt. bestimmung soll in der Bundesverfassung verankert werden. Sie Aber was war an dieser Initiative nicht optimal? Nach der Idee der greift die Idee für ein bedingungsloses Grundeinkommen in einer Initiant*innen hätte die gesamte Bevölkerung einen bestimmten, sinnvolleren und solidarischeren Art neu auf. Es wird bestimmt eine gleich hohen Betrag erhalten – das bedingungslose Grundeinkomspannende Diskussion in der JUSO bezüglich einer Unterstützung men. Jedoch wäre dieser Betrag allen Menschen, die mehr verdient dieser Initiative geben. oder mehr Unterstützungsleistungen erhalten hätten, von diesen Gutschriften abgezogen worden, zur Finanzierung des Projekts. Somit ist es fraglich, ob diese Initiative ihrem Namen «Das Menschenrecht auf ein Leben in Würde gerecht wurde. Ein echtes bedingungsloses Grundeinkommen garantiert allen einen Zuschuss, nicht und Selbstbestimmung soll in der Bundesverfasnur Bürger*innen ohne Verdienst. Für alle statt für sung verankert werden.» wenige, wobei darüber diskutiert werden kann, ob dem reichsten ein Prozent ebenfalls ein bedingungsloses Grundeinkommen ausbezahlt werden soll. Die JUSO hat zu dieser Initiative folglich die Nein Parole verfasst.


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Antislawismus Rassismus gegen weisse? Text: Eleonora Trifunović

Durch den Angriffskrieg auf Ukraine durch Russland häufen sich Berichte über antislawischen Rassismus. Diese Form des Rassismus ist nicht neu, wird aber häufig nicht berücksichtigt. Gibt es Rassismus gegen weisse Menschen?

herrschaft, die mit rassistischen Hierarchisierungen und Expansionsprojekten den Höhepunkt darstellte. Neben der, während der Shoah ermordeten Jüd*innen, stellte die «slawische» Bevölkerung eine enorme Opferzahl dar. Die Bevölkerung bekam die Rolle von minderwertigen Sklav*innen zugewiesen, der des «slawischen Untermenschen». Nach dem Untergang des Nationalsozialismus endeEs ist wichtig zu begreifen, dass die Kategorien Schwarz und te der antislawische Rassismus nicht, Schimpfworte über ost- und weiss nicht für die Hautfarbe steht, sondern südosteuropäische Zuwander*innengrupvon politischen Konstrukten ausgehen. Um «Um das ganze Ausmass der pen wurden normalisiert. Auch der Antidies kenntlich zu machen, wird Schwarz Machtstrukturen zu erkennen, slawismus verschränkt sich mit anderen gross und weiss kursiv und klein geschrieDiskriminierungs- und Rassismusformen ben. Der Ausgangspunkt, ist die globale Ge- müssen wir die 3 Ebenen des wie: Sexismus, Klassismus, AntisemitisRassismus betrachten: schichte unserer rassistisch strukturierten mus, antimuslimischer Rassismus, OrienWelt. Menschen ohne Rassismuserfahruntalismus, Queerfeindlichkeit etc.. Dadurch institutioneller Rassismus, gen, die keine Benachteiligung durch z.B. bildet sich häufig ein komplexes Gefecht. interpersonaler Rassismus ihre Herkunft erfahren, werden als weiss Viele als «östlich» gelesene Menschen erund Alltagsrassismus. « bezeichnet. Wenn eine weisse Person als leben berufliche Dequalifizierung und eine «Du scheiss Bünzli» beschimpft wird ist das Einteilung in der Arbeiter*innenhierarchie natürlich nicht in Ordnung, jedoch keine rassistische Diskriminieweit unten. Eigenschaften wie: billig, primitiv, kriminell, usw., die rung. Natürlich können weisse Personen von Armut oder schlechter bei Slaw*innen vermeintlich biologischer Natur seien, werden zur Bildung strukturell benachteiligt sein, die Gründe dafür liegen aber Marginalisierung und Ausbeutung durch die Dominanzgesellschaft nicht in z.B. ihrer Migrationsgeschichte. Um das ganze Ausmass gerechtfertigt. Wobei zu bemerken ist, dass es «die Slawen» eigentder Machtstrukturen zu erkennen, müssen wir die 3 Ebenen des lich gar nicht gibt, da die Bezeichnung lediglich eine kulturelle Rassismus betrachten: institutioneller Rassismus, interpersonaler Konstruktion darstellt und zu negativen Zwecken genutzt wird. Rassismus und Alltagsrassismus. Daraus bildet sich der strukturelle Rassismus. Diese Strukturen haben sich historisch entwickelt und Wir müssen zur Analyse des Rassismus den antislawischen Rassiswirken durch Ereignisse wie den Sklavenhandel, der Kolonialisiemus ernst nehmen – ein Rassismus, der die Menschen nicht trifft, rung und Genoziden bis heute. Zu sehen sind diese Machtmechaweil sie weiss sein können, sondern weil andere Rassismusformen nismen in unserem System zum Beispiel beim Racial Profiling, bei existieren, die auch äusserlich weisse Menschen treffen können. der Wohnungssuche oder in der Schule. Dadurch gibt es neben dem Anti-Schwarzen Rassismus auch andere Arten von Rassismus, z.B. Weiterführende Literatur: den antimuslimischen, den antislawischen, den antisemitischen, den antiasiatischen, den Antiromaismus u.a.. Also: Rassismus geRassismus gegen Weiße? Für eine Osterweiterung der deutschen Rassismusdebatte, Hans Christian Petersen und Jannis Panagiotidis gen weisse Menschen gib es nicht und gab es auch noch nie. (Geschichte der Gegenwart, Februar 2022)

Für immer Untermensch?

Das Othering Ost- und Südosteuropas begann schon bei der Aufklärung, als die Region als solches überhaupt erst erfunden wurde. Mit den Worten: «This is a relatively civilized, relatively European … city, one where you wouldn’t expect that…» beschrieb Charlie D’Agata, Auslandskorrespondent von CBS News, die Ukraine. Vor allem im Deutschen Diskurs zeigte sich während des 19. Jh. ein kolonialer Blick auf «den Osten». Restriktive Regelungen verhinderten noch Jahrzehnte später die Einbürgerung der Gastarbeiter*innen. Der während des NS-Regimes gennante «Generalplan Ost» schaffte in besetzen Gebieten Ost- und Südosteuropas eine Vernichtungs-

Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!, Natasha A. Kelly (Atriu Verlag, Zürich, 2021) «Gibt es Rassismus gegen weisse? 2.0, @renk.magazin (Instagram, März 2022) Antislawischer Rassismus, @fembi_ev (Instagram, März 2022) Antislawismus: Prof. Dr. Jannis Panagiotidis & Prof. Dr. Hans-Christian Petersen, ostklick (Youtube, März 2022) Antislawismus Intersektional, @s_prokopkin (Instagram, April 2022) Wenig beachtet, aber viel verbreitet − was ist Antislawismus? – mit Sergej Prokopkin, Schwarzkopf Foundation (Youtube, Januar 2022)


JUSO Schweiz | 15

Wie diskutieren wir über

Israel-Palästina? Text: Wanda Siegfried

Vor einem knappen Jahr, im Mai 2021, eskalierte die Situation in Israel-Palästina. Ich wollte damals einen Text schreiben darüber – und scheiterte. Denn ich merkte wieder einmal, wie heikel das Thema ist.

Vorsicht ist aber auch bei Verallgemeinerungen geboten: Es ergibt meist wenig Sinn, die Unterdrückung in Palästina insgesamt anzusprechen. Denn die Situation in Gaza ist anders als im Westjordanland oder in Ostjerusalem. Dasselbe gilt für verschiedene Bevölkerungsgruppen: Palästinenser*innen sind nicht immer muslimische Araber*innen. Es gibt zum Beispiel auch christliche PalästinenIch weiss, ich bin nicht die einzige linke Person, die sich schwerser*innen, Armenier*innen und Griech*innen, die von Diskriminietut und auch in der JUSO kommt das Thema immer wieder auf, so rung betroffen sind. Auf der anderen Seite gibt es auch pro-israeauch an den letzten zwei nationalen Versammlungen. Auch diese lische Muslim*innen und eine grosse Zahl von Diskussionen haben mich dazu veranlasst, Israelis verurteilt die Politik der israelischen Rediesen Artikel zu verfassen. Wir haben mit «Doch trotzdem ist es gierung und die Handlungen von Siedler*innen. Recht grossen Respekt davor, uns zu posi- wichtig, dass wir uns positionieren, denn die Situation ist sehr kom- tionieren, und vor allem Eine weitere Schwierigkeit ist der Antizionisplex und unübersichtlich. Doch trotzdem ist mus, beziehungsweise seine Unterscheidung diese Diskussionen fühes wichtig, dass wir uns positionieren, und vom Antisemitismus. Antizionismus stellt sich vor allem diese Diskussionen führen und uns ren und uns weiterbilden.» gegen den Staat Israel. Wird der Staat Israel weiterbilden. Damit wir dabei aber nicht in aber als jüdischer Staat interpretiert, als siproblematische Diskurse einstimmen und uns der Schwierigkeiten cherer Ort für Jüd*innen, ist die Abgrenzung von Antisemitismus bewusst sind, sollen hier einige davon angesprochen werden. Es schwierig. Auch hier muss man also vorsichtig sein. geht in diesem Artikel nicht um eine Positionierung, sondern um Sensibilisierung. Nur so können wir fruchtbare Diskussionen haben, Es ist klar, dass diese Thema viele Schwierigkeiten birgt. Und trotzlernen und unsere Positionen nach aussen tragen. dem ist es wichtig, darüber zu diskutieren. Setzt euch also damit auseinander, diskutiert und recherchiert. Seid dabei aber immer Die Schwierigkeiten fangen schon mit den Bezeichnungen an: selbstkritisch, hinterfragt eure Aussagen und Positionen, weist euch Verwendet man die Bezeichnung Konflikt? Dann übergeht man die auf Problematiken hin und seid euch der Macht eurer Äusserungen krassen Machtunterschiede und die vertragswidrige Besetzung von bewusst. Gebieten durch den israelischen Staat. Kritisiert man den israelischen Staat insgesamt, oder spricht man von der Politik der israelischen Regierung und der Siedler*innen? Oder redet man von «ForWeiterführende Literatur: ty-Eight» (die Grenzen von 1948), Gaza und Westbank, und nimmt Es wurde unglaublich viel geschrieben über dieses Thema. Daher damit Israel die Legitimität als Staat? Alle diese Formulierungen ist auch vieles unübersichtlich. Hier ein paar Tipps, die jedoch alle auch kritisch zu lesen sind: können Probleme mit sich bringen: Verallgemeinerung, Verharmlosung oder die Delegitimierung des Staates Israel. Dieser Probleme Ein Artikel zur Zweistaatenlösung, der mich beeindruckt hat: muss man sich bewusst sein. Schliesslich stellt sich die Frage, ob «Ein gemeinsamer, binationaler Staat – ich nenne ihn die ‘Haifa-Reman den Begriff der Apartheid verwendet. Denn selbst wenn man publik’», Interview mit Omri Böhm, https://soz.li/haifarepublik/. überzeugt ist, dass dieser Vorwurf gerechtfertigt ist, selbst wenn man den Begriff verwendet, kommt noch eine weitere SchwierigEin Artikel anlässlich der Eskalation des Konflikte im Mai 2021: Darius Hofmann: «Reden wir über Chronologie und Macht», https:// keit hinzu. Wir müssen uns nämlich bewusst sein, dass es nach soz.li/chronologieundmacht/. wie vor starke antisemitische Strömungen gibt, die auch vor Gewalt Ein Überblick, mit Vorsicht zu geniessen: nicht zurückschrecken. Wir dürfen keinen Beitrag dazu leisten, den Adina Renner, Alexandra Kohler, Anja Lemcke, Inga Rogg: «So Diskurs in eine Richtung zu verschieben, der diesen Nazis in die wandeln sich die politischen Landkarten von Israel und Palästina» Hände spielt. Auf der anderen Seite ist es klar, dass Unterstützer*inhttps://soz.li/wandelndekarten/. nen der israelischen Regierung versuchen, kritische Äusserungen Eine Auseinandersetzung mit der Strömung der pro-israelimit Antisemitismusvorwürfen zu delegitimieren. Wir müssen unsere schen Antideutschen: Aussagen kritisch hinterfragen und solche Vorwürfe ernst nehmen, https://soz.li/anti-deutsch-thematik/ denn wir wissen: Sprache hat Macht. Ein Glossar zur Situation zusammengestellt von Aljazeera: https://soz.li/anti-deutsch-thematik/


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Bananenrepublik 2.0 1 Text: Henrik Zimmermann

Die offizielle Website von Próspera hat den aktuellen Zeitgeist in der eigene Gesetzgebung und ein eigener Justiz- und Polizeiapparat internationalen Start-Up-Kultur sehr gut verinnerlicht. Sie verspricht aufbauen. Das von Armut, Gewalt und Korruption geprägte Hondu«Eine Plattform für nachhaltiges Wachstum», zeigt Visualisierungen ras, welches in diesen ZEDEs somit eine gewisse territoriale und juvon durch Star-Architektin Zaha Hadid geplanten, luftig-luxoriösen ristische Souveränität abgibt, erhoffte sich dadurch wirtschaftlichen Wohnresidenzen neben traumhaften Stränden und verspricht eine Aufschwung in Randregionen. Nachdem 2009 der linke Präsident «Partnerschaft zwischen Honduras und Próspera». Die Macher*innen José Manuel Zelaya vom Militär weggeputscht wurde, peitschten die lieferten sich offensichtlich eine interne Wette, wer die Worte «Inno- rechten Machthaber die ZEDEs mit allen Mitteln durch die Gesetzvation», «Wachstum» und «nachhalgebung. Als 2012 der oberste Gerichtstig» am häufigsten in die Publika- «Armut ist in Próspera unerwünscht,» hof das Gesetz zum Aufbau von ZEDEs tionen einfliessen lassen kann. Und als verfassungswidrig aufhob, entfernte sie sind sich auch nicht zu schade für Pathos: «Human Rights are das honduranische Parlament kurzerhand die kritischen Richter aus right for business»2. Hinter dieser Fassade verbirgt sich jedoch ein dem Amt. Nun ist Próspera – der Name bedeutet so viel wie «die Projekt, welches nicht nur die das grundlegende Verständnis von Florierende» - die erste ZEDE. «Staatsgebiet», «Staatsmacht» und «Staatsgewalt» hinterfragt, sondern auch Menschenrechte und Rechtsstaat gefährdet. Die Verfassung von Próspera liest sich wie der feuchte Traum des Libertarismus4; Privatbesitz ist unantastbar. Einkommen dürfen zu Im Jahr 1860 versuchte der US-Amerikanische Abenteurer William maximal 10% besteuert werden, Mehrwert zu 5%, jegliche weitere Walker die Karibikinsel Roatán mit einer Söldnertruppe zu erobern, Steuer ist verboten. Der Service Public ist vollständig privatisiert. um dort einen Sklavenhalterstaat zu errichten. Nachdem er mit sei- Die Rechtsprechung ist international ausgerichtet und Schiedsgenen Söldnern einige Jahre zuvor in Nicaragua kurzzeitig eine von richte in den USA entscheiden über Streitfälle. Regiert wird Próspera den USA grosszügig tolerierte «Präsidentschaft» errichten konnte, durch einen 8-köpfigen Rat, wovon die Hälfte durch das verwaltende scheiterte er auf Roatán kläglich. Den USA und dem britischen Empi- Unternehmen ernannt wird, während die andere Hälfte gewählt wird. re, auch wenn sie Zentralamerika als «Bananenrepubliken» verach- Immerhin teilweise demokratisch könnte man denken - wenn da nur teten und als ihren eigenen Hinterhof betrachteten, wurde Walker zu nicht der Passus wäre, wonach bei Wahlen Landbesitzer*innen pro dumm. So lieferten britische Soldaten ihn an den honduranischen Quadratmeter Boden (!) eine Stimme hätten. Eine Kandidatur für den Staat aus. Aus der Tragödie wurde die Farce und 160 Jahre nach Rat setzt selbstverständlich «Erfolge in Business oder Leadership» Walker versuchten US-amerikanische Abenteurer wiederum Roatán voraus. Die Liste der Ratsmitglieder spricht Bände; Investmentbanzu erobern. Dieses Mal aber nicht gewaltsam ker, Krypto-Unternehmer, Aktivisten im Umfeld «(...) wonach bei Wahlen von libertären US-Politikern. Der einzige Honmit Waffen und Söldnern, sondern ganz legal mit Start-Ups und Jurist*innen und mit dem Landbesitzer*innen pro duraner in der Verwaltung ist durch das ZEDESegen des honduranischen Parlaments. Gesetz vorgeschrieben.

Quadratmeter Boden eine Stimme hätten!»

Auf einem kleinen Streifen der Insel, der bisher noch nicht viel mit den Animationen auf der Website gemeinsam hat, wurde eine Zona de empleo y desarollo económico (ZEDE)3 eingerichtet. ZEDEs sind autonome Zonen innerhalb des honduranischen Staates, die von privaten Unternehmen verwaltet werden. Diese Unternehmen dürfen auf ihrem Gebiet eine

1 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden zentralamerikanische Staaten «Bananenrepubliken» genannt, da diese damals durch die USA politisch oder militärisch kontrolliert wurden, mit dem Ziel, dass US-Firmen dort riesige Bananenplantagen für den US-Markt betreiben konnten. Der Begriff ist mit dem US-Imperialismus verknüpft und gilt in Lateinamerika als Beleidigung. Hier wird er nur verwendet, um das beschriebene Projekt zu bewerten, nicht aber den honduranischen Staat. 2

«Menschenrechte sind gut fürs Geschäft»

3

Zone für Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung

Um Bewohner*in von Próspera zu werden, muss man nicht nur dessen Gesetze akzeptieren, sondern auch einen lückenlosen Leumund haben und beweisen können, dass man finanziell in der Lage ist, Steuern und Gebühren zahlen zu können. Armut ist in Próspera unerwünscht, Sozialwerke sind nicht vorgesehen. Wer diese Voraussetzungen nicht erbringen

4 Der Libertarismus ist eine politische Philosophie, die den Fokus auf grösstmögliche Freiheit des Individuums legt. Klassische Libertarier*innen propagieren einen Minimalstaat, der lediglich für den Schutz des Privateigentums und die äussere Sicherheit zuständig ist, während alle anderen Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch den Markt geregelt werden. Auch wenn es parallelen zum Neoliberalismus gibt, unterscheiden sich die zwei Philosophien durch ihr Verhältnis zum Staat; Der Neoliberalismus benutzt den Staat für seine Ziele (z.B. mittels internationaler Beziehungen und Organisationen oder der Koordination von Infrastruktur und Standards) während der Libertarismus den Staat grundsätzlich hinterfragt oder sogar offen ablehnt (Anarcho-Libertarismus). «Steuern sind Diebstahl» ist eine typisch libertäre Parole, die bis weit in die politische Mitte vorgedrungen ist.


JUSO Schweiz | 17

LESER*INNENBRIEF kann oder nicht nach Honduras ziehen möchte, kann sich alternativ für 130$ eine e-Residency kaufen, um in Próspera virtuell Geschäfte zu machen; eine attraktive Einladung für Geldwäscherei und Steuerhinterziehung. In der honduranischen Bevölkerung sind die ZEDEs sehr unbeliebt. Sie werden in dünn besiedelten Gebieten ohne Rücksprache mit der lokalen Bevölkerung deklariert, das ZEDE-Gesetz ermöglicht die Enteignung der Lokalbevölkerung – darunter die indigene Gruppe der Garífuna – zugunsten der ZEDEs. Als in der Nachbargemeinde von Próspera aufgrund der Bautätigkeit der Dorfbrunnen verschmutzte, erweiterte die ZEDE zwar die eigene Wasserleitung ins Dorf, nur um kurz darauf der Gemeinde eine saftige Gebührenrechnung zuzustellen. Aufgrund der Autonomie von Próspera war ein gerichtliches Vorgehen dagegen nicht möglich und der ermittelnden honduranischen Polizei wurde der Zugang verwehrt.

«Der erfolgreiche Widerstand der Honduraner*innen ist (...) ein wichtiges und kämpferisches Signal!» Diese Vorkommnisse, wie auch die Angst vor Souveränitätsverlust, Umweltverschmutzung, Steuerflucht und Ausbeutung von Honduraner*innen als billige Arbeitskräfte für eine internationale Krypto-Elite sorgten dafür, dass sich eine breite Masse der Honduranischen Bevölkerung den ZEDEs widersetzte. Die Proteste führten dazu, dass selbst die neoliberale Rechte Honduras sich zunehmend von dem Monster distanzierte, welches sie geschaffen hatte. Zu spät, im November 2021 wählte die Bevölkerung die linke Xiomara Castro, die seit jeher die ZEDEs kritisierte, zu Präsidentin. Mit Castros Wahlsieg implodierte die Unterstützung komplett und im April 2022 hob das Parlament die ZEDE-Gesetze einstimmig auf. Damit ist der Spuk allerdings noch nicht vorbei. Próspera kündigte an sich juristisch zu wehren, eine Millionenklage gegen Honduras wird befürchtet. Aufgrund des autonomen Status von Próspera und diversen Verträgen ist die Rechtslage verwirrend, es ist noch nicht einmal klar, welche Gerichte überhaupt zuständig sind. Die Regierung Castro muss sich auf einen langen und frustrierenden Prozess zur Auflösung der ZEDEs einstellen. Mehrere zentralamerikanische Staaten versuchten in der Vergangenheit, sich mit turbokapitalistischen Projekten ins 21. Jahrhundert zu katapultieren. Panama positioniert sich seit längerem als Steueroase und Fluchthafen für Geldwäscherei, während in El Salvador Präsident Nayib Bukele, der sich gerne als Elon Musk Zentralamerikas inszeniert, jüngst Bitcoin zu offiziellem Zahlungsmittel erklärte, wovon die breite Bevölkerung aber keinen Nutzen zieht und dafür die Nationalbank mit Investitionen in Kryptowährungen sehenden Auges in den Bankrott fliegt. Der erfolgreiche Widerstand der Honduraner*innen gegen die ZEDEs ist vor diesem Hintergrund ein wichtiges und kämpferisches Signal gegen den globalen Kreuzzug von Neoliberalismus und Libertarismus.

Korrektur «Mehrwert» Text: Martin Kohler für die marxistische Strömung der Funke

Mit der Entdeckung des Mehrwerts hat Marx das Rätsel der kapitalistischen Ausbeutung gelöst. Nur durch sie können wir verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert und was Klassenkampf ist. Ihr schreibt, der Profit komme daher, dass die Arbeiter*innen nicht den «vollen Wert der Arbeit» ausbezahlt bekämen und daher nicht «gerecht» entlohnt würden. Aber schon Marx selbst hat darauf hingewiesen, dass «Wert der Arbeit» ein «unsinniger Begriff» ist. Profit und Mehrwert kommen daher, dass der Kapitalist den Arbeiter so lange arbeiten lässt, dass er mehr Wert geschaffen hat, als seine Arbeitskraft selbst besitzt und der Kapitalist ihm als Lohn bezahlen muss. Die Differenz zwischen dem Lohn und dem neu geschaffenen Wert ist der Mehrwert. Indem ihr unter dem Begriff «Wert der Arbeit» den Wert der Arbeitskraft (den Lohn) mit dem Wert des Arbeitsproduktes zusammenwerft, sucht ihr die Quelle des Mehrwerts in einer «Ungerechtigkeit»: Die Kapitalist*innen entlohnen die Arbeiter*innen einfach ungerecht. So bleiben wir gefangen in ohnmächtigen Moral-Appellen. Ein richtiges Verständnis der Mehrwerttheorie hat aber zwingend revolutionäre Konsequenzen. Die Produktionsmittel sind das private Eigentum der Kapitalisten. Das bedeutet, dass die Lohnabhängigen über die Verwendung des von ihnen selbst geschaffenen gesellschaftlichen Reichtums nicht das Geringste zu sagen haben. Er befindet sich in den Händen der Kapitalisten und kann in deren Händen gar nicht der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung dienen, sondern nur ihrer weiteren Anhäufung von Kapital – ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt. Das ist nicht einfach «ungerecht». Das bedeutet vor allem, dass die arbeitende Mehrheit der Weltbevölkerung sich in der Geiselhaft einer kleinen Minderheit befindet, die uns an die Wand fährt. Es ist unsere Pflicht, die Frage der Enteignung auf die Tagesordnung zu setzen. Nur so kann der kapitalistische Profitzwang gebrochen werden.


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UKRAINE

Links sein im Krieg Text: Vera Diener und Jérémie Reusser

Linke Aktivist*innen haben immer wieder mit den Widersprüchen zwischen Utopie und Alltag zu kämpfen. Doch wenn ein Krieg ausbricht, wird die politische Ideologie Tag für Tag von neuem auf die Probe gestellt. Ein Interview mit einem in der Ukraine stationierten Aktivisten.

Über einen militärischen Konflikt zu schreiben ohne irgendetwas wichtiges zu vergessen oder etwas nicht ausreichend differenziert zu betrachten, ist nahezu unmöglich. Entsprechend handelt es sich bei diesem Einblick um eine Momentaufnahme. Einer möglichen Perspektiven unter Millionen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Wenn die Befürchtung zur Realität wird

Zusammen mit seinen Genoss*innen bereitete Hugo sich bereits früh auf einen eventuellen, vom Kreml angeordneten Angriff vor. Anfangs handelte es sich dabei um ein eher lockeres Vernetzen mit anderen Gruppen. An den Ernstfall glaubten die wenigsten. Doch dann spannte sich die Situation immer mehr an und Ende 2021 wurden Über sich selbst möchte die interviewte Person möglichst wenig er- die Vorbereitungen konkret. Die Gruppe um Hugo bereitete sich nun zählen da sie Repressionen zu befürchten hat. Wir konkret auf eine Invasion vor. Für dieses Szenario nennen sie daher “Hugo». Hugo ist Mitte 20 oder teilten sie sich so auf, dass sich alle ihren Fähig«Im Moment will so. Vor etwas weniger als fünf Jahren ist er, zusamkeiten entsprechend beteiligen können. Manche men mit einigen Genoss*innen, aus einem Nach- man vor allem nicht engagieren sich nun in ziviler Freiwilligenarbeit und von Putin ausgebarland in die Ukraine gezogen, da in seiner Heikümmern sich um Logistik und Versorgung. Andemat die Repression gegen antiautoritäre Strukturen re schlossen sich zu Kriegsbeginn den freiwilligen löscht werden.» und anarchistische Bewegungen stetig zunahmen. “territorial defence forces” an und wurden somit Hugo bezeichnet sich tendenziell als Anarchist, Anarcho-Kommunist ins Militär eingegliedert. Hugo ist Teil einer solchen Einheit,die in oder Anarcho-Sozialist. Kontaktiert werden konnte er dank interna- seinem Fall vor allem aus Anarchisten, Sozialisten und Antifa-Hoolitionaler Vernetzung antiautoritärer Strukturen. gans besteht. Anfangs waren auch Sanitäterinnen dabei, diese wurden jedoch bald an der Front dringend gebraucht. Hugos Einheit ist Auch im Krieg mehr als schwarz und weiss irgendwo im Perimeter um um Kyiv stationiert. Während einige vor Seine Antworten lassen erahnen, dass Hugo nicht zum ersten Mal Infrastruktur “mit taktischer Bedeutung” Wache stehen, werden die mit Journalist*innen spricht. Dreht sich das Gespräch nicht um direkt Anderen an der Waffe ausgebildet. zurückführbare, potenziell gefährliche Informationen über ihn und seine Einheit, erzählt er ausführlich und offen vom Alltag und von Für Hugo widerspricht seine Entscheidung, dem Militär beizutreten, seinen Überlegungen. Spürbar bleibt seine Vorsicht dennoch wäh- keinesfalls seinen politischen Grundsätzen. “Die freiheitliche ukrairend des ganzen Gesprächs. Bloss ein einziges Mal sind im Hinter- nische Gesellschaft wird von der imperialistischen Aggression Pugrund kurz einige Geräusche zu hören. Wenn er spricht, unterbricht tins bedroht”, fügt er an und ergänzt: “Nichts zu tun oder sich bloss er sich oft selbst und denkt nach. Er wägt seine Worte vorsichtig ab, durch moralischen Antikriegs-Pazifismus zu äussern ist ein Akt der um seine Botschaft möglichst präzise zu formulieren. Er spricht von Unterstützung Putins.” Trotz der katastrophalen Ausgangslage, sieht “Putinists” und dem Kreml als Gegner und somit nicht von “Russ- er auch Potential für die Ukraine: “Dieser Konflikt könnte das Schickland” oder der russischen Bevölkerung. Und zwischen Nazis und sal von ganz Osteuropa formen, wenn sich die totalitären Regimes Ukrainer*innen, die sich ihrer Heimat verbunden fühlen, ohne mit an der Ukraine die Zähne ausbeissen. Und es ist eine Chance, eine Faschismus zu sympathisieren, differenziert er genauso. Und auch gerechtere Gesellschaft aufzubauen.” wenn seine Wut über das System immer hörbar ist, spricht er insgesamt doch versöhnlich über Menschen, die seine Utopie nicht teilen.


JUSO Schweiz | 19

Entäuschung und Hoffnung

Eine Ukraine als Linke Utopie, auch vor dem Krieg nirgendwo in Sicht. In Hugos Worten, der ausnahmsweise davon absieht, seine Wort auf die Goldwaage zu legen:“This is still a quite shitty, neoliberal state.” Dabei ist es ihm wichtig, dass sich das “shitty” auf den Neoliberalismus und nicht auf die Ukraine an sich bezieht. Zelenski, anfangs ein Hoffnungsträger, konnte die Erwartungen progressiver Kräfte nicht erfüllen. So verbesserte sich die Lebensrealität der Ukrainer*innen gegenüber dem pre-Euromaidan-Zustand nur geringfügig. Ausserdem beobachteten Hugo und Genoss*innen mit viel Besorgnis, bereits vor dem Krieg eine Zunahme staatlicher Repression. Trotzdem zollt Hugo Zelenski Respekt für seine beeindruckende Leistung in diesem Krieg: “Er zeigt Mut und Haltung. Seine Medienerfahrung setzt er in wirkungsvolle Propaganda um.”

Dann sammelt er sich und führt seine Gedanken aus: “Putins autoritäres Regime, seine Allmachtsphantasien und seine Unterstützung für Rechtsextreme in ganz Europa sind so offensichtlich. Es sollte unmöglich sein, sie so zu verdrehen und Russland am Schluss zum Opfer hochzustilisieren.”

Was nach dem Krieg kommt, kann und will Hugo nicht sagen. Es An die Adresse n der internationalen Linke hat er einige Vorschläge. scheint fast, als hätte er Angst, auf ein baldiges Ende zu hoffen. Darunter ist für alle etwas dabei: Von der Forderung nach SchuldenWenn es aber soweit ist, ordnet er den Entwicklungen grosse Wich- erlass für die Ukraine, über differenzierte Berichterstattung, Spentigkeit bei: ”Die Ukraine wird wohl für verschiedene Ideologien offen den und Flüchtlingshilfe über Freiwilligenarbeit, bis hin zur Teilnahsein” Wer sich dann durchsetzt, muss sich zeigen. Für ihn trotz allem me am bewaffneten Kampf (Anmerkung der Redaktion: Beim Dienst Optimismus auch eine Gefahr:“Auch die Rechtsin einer ausländischen Armee handelt es sich in extremen werden sich diese Chance, eine neue «This is still a quite der Schweiz um eine Straftat.) sieht er zahlreiche Gesellschaft zu formen, nicht entgehen lassen.” shitty neoliberal state.» Unterstützungsmöglichkeiten. Hugo bedauert, dass im Moment noch zu wenige gut organisierte Our closest enemy Strukturen vorhanden sind, um die Einbindung “Es fällt nicht leicht, wenn man im Militär mit den Rechtsextremen von freiwilligen Internationalist*innen zu koordinieren. “Daran wird zusammenarbeiten muss,” schildert Hugo, sich zähneknirschend heute aber gearbeitet, sowohl in den zivilen Hilfsprojekten, wie auch den Befehlen unterordnend. “Rechtsextremen Kämpfer*innen haben im Militär. vorübergehend dasselbe Ziel wie wir.” “My closest enemy” nennt er ”Zu guter Letzt fordert er auch dazu auf, diesen Krieg auch zu nutdiese deshalb. Wie die Einheit mit Nazis umgehen soll - “da sind wir zen, um als Bewegung zu erstarken “Dabei denke ich an die Strukuns nicht ganz einig”, lässt er durchblicken. Mit offen bekennenden turen, die rundum die Solidaritätsaktionen zur Unterstützung von Nazis hatte er bis jetzt nie zu tun. Und auch wenn er bei einigen Rojava entstanden sind.” Militärs, die ihm begegnet sind, einen solchen Verdacht schöpfte – Für ihn ist klar, dass es nur ein Weg vorwärts führt: “An diesem nachgefragt hat er nicht. “Don’t ask, don’t tell”, sozusagen. Kampf müssen wir als progressive Bewegung gemeinsam wachsen. “Im Moment hält man sich fern voneinander, solange es irgendwie Das heisst: Erfahrungen sammeln, Vernetzen geht. Und auch wenn man miteinander arbeiten muss, konzentriert und Austauschen, damit wir man sich auf die Aufgabe”, denn es sei nicht so, dass man eine eines Tages alle der UtoWahl habe, so Hugo. “Solange wir Teil des Militärs sind, müssen wir pie näherkommen.” ohnehin den Befehlen folge leisten.” Für ihn sei dies kein Verrat an ihrer antifaschistischen Haltung. Viel mehr geht es ihm darum, die eigenen Strukturen auszubauen und somit die Bewegung zu stärken. Damit wollen sie verhindern, dass der Faschismus in der Gesellschaft langfristig Fuss fassen könnte. Im Moment will man vor allem nicht von Putin ausgelöscht werden. Verständlich.

Inter- und Antinationale Solidarität

Hugo wundert die Sicht mancher Linken, die im Konflikt einen Krieg zweier imperialistischen Mächten, Russland und der Nato, zu sehen glauben – und dabei das einseitige Kräfteverhältnis ignorieren. “Natürlich ist die Nato eine imperialistische Macht, doch im Vergleich zu Russland ist sie nicht in die Ukraine einmarschiert”, sollte aus seiner Sicht einleuchten. Und schon nur bei der Erinnerung an “Linke”, die Putin feiern und seinen “Entnazifizierungsausflug” unterstützen, fehlen ihm einige Augenblicke lang die Worte.


JUSO SCHWEIZ I N T E R N AT I O N A L

DER ERFOLG DER KPÖ IN GRAZ UND SEINE MÖGLICHKEITEN ÖSTERREICH

Der 26.September 2021 brachte eine handfeste Überraschung in Graz: Die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) mit Elke Kahr an der Spitze wurde mit knapp 29% zur stärksten Partei gewählt, der seit 2003 amtierende Bürgermeister Siegfried Nagl von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) trat zurück, nachdem seine Partei 12% verloren hatte und auf Platz 2 hinter die KPÖ gerutscht war. Nach Verhandlungen wurde schließlich eine Stadtregierungskoalition aus KPÖ, den Grünen und der Sozialdemokratie (SPÖ) gegründet und Elke Kahr wurde am 17.November 2021 zur ersten Frau an der Spitze der Stadt Graz und zur ersten kommunistischen Bürgermeisterin einer Landeshauptstadt in Österreich gewählt. Die Koalition hat sich zum Ziel gesetzt Graz sozialer, ökologischer und demokratischer zu machen und einen Politik- und Kommunikationsstil des Miteinanders, des Zuhörens und Erstnehmens der Sorgen und Anliegen der Menschen zu pflegen.

Die SozialCard, eine freiwillige Sozialleistung der Stadt, wurde aufgestockt und er Bezieher*innenkreis wird erweitert. Bisher waren nur arbeitslose Menschen und Pensionist*innen anspruchsberechtigt, bald werden auch Menschen mit geringem Einkommen davon profitieren können. Auch in den Bereichen Gesundheit und Pflege wurde im Rahmen der kommunalen Möglichkeiten niederschwellige und erschwingliche Angebote für die Menschen geschaffen. Zentral auch: die sogenannten Klubförderungen, d.h. das Geld, das an alle Fraktionen im Gemeinderat geht, wurde gekürzt – und zwar abgestuft, d.h. so, dass die stärkste Fraktion (die KPÖ) prozentual die größten Einbußen hatte. Die freigewordenen Mittel wurden in den städtischen Hilfsfond für Menschen in Notlagen gesteckt.

«Die KPÖ wird versuchen innerhalb des möglichen Spielraums das Beste herauszuholen und sie wird auch versuchen den Spielraum zu vergrößern. Das kann nur gelingen, wenn sie sich auf ihre eigenen Stärken besinnt und ihren Weg unbeirrt weiter geht.»

Enges Korsett

In einer einzigen Stadt einen anderen Weg zu gehen ist denkbar schwierig. Ein Aspekt der neoliberalen Angriffe der letzten Jahrzehnte war immer auch, dass die Kommunen sukzessive weniger finanzielle Mittel, gleichzeitig aber immer mehr Verwaltungsaufgaben aufgebürdet bekamen. Der Spielraum eigenständige Politik zu machen wurde somit eingeschränkt. Dazu kommt, dass die sich verschärfende multiple Krise des Kapitalismus die budgetären Möglichkeiten noch geringer gemacht hat – gerade jetzt, wo immer mehr Menschen die Auswirkung der Krise als Teuerung im Supermarkt oder bei der monatlichen Miete deutlich spüren und die Hilfe der öffentlichen Hand dringend nötig haben.

Klare Handschrift

Trotz dieser schwierigen Bedingungen und obwohl die ersten knapp 7 Monate der neuen Stadtregierung mit einem provisorischen Budget gestaltet wurden (das erste ordentliche Budget für 2022/23 wird Ende Juni beschlossen), wurde schon jetzt deutlich, das sich die politischen Akzente verändert haben. Der „große Brocken“ Ausbau des öffentlichen Verkehrs wird Schritt für Schritt auf Schiene gebracht, auch wenn es für die wirklich umfangreichen Projekte Unterstützung vom Land Steiermark und dem Bund braucht. Städtische Müll- und Kanalgebühren wurden nicht erhöht (die jährliche Indexanpassung ausgesetzt), dasselbe auch bei Jahreskarten für den öffentlichen Verkehr, die Mieten in den gemeindeeigenen Wohnungen wurden nicht erhöht, Bäderpreise sozial umgestaltet.

Den eigenen Weg gehen

Die KPÖ wird versuchen innerhalb des möglichen Spielraums das Beste herauszuholen und sie wird auch versuchen den Spielraum zu vergrößern. Das kann nur gelingen, wenn sie sich auf ihre eigenen Stärken besinnt und ihren Weg unbeirrt weiter geht. Selbstverständlich erfordern bürgerliche Institutionen auch, dass man sich auf sie einlässt mit all ihren Grenzen und Möglichkeiten und dass man ihre Politik beherrscht. Die KPÖ zeigt seit 1998, als Ernest Kaltenegger zum Wohnungsstadtrat wurde, dass sie das kann – teilweise sogar „besser“ als bürgerliche Parteien. Gleichzeitig aber blieb sie ihrem Stil, ihrer Politik immer treu. Es gibt eine Einkommensobergrenze für Parteifunktionär*innen, die Genoss*innen im Stadtsenat und jetzt die Bürgermeisterin geben einen beträchtlichen Teil ihres Gehalts als konkrete Hilfestellung an Menschen weiter. Dabei geht es nicht nur darum Menschen konkret zu helfen, sondern auch klar zu machen, dass Politik für die KPÖ kein Mittel zur Selbstbereicherung, sondern ein Dienst an der Gesellschaft ist. Die KPÖ steht auch als Partei immer mit Rat und Tat zur Seite, versucht die Sorgen des Alltags zu lindern und Anliegen der großen Mehrheit der Bevölkerung Gehör zu verschaffen. Elke Kahr hat immer wieder betont, dass die wichtigste Koalition diejenige mit der Bevölkerung sei. Und solange die KPÖ diesen Weg weiter geht, für die Menschen, mit den Menschen, im Interesse der Menschen, wird sie weder ins System integrierbar sein, noch von der versammelten Gegnerschaft aus Kapital, Medien und anderen Parteien klein zu kriegen sein.

Edition: Infrarot · Theaterplatz 4, 3011 Bern, www.juso.ch – Kontakt: redaktion@infrarot.news, 031 329 69 99 Redaktion : Sandro Covo, Kassandra Frey, Diego Loretan, Elias Erne, Pedro Schön, Xaver Bolliger, Silvan Steinegger, Fabian Eckstein, Daria Vogrin, Silvan Häseli Cover Art: Simona Roth · Design und Layout : Silvan Häseli Druck : Druckerei AG Suhr, 5034 Suhr · Das Infrarot erscheint zweimal im Jahr.


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