Journal der Künste 13 (DE)

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JOURNAL DER KÜNSTE 13

AIRBORNE AUF DER SUCHE NACH EUROPA 100 JAHRE RADIO UNGEWÖHNLICHES COMEBACK DEUTSCHE AUSGABE JUNI 2020


S. 5

S. 30  CARTE BLANCHE

S. 60  JUNGE AKADEMIE

EDITORIAL

MANOS TSANGARIS

DIE BESUCHERIN

Werner Heegewaldt

Anna Weidenholzer S. 37  100 JAHRE RADIO

S. 6  KRISE UND KRITIK

DIESE KRISE KOMMT NICHT AUS DEM NICHTS

S. 62  NEUES AUS DEM ARCHIV

RUND-FUNK Oliver Sturm

Wolfgang Kaleck

FUNDSTÜCK ZEITSPRUNG – HAIFA, 1947 ­­– BERLIN,  1933 Maren Horn

S. 41 S. 9

„WIR   VERORTEN UNS DURCH HÖREN“

S. 64

Paul Plamper

AIRBORNE Eva Horn S. 44

EIN UNGEWÖHNLICHES COMEBACK PETER LUDWIG LÜTKES GEMÄLDE LAGO DI NEMI Werner Heegewaldt

S. 13

CORONA-TAGEBUCH, MÄRZ 2020 A. L. Kennedy

„GET   THIS CHARLIE, GET THIS CHARLIE!“ ODER DIE GLAUBWÜRDIGKEITSRESERVEN DES RADIOS

S. 66

Jochen Meißner

„MÖGE   DAS ALLERÄRGSTE NICHT ÜBER MICH KOMMEN!!!“ S. 17

DIE STADT DER AUSNAHME Anh-Linh Ngo

S. 48  THEMA EUROPA

„MIHAELA   UND IHRE TÖCHTER SPIELEN KEINE ROLLE, DIE SIND DEN GANZEN TAG LANG HEXEN“ Johanna-Maria Fritz

S. 21

„ BEDINGUNGSLOSES GRUNDEIN/AUS/KOMMEN JETZT AUSPROBIEREN“ Adrienne Goehler

S. 70

KRISE ALS CHANCE Frank Fath, Anja Lüdtke

S. 53 S. 72

PROGRESSIVER WESTEN UND RÜCK­S TÄNDIGER OSTEN? GEGEN EINE POLARISIERUNG DER KÜNSTE Noémi Kiss

S. 25

IN ZEITEN HINEINLAUFEN

Katharina Rudolph

„ABER   GELD MÜSSTE MAN HABEN“ UNBEKANNTE FRÜHE BRIEFE DES MALERS RUDOLF LEVY Anke Matelowski

S. 56  JUNGE AKADEMIE

Kathrin Röggla

S. 74  FREUNDESKREIS

„ICH   ARBEITE HART DARAN, OHNE JEGLICHE SELBSTZENSUR ZU DENKEN UND ALLE FILTER VON MIR FERNZUHALTEN“ Farhad Delaram

DIE ROLLE DER WIRTSCHAFT IN EINER VERÄNDERTEN GESELLSCHAFT Andreas Dornbracht



Die Flughäfen Tegel und Schönefeld, Ende März. Die Fotografien sind Teil von The Void, einer Video-3D-Ton-Installation über Leere und Stillstand, die derzeit entsteht. Sie thematisiert den sehr kurzen Moment der Schockstarre nach dem fast voll­s tän­­digen Erliegen des öffentlichen Lebens in Berlin: das Dazwischen – einen plötz­ lich entstandenen Raum, eine Falte zwischen der überhitzten Geschäftigkeit vor Ausbruch der Epidemie und einer un­k laren Zukunft. Diese „Zeitfalte“ wurde sehr bald straff­g ezogen von Lebens­w illen, Erfindungsreichtum und Verzweiflung und verschwand in einer Art Inversion des „rasenden Stillstands“.

Eigentlich wollte Julia Baier im April in Italien sein. Doch es kam anders. Sie nutzte die Zeit der eigenen wie allgemeinen Neuorganisation, sich die plötzlichen Veränderungen in ihrem Umfeld mit der Kamera anzuschauen: rasanter Wandel auf der einen Seite, totale Reduktion auf der anderen. Ihre Bilder spiegeln die ambi­ va­­l enten Gefühle dieser Phase wider, sie schwanken von leichtem Unbehagen bis hin zur kraftvollen Klarheit einer bisher ungekannten „Zwischenraumkompetenz“. Eine Decke liegt über Berlin. Wann sie wem auf dem Kopf fällt, wird sich noch herausstellen.

MARINA DAFOVA ist Künstlerin, Designerin und Autorin in

JULIA BAIER lebt und arbeitet als Fotografin in Berlin.

Berlin.  S. 4, 6, 11, 15, 19, 23

S. 3, 8, 12, 16, 20, 24, 29


EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, die Corona-Pandemie hat uns fest im Griff – auch die Akademie field“, die in Leben und Werk des politischen Fotomonteurs einführt der Künste. Noch sind die Folgen für Kunst und Kultur genauso und ebenfalls auf adk.de zu sehen ist. Nachdem der Lockdown die wenig absehbar wie ein Ende der Seuche. „In Zeiten hineinlaufen“ Eröffnung im März verhindert hatte, ist die Ausstellung nun endlich hat Kathrin Röggla ihre Gedanken zur Krise betitelt. Sie beschreibt auch „analog“ vom 2. Juni bis zum 23. August am Pariser Platz zu darin ein Gefühl, das viele von uns teilen werden: die Hilflosigkeit besichtigen. Neue Wege der Vermittlung hat auch das 11. Berliner gegenüber einer unsichtbaren Gefahr, die rasanten Veränderungen, Hörspielfestival gefunden, das im Mai in Kooperation mit der Akademit denen wir täglich konfrontiert sind, und die plötzliche Unplan- mie der Künste stattfand. Erstmals waren alle nominierten Hörspiele barkeit der näheren Zukunft. und Live-Gespräche nicht im Studio am Hanseatenweg, sondern Der fehlende Zusammenhalt in Europa ist eine ganz andere über YouTube als Livestream zu verfolgen. Hörer und Hörerinnen schmerzhafte Erfahrung der zurückliegenden Monate. Auf die Aus- hatten die Möglichkeit, online ihre Wertung abzugeben und die Beibreitung des Virus folgten reflexartig Grenzschließungen, nationale träge eine Woche lang anzuhören. Den 100. Geburtstag des RundEgoismen und Alleingänge. Die Ereignisse haben erneut gezeigt, funks nimmt unser Mitglied Oliver Sturm zum Anlass, die aktuelle wie verletzlich die Idee der europäischen Gemeinschaft und Solida­ Situation des Hörspiels kritisch zu bewerten. Verändertes Hörerver­ rität ist. Europa wird ein Programmschwerpunkt der Akademie im halten, Sparzwänge der Sender und politischer RechtfertigungsHerbst dieses Jahres sein. Das Projekt „Europäische Allianz der druck haben die Spielräume im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Akademien “ will 50 europäische Kunstakademien und Kulturinsti- erheblich eingeengt. Der alleinige Blick auf Quoten und Marktgäntutionen in Dialog bringen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit gigkeit der Produkte birgt die Gefahr, dass Programmvielfalt und ausloten. Eine zentrale Frage wird dabei sein, wie die Institutionen -qualität, die zur Erfolgsgeschichte des Rundfunks in Deutschland grenzübergreifend für die Freiheit und Autonomie der Kunst eintre- beigetragen haben, dauerhaft verloren gehen. Was für kreatives ten können. Einen Ausblick auf diesen Themenschwerpunkt geben Potenzial gerade im Hörspiel steckt, zeigen exemplarisch die Beizwei ganz unterschiedliche Beiträge in diesem Heft. Die Fotografin träge von Paul Plamper und Jochen Meißner. Johanna-Maria Fritz erzählt in einem Interview von ihrer unge­ Ein Fundstück aus dem Archiv dokumentiert auf ungewöhnwöhnlichen Arbeit über Magie und Hexen in einer Roma-Commu- liche Weise die Freundschaft zwischen dem Psychoanalytiker Max nity in Rumänien. Ihre Bilder werden ab Oktober in der Ausstellung Eitingon und dem Schriftsteller Arnold Zweig, die nach ihrer Flucht „KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“ am Pariser Platz zu sehen aus Deutschland in Palästina ein Exil fanden. Beide haben ein sein, die als Gemeinschaftsarbeit der Mitglieder von OSTKREUZ – kleines Notizbuch aus dem Jahre 1933 genutzt. Für den einen war Agentur der Fotografen mit der Akademie der Künste entstanden es ein Patientenkalender und eine Reminiszenz an die erfolgreiist. „KONTINENT“ erzählt in 22 Positionen vom Leben der Menschen che Berliner Praxis, die er zurücklassen musste; für den anderen in Europa und fragt, was uns verbindet und wie wir zusammen­leben. ein wichtiges Erinnerungsstück an den Freund, das ihm die Witwe nach dessen Tod 1943 schenkte, das er in Ehren hielt und weiterFür die ungarische Schriftstellerin Noémi Kiss ist die Anerkennung der kulturellen Vielfalt Europas ein zentrales Thema. Sie wendet verwendete. Zweig setzte Eitingon mit seinem Roman Traum ist sich gegen eine Polarisierung der Künste zwischen Ost und West, teuer ein literarisches Denkmal. Eine ganz andere Geschichte zwischen Metropole und Peripherie. erzählt ein Landschaftsgemälde des Berliner Klassizisten und Wie viele andere Kultureinrichtungen hat auch die Akademie Akademikers Peter Ludwig Lütke aus dem Jahre 1796. Es bedurfte ihr Programm in den letzten Monaten auf digitale Formate umge- detektiv­ischer An­strengungen, um dem Bild ein „Comeback“ in der stellt und versucht, verstärkt online die Öffentlichkeit zu erreichen. Akademie zu ermöglichen. In der Reihe „Akademie-Mitglieder im Gespräch“ äußern sich Mit­ glieder in Podcasts zu den gesellschaftspolitischen Folgen der Eine anregende Lektüre wünscht Corona-­Krise und zum Potenzial von Kultur in Zeiten des Ausnahme­ Ihr zustands. Einen virtuellen Eindruck von der Ausstellung „John Werner Heegewaldt Heartfield – Photographie plus Dynamit“ vermitteln eine 360°Direktor des Archivs der Akademie der Künste Schau der Ausstellungsräume und die Präsentation „Kosmos Heart-

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KRISE UND KRITIK Anlässlich der gravierenden Veränderungen für Kunst und Kultur in der durch das Coronavirus verursachten Ausnahmesituation haben wir Mit­glieder der Akademie und kooperierende Partner eingeladen, die aktuelle Situation zu reflek­ tieren und deren Folgen für die Gesellschaft zu skizzieren. Der Völkerrechtsanwalt Wolfgang Kaleck beschreibt den historischen Moment als Chance, aus dem Stau ungelöster Krisen eine starke gemeinsame Haltung zum Erhalt der Zivilgesellschaft zu finden. Die Literaturwissenschaftlerin und aktuelle Heinrich-Mann-Preisträgerin Eva Horn sieht in der Pandemie eine Lektion, Überlebensstrategien für den Planeten zu finden: Atem und Atmosphäre als Grundlage von Leben und Überleben. Die Schriftstellerinnen A. L. Kennedy und Kathrin Röggla entwickeln das Schreiben als Tagebuch oder als Sprachvirus zu einem kritischen und partizipatorischen Akt der Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Geschehen. Wie kann sich künstlerische Praxis die derzeitigen Veränderungen aneignen?

DIESE KRISE KOMMT NICHT AUS DEM NICHTS

Anh-Linh Ngo, Chefredakteur und Herausgeber von ARCH+, tritt entschieden für den Erhalt des öffentlichen städtischen Raums ein. Der Kunstpreis-Träger für Architektur 2020 erkennt in den Überwachungsstrukturen der Zukunft die Gefahr, dass Menschen nur noch als Assemblage von Algorithmen gedacht werden.

„So   viel Wissen über unser Nichtwissen […] gab es noch nie“, konstatierte Jürgen Habermas angesichts der aktuellen Krise, und dass wir zwar in unseren komplexen Gesellschaften immer wieder großen Unsicherheiten begegnen würden, diese aktuelle existenzielle Unsicherheit sich aber global und gleichzeitig verbreite. 1 Möglicher­ weise birgt dieses letzte Moment eine Chance: Wir können den Problemen und der Komplexität der Situation nicht länger ausweichen, wie wir es bisher aus guten wie schlechten Gründen getan haben.

Adrienne Goehler analysiert das Dreieck aus Nach­haltigkeit, Entschleunigung und Bedin­ gungs­losem Grundeinkommen als wirksames Instrument gesellschaftlicher Transformation. Im Interview fasst sie die zentralen Thesen ihrer gerade zu diesem Thema erschienen Publi­ kation zusammen. Johannes Odenthal

Wolfgang Kaleck


Aus der Pandemie wurde ein globales Desaster, weil in ihr viele der negativen Entwicklungen der letzten Zeit kulminieren. Da sind zum einen die Entstehungsgründe des Virus und das Ignorieren der Warnungen. Unter anderem Mike Davis hat bereits 2005 in seinem Buch The Monster at Our Door. The Global Threat of Avian Flu (deutscher Titel: Vogelgrippe) vor einem Virus gewarnt, das das Potenzial hat, weltweiten Schaden anzurichten. Auf der Basis umfangreicher Recherchen wies er nach, dass die Mensch-TierNähe, die Entwicklungen der Agroindustrie, insbesondere der Einsatz von Antibiotika und anderen Medikamenten bei der Tierzucht, zu immer wieder neuen Mutationen von Viren führen. Auch der Klima­wandel trage dazu bei. Um diese Gefahr zu bannen, bedürfe es eines globalen, gemeinsam entwickelten Impfstoffes sowie eines funktionstüchtigen weltumspannenden Gesundheitssystems. Was wir stattdessen erlebt haben und was letztlich auch zu den vielen Toten in einzelnen Ländern sowie zum gesellschaftlichen Lockdown führt, ist der durch Austeritätsprogramme verursachte Abbau von Kapazitäten im Gesundheitssystem, die Auslagerung der Medikamenten- sowie Schutzkleidungsproduktion, kurz: der Kapita­ lismus in seinem hässlichen, neoliberalen Gewand. Keine der sich in den letzten 15 Jahren abzeichnenden Krisen ist politisch auch nur annähernd gelöst worden. Die Euro-Krise verschärft sich in der aktuellen Situation, ebenso wie die Weltwirtschaftskrise von 2008 so unzureichend angegangen wurde, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Defizite derzeit verstärkt abzeichnen. Insbesondere wurde kein Versuch unternommen, die corporate power, also die Macht der Konzerne und des Finanzsektors, politisch auch nur einigermaßen einzudämmen, wie sich bereits an der letztjährigen Debatte um den Klimawandel deutlich ablesen ließ. So gewinnen auch in der aktuellen Krise die Großen. Es wird nicht das produziert, was gesellschaftlich benötigt wird, aktuell zum Beispiel Medikamente, Schutzkleidung und anderes. Nicht der gesellschaftliche Wert einer Tätigkeit entscheidet die Entlohnung, sonst müssten Krankenschwestern, Pfleger, Haushaltshilfen, Polizist*innen, Kassierer*innen, Lagerarbeiter*innen und Amazon-Zulieferer*innen wesentlich mehr Geld bekommen als andere Professionen. Ein – nur in manchen wohlhabenden Staaten wie Deutschland wenigstens ansatzweise abgesichertes – Prekariat sowie die Verarmten der Welt sind der aktuellen Krise ungeschützt ausgesetzt: ein Ausdruck der zunehmenden weltweiten wirtschaftlichen Ungleichheit, wie sie Thomas Piketty in seinen Büchern drastisch beschrieben hat. So fehlt Menschen auf der ganzen Welt der Zugang zu wesentlichen Gütern wie Gesundheit, sauberem Wasser, einer ordentlichen Behausung sowie vernünftiger Nahrung. Der Umgang mit der aktuellen Situation, insbesondere in autoritär regierten Ländern, spricht den Leiden und Problemen vieler Menschen Hohn. So entlarven sich alle rechtspopulistischen Regierungschefs als nicht nur inkompetent, sondern fahrlässig kriminell. Erschreckend nur, dass ihre simplizistischen Rezepte, wie die Renationalisierung und die Grenzschließung als Mythos, nach wie vor funktionieren, ebenso wie der Glaube an den autoritären Staat. Der Trend zu Verpolizeilichung und Militarisierung ist insbesondere in Osteuropa, Russland, aber auch in Asien und Teilen Lateinamerikas

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deutlich zu spüren. Der Ausnahmezustand wird von Herrschern wie Modi in Indien oder Orbán in Ungarn benutzt, um ihre Macht weiter auszubauen – für Beobachter der jeweiligen Szene keine Überraschung, zumal jede politische Chance versäumt wurde, diesen Überzeugungstätern im Vorhinein das Handwerk zu legen. Die Geschäfte waren allemal wichtiger. Wenn man das Zivilisationsniveau unserer Gesellschaften daran bemessen wollte, wie sie mit nicht geliebten Minderheiten umgehen, würde man zu schockierenden Befunden gelangen. Das betrifft nicht nur die Migrant*innen, deren katastrophale Lage, insbesondere an der griechisch-türkischen Grenze, alle Vorstellungen übertrifft – zumal, wenn man bedenkt, dass ein Großteil von ihnen vor dem verbrecherischen Regime des Präsidenten Assad und einem verheerenden Bürgerkrieg in Syrien geflohen sind. Aber auch die Zustände in Gefängnissen, psychiatrischen Einrichtungen und leider eben auch Alters- und Pflegeheimen sind nicht erst seit dieser Krise erschreckend. Dass dann nun auch noch der Überwachungskapitalismus, wie ihn Shoshana Zuboff treffend bezeichnet, als Lösungsvorschlag diskutiert wird – und zwar sowohl in der Orwell’schen Variante des chinesischen Staatskapitalismus als auch in der „Light“-Version in Westeuropa und Nordamerika –, macht deutlich, dass wir von Krise zu Krise schlittern, ohne auch nur ansatzweise politische Lösungen ernsthaft zu diskutieren. Dies gilt insbesondere, weil die Zivilgesellschaft als ein möglicher Hoffnungsträger für politische Veränderungen in Bedrängnis und zum Teil in großer Gefahr ist. In großer Gefahr ist sie dort, wo Oppositionelle verhaftet, gefoltert und ermordet werden, also in etwa 100 Staaten der Welt. Aber auch in Deutschland und Europa beschleunigt die aktuelle Krise verhängnisvolle Entwicklungen, wie die Verschärfung der Klassengegensätze in schulischer und universitärer Bildung oder die Digitalisierung ohne gesellschaftliche und sonstige Kontrolle, die sich nicht nur in Überwachung, sondern auch in der Veränderung von Kultur und Kommunikation äußert. Nicht zuletzt drohen aufgrund der Gentrifizierung in unseren Städten alle alternativen Räume zu verschwinden – und dies sind nicht nur Kultureinrichtungen im engeren Sinne, sondern alle Räume, wo sich Menschen treffen, miteinander reden, sich austauschen, wo Ideen entstehen konnten, ohne dass der Konsum alles regiert. Was tun? Wir müssen die großen Fragen stellen! Wie wollen wir leben, in Solidarität, als Weltbürger*innen oder verschanzt in unseren grünen Nachbarschaften und gated communities? Organisieren wir uns und stellen uns denen, die all diese Missstände verantworten, in den Weg – so wie es Noam Chomsky oder Achille Mbembe fordern, der dazu aufruft, aus dem erzwungenen Stillstand eine „voluntary cessation, a conscious and fully consensual interruption“ 2 zu machen? 1

I nterview mit Markus Schwering im Kölner StadtAnzeiger, „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“, 3.4.2020 2 Achille Mbembe, The Universal Right to Breathe, in: Critical Inquiry, 13.4.2020

WOLFGANG KALECK ist Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR e. V.).

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AIRBORNE Eva Horn

CORONA, DIE LUFT UND DAS KLIMA – WAS UNS DIE KRISE LEHRT

Seit der Antike sind es die Winde, die die Seuchen bringen. Schon in Hippokrates’ Schriften über Epidemien tragen manche Winde bestimmte Arten des Fiebers mit sich. Auch die Jahreszeiten, ihr je­­ weiliger Ablauf – also ein besonders kalter oder zu warmer Winter – erzeugen nach Ansicht der hippokratischen Medizin die Häufung bestimmter Krankheiten in einer Region. Und natürlich, so glaubte man, gibt es gesundes oder krankmachendes lokales Klima. Über Jahrtausende und verschiedene Kulturen hinweg ist es also die Luft, die Krankheiten bringt. In der traditionellen chinesischen Medizin heißt Fieber shangfeng, „vom Wind verwundet“, auf Indonesisch ist die Bezeichnung für eine Erkältung noch immer masuk angin, „der Wind ist eingedrungen“. In Europa glaubte man jahrhundertelang, Böden, besonders feuchte Zonen wie Moore oder stehende Gewässer strömten krank machende Dünste aus. In den Städten standen besonders die Abwasserkanäle, Sinkgruben, Gerbereien oder auch Friedhöfe unter dem Verdacht, durch ihren Gestank Krankheiten zu verbreiten. So war die Luft – lange vor der heutigen Luftverschmutzung – ein Gegenstand der schlimmsten Befürchtungen: Sie enthält die Ausdünstungen des Bodens und anderer Körper, die Abbauprodukte von Fäulnisprozessen (sogenannte „Miasmen“ oder „Exhalationen“), Hautschuppen, Gestein, Pflanzen, Schweiß, Staub, Insektenlarven, Pollen, Samen, Fette, weitere Gase, Wasserdampf, Schwefel, Salze, Asche etc. Weder in der Stadt noch auf dem Land war man vor diesen Dünsten sicher, und so gibt es eine Flut von Ratschlägen, wie man sich vor ihnen schützen könne: regelmäßig lüften (oder auch gerade nicht), stark riechende Essenzen vor die Nase halten, nicht mit dem Gesicht zum Boden schlafen, Nordwinde in die Wohnung lassen, aber Südwinde nicht. Der Schirokko, so glaubte man, kann Seuchen, Wahnsinn und Gewaltverbrechen auslösen. So trägt die Luft nicht nur Krankheiten von Mensch zu Mensch (wie wir heute wissen), sie wurde selbst als Krankheitserreger verstanden. So veraltet diese medizinischen Theorien sein mögen, sie drücken etwas aus, was heute noch richtig ist: Luft ist nicht nur ein Medium des physischen Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen. Sie ist auch ein Medium des Sozialen.1 In Gesellschaft zu sein, heißt, in einer gemeinsamen Luft, aber auch einer gemeinsamen Atmosphäre zu sein. Es bedeutet, etwas miteinander zu teilen, das nicht nur aus Stimmungen und Affekten besteht, sondern eben auch aus allen möglichen Dingen, die irgendwo zwischen Natur und Kultur an­gesiedelt sind: Aerosole, Feinstaub, Körpergerüche, CO2 – und eben auch Krankheitserreger. Luft ist damit, wie Bruno Latour formulierte, nicht einfach nur ein „matter of fact“, eine sachliche Ge­gebenheit, sondern auch – das wissen wir spätestens seit Luftverschmutzung und Klimawandel – ein „matter of concern“, eine

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politische Streitsache. Luft ist Gesellschaft, Gesellschaft ein gemeinsames In-der-Luft-Sein.2 Noch in Adalbert Stifters Erzählung Granit aus der Mitte des 19. Jahrhunderts heißt es über die Pest: „Man weiß nicht, wie sie gekommen ist: haben sie die Menschen gebracht, ist sie in der milden Frühlingsluft gekommen, oder haben sie Winde und Regenwolken daher getragen: genug, sie ist gekommen …“.3 Die Menschen oder die Witterung? Zu uns nach Wien kam Corona bei schönstem Frühlingswetter Mitte März. In den ersten Tagen der Ausgangssperre war es verführerisch warm, die Stadt blühte, und so schwärmten auch die Wienerinnen und Wiener hinaus ins Grüne. Freundinnen teilten sich eine Cola-Dose, kleine Gruppen picknickten, junge Männer standen beisammen und rauchten. Niemand hielt sich allzu penibel an die Anordnung der Polizei, nur allein oder in der Familie spazieren zu gehen. Noch einmal sah man, gleichsam im Moment seiner Auflösung, dass das Soziale darin besteht, gemeinsam in der Luft zu sein, eine gemeinsame Luft zu teilen – und sei es um das Risiko der Ansteckung. Corona, so lernen wir im Epidemiologie-Crashkurs, den uns Medien und Politik in den letzten Wochen verabreicht haben, ist eine durch die Luft übertragene Krankheit.4 Sie verbreitet sich vor allem durch feinste Tröpfchen, die beim Husten ausgestoßen werden, für kurze Zeit in der Luft schweben können und auf der Haut und auf Flächen haften bleiben. Eine airborne disease, eine in der Luft schwebende Krankheit. Und so ist die Luft – als jahreszeitliche Witterung, als Überträgermedium, aber auch als plötzlich zurückgehende Luftverschmutzung – eine Art dauerhaftes HintergrundThema der Corona-Krise. Immer wieder wurde von Epidemiologen – aber auch informationsresistenten Nicht-Epidemiologen wie Donald Trump – die Frage ventiliert, ob sich die dramatische Infektionswelle mit dem Wechsel der Jahreszeit abschwächen könnte.5 Viele ansteckende Krankheiten haben tatsächlich saisonale Rhythmen, am bekanntesten die Grippe. Aber auch die Pest trat gern im Frühling auf, weil sie von Flöhen übertragen wird, die nur bei über 10 Grad Celsius aktiv sein können. Nur ist Corona – Gott sei Dank! – nicht die Pest und hält sich daher, wie es scheint, auch nicht brav an die Jahreszeitenregel. Überhaupt sind Pandemien nicht selten die Auflösung jeder Regel und Gesetzmäßigkeit, auch der sozialen. Sie sind ein ganz anderer Katastrophentyp als Erdbeben, Überschwemmungen, sogar Krieg und Flucht. In diesen Desastern findet, so hat die Katastrophensoziologie beobachtet, nicht selten ein gesellschaftliches „Zusammenrücken“ statt, eine plötzliche, spontane Solidarität, fragil, aber für den Augenblick beflügelnd. Man überlebt, weil man sich gegenseitig hilft. Rebecca Solnit hat dieses Phänomen als ein „Paradies inmitten der Hölle“ beschrieben, ein Aufwallen von sozialer Nähe, praktischer Nützlichkeit und individuellem Heroismus.6 Seuchen dagegen affizieren nicht nur einzelne Körper, sondern das soziale Gewebe selbst. Hilfe ist gefährlich, wenn nicht gar tödlich für den Helfenden – und nicht selten nutzlos für den Kranken. Bei Stifter heißt es in brutaler Lakonie von der Pest: „Die Kinder liebten ihre Eltern nicht mehr und die Eltern die Kinder nicht, man warf nur die Toten in die Grube, und ging davon.“ 7 Krankheiten wie die

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Pest oder auch Ebola erlauben kaum (außer in massiven Schutz- leicht ist Corona damit auch eine Chance zur Reflexion. Vor der Krise anzügen) eine Fürsorge für die Kranken. Und sie verbieten einen war eine nennenswerte CO2-Steuer in Österreich und Deutschland letzten Abschied von den Verstorbenen in den Ritualen der Beiset- mit Blick auf die Wirtschaft oder den Verkehr undenkbar und – wie zung.8 Seuchen isolieren, wie wir jetzt gerade bemerken. Wir dür- es immer hieß – „politisch nicht durchsetzbar“ (wenngleich in Brifen uns nicht nur nicht berühren, wir dürfen nicht mehr die gleiche tish Columbia oder Schweden schon erfolgreich umgesetzt).11 MittLuft atmen. Das ist der Kern des Social Distancing. lerweile haben wir gelernt, dass im Fall einer gravierenden BedroEine Ironie der Geschichte ist nun, dass durch die radikale hung der Bevölkerung ganz andere Dinge durchsetzbar sind als eine Reduktion des Flugverkehrs, der Auto- und Industrieabgase und läppische Steuer: Ausgangssperren, massive Eingriffe in den Staatsnicht zuletzt durch die scharf abgebremste Produktion aller mög- haushalt, eine radikale Umstellung der Arbeitswelt. lichen Güter die Luft plötzlich besser geworden ist. In China ist die Vieles davon wird unser Leben massiv verändern, auch wenn wir Feinstaub-Belastung während des Shutdown um ein Viertel zurück- vielleicht irgendwann mal alle immun gegen SARS-CoV-2 sind (oder gegangen, in manchen Städten sah man zum ersten Mal seit 20 Jah- tot). Vielleicht, so denke ich manchmal, ist diese Pandemie eine böse, ren wieder den blauen Himmel.9 Die Todesfälle, die Corona fordert, bittere List der Luft. Sie erinnert uns daran, dass sie ein Medium ist, werden dort gegengewichtet durch den zeitweisen Rückgang von das Mediums des Lebens, aber auch der gesellschaftlichen Existenz: Atemwegs- und Herzerkrankungen aufgrund der schweren Luftver- vom Atemzug über die Ansteckung bis hin zur Atmosphäre des Plaschmutzung. Während man aber schlechte oder bessere Luft immer- neten. Es ist keine Frage, dass die Veränderung in der Zusammenhin ein Stück weit sinnlich wahrnehmen kann, durch den Geruch, setzung der Erdatmosphäre kaum weniger einschneidend sein wird durch das Gefühl beim Atmen oder auch einfach durch den Anblick als Corona – aber vielleicht erst für unsere Enkel. Wo der Klimawandes graugelben Smogs, gibt es eine andere Pathologie der Luft, die del – wenngleich seit 40 Jahren ein bekanntes Faktum – bislang nur absolut nicht wahrnehmbar ist: der Anteil an CO2 und anderen Treib- ansatzweise geschafft hat, zur sozialen Streitsache, zum Anlass hausgasen in der Atmosphäre, auch bekannt als Klimawandel. Nicht- durchgreifender Maßnahmen und einer internationalen politischen Wahrnehmbarkeit ist das, was SARS-CoV-2 und Klima­wandel Koordinationsanstrengung zu werden, hat Corona zumindest erstegemeinsam haben: einen unspürbaren Bestandteil der Luft. res in einem brutalen, unvorstellbar zerstörerischen Handstreich Der Klimawandel und die zahlreichen anderen massiven Verän- geschafft. Corona erteilt uns eine Lektion – und zwar nicht nur über derungen des Erdsystems, die wir mittlerweile unter dem Schlagwort unzureichenden Katastrophenschutz, die Nachteile von just-in-timeAnthropozän zusammenfassen (Artenschwund, Landverbrauch, Produktion, globalisierte Lieferketten, mangelnde politische VorausOzonloch, Versauerung der Meere, Wandel von Phosphor- und Stick- sicht, dümmliche Wissenschaftsskepsis und fragile Gesundheitssysstoffkreislauf, Toxine in der Umwelt und vieles andere mehr), ist, wie teme. Corona erinnert uns auch an unseren politischen, ökonomischen ich vor einigen Jahren geschrieben habe, eine nicht-wahrnehmbare und individuellen Handlungsspielraum. Wenn wir – hoffentlich bald Katastrophe ohne Ereignis.10 Eine schleichende Verschiebung von – zurückkehren in den sozialen Raum des gemeinsamen In-der-LuftFaktoren, die das hochkomplexe Erdsystem bestimmen und in jener Seins, wenn wir endlich wieder mit Freundinnen am Esstisch sitzen ungewöhnlichen Stabilität halten, die das Holozän prägte. Die und mit Kollegen am Besprechungstisch, werden wir diese Lektion Corona-Krise dagegen ist eine Katastrophe als Ereignis schlecht- umsetzen müssen. Bis dahin heißt es: Luft anhalten. hin: der plötzliche, traumatische Einbruch sehr vieler Strukturen, die unser soziales und privates Leben bestimmt und bestritten haben. 1 E va Horn, The Air as Medium, in: Grey Room 73 7 Stifter 1994, S. 34 (2018), S. 6–25 8 Amy Maxmen, How the Fight Against Ebola Das sind nicht nur Arbeitswelt und Arbeitsplätze, denen wir unseren 2 Bruno Latour, Why has Critique Run Out Tested a Culture’s Traditions, in: National Geoof Steam. From Matters of Fact to Matters graphic, 20.1.2015, https://www.national Lebensunterhalt verdanken, sondern auch die sozialen Netze und of Concern, in: Critical Inquiry 30 (2004), geographic.com/news/2015/01/150130-ebola Tätigkeiten, die bestimmen, wer wir sind. Jetzt merken wir: Die Luft S. 225–248 -virus-outbreak-epidemic-sierra-leone 3 Adalbert Stifter, Granit, in: ders., Bunte Steine -funerals/ mit anderen zu teilen, hat in vieler Hinsicht unsere Existenz bestimmt. [1853]. Stuttgart 1994, S. 33, fortan Stifter 9 Lauren Summer, Why China‘s Air Has Been 1994 Cleaner During The Coronavirus Outbreak, in: Allerdings war diese soziale und ökonomische Existenz – als 4 Neeltje van Doremalen, Trenton Bushmaker NPR, 4.3.2020, https://www.npr.org/sections Reisende, Arbeitende, Konsumenten, Produzenten – eine, die ihrerund Dylan H. Morris, Aerosol and Surface /goatsandsoda/2020/03/04/811019032 Stability of SARS-CoV-2 as Compared with /why-chinas-air-has-been-cleaner-during seits in Form von Klimawandel, Luftverschmutzung und Ozonloch SARS-CoV-1. Letter to the Editor, in: New -the-coronavirus-outbreak England Journal of Medicine, 17.3.2020 (o. S.) 10 E va Horn, Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am genau das Medium angetastet hat, das ihnen zugrunde liegt: die Luft. 5 A ndrew Freedman und Jason Samenow, Corona­ Main 2014. Zum Anthropozän siehe Eva Horn Die Corona-Krise unterbricht nicht nur das Wirtschaftsleben, sonvirus may have a seasonal cycle, but that und Hannes Bergthaller, Anthropozän: zur Eindoesn’t mean it will go away this summer, führung, Hamburg 2019 dern auch den rasant, aber unspürbar sich vollziehenden Klimawanexperts warn, in: Washington Post, 11.3.2020, 11 Dass es doch geht und sogar gut funktioniert, https://www.washingtonpost.com/weather hat sich in einigen konkreten Fällen längst del. Corona zwingt zum Innehalten, zum Durchbrechen von Routinen /2020/03/11/coronavirus-may-have-seasonal gezeigt. Siehe Government of British Columbia, und Alternativlosigkeiten. Es ist – im Guten wie im Schlechten – ein -cycle-that-doesnt-mean-it-will-go-away-this British Columbia’s Carbon Tax, https://www2 -summer-experts-warn/ .gov.bc.ca/gov/content/environment/climate Versuchslabor politischer Kontingenz. Wir sehen: Alles könnte auch 6 Rebecca Solnit, A Paradise Built in Hell. -change/planning-and-action/carbon-tax New York und London 2009 anders sein. Die ehernen Gesetze des Wirtschaftswachstums und der Stabilität der Arbeitsmärkte, die Notwendigkeit des Arbeitens bis EVA HORN ist Professorin für Neuere deutsche Literatur zum Burnout, die Unvermeidlichkeit massenweisen Konsums und und Kulturtheorie an der Universität Wien. Sie ist Gründerin Reisens – all das hat sich für einen kurzen und unheimlichen Moment des Vienna Anthropocene Network und Autorin von Zukunft als etwas erwiesen, das auch anders oder gar nicht sein könnte. Vielals Katastrophe (2014).

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CORONA-TAGEBUCH, MÄRZ 2020 A. L. Kennedy

In meinem Garten wachsen die Blumen, wie sie es immer getan haben, aber jetzt sind sie schöner. Fast unerträglich schön. Gestern segelte ein Bussard in der unheim­lichen Ruhe über mir – es wirkte wie ein Segen.

Zuhause eingesperrt habe ich mehr Zeit zum Nachdenken. Ich werde ziemlich schnell jemand anderes, ich weiß bloß nicht wer. Ich hoffe, ich werde jemand, der auf Freundschaft baut und gebaut ist. Der Brexit war immer unfreundlich – Unwissenheit, Furcht, Hass: die machen uns unfreundlich, oder es fehlt uns ohnehin an Freundlichkeit, und wir machen es noch schlimmer. Beim Brexit ging es immer um Rassismus, aber auch um absichtliche Unwissenheit. Rassismus kann nur auf vielen Lagen verwickelter und immer schriller sich äußernder Ignoranz existieren. Und darunter liegt natürlich noch die Angst, die Inkompetenz, das Wissen um die offensichtliche und ungewöhnliche persönliche Widerwärtigkeit unserer Eliten und Lenker. Der unendlich zornige Mann in der Ecke des Pubs, der wutschnaubende Frauenschläger, der nie geliebte Privatschüler, der hochrangige Politiker und der Propagandist, der so gierig ist, für ausländische Finanzierung das eigene Land zu verraten – die sind im Herzen hässlich. Ebenso die Leerverkäufer an der Börse, die fröhlich von politisch motiviertem und finanziertem Insiderhandel profitieren, und die Mittelmäßigen, die nur durch Doppelzüngigkeit und Grausamkeit Erfolge feiern können. All diese Gestalten triumphieren derzeit in unseren Medien, in unserem öffentlichen Diskurs, in unserer Regierung. Grausamkeit regiert, und sie bringt uns um. Einzelne Bürger, die um Fakten wissen und die Realität schätzen, haben ihr Leben hier jahrelang so einrichten müssen, als würden sie ständig mit einem Wahnsinnigen im Regen reden. „Warum gehen Sie nicht hinein? Es regnet.“ „Es regnet nicht.“ „Aber schauen Sie doch den Himmel an, das nasse Pflaster, sehen Sie, wie der Regen ganz offensichtlich so fällt, wie es Regen an sich hat.“ „Es regnet nicht, Sie Drecksack.“ „Sie sind nass. Ihre Kleidung ist nass. Sie müssen ins Haus gehen.“ „Sie lieben Ihr Land nicht. Warum heiraten Sie keinen schwulen Flüchtling, wenn Sie glauben, dass es regnet?“ „Ich glaube nicht, dass es regnet. Ich weiß, dass es regnet.“ „Fake News. Ich werde genau hier im Nichtregen stehenbleiben, bloß um es den versifften Linken zu zeigen, Sie schwuler schwarzer pädophiler Trans-Moslem. Wir beobachten Sie. Wir werden Sie in Ihrem Haus erledigen.“

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Heute habe ich die Wäsche in der Sonne aufgehängt. In jeder Handlung lag nichts als Freude. Weit weg, über den Zaun, riefen sich die Menschen etwas zu und hielten lebensrettenden Abstand. Meine Tage bestehen aus Mail, Textnachrichten, Tweets, Zoom-Meetings, ich nutze alle modernen Kommunikationswege, um sicherzustellen, dass es Freunden und Fremden gutgeht. Alle sind jetzt wichtiger geworden, wo wir alle bald tot sein können. Aber wir können alle immer bald tot sein. Wir hätten immer wichtig sein sollen. Ungefähr ein Drittel unserer Bevölkerung ist geübt in kognitiver Dissonanz und erlernter Hilflosigkeit, ist rasch bereit, Fakten zu misstrauen und magischem Denken zu vertrauen, in ihrer selbst verschuldeten Wüstenei Trost in Wut und Hass zu suchen. Das war schon vor Covid-19 ein Problem. Es hat unsere Demokratie zerstört und war gerade dabei, auch unsere Wirtschaft zugrunde zu richten, da massive Finanzvergehen unter dem allumfassen-

gen des Kontinents mit der Krankheit, seine Kompetenz und sein medizinisches Material ignoriert – weil Europa der Feind bleiben muss. Unsere Regierung hat, während ich dies schreibe, noch keine Ausstattung von der EU angefordert, hat keine irischen Beatmungsgeräte beschafft, denn die sind ja europäisch und dürfen nie als hilfreich gelten, und wenn es uns umbringt. Unser Premierminister ist ein beschränkter, mittelmäßiger Soziopath, ungeeignet für jede Art von Führungsposition. Bisher war er unfähig, klare Informationen zur öffentlichen Sicherheit zu erlangen, zu behalten oder weiterzugeben. In meinen Zeitungskolumnen habe ich ihn Popo, den Killerclown genannt, weil er allem Anschein nach keinen anständigen menschlichen Namen oder Ehrentitel verdiente. Und seither ist er noch tiefer gesunken. Ein Freund, der Krebs hat, wird jetzt monatelang keine Behandlung mehr bekommen. Eine Freundin zeigt CovidSymptome. Ein weiterer Freund macht sich Sorgen – seine ganze Familie arbeitet im National Health Service. Niemand möchte, dass geliebte Menschen allein sterben müssen. Niemand möchte allein sterben, auf dem Trockenen ertrinken. Popos wichtigster Berater Dominic Cummings hat enge Verbindungen zu Russland und zu eugenischer Pseudowissenschaft; der Eindruck verdichtet sich, dass er eine Reihe sadistischer Experimente zur Bevölkerungsreduzierung und Massenmanipulation in ungeheurem Maßstab durchführt. Zeit und Geld, die eigentlich für klare Botschaften, Schutzausrüstung für Krankenhauspersonal, finanzielle Unterstützung für Unternehmen und Einzelpersonen hätte genutzt werden sollen, wurden stattdessen in Online-Propaganda gesteckt, die uns rassistische Themen aufdrängten, der EU für alles und jedes die Schuld gaben und die Folgen oder auch nur die Existenz einer tödlichen Krankheit kleinredeten.

Ungefähr ein Drittel unserer Bevölkerung ist geübt in kognitiver Dissonanz und erlernter Hilflosigkeit, ist rasch bereit, Fakten zu misstrauen und magischem Denken zu vertrauen … den Deckmantel des Brexits verhüllt wurden – diesem Begriff, der nichts und alles bedeutet. Jetzt bricht die Infektionswelle über uns herein. Jetzt wird es tödlich, die Realität zu ignorieren. Schnelle und rationale Reaktionen entscheiden jetzt über Leben und Tod. Die Menschen, die darauf dressiert sind, sich mit den Fakten anzulegen, egoistisch zu sein, sterben jetzt. Die Kinder des Brexits sind verwirrt, vertrauen den Experten nicht mehr, klammern sich an ihre angebliche rassische Überlegenheit – aber ihre Propaganda wird sie nicht retten. Sie könnte sie vielmehr umbringen, sie und ihre Familien. Sie stecken sich an. Sie stecken andere an. Sorgfältig gesteuerte Dummheit ist schon lange in unsere Demokratie gefahren – sie hat sich immer schon wie ein Virus verhalten. Jetzt lässt sie einen herein. Unsere Regierung, infiziert von Schrottwissenschaft, Grausamkeit und eugenischen Mythen, hat die Ansteckung aktiv zu befördern gesucht. Das führte dazu, dass wir im Kampf um die Begrenzung der Opferzahl mindestens drei Wochen verloren haben. Man hat die Erfahrun-

Je mehr wir leiden, desto mehr profitieren die Hedgefonds, die gegen unsere Wirtschaft wetten. Unser endgültiger harter Brexit-Crash ist früher gekommen, als sie dachten, und Popos Geldgeber – Leute wie Crispin Odey – sind begeistert. Ich bin nicht krank, nicht sehr, aber mir steckt ein Wutschrei in der Brust. Der geht nie weg. In meiner Kindheit und Jugend begann Großbritannien, sich mit seiner Geschichte von Raub, Sklaverei und Zerstörung auseinanderzusetzen – dem wahren Erbe des Empires. Unsere letzte große Krise – der Zweite Weltkrieg – hatte dazu geführt, dass die Öffentlichkeit nach stabiler Infrastruktur und Sicherheitsnetzen für Kranke, Schwache, Bedrängte verlangte. Es gab zumindest ansatzweise die gesellschaftliche Übereinkunft, dass so etwas für eine funktionsfähige Demokratie notwendig war. In den 1970er Jahren erlebte unser Bildungssystem seinen Höhepunkt: Das Kind stand im Mittelpunkt, Schule war flexibel, fordernd, facettenreich und fantasievoll. Faktenwissen war nicht problematisch oder politisch

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Und in China ist die Luft sauber, in Venedig das Wasser klar. Gemeinsam könnten wir diese Welt retten. Wir haben unser Leben verändert, um uns zu schützen, wir könnten es wieder tun, gründlicher, besser. belastet – sondern wurde gefeiert. Sozialer Aufstieg war möglich, viele Menschen konnten ungeachtet ihres gesellschaftlichen Hintergrunds erfolgreich sein. Niemand konnte mehr behaupten, dass manche Menschen zu Verbrechern oder Versagern, dass sie nutzlos oder minderwertig oder zum Herrschen geboren waren. Wenn Menschen im Netz glücklich, traurig, ängstlich, einfach nur sie selbst sind, werde ich von Mitgefühl überwältigt. Der Anblick von Gesichtern erzeugt eine Dankbarkeit, die ich schmecken kann. In den 1980er Jahren begann der Neoliberalismus, alle Gemeinschaftsgüter zu verscherbeln, alles, was dem Staat gehörte und Menschen unterstützte. Seither wird das Leben für alle außer die Reichsten immer mehr zum darwinistischen Daseinskampf. Zahlreiche Stimmen warnten vor den Folgen, sollten wir das Gemeinwohl derart ausweiden. Und jetzt sehen wir sie: massive Kinderarmut, Obdachlosigkeit, Elend, Prostitution, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Sozial- und Gesundheitssysteme, die ihren Zweck nicht erfüllen. In Glasgow gerät eine Wohltätigkeitsorganisation in Nöte, die Obdachlose mit Essen versorgt, sie geht an die Öffentlichkeit, bekommt Spenden – Desinfektionsmittel, Handschuhe, Hühnerfleisch, Reis – wir organisieren uns, wir reagieren, werden widerstandsfähig. Wir merken uns die Helfer, wir merken uns die Profiteure. In den letzten Jahrzehnten hat man uns mit immer unbeholfeneren Geschichten vom Stolz des Empires, von stabiler Selbstständigkeit und einem fiktiven Zweiten Weltkrieg erzählt, in dem weiße Engländer ganz allein den Krieg gegen die Nazis gewannen und gleichzeitig all ihre Werte übernahmen. Wenn ich nach draußen gehe, höre ich hinter der Stille das Geräusch ferner Beatmungsgeräte, die den Sterbenden Leben einzupressen versuchen. Ärztinnen und Krankenpfleger stecken sich täglich an. Sie machen weiter. Die Menschen bleiben widerstandsfähig in einem System, das unsere Führung aus Profitgründen verstümmelt hat. Ich beobachte die einsamen Spaziergänger, die Spaziergänger in Gruppen. Wer hat keine Symptome? Wer wird nächste Woche krank, wer tot sein? Die Behörden testen weiterhin kaum, verfolgen keine Kontakte. Wir haben nur uns selbst, uns zu helfen. Unser Trump-artiger Kampf mit der Realität heißt, dass unser Haus brennt. Natürlich hat sich unser Schmerz seit Jahrzehnten gesteigert, und man musste Sündenböcke finden, während unser Land immer weiter geplündert und vergewaltigt wurde. Die Armen, verdorben durch ansteckende Bedürfnisse, wurden für ihre Armut verantwortlich gemacht. Mitleid war Schwäche, moralisches Verhalten „Gutmenschentum“, schlichter Anstand galt als weich und öde. Großbritanniens schwarze Bevölkerung, immer eine Zielscheibe, musste die kleinen Fortschritte wieder aufgeben, die sie zu einer Zeit erreicht hatte, als das Land seine Vielfalt akzeptierte. Christen, die seit ihrer Taufe keine Kirche mehr gesehen hatten, schmähten auf einmal alle möglichen anderen Religionen, vor allem den Islam und das Judentum. Und jetzt

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werden durch aufwiegelnde Botschaften im Netz Frauen gegen Trans-Menschen aufgehetzt, und niemand erkennt die geplante, absichtliche Ablenkung, die das darstellt. Und Popo regiert immer noch. Sein Gesicht wird schlaff, seine Augen ziehen sich in den Schädel zurück, wenn er versucht, weiter Interesse für seine öffentlichen Botschaften aufzubringen. Er hat sein Leben als emotional gestörter, intellektuell unzulänglicher und finanziell verwöhnter Privatschüler um Lügen herum gebaut – vor allem um Lügen über die EU. Popo wurde zwar mehrmals wegen seiner Lügen gefeuert, doch irgendwie krallte er sich fest, ganz versessen auf die Tyrannei der Schwäche, hungrig nach der Macht, die er nie erlangen konnte, solange er von besseren und klügeren Jungen umgeben war, später von besseren und klügeren Männern. Er wurde zum Fernsehclown, ein Hanswurst von stiller Bosheit, und häufte mehr Reichtum an, mehr Beziehungen, mehr Macht. Während andere politische Gruppen den Hass auf die EU zu ihrem alleinigen Credo machten, konnte Johnson sich ihren neu gewonnenen Einfluss zu eigen machen. Von 2015 bis 2016 schwang die öffentliche Meinung innerhalb weniger Monate um von Desinteresse gegenüber der EU zu völliger Besessenheit von ihr. In meiner Wäsche findet sich ein T-Shirt von einer der vielen Pro-EU-Demonstrationen. Wäre unsere Demokratie nicht so kaputt, hätte keine rechtsextreme Sekte die Macht in meinem Land übernehmen können, obwohl sie bei der Wahl weniger als die Hälfte der Stimmen bekommen haben. Jetzt bringen sie ihre eigene Bevölkerung um – die Alten, die Getäuschten, die Faktenleugner. In diesen seltsamen Tagen gehen mir Lektüre, Bilder, Lieder, so viele Formen von Kreativität direkt ins Herz, viel stärker als sonst – ihre Kraft wirkt klarer. Unser derzeitiges Chaos rührt daher, dass jahrzehntelang die Freude an unserer eigenen Kunst untergraben und zerstört wurde, bis keine Stimmen mehr übrig waren, sich den gefährlichen Scharlatanen in der Regierung und den toxischen Medien entgegenzustellen. Unser Zustand stellt sich ein, wenn man von immer weniger Menschen in der Gesellschaft etwas hört. Wenn man so wenige Geschichten von Kraft und Schönheit hört, dass man sich von schäbigen Lügen täuschen lässt. Wenn man die Stimme seines Herzens ignoriert, seinem Innenleben niemals Ausdruck verleiht und vor dem Innenleben aller anderen Angst hat. Wenn alle wertvollen menschlichen Empfindungen aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden, wenn man seine Fantasie im Stich lässt, seine Fähigkeit zur Veränderung abschaltet. Wenn die alten und die neuen Medien einen mit Zynismus, Selbstmitleid, Egoismus, Überlegenheitswahn und triumphierenden Gewaltfantasien gesättigt haben, wenn man gedrillt wird, die eigene Gattung zu hassen und zu fürchten. Erst hat die Kunst versagt, dann der öffentliche Diskurs, dann die Politik, dann das Gesetz, jetzt die Demokratie. Aber wir organisieren uns, wir arbeiten freiwillig. Wir haben angefangen, einander zu helfen – weil es tröstet

und tröstlich ist. Wir entdecken die wahren und nützlichen Dinge neu. Ich bin so ruhig und entspannt wie seit Jahren nicht mehr. Die Lichter auf dem Fluss sind perfekt, jedes einzelne vollkommen, und es fühlt sich an, als würde ich mich verlieben, aber nicht in einen Menschen, sondern in die Wirklichkeit. Was für eine Erleichterung. Der Medienzyklus mit seinen künstlichen Schockeffekten wird schwächer und wirkt immer mehr wie eine Reihe von Aufforderungen zum Selbstmord. Selbstsucht führt zu Hamsterkäufen, zu Faustkämpfen wegen Toilettenpapier – es sieht schlimm aus. Aber Not ist keine ansteckende Krankheit mehr – sie verbindet uns. Die schlecht bezahlten Arbeitenden – Krankenhausputzkräfte, Transportfahrer, Regalbefüllerinnen – kommen uns endlich so wertvoll vor, wie sie immer schon waren. Menschen betrachten Freundlichkeit als notwendig, als Schlüssel zum Überleben. Die weit gespannten Netzwerke von Extinction Rebellion, Brexit-Gegnern, Protestierenden gegen die Regierung sind es gewohnt, auf sich verändernde Realitäten zu reagieren – viele haben schon auf Pandemie-Hilfe umgestellt. Unsere Regierung versucht Gesetze durchzubringen, die uns unterdrücken sollen, während sie ihre BrexitKatastrophe weiter durchpeitscht, aber wir sind ohnehin den ganzen Tag drinnen und schauen uns Menschen überall in Europa an, die genauso ängstlich und witzig und klug und menschlich sind wie wir, wir sehen sie auf Balkonen singen. Wir kennen sie. Wir kennen euch. Eine rassistische Regierung enthält uns lebensrettende Hilfe vor, nur weil sie aus dem Ausland kommt; der Wahnsinn der Brexit-Haltung wird immer offensichtlicher. Gleichzeitig arbeiten die EU-Bürger, die hier bei uns sind, in unserem Gesundheitssystem und retten unser Leben, sie liefern unsere Lebensmittel, sie helfen uns, nicht zu sterben. Wenn wir dies durchgestanden haben, werden wir nicht dieselben sein. Und in China ist die Luft sauber, in Venedig das Wasser klar. Gemeinsam könnten wir diese Welt retten. Wir haben unser Leben verändert, um uns zu schützen, wir könnten es wieder tun, gründlicher, besser. Vielleicht werden wir uns erinnern, wie viel wir tun können, wie freundlich wir sein können, wie stark, wie widerstandsfähig, wie erfinderisch, wie freudvoll. Letzte Nacht haben Menschen einander im Netz die Venus gezeigt – seht nur, wie hell sie ist, wie viele Frauennamen sie bedecken, wie schön. Schaut auf, schaut auf, schaut hinauf, wenn ihr könnt. Aus dem Englischen von Ingo Herzke

A. L. KENNEDY, geboren 1965, gehört zu den meistbeachteten Autorinnen in Großbritannien. Sie hat mit ihren Short-Story-Sammlungen und Romanen mehrere Preise gewonnen, darunter den Somerset Maugham Award. Viele ihrer Bücher sind ins Deutsche übersetzt, u. a. erschienen 2012 der Roman Das blaue Buch und 2018 Süßer Ernst, beide in der Übersetzung von Ingo Herzke. Kennedy lebt als Autorin, Filmemacherin und Dramatikerin in Glasgow. Seit 2017 ist sie Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Literatur.


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DIE STADT DER AUSNAHME

evangelikale Unterton ist nicht zu überhören, wollte man doch „Elemente der Unordnung“ ausfindig machen, die Verbindung von Armut, Krankheit, Laster und Verbrechen offenlegen und durch SozialreforAnh-Linh Ngo men ausmerzen. „Von Anfang an ist die Stadtforschung mithin in Machtstrukturen verstrickt, in die Macht zu observieren, zu inspizieEIN PLÄDOYER FÜR SOZIALE INTELLIGENZ IN ZEITEN VON CORONA ren und aufzuzeichnen, Teil des panoptischen Regimes im Sinne von Michel Foucault“, wie Rolf Lindner in seinem Grundlagenbuch Walks on the wild side. Eine Geschichte der Stadtforschung konstatiert.1 Doch nicht nur die Stadt, wie wir sie heute kennen, sondern Die Geschichte der Städte im Prozess der Modernisierung ist vor allem eine Geschichte des medizinischen und technischen Fort- auch die moderne Architektur wäre ohne das intime Verhältnis zu schritts. Was wir heute als moderne Stadt kennen, mit Wasserver- Krankheiten wie etwa der Tuberkulose undenkbar gewesen. Darauf sorgung und Kanalisation, befestigten Straßen und Gehwegen, gere- weist die Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina in ihrem kürzgelter Dichte und vollständiger Anbindung aller Haushalte an das lich erschienenen Buch X-Ray Architecture hin: „Die Moderne wurde kommunale Versorgungsnetz, verdankt sich ganz wesentlich dem von Krankheit vorangetrieben. Der Motor der modernen ArchitekAufstieg von Epidemiologie und Bakteriologie. Die unaufhörlich tur war keine heroische, glänzende, funktionale Maschine, die sich wachsenden Städte waren seit dem 18. Jahrhundert von der Tuber- ihren Weg über den Globus bahnte, sondern ein schwacher, zerkulose gezeichnet und wurden im 19. Jahrhundert wiederholt von brechlicher Körper, der in einem schützenden Kokon aus neuen großen Typhus-Epidemien und Cholera-Pandemien heimgesucht. Technologien und Geometrien vom Alltag abgeschirmt wurde.“2 Die Corona-Pandemie legt diese verdrängten Ursprünge der Unter diesem Eindruck bildete sich, ausgehend von England, die neue Disziplin der Stadtforschung heraus, die anfänglich mit einem zeitgenössischen Stadt und der modernen Architektur offen: Sie medizinisch-epidemiologischen Interesse verknüpft war. Pioniere waren immer schon für die Krise angelegt – für den Kampf gegen der Epidemiologie entwickelten Methoden des Mappings, wie sie Krankheit und Seuchen, für Containment, mithin für die Durchsetetwa John Snow bei seiner Untersuchung des Cholera-Ausbruchs zung von Kontrolle und Überwachung. Abstandsflächen, Dichte­ von 1854 in London anwendete. Durch die akribische Nachverfol- obergrenzen und der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur entgung aller bekannten Krankheitsfälle und ihre stadträumliche Auf- puppen sich als Instrumente des Social Distancing avant la lettre. zeichnung konnte er den Infektionsherd auf eine Wasserpumpe in Im Ausnahmezustand offenbart sich das Wesen der Dinge. Wie der Broad Street in Soho eingrenzen – und damit noch vor der wis- anders ließe sich sonst erklären, dass von einem Tag auf den andesenschaftlichen Entdeckung des Erregers und der Etablierung der ren eine neue Normalität eingetreten ist, die vor wenigen Wochen Keimtheorie durch Louis Pasteur im folgenden Jahrzehnt die Über- noch undenkbar schien: Der Rückzug in die Privatheit der Wohnung, die weitgehende Suspendierung des öffentlichen und kultutragung der Krankheit auf kontaminiertes Wasser zurückführen. Solche Erkenntnisse hatten einen gewaltigen Einfluss auf die rellen Lebens, die leeren Straßen, der verwaiste öffentliche Raum. Während die medizinischen Krisen des 19. Jahrhunderts zu Stadtgestalt und die räumliche Konfiguration der Gesellschaft insgesamt. Die großen infrastrukturellen Maßnahmen zur Stadthygiene einem dualen Ausbau von Öffentlichkeit (durch die Anlage öffentund Wohnreform ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts basier- licher Infrastrukturen und Räume) und Privatheit (durch die Reform ten auf entsprechenden empirischen Datenerhebungen und Auswer- des Wohnens und die Verhäuslichung der hygienischen Verrichtungen. Stadthygiene und Wohnreform gingen somit auch aus einer tungen) geführt haben, stehen in der gegenwärtigen Krise beide Wissenschaft hervor, die sich zunächst als Herrschaftswissen her- Errungenschaften auf dem Spiel. Aus Angst vor Ansteckung werausgebildet hatte: der Statistik. Kein Staat ohne Statistik – nicht nur den die öffentlichen Räume der bürgerlichen Gesellschaft als im Wortstamm. Wer über demografische Daten verfügt, kann steu- Gefahrenräume wahrgenommen: Theater, Konzerthäuser, Biblioern und besteuern. Im Zuge der großen Epidemien begann man jedoch, theken, Schulen, Hochschulen, Parks und Plätze sind geschlosdiese Daten auch im Hinblick auf die sozialen Verhältnisse auszu- sen oder nur noch unter strengen Auflagen zu benutzen. Architekwerten. Die Herausbildung eines öffentlichen Bewusstseins für die tur wird auf ihre Schutzfunktion reduziert. Doch das Gefühl von „soziale Frage“ entsprang dabei weniger einem sozialromantischen Privatheit in den eigenen vier Wänden ist trügerisch. Längst hat Impetus als vielmehr der Erkenntnis, dass sich Epidemien nicht räum- sich der bidirektionale Charakter der technischen Infrastrukturen lich begrenzen lassen. Aus Eigeninteresse begann die herrschende offenbart, die ursprünglich aufkamen, um Privatheit zu gewährSchicht nach dem Zusammenhang zwischen den elenden Lebens- leisten. Das ist kein neues Phänomen, aber im Hintergrund der verhältnissen der sich im Kontext der Industrialisierung neu heraus- Zoom-Gruppenchat-Windows werden die Lebensverhältnisse wie selten zuvor ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Die Krise hat die bildenden Arbeiterschaft und den Seuchen zu fragen. Digitalisierung ohne Zweifel vorangetrieben. Allerdings hängen die empirischen surveys nicht von ungefähr Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Maßnahmen zur etymologisch mit dem Begriff der surveillance zusammen, ging es bei den großen Armutsstudien – wie der Maßstäbe setzenden Life Bekämpfung der Corona-Pandemie erscheinen aus medizinischand Labour of the People in London des Stadtforschungspioniers epidemiologischer Perspektive folgerichtig. Vor dem Hintergrund Charles Booth – auch stets um ein moralisches Unterfangen. Der der tiefgreifenden Veränderungen der Stadt und der Gesellschaft

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durch die hygienischen Maßnahmen im 19. Jahrhundert müssen wir uns jedoch fragen, welche Langzeitfolgen die gegenwärtigen Einschnitte für die heutige Stadt und Gesellschaft haben werden. Denn unverändert werden wir nicht aus der Krise herauskommen. Schließlich lassen sich in Krisensituationen Grenzen verschieben, die bis dahin als unverrückbar galten. Nicht von ungefähr spricht der Philosoph Dario Gentili in einem aktuellen Text von der „Krise als Regierungskunst“: „Mit ihrer neoliberalen Ausgestaltung – mit der Krise als Regierungskunst – kommt die Krise also direkt zum Einsatz, um das individuelle Verhalten sowie dasjenige der Bevölkerungen zu regieren: Das ist die Voraussetzung, die es erlaubt, die gegenwärtige Krise geradehin als eine biopolitische zu bezeichnen.“3 Was das konkret für unsere Gegenwart bedeutet, lässt sich an der Debatte um die Corona-App zum Tracking von Krankheitsfällen anschaulich machen. Es mag aus epidemiologischer Sicht gute Gründe für ihre Einführung geben. Staaten wie Südkorea und Singapur, die ohne wirtschaftlichen Shutdown durch die Krise gekommen sind, werden dafür als leuchtende Beispiele angeführt. Die nachgereichte Information jedoch, dass beispielsweise in den USA und Großbritannien überproportional viele farbige Menschen an Covid-19 sterben, zeigt einmal mehr, wie eng die epidemiologische mit der sozialen Frage zusammenhängt. Allerdings macht der Eifer misstrauisch, mit dem die hiesige Politik das Tracking als neue Infrastruktur der Gesundheitsvorsorge aufbauen will und anfänglich auch die Zusammenarbeit mit der umstrittenen Big-Data-Firma Palantir Technologies des Anarchokapitalisten Peter Thiel in Erwägung zog. Die Plattitüde von der „Krise als Chance“ gewinnt hier an Schärfe: Im Schatten der Krise soll die fortschreitende Normalisierung von Überwachungstechnologien durchgesetzt werden. Die Zukunft des Öffentlichen entscheidet sich so gesehen nicht unbedingt an der Nutzung der physischen Räume, die, davon können wir getrost ausgehen, von den Menschen wieder zurückerobert werden, sobald dies aus epidemiologischer Sicht wieder möglich ist. Allerdings wird sich auch dieses Mal der Ausnahmezustand verräumlichen. Wir werden das gesellschaftliche Zusammenleben neu austarieren müssen, solange kein Impfstoff gefunden ist. Wie wir am Beispiel der europäischen Stadt gesehen haben, gehen diese Veränderungen weit über das individuelle und gesellschaftliche Verhalten hinaus. Sie graben sich infrastrukturell in unseren Alltag hinein. Heute findet der eigentliche „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ eher schleichend auf dem Feld der Smart City statt. Wie der Investigativjournalist Hannes Grassegger am Beispiel der Kämpfe in Hongkong beschreibt, leistet die Smart City dem Übergang zu autoritären Systemen Vorschub, sie mutiert zum Feind ihrer Bewohner*innen: „Genau das ist die Angst der Protestierenden. Dass die Smart City von einer pro-chinesischen Regierung gegen ihre Bürger*innen eingesetzt wird. Dass die Smart City in Wahrheit eine Waffe ist, die sich gegen die Bürger*innen richtet. Daher herrscht in Hongkong Krieg gegen die Smart City. Die Smart City ist der Feind.“4 Die Smart City ist zutiefst in den Komplex von Macht und Wissen verstrickt, „in die Macht zu observieren, zu inspizieren und aufzuzeichnen“, um noch einmal das oben bereits angeführte Zitat

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von Rolf Lindner zu bemühen, nur ist diese Macht heute ungemein umfassender, als es sich die Stadtforscher des 19. Jahrhunderts jemals erträumen konnten. Sie liegt darin, unendlich große Datenmengen zu sammeln, zu analysieren, Muster zu erkennen und präemptiv zu handeln. Aus dieser Perspektive entpuppt sich das Bemühen um die Einführung der Corona-App als das, was sie über die unmittelbare Epidemie hinaus darstellt: Sie gehört zu jenen Projekten „zur Sensorisierung der Infrastruktur; zur Vernetzung mit den Mobilgeräten der Bewohner*innen, die ebenfalls voller Sensoren stecken, zur Zusammenführung und anschließenden intelligenten Analyse der verschiedenen öffentlichen Datenquellen. Das Ziel ist eine adaptive Stadt, eine Stadt, die reagiert oder sogar vorhersieht.“5 All dies soll nun ohne demokratische Debatte von privaten Firmen wie Apple und Google durch die Hintertür implementiert werden.6 Schließlich ist Gefahr in Verzug. Doch sobald sich der Ausnahmezustand verräumlicht hat, gibt es kein Zurück mehr. Was bedeutet es für die Stadtgesellschaft, wenn private Unternehmen zunehmend die Aufgaben der öffentlichen Hand übernehmen? Was geschieht, wenn Städte dadurch immer stärker einer unternehmerischen Logik und den damit einhergehenden technokratischen Idealen der Datafizierung folgen? „Die Quantifizierung von Menschen und Lebensräumen verwandelt sie in biometrische Einheiten und Streetscores“, warnt die Anthropologin Shannon Mattern. In dieser Vision, so Mattern weiter, sind Stadt, Gesellschaft und Menschen nichts weiter als „algorithmische Assemblagen“.7 Die Implikationen betreffen also nicht nur das gesellschaftliche Miteinander, sondern letztlich auch unser Selbstverständnis als Menschen. Es steht viel auf dem Spiel. 1 Rolf Lindner, Walks on the wild side. Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt am Main 2004, S. 13 2 Beatriz Colomina, X-Ray Architecture. Zürich 2019, S. 11 3 D ario Gentili, Krise als Regierungskunst. Leipzig 2020, S. 22 4 Hannes Grassegger, Die Stadt als Feind, in: ARCH+: The Property Issue. Politics of Space and Data (August 2020), S. 168 5 Ebd. 6 K urioserweise hat sich der Konzern Apple einer zentralen Lösung des Trackings widersetzt und sich stattdessen mit einem dezentralen

Tracing-Ansatz gegen die Regierung durch­ gesetzt. Auch wenn dadurch eine unter dem Aspekt des Datenschutzes bessere Lösung entstanden ist, bleibt am Ende das Ergebnis, dass sich Staaten erneut bei einer Maßnahme, die tief in das Persönlichkeitsrecht eingreift, in eine Abhängigkeit von privaten Konzernen begeben. Vgl. Simon Hurtz, Tagebuch der Kontakte, in: Süddeutsche Zeitung, 28.4.2020, S. 2 7 Shannon Mattern, „Datenkörper in Code­ räumen“, in: ARCH+ 236 (2019) (Posthumane Architektur), S. 23

ANH-LINH NGO (*1974 in Kontum, Vietnam), Autor und Kurator, ist seit 2004 Redakteur und seit 2016 Mither­­aus­g eber und Chefredakteur von ARCH+. Nach dem Studium der Architektur war er 2002–2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrund Forschungsgebiet Architektur­t heorie der RWTH Aachen. 2010–2016 war er Mitglied des Kunstbeirats des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen), seit 2018 ist er Kuratoriumsmitglied der IBA 2027 Stadt­Region Stuttgart. Im März 2020 erhielt ARCH+ den Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste der Sektion Baukunst. Der Beitrag von Anh-Linh Ngo wird in erweiterter Fassung auch im Katalog zur Ausstellung „urbainable/stadthaltig“ der Akademie der Künste erscheinen.


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„BEDINGUNGSLOSES GRUNDEIN/AUS/KOMMEN JETZT AUSPROBIEREN“ Justin Gentzer im Gespräch mit Adrienne Goehler

Grundein|aus|kommen – Entschleunigung – Nachhaltigkeit entfalten unter und nach Corona eine noch größere Dringlichkeit: Adrienne Goehler über die Notwendigkeit, die Corona-Krise als Chance für eine gerechtere Gesellschaft zu nutzen

JG

JG   In Anbetracht eines zum Erliegen gekommenen öffentlichen

Lebens und einer stillstehenden Wirtschaft stehen wir vor massiven Verunsicherungen und Ängsten. Daneben gibt es auch Stimmen, die das Aufkommen einer neuen Form der Solidaritätsgesellschaft beobachten. Dabei wandelt sich das Verständnis von Solidarität als Schutz der Schwächsten zur Solidarität zugunsten der gesamten Gesellschaft. Was kann Ihrer Meinung nach ein Bedingungsloses Grundeinkommen zu dieser neuen Form gesellschaftlicher Solidarität nach der Krise beitragen? AG   Solidarität sei das neue Normale, meinte ein israelischer Freund. Alles spricht dafür, mit diesem Gut das Bedingungslose Grundein/ aus/kommen jetzt auszuprobieren. Wir gewinnen Zeit, stärken die Kaufkraft aller und versetzen Menschen in den Stand, Teil der Lösung und nicht Teil des Problems zu sein. Wenn wir die Krise zu einer Veränderung der Wahrnehmung nutzen, hat sie uns nicht im Würgegriff. Das bedingungslose Grundein/aus/kommen kann das Fundament dafür bieten, radikal über das Bestehende hinauszudenken und die tiefgreifenden individuellen wie kollektiven Erfahrungen auf fast allen Ebenen in gesellschaftliche Erkenntnis und Handeln umzuwandeln. Wir stehen ja wirklich weltweit vor einer im Wortsinn unfassbaren Situation. Wollen wir wirklich so weiterleben?

In Ihrem Buch beschreiben Sie ein Beziehungsdreieck, indem Sie den Diskurs über das Bedingungslose Grundeinkommen mit ökologischer Nachhaltigkeit und Entschleunigung verbinden. Sie sprechen an dieser Stelle auch vom Grundauskommen. Was zeichnet dieses Dreieck aus und warum führt ein Grundauskommen ihrer Meinung nach direkt zu einem nachhaltigeren Handeln? AG   Seit den 1980er Jahren ist das Ausbrechen aus dem Silo/Ressort/Zuständigkeitsdenken mein Movens, weil ich entschieden glaube, dass nur aus der Durchlässigkeit zwischen den Disziplinen und anderen Versicherungsräumen gesellschaftliche Relevanz entstehen kann, die die Künste und Wissenschaften befähigen könnte, wirkungsvollere Akteur*innen gegen die Zerstörungen unserer Lebensgrundlagen zu werden. Von Alexander von Humboldt haben wir gerade heute wieder neu zu lernen, dass alles mit allem zusammenhängt. Volker Pispers, Kabarettist, angelehnt an Alexander von Humboldt Aus meiner Dazwischen-Perspektive fällt zum einen auf, dass die Nachhaltigkeitswissenschaften und -bewegungen keinen Bezug auf die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens nehmen, obwohl klar ist, dass Hunger und chronische Existenzangst ein nach- Mit diesem Konsumdruck? Mit dieser Agrarproduktion und Mashaltiges Leben ausschließen. Zum anderen nehmen die Grundein- sentierhaltung? Mit der Akzeptanz der eklatanten sozialen Ungleichkommensbewegungen keinen Bezug auf die notwendige nachhal- heit? Mit geschlossenen Wohlstandsgrenzen? Mit dem konsetige Transformation; und schließlich stellen Migrationsaktivist*innen quenzlosen Wissen, dass Monokultur und Verlust der Bio­diversität genauso wie herkömmliche Entwicklungspolitik erst zögerlich den Pandemien begünstigen? unmittelbaren Zusammenhang zur Flucht vor Folgen des KlimaPlötzlich werden laut und deutlich andere Verhältnisse und wandels her. Und so verläuft alles Wissen und Handeln mehr oder Prioritäten reklamiert, bezogen auf Gesundheit, Bildung, Solidariweniger isoliert entlang von Ressortgrenzen. tät, Auskommen und Gemeinwohl. Erstmals nehme ich ein öffentHinzu kommt seit Jahren mein großes Erstaunen darüber, dass liches Erschrecken darüber wahr, wie erbärmlich systemrelevante Künstler*innen aller Sparten überwiegend prekär leben, aber sich Tätigkeiten bezahlt werden, und das schließt nun endlich auch die scheuen, darüber zu sprechen und offensiv ein Grund/ein/auskom- Künste ein, kleine Betriebe, lokale und dezentrale Produktionen. men zu fordern – ein Befund, der auch für Wissenschaftler*innen All die Soloselbstständigen, die sonst in keiner Arbeitslosen­statistik ohne Anstellung zutrifft. Also befrage ich in meinem Buch zum auftauchen und jeden Monat alleine vor sich hin bangen, ob sie die Grund/ein/auskommen annähernd 50 Menschen aus Wissenschaft, Miete bezahlen können. Statt weiterhin menschen- und planetenAktivismus, Ökonomie, Entwicklungsarbeit, Psychologie und Kunst verachtende Erwerbsarbeit in Kauf zu nehmen, wird jetzt immer zu besagtem Beziehungsdreieck – und eben auch dazu, ob und wie deutlicher, dass Menschen ein Einkommen brauchen, Angstfreiheit das Grundeinkommen als Grundauskommen und somit als ein Men- und Zeit, um die Neu- und Umgestaltung der Gesellschaft zu ihrer schenrecht weiterzudenken wäre. Die Vielzahl der Perspektiven Sache machen zu können, die wir jetzt auf annähernd jeder Ebene öffnet den Blick für die Möglichkeiten und Widersprüche unseres brauchen. aktuellen Handelns.

Wir kaufen Sachen, die wir nicht brauchen, mit Geld, was wir nicht haben, um Menschen zu beeindrucken, die wir nicht leiden können.

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JG   Wir befinden uns in einer Zeit der permanenten Beschleu-

nigung. Sie plädieren mithilfe des Bedingungslosen Grundeinkommens für eine radikale Umkehr dieser Maxime. Doch besteht nicht durch ein solches BGE die Gefahr von noch mehr Beschleunigung, durch weniger materielle Unsicherheiten, mehr Urlaube und noch mehr zeitfressenden Konsum? AG   Im Gegenteil. Ein Grundauskommen schafft einen Möglichkeitsraum, aus der derzeitigen Zwangsentschleunigung in einen selbstgewählten Modus der Entschleunigung für das eigene Leben zu kommen. Denn auch diese Frage stellt sich laut: Wollen wir dieses rasende, entgrenzte, selbstoptimierte Leben noch, mit Raubbau an der Natur und uns selbst? Die Erkenntnis liegt ja für wache Zeitgenoss*innen schon seit geraumer Zeit nackt und unverstellt da: Wir können auf diesem Konsum-, Vernichtungs- und Beschleunigungsniveau nicht weitermachen, wir können die Opfer von globalisierten kapitalistischen Strukturen nicht mehr leugnen. Wir müssen schlicht eine Vielzahl von Wegen aus diesem System erproben. Dafür brauchen wir Zeit, die Herausforderung anzunehmen, um nach Corona Gesellschaft neu zu erfinden, sodass die Ökonomie dienend ist und ein anderes Wirtschaften sowie eine andere Verteilung von bezahlter und unbezahlter Tätigkeit mit sich bringt. Und: Mit einem Grundein/aus/kommen hätten – erstmals in der Geschichte – Frauen und Männer die gleichen finanziellen Startbedingungen. Auch die Künste könnten entschleunigen, wären sie durch ein Grundauskommen doch deutlich autonomer von Markt, Messen, Festivals, Bi- und Triennalen, Premierenmarathons, Besucherrekorden oder Projektfördertöpfen, für die sie alle immerzu beweisen müssen, dass sie ganz! was!! Neues!!! präsentieren, um überleben zu können. Künstler*innen kommt beim Nach-Corona-Handeln eine bedeutende Rolle zu. Sie haben einen Vorsprung im Umgang mit Verunsicherung. Ihnen ist das Improvisieren, das Erproben und Verwerfen, das Rekontextualisieren und der Umgang mit Irrtümern eigen, sie ziehen daraus die schöpferischen Fähigkeiten, die wir so dringend brauchen in diesen Zeiten, in denen sich ein deutliches Unbehagen auf jegliche Vorstellung eines Zurück-zur-Normalität legt. Liegt es nicht auf der Hand, dass die Künste daran beteiligt sind, gesellschaftlich den Gedanken stark zu machen, dass wir ein Auskommen brauchen, um überkommene, überflüssige, schädliche Produktionen umzuwandeln in eine sinnhafte, die Ressourcen nicht zerstörende Produktion von Gebrauchsgütern? Vielleicht in ganz neuen Konstellationen erproben, wie man Maschinen, die jetzt nur zur Autoproduktion taugen, einsetzen könnte für eine gesellschaftlich relevante, sozial und ökologisch verträgliche Produktion von Gütern? Über der Corona-Krise sollten wir außerdem nicht vergessen, dass wir uns mitten in einer drastischen Veränderung der Arbeitswelt durch die Künstliche Intelligenz befinden, die mit einem Grundauskommen auch angstfreier angegangen werden könnte, denn sie wird sehr viele Menschen von ihrem Erwerbsarbeitsplatz verdrängen. Lasst uns diese Krise auch für das Antizipieren dieser

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Realität nutzen und als Chance, andere Formen von Leben und Arbeiten zu begreifen, wie auch als Chance der Wissenschaften, sich aus ihrer selbstgewählten Vor-Corona-Handlungsquarantäne zu befreien. JG   Verfolgt

man die aktuelle Nachrichtenlage, kommt man nicht umhin festzustellen, dass sich trotz aller internationaler Solidarität Nationalstaaten immer wieder auf sich zurückbesinnen. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, was dies für eine Ausgestaltung des Bedingungslosen Grundeinkommens bedeutet. Handelt es sich um ein national begrenztes Projekt, oder kann es ein gemeinschaftliches BGE geben und wenn ja, wie? AG   In vielen Ländern rumort es gewaltig in diese Richtung, überall finden Petitionen, Webinars, Interviews in den sozialen Medien großen Nachhall. Ob in Brexitannien oder Südafrika, ob in Spanien oder in den Botschaften des Papstes, überall steht die Frage danach auf der Tagesordnung. In mehr als 80 Staaten weltweit, hörte ich unlängst von einem südafrikanischen Aktivisten in einem Vortrag. In Kenia läuft seit Ende 2017 das beeindruckende und derzeit weltweit größte Pilotprojekt, initiiert von der US-amerikanischen NGO „Give directly“. Mit Geldern aus einer beispiellosen Crowdfunding-Kampagne wird zwölf Jahre lang das Grundeinkommen in etwa 200 Dörfern erprobt, mit dem Ziel einer völlig anderen und weitaus sparsameren Entwicklungspolitik. Und selbst der Herausgeber des Berliner Tagesspiegel räsoniert darüber, dass das Grundeinkommen die nächsten Koalitionsverhandlungen prägen könnte. Avanti!

ADRIENNE GOEHLER, Diplom-Psychologin, Kuratorin und Publizistin, ist Affiliate Scholar am IASS – Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung, Potsdam. Von 1989 bis 2001 war sie Präsidentin der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, 2001 bis 2002 Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin, 2002 bis 2006 Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds, Berlin. Im März 2020 erschien Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grundein/auskommen ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit im Parthas Verlag Berlin. JUSTIN GENTZER ist Mitarbeiter im Büro des Programm­ beauftragten der Akademie der Künste.


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IN ZEITEN HINEINLAUFEN Kathrin Röggla

Etwas passiert jetzt. In diesem Augenblick. Wirklich. „Wir riskieren unser Leben, um eures zu retten, das passiert jetzt“ steht auf einem Schild einer US-Krankenschwester. Was jetzt alles passiert, ist nicht mehr aufzuhalten, es ist eine Flut des JETZT. Für die einen bedeutet das zu sterben, für die anderen, permanent am News­ticker zu hängen und einer großen unheimlichen Welterzählung zu lauschen. Ein unaufhaltsames Jetzt der Krise, in der die einen sich nicht retten können vor Arbeit und die anderen nicht wissen, wohin mit der Zeit. In der die einen vor Einsamkeit versinken und die anderen den sozialen Lagerkoller erleben. Der Satz von Blaise ­Pascal, dass alles Unglück daher rühre, dass Menschen nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben könnten, bekommt in diesen Quarantäne­wochen eine ganz neue Tragweite.

Allerdings, wenn Sie das lesen, werden wir schon woanders sein oder, wie man jetzt auch sagt, zum Teil woanders, denn unsere Rede ist in diesen Tagen voller Einschränkungen, Vorsichtsmaßnahmen, Vorbehalte. Jetzt, wo ich das schreibe, laufen wir schließlich noch in eine Situation hinein, aus der Sie vielleicht schon herausgekommen sind, wir erleben die Ruhe vor dem Sturm, wir fahren bereits auf Sicht (ja, wir fahren, denn wir sind eine Automobil­nation!) und glauben zu wissen, dass wir hernach nichts wiedererkennen werden. Das sind die Metaphern, mit denen wir umgeben werden. Die Wirtschaftsweisen (Wirtschaftswaisen?) haben uns gerade eben noch etwas Hoffnung gegeben, schon nimmt sie uns wieder ein anderer Ökonom, den man als pessimistisch bezeichnen mag oder als eher realistisch, die Mathematiker grätschen dazwischen – sie seien weder als das eine noch das andere zu bezeichnen – klar, haben sie doch seit jeher das Lager jenseits der Hoffnung aufgeschlagen. Was eine exponentielle Entwicklung ist, haben längst alle begriffen, und dennoch wird es immer und immer wieder erklärt. Wir hören auch immer und immer wieder zu, man könnte es als kommunikative Stagnation in rasendem Zustand bezeichnen, wollte man noch. Die größten Geschichtenerzähler sind derzeit die Statistiken, egal, wie unsinnig sie sind, sie erscheinen uns mehr denn je glaubwürdig, das haben wir in Windeseile gelernt, auch wenn sie auf nicht aussagekräftige Zahlen gebaut sind, auf unglaubwürdige Zahlen, auf schwächelnde Zahlen. Doch noch nie war das Rechthaben der Mathematik so schmerzlich. Wer wollte noch sagen, das habe sich von langer Hand vorbereitet, das war eine Zeitbombe, „wir hätten doch“, „man hätte doch“, „das Gesundheitssystem“, und wenn man es doch tut, klingt es relativ kraftlos, genauso kraftlos wie der Satz „Hoffen wir, dass die Menschheit ihre Lektion gelernt hat“. Der Blick geht allerdings nach vorne, und so macht es auch meiner, unwillkürlich. Was

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müssen, können wir tun, um zu verhindern, was droht? Es sind die Gesundheitsminister, die jetzt sprechen, es sind die Chefvirologen, die jetzt sprechen, und es sind die Amtsärzte und Amtsärztinnen, die jetzt entscheiden. Das kollektive Wir der Zuhörenden und Befolgenden ist eine Noch-nicht-ganz-Krankengemeinschaft, die bestenfalls allein zuhause sitzt und den nächsten Mundschutz näht. Intellektuelle hören lieber auf zu schreiben und reichen Obdachlosen Kaffee, die Arbeit der Kunstschaffenden nimmt ein derart nebensächliches Aussehen an, dass Amazon in der Woche, in der ich diesen Text schreibe, den Versand von Büchern und Gütern, die nicht systemrelevant sind, einstellen möchte. Soziale, politische Fragen sind um diese vermeintlich rein biologische Krisensituation gewickelt, obwohl wir gleichzeitig so tun, als gäbe es so etwas wie eine Naturkatastrophe wirklich. Doch, das ist aus der Katastrophensoziologie bekannt, selbst Naturkatastrophen sind niemals natürlich, immer geht es um soziale Katastrophen, die Entscheidungen sind auch nie rein wissenschaftlich, immer mischen sich Interessenslagen ein. Dazu ist die Expertenherrschaft immer eine, die sich nicht politisch legitimieren muss. Dass wir situativen Unterschieden ausgesetzt sind, ahnen wir langsam, das „Wir“ lebt auf der Straße, lebt in Häusern, unter Hartz-4-Bedingungen, im öffentlichen Dienst oder als Selbstständige, die in die Insolvenz gehen. Das „Wir“ lebt auf dem Land und in der Stadt. Ja, die größten Unterschiede scheinen zu sein, wo man lebt. Dass man das kollektive Wir wieder in den Rahmen von Nationalstaaten presst, daran haben wir uns erstaunlich schnell gewöhnt, oder etwa nicht? Auch, dass Geschichte sich spatialisiert, verräumlicht hat. Italien ist ein paar Wochen vor uns, China gar zwei Monate, die USA, eben noch hinter uns, haben uns überholt, und von einigen Ländern wissen wir gar nicht mehr, wo sie genau sind. Ganz vorne, was wird das sein? Mit dem „Wir“ könnte schnell Schluss sein, aber solange wir immer noch in eine Situation hineinlaufen, die ein paar Wochen von uns entfernt ist, bleibt es noch bestehen. Aus diesem Moment heraus sende ich einen Gruß für die Zeit danach, wenn dieses Journal erscheint, Kurt Tucholsky nachahmend, der sich für seinen eigenen „Gruß nach vorn“ von 1926 freilich eine weitaus größere Zeitspanne vorgenommen hat und mit langem Anlauf bis ins Jahr 1985 gekommen ist. Damals schrieb er in der Weltbühne darüber, dass er keine Schmeicheleien austeilen wollte an den Bewohner einer zukünftigen Zeit, den Leser dereinst, denn „selbstverständlich“, so setzt er fort, „habt ihr die Frage ‚Völkerbund oder Paneuropa?‘ nicht gelöst; Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen.“ 1985 ist schon wieder einige Zeit her, man würde es heute als das Jahr vor Tschernobyl bezeichnen oder das Jahr 23 vor der Finanzkrise oder als 35 Jahre vor Corona bestimmen, denn auch unsere Zeitrechnung hat sich in diesem Zustand verändert. Die Wegmarkierungen sind jetzt biopolitische Krisen oder gar Katastrophen, Situationen mit Massenwirkung. So wird das in meinem kurzen Gruß nach vorne aussehen, der normalerweise kein Gruß nach vorne wäre, wenn ich in anderen Zeiten lebte, sondern einfach nur der Gruß an die Lesenden. Doch jetzt bin ich von Ihnen epochal getrennt, wie es scheint. Zwischen uns liegt der Zeit­graben des Virus. Und eine riesige Lücke an politischer Vorstellungskraft.

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Denn wer hätte sich das alles noch vor acht Wochen träumen lassen! Immerhin wundere ich mich mittlerweile schon darüber, dass ich es mir nicht vorstellen habe können. Wieso eigentlich nicht? In was für einer Welt dachte ich denn zu leben? Und wenn ich von heute aus, gar über Sie hinweg, fünf, sechs Monate weiter nach vorne sehen würde, so kann ich nur relativ wenig erkennen. Ein grisseliges Bild, eine verhuschte Silhouette, ich kann mir schon schwer vorstellen, in welcher Verfassung Sie sind, was Sie umtreibt, und schon gar nicht, was mit der Person passiert ist, die das Journal wieder in die Hand nimmt, zwei Monate später, um noch einmal hineinzusehen in die gute alte Zeit? Sind wir dann noch immer eingeteilt in Gesundheitsregionen und auf Gesundheitspläne? Leben wir in einer Kontingent- oder Planwirtschaft? Vielleicht wundern Sie sich bereits in sechs Wochen, dass ein Journal der Künste überhaupt noch erscheint, und wundern sich sechs Monate später noch viel mehr. Seien Sie aber versichert, ich male mir HEUTE aus, dass Sie wieder aufatmen und einfach nur draußen sein wollen, den Lagerkoller hinter sich lassend, all die bedrückenden Bilder und die mühsam gewonnene Erkenntnis, dass wir ohne öffentlichen Raum verrückt werden, beiseite fegen und beherzt aufatmen. Sie haben sich wieder gefangen, stelle ich mir vor, zumindest etwas. Sie können den Ausnahmezustand etwas hinter sich lassen, so, als wüsste ich es nicht besser, dass der Ausnahmezustand uns nie mehr ganz verlassen wird, dass wir nicht mehr zurückkehren können zum business as usual, so oder so. Sie sehen, ich mache mir ziemlich viele Gedanken über Sie, gerade so, als hinge mein Leben davon ab. Das unterscheidet mich von Kurt Tucholsky, der mehr Gelassenheit zur Verfügung hatte oder sie zumindest behaupten konnte. Er hatte vermutlich auch mehr politische Vorstellungskraft. Was uns mit ihm noch verbindet und an der Situation besonders markant hervortritt, ist ihre sprachliche Verfasstheit. Wir erleben die heftigsten Rhetoriken – Stillhalte-, Beschwichtigungssätze wie Aufrufe, Mutmaßungen, Dementi, all die Kontrollbewegungen der Sprache, die mich in meiner Profession zum ständigen Mitschreiben auffordern. Mittlerweile hat dieser Zustand auch die Berichterstattung voll und ganz ergriffen, und je nach politischer Situation wird darauf reagiert. In Turkmenistan ist es sogar verboten, das Wort „Corona“ überhaupt auszusprechen, es stehen Haftstrafen auf die Erwähnung der Pandemie, aber auch in Europa bestimmt jetzt auf heftigste Strafen hin Viktor Orbán per Dekret, was Wahrheit ist und was fake news sind. Und so geht es in vielen Ländern. Derzeit witzelt nur Brasiliens Präsident im Laissez-faire-Modus darüber, was aber schnell vergessen sein wird, wenn es hart auf hart kommt. Nie wurden Witze schneller alt, nie schneller vergessen als heute. Sprache selbst ist in dieser Pandemie höchst gefährlich geworden, und in einem Rückgriff auf die Essayistin Susan Sontag und die Medienwissenschaftlerin Brigitte Weingart kann ich sagen, das ist auch zu erwarten gewesen, das war schon immer so. Ob Aids oder Krebs, ob Cholera oder Tuberkulose, immer gab es da einen Haken mit der Sprache. Immer gab es das Problem der Stigmatisierung oder Auszeichnung („Zauberberg“) sowie der Gleichsetzung. Wir haben alles wieder vor uns liegen, nicht nur im medizinischen, sondern auch im

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sprachlichen Sektor: die Angst vor der Ansteckung, die Angst vor der Mutation, das Reinhaltegebot und die Sprachhygiene. Die Gefährlichkeit des Gerüchts rückt in die Nähe der Übertragungsgefährlichkeit. Was alles ansteckend sein kann, summiert sich, gegen jede wissenschaftliche Feststellung, und manchmal überlagert sich auch alles. Wenn das Virus mutiert, könnte es dann nicht auch Gesunde dahinraffen und Kinder?, frage auch ich mich, als würde es dann näher rücken, als würden die Tatsache, dass das Virus Alte und Kranke erwischt, das Ganze erträglicher machen. Was bist du für ein Mensch geworden?, ist so eine Frage an mich selbst, die mir nicht zum ersten Mal kommt. Sie sehen, meine zukünftige Leserschaft, mich hat die Angst erwischt und wie Camus’ Doktor Rieux aus der Pest hat sie sich an mich herangeschlichen.1 1 „Den ganzen Tag über spürte der Arzt den leisen Schwindel zunehmen, der ihn jedes Mal befiel, wenn er an die Pest dachte. Schließlich erkannte er, dass er Angst hatte“ (Albert Camus, Die Pest, Reinbek, 1998, S. 68). Zugeben muss ich, dass ich eine Art Beruhigung in, wie originell, Camus’ Roman finde, ganz einfach aus jenem Grund, dass ich in ihm einiges aus unserer Gegenwart, die mir so fremd geworden ist, herauslesen kann. Dabei gilt seine Beschreibung der Stadt Oran in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts: Man arbeite immer nur, um reich zu sein, die Ahnung von etwas anderem würde fehlen, die Ahnung überhaupt fehle, was sie zu einer modernen Stadt mache, eine Stadt, die eine gute Gesundheit erfordert, und in der die Kranken sehr alleine zu sein scheinen. „Nun denke man erst an einen Sterbenden, hinter Hunderten von vor Hitze knisternden Mauern in die Falle geraten, während in derselben Minute eine ganze Bevölkerung am Telefon oder in den Cafés über Wechsel, Konnossemente und Skonto spricht“ (S. 9f). Der Erzähler, so schreibt Camus, wäre nicht berechtigt, diese Geschichte zu erzählen, wäre er nicht zwangsläufig in alles verwickelt gewesen, wovon er zu berichten gehofft hat. Aber welche Kunstfigur kann zwangsläufig in alle Bereiche dieser Welterzählung verwickelt sein? Wir können kein Modell für eine Pandemie bauen, zu allumfassend ist sie. Auch halte ich Ausschau nach einer Alter-Ego-Figur. Ich bin noch nicht so weit, um zu beurteilen, dass die Figur des Joseph Grand die von Camus ist. Sie wäre meine. Jener kleine behördliche Schriftführer, der keine Worte findet und sich nicht getraut, Begriffe wie „Recht“ oder „Versprechen“ in den Mund zu nehmen, begleitet mich den ganzen Tag. Er habe Wortfindungsstörungen, also er finde die richtigen Worte nicht und bittet Doktor Rieux um Hilfe, der als Arzt natürlich Worte zu finden hat, vor allem die richtigen, oder etwa nicht? Hier ist aber kein Arzt, sondern nur die Stille unterwegs. Als „gefühlter“ Joseph Grand finde ich mich auch bei meiner ersten Zoomgesteuerten-Geschäftsführersitzung der Akademie der Künste wieder, lerne erst einmal hauptsächlich ruhig zu sein, weil jede Unterbrechung zu groß wird. Ich erlebe das Ganze als eine Übung im Zuhören, die gleichzeitig eine Inszenierung des Zuhörens ist.

ie geht es, über zwei Stunden nur Gesicht zu sein? Man findet sein eigenes W neben sechs anderen Gesichtern angeordnet und versucht, frei nach dem Tipp der Provinzzeitung, in einer Videokonferenz Augenhöhe herzustellen, indem man seinen Camus, am besten das Gesamtwerk, unter das Notebook schiebt, und sich nicht weiter zu beachten, was schon mal gar nicht funktioniert, denn schließlich sieht man sich zum ersten Mal demokratisch eingereiht als Gegenüber, Kästchen an Kästchen.

Andauernd wird natürlich kommentiert, bei wem wieder das Bild eingefroren ist, wer wieder nichts hört, und wer wieder unter der schlechten Verbindung leidet. Eine sehr amüsante Angelegenheit, würde es nicht um Dinge gehen, die man tatsächlich zu besprechen hat. Camus’ Roman wird als Dystopie bezeichnet. Es fällt schwer, mit dem Begriff gegenwärtig etwas anzufangen.

Ich stelle mir plötzlich Dinge vor. Ja, bisher hatte mich die Vorstellung meines eigenen Todes und des meines näheren Umfelds, wie es jetzt so treffend heißt, einfach nicht gepackt gehabt. Ich war noch unbesessen. Jetzt beginne ich mich magischem Denken zuzuwenden, als hätte ich es je ganz verlassen, während ich spekuliere,


dass, wenn das Virus tatsächlich wie eine Sprache funktioniert und es seine Codierung ständig in der Verdoppelung erneuert, es in viele Sprachfamilien und Stränge zerfallen müsste, sodass am Ende die Suche nach einem Impfstoff vergeblich sein könnte – und unsere Herdenimmunität nichts bringt, weil wir andauernd mit Versionen zu tun haben und eine entwickelte Erstmedizin am Ende nichts bewirkt. Wer holt mich aus dem spekulativen Universum, dem Prognoseherd heraus, in dem ich feststecke, was ist das für ein finsteres Gewitter der Vorhersagen, deren Glaubwürdigkeit immer nur am Bild des Untergangs hängt? Was ist das für ein Denkmodus, der alles erfasst hat wie eine merkwürdige Zukunftskrankheit? Wurde nicht für 2020 ohnehin ein Weltuntergang vorhergesagt? Plötzlich erlebe ich mich, wie ich – ganz geneigt Sehern und Seherinnen zu lauschen – das große Ohr aufsperre für die Gegenaufklärung, das ich bisher sorgfältig versperrt gehalten habe. Das Virus ist eine Sprache, die Sprache ein Virus. Letzteres ist die berühmte WilliamBurroughs-Gleichung, die, hier angewandt, uns auch nicht herausholt.2 Er hatte damals die Schöpfungsgeschichte überschrieben 2 W enn Sprache eine Krankheit ist, wie Burroughs meint, was wäre dann Gesundheit? Schweigen?

nd ist nicht genau das die gegenwärtige Fantasie der Unterbrechung, der Pause, der U gesunden Stille, die in unseren Gesellschaften nur als Inszenierung daherkommen kann, gerade heute, wo natürlich mehr denn je gesprochen wird auf allen Kanälen?

Der krasse Digitalisierungsschub mit dem Versuch, den öffentlichen Raum durch den digitalen Raum zu ersetzen, stiftet interessante Verwirrungen zwischen öffentlich und privat. Letzterer ist stets ein viel rasanterer Raum der Kontrolle: die vermeintlich feststehenden Zoom-Konferenzen mit ihren Datenlecks und Bildschirmfenstern, um die Wohnungen und Bürozimmerrückwände sich wickeln, den digitalen Anordnungen folgend. Hören Sie mich? Können Sie mich hören? Nein, irgendwas stimmt mit der Verbindung nicht! Sie müssen auf das Kästchen mit der Kamera klicken. Ist Ihre Kamera an? Nein, das Mikro brauchen Sie natürlich auch. Geht es jetzt? Noch immer höre ich nichts. Kommen Sie mal näher an das Gerät, ja, jetzt sehe ich Sie. Das Bild ist allerdings verschwommen. Vielleicht ist da noch was auf der Linse drauf? Ja, so ist’s besser. Können Sie das mal testen – ich erkenne Ihre Stimme kaum. Und dieses Klackern. Das muss von Ihnen kommen, hier ist nichts. Ist da noch jemand im Raum? Ihre Verbindung ist nicht optimal. Haben Sie noch einen anderen Raum, in dem das besser funktioniert? Nein. Hmm, machen wir weiter. Ja. Gibt es wirklich das Stillevirus, das man dem Sprachvirus entgegensetzen kann, wie Burroughs insinuiert? Das ist eine Frage der Symmetrie, und in Fragen der Symmetrie wird es schnell sehr kompliziert. Ich erinnere mich daran, dass Silvia Bovenschen immer wieder von der Asymmetrie des Gesundheits-Krankheitsbegriffs gesprochen hat. Krankheit lasse sich genau definieren, Gesundheit ist ein abstrakter Wert, den wir mehr und mehr ausgestattet haben zum absoluten Wert. Dabei wissen wir immer noch nicht, was es heißt, ganz gesund zu sein (ist ja nicht mit Fitness gleichzusetzen), wir wissen nur, was es heißt, frei von konkreten Krankheiten zu sein. Es gibt, wenn man so will, keine konkret festlegbare Gesundheit. Im Pandemiegeschehen wird sie natürlich normativ. Wer krank ist, ist eine Bedrohung für den sozialen Zusammenhang, die Gefahr, die Kranken schuldig zu sprechen, liegt nahe, auch wenn wir als Gesamtgesellschaft eine verdammt schlechte Diagnose bekommen haben. Folgerichtig sprach in einem Zeit­artikel (www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2020-04/covid-19-genesung -patient-pandemie-coronavirus) ein „Überlebender“ von seiner anfänglichen Scham, sich angesteckt zu haben.

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und die Destruktionskraft eines Virus in eine produktive Kraft umgeschrieben, die sich auf ewig mit der Schuldfrage verbindet. „Das Virus kennt keine Moral“, würde jetzt der Filmemacher Rosa von Praunheim hinzufügen, aber wir bleiben trotzdem darauf hocken. Wie dumm, dass unser Wissen gleichzeitig in Statistiken verschwindet, unserem intellektuellen Lippenbekenntnis folgend, dass wir als Menschheit Fragen nicht mehr liegen lassen können, weil wir uns sonst selbst vernichten (was Tucholsky freilich auch schon wusste). Die Prognose ist bei aller Mathematik eine Irrtumsmaschine geworden (vor allem die Prognosen von gestern). Und so sehr wir Kunstschaffenden es ja mit der Produktivität des Irrtums halten mögen, in dieser inflationären Art liefert er uns auch nur Altbekanntes, führt uns ins politische Terrain, in die Ideologieproduktion. Die Frage ist aber schon, wo man sich irren darf. Irrtümer sind nie kontextlos, und das macht sie so gefährlich. Üblicherweise vergessen wir Krankheiten, wenn sie vorüber sind, das gehört dazu. Pandemien ziehen tiefe Spuren in die Gesellschaft, aber wir werden uns vielleicht plötzlich daran erinnern, dass es ja noch andere Krankheiten gibt. Es gibt ja noch andere Todesfälle, andere Möglichkeiten umzukommen. Wie viele Tote nehmen wir da oder dort in Kauf, welche Todesarten? Wo ist es uns egal, wo lässt es sich überhaupt zusammenfassen, welches Bild zeichnen wir davon? Ich beobachte mein Erstaunen über die ethischen Abwägungen, die getroffen werden müssen. Bei den Triage-Entscheidungen der Ärzte angefangen, bis zu den Aufenthaltsgeboten über Menschen, die nur noch eine kurze Lebenserwartung haben. Die Diskussion über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen.3 Ich 3 V on welcher Seite betritt man die Diskussion? Ist es die, von der man aus der Diskussion auch wieder heraustritt? Es ist zu vermuten. Die Fronten sind geklärt. „Schluss jetzt.“ Da ist die Seite der Alleinerziehenden, der Alten, der Häftlinge, die ohnehin nicht mitdiskutieren können. Die Seite der UnternehmerInnen, der Insolventen, der Geflüchteten, die ohnehin nicht mitdiskutieren können.

„So hören sie doch auf!“

Die Seite der einsamen Selbstständigen, der eingeübten RedakteurInnen, der Krankenpflegenden, die keine Zeit haben mitzudiskutieren? Die Seite der ExpertInnen, der VirologInnen, der Kleinkinder und Großkinder? Über Rassifizierung und soziale Frage in der Pflege brauche ich Ihnen, der Sie das in ein paar Wochen lesen, ohnehin nichts mehr sagen.

„ Wir haben verstanden, längst verstanden. Jetzt muss endlich mal das aufhören, wir sind schon weiter“, werden Sie sagen.

„ Gut, Sie haben recht – aber diese eine Geschichte will ich Ihnen nicht vorenthalten …“

beobachte, wie mich die Abwägungen der sozialen Kosten, der menschlichen Kosten und der Wirtschaftskosten befremden können, und frage mich noch einmal: Wo habe ich denn angenommen, würde ich leben? Etwa im Zeitalter des „bloß kurzzeitigen Aussetzens der Rechte“? Jenem Land, dem die sogenannten südostasiatischen Länder vorgehalten werden, die bereits an sogenannte volksgesundheitsbringende Dinge gewöhnt sind und freiwillig auf ihre Bürgerrechte verzichten? Wohne ich in dem Land, in dem immer

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betont werden muss, „dass ich die Maßnahmen für richtig halte“? Kurt Tucholsky hätte es in einem zweiten Gruß nach vorne auch nicht leicht. Er würde sich mit Sicherheit darüber mokieren, dass ausgerechnet die Politiker davon profitieren, die zuvor am Abbau der Vorsorgesysteme, der Privatisierung des Gesundheitssystems beteiligt waren. Aber diese Aussage würde keinen guten Schlusssatz abgeben, im Gegenteil, sie würde auch bei ihm liegen bleiben, als Lunte, die in die Zukunft führt. Für die Kunst ist alles offen. Welche Ökonomie wird sich einstellen? Die anfallsartige Gratiskunst und Video-Bespielung kann es ja auf Dauer nicht sein, all die Wohnzimmerproduktionen, die uns gestern noch erstaunlich, heute langsam inflationär, und morgen vielleicht überflüssig erscheinen? 4 All die uninszenierte Intimität, 4 A uch wenn interessante Blüten entstehen, wie das Bewusstsein für die Geschichtlichkeit des Theaters zu erzeugen, in dem man die Archive öffnet und online streamt.

wiederauftauchen können, sind nicht unter dem Zeichen der notwendigen – manch Zyniker würde sogar hinzufügen – „heilsamen“ Stille zu subsumieren, die ja so laut ist. Wie viel öffentlichen Raum brauchen wir, um nicht verrückt zu werden, denn darum wird es auch gehen? Und damit komme ich zu Ihnen, geneigte Leserschaft, deren Bild ich eben nicht ausmalen kann, wie Kurt Tucholsky es tat. Er wollte keinen schulterklopfenden Gruß von seiner Leserschaft erhalten, ich bin schon zufrieden, wenn sie meine Morsezeichen quer durch die Zeit überhaupt noch verstehen. Die positiven Kräfte zu versammeln, wäre ihre insgeheime Botschaft.5 5 W er über die merkwürdig positiven Schlussformulierungen stolpert: Dieses Symptom einer Krankheitsform des Textes wurde erkannt und derselbige in Quarantäne geschickt. Was Sie hier lesen, ist lediglich eine ungefährliche Kopie.

psssssst!

Nicht immer dazwischenquatschen, ja?

„gut – und jetzt?“

Uns trennen Welten, das ist jetzt. Du sprichst übers Theater –

Und du hast nur deine neuen Vokabeln im Kopf: Nullpatient, Reproduktionsfaktor R, Seuchensozialismus, Chloroquin, Corontäne, Kriegserklärung. Das sind alte Vokabeln. Oder halbalt. Und wenn neu, immer nur dreiviertelneu. Die Abnutzung liegt immer schon vor in Zeiten wie diesen. Die Wörter verbrauchen sich rasant. Apropos Vokabel. Wo bleibt das Plusquamperfekt?

Welches Plusquamperfekt?

Am Ende gibt es doch immer ein Plusquamperfekt, der alles abschließt. Sowas wie: Die Leitung ist tot –

Ich habe schon lange keinen Telefonkontakt mehr –

Lebst aber trotzdem weiter in Deinen Freunde-von-FreundenGeschichten, in denen immer junge 30-Jährige sterben, du lebst in den Ohne-Vorerkrankungen-Geschichten, du lebst in den Lungenschattengeschichten und Funktionsreduzierungsgeschichten und den vielen Reinfizierungen, von denen du hörst von irgendwelchen diensthabenden Ärzten. Ja, die diensthabenden Ärzte kommen bei Dir immer noch rein. Hier ist niemand mehr. Das sind Selbstgespräche … Die Leitung ist tot. Sag ich doch, Plusquamperfekt.

die da plötzlich hineingerät, die eigentlich der Kunst feindlich gesinnt ist – authentisch, ja gerne, das wissen wir, aber bitte mit dem Bewusstsein für deren Inszenierungscharakter auf der Bühne! Wie soll man diesen Grundsatz noch verfolgen? Die große Frage ist, wann man Kunst endlich als systemrelevant bezeichnen wird? Und das Bewusstsein, dass man sie nicht einfach immer weiter aufschieben kann. All die gestrandeten Produktionen, all die verlorenen Bücher, Filme, Ausstellungen, die jetzt unter dem Zeichen der großen Pause verschwinden und danach eben nicht einfach

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KATHRIN RÖGGLA, Schriftstellerin, ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste.



CARTE BLANCHE

MANOS TSANGARIS All die uninszenierte Intimität … Auszüge aus dem Fototagebuch der Jahre 2016 bis 2020 zwischen Taiwan, Hongkong, Athen und dem Bergischen Land: Bilder einer transnationalen künstlerischen Recherche. Die Texte basieren auf einem Vortrag vom 6. Mai 2020 mit dem Titel „Unusual Observing“ zum Thema Transdiszipli­narität (über Zoom) an der Zürcher Hochschule der Künste. Die szenische Anthropologie als Arbeitsmethode des Komponisten Manos Tsangaris stellt den Menschen ins Zentrum von ästhetischer Erfahrung inner- und außerhalb von Kunst-Räumen.

MANOS TSANGARIS ist Direktor der Sektion Musik der Akademie der Künste.

versuch, anzukommen in dem film, in dem wir uns befinden. räume schaffen, mit räumen in beziehung treten, räume in bewegung setzen, bewegung in räumen in beziehung setzen, beziehungen von bewegungen setzen, räume versetzen …

the human form = die menschliche gestalt?

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das trans ist auch der notwendige, blinde fleck des komponisten. was wir zum sehen brauchen und nicht betrachtet werden kann oder darf, um das sehen nicht zu verhindern.

und hier?

ich denke in kleinen strophen: szenische erinnerung. szenische vorausahnung. daseinstest. es wird zu wenig getestet. wir sehen nur, was wir wissen oder zu wissen meinen. (kunst des verbergens) geschichten anlegen wie fährten, allerdings nicht um zu täuschen, sondern zu erinnern.

die theorie ist ganz und gar in der künstlerischen praxis aufgehoben, die ganz und gar in der theorie aufgehoben ist. was soll eine komponistin tun angesichts und vor der leere des leeren blatts oder des leeren screens? (und beide sind schon so voll.)

oder zu erahnen. empathie hier, aufmerksamkeit dort. „Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.“ – Nicolas Malebranche (angeblich) nach Paul Celan nach Walter Benjamin

„Alles, was ist und entsteht - entsteht aus einer Geisterberührung.“ – Novalis

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zelte schalte humanität (mhd. schalte „Stange zum Fortstoßen des Schiffes“) die zelte sind durch ihre grenzen und ihr legato, also die differenz und den atem definiert – kontinuität, wiederholung des atems, seine unterbrechungen an den endpunkten von ein und aus, die vorstellung seiner beendigung der beendigung von gegenwart …

beide jetzt: zelt-stoffung und -bewegung bilden die szene, szenische ahnung, szenische erinnerung aus: jetzt gerade (klopfklopfklopf an die scheibe des endgeräts) ist es auch, aber nicht nur die harte glatte gläserne scheibe des monitors, es ist auch das fortschreiten des legato und die differenzierung des fortschreitens meiner *sprach

komponieren heißt daseinsmodelle entwickeln und auf den prüfstand stellen: intensivtest! in deutschland ( europa) „ …muss mehr getestet werden“. den film modulieren … verschiedene schalten probieren.

auch und gerade wenn diese zelte, schaltungen, szenen leicht und spielerisch daherkommen, stellt jede davon die daseinsfrage. das ist die frage nach ihrem ende und ihrer besonderen unendlichkeit. „Der Microcosmus ist das Höchste für den Menschen. /Cosmometer sind wir ebenfalls./“ und: „Nichts ist dem Geist erreichbarer als das Unendliche.“ – Novalis

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überschaubare versuchsanordnungen! „Gestalt hat nur für uns, was wir überschauen können.“ – Karoline von Günderrode

„ich“ allerdings ist hier ein szenisches ich. komposition wird anders gedacht: keine sinfonien, kein laptop artist, keine filmmusik usw., sondern raum-und-bewegungs-erkundung als daseins-erkundung. (zeit: bewegung – raum: stoffung.) o perhaps … es geht ums ganze! (im doppelten sinne der formulierung.)

dieses durch hindurch über … hinaus des trans hat zunächst auch etwas von einer perforation, wenn man sich das im physisch plastischen oder gar skulpturalen sinne vorstellen mag.

hinübertragen. transport oder meta phorein. „Der Mensch: Metapher“ – Novalis

nichts bringt uns so sehr in gefahr, unser haus zu verlassen, wie schönheit. (die schärfe der schneide, den schnitt wagen, den schnitt selbst zerlegen.) sie ist die einzig fürchterliche friedliche waffe.

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ich denke gar nicht von verschiedenen gebieten, gewerken des daseins, disziplinen aus zu einer art synthesis der überschreitung hin, sondern sie ist der permanent gegebene übergang, gleichsam natürliches zentrum des daseins, das nur permanent gestört wird von den widerstreitenden, auch widerstrebenden räumen, sphären unserer erörterung – durchkreuzt (auch erstritten) … wo befinden wir uns, wie erfinden wir uns, wie erstreiten wir das, wo wollen wir hin, was hindert uns?

möchte versuchen, mich auf dieses moment zu konzentrieren (es zu umkreisen), wo wir versuchen unsere gegenwart zu verstehen. und das vor allem dann mit und in der kunst, und speziell auch in performativer, szenischer komposition … skené = zelt

… und wieweit sich das zwischen unserer endlichkeit (der endlichkeit überhaupt) und unserer unendlichkeit des inneren erlebens abspielt und ereignet. punkt der durchdringung von innen und außen. „Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.“ – Novalis

trans ist, wenn die komposition gelingt, sozusagen der normal-(fließ-)zustand. aber wenn das eintritt, wird es natürlich umso schwieriger, es von außen zu betrachten und auseinanderzunehmen. es ist nicht sortierbar. inter ist da wesentlich überschaubarer. die dort, wir hier. und jetzt probieren wir es mal. daseinsmodelle im intensivtest.

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Es ist schön, so klein zu sein.

AUF! AN DIE ENDGERÄTE!!

„Unser Geist ist ein Verbindungsglied des völlig Ungleichen.“ – Novalis

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100 JAHRE RADIO Vor 100 Jahren wurde vom Funkerberg Königs Wusterhausen die erste öffentliche Radio­ sendung übertragen. Zu den überwiegend musi­ kalischen Programmen gesellten sich ab Mitte der 1920er Jahre die ersten Original-Hörspiele. Als erstes seiner Art in Europa gilt Richard Hughes’ A comedy of danger, im Januar 1924 von der BBC ausgestrahlt und 1925 unter dem Titel Gefahr auch auf Deutsch gesendet. Es handelt von drei Personen, die unfreiwillig in einem Bergwerk festsitzen und im Dunklen tappen. Sie können nur akustische Signale aufnehmen – wie die Hörer am Radio ... Das Hörspiel der Gegenwart ist eines der Über­ schreitungen und Dekonstruktionen: räumlich, akustisch, sprachlich. Vom 11. bis 24. Mai wollte das 11. Berliner Hörspiel­festival (BHF) in der Akademie der Künste am Hanseatenweg demonstrieren, in welchen medialen Varianten das unabhängige Hörspiel existiert. Kurzfristig musste es sich nun jedoch der Herausforderung stellen, über die YouTube-­Kanäle der Akademie und des BHF Teile des vorgesehenen Programms – die Wettwerbe – online live und in Echtzeit zu streamen. Die hier versammelten Beiträge resü­mieren das Hörspiel aus verschiedenen Perspektiven: Oliver Sturm über den Stand des öffentlichrechtlichen Rund­funk zwischen Marktkon­­­for­ mität und Grund­ver­sorgung, Paul Plamper im Gespräch mit Thomas Irmer über Dimensionen des öffentlichen Raums in seinen Hörspiel­ arbeiten und Jochen Meißner über die Glaub­ würdig­keits­reserven des Radios von Orson Welles’ Krieg der Welten-­Inszenierung bis heute. Cornelia Klauß

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RUND-FUNK Oliver Sturm

Millionen lauschten. Millionen haben am Schaltknopf gedreht; nach links, da grölte das Chaos; nach rechts: da pfiffen die Teufel. Nur eine schmale Linie in der Mitte erklang. Millionen warteten: trübe der Tag, hart die Zeit, karg das Brot, drohend der Morgen.  Arnolt Bronnen, Kampf im Aether

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Im Anfang war das Radio, und das Radio war beim Rund-Funk, und der Rund-Funk war das Wort, und das Wort ward gesendet an Alle. Zumindest an die, die einen Rund-Funk-Empfänger besaßen. Und das waren alsbald die Massen, um nicht zu sagen, fast Alle. Das Radio-Programm löste die Schall-Platte ab, und ein jeder konnte die Tanz-Musik jetzt zu Hause hören, auch die, die sich keinen SchallPlatten-Spieler leisten konnten. Denn es war das Jahr 1923 und Inflation. Der Rund-Funk aber war beim Reichs-Post-Ministerium. Sogar Kunst war zu hören, Orchester-Musik, Gesang, Rezitation und das neu erfundene Hör-Spiel, das auch Sende-Spiel oder Funk-Bühne hieß. Später entstand dann das Fern-Sehen, und für das Fern-Sehen benötigte man ein anderes Wieder-Gabe-Gerät als ein Radio-Gerät, den Fern-Seh-Empfänger. Aber auch das FernSehen war beim Rund-Funk. Zu dieser Zeit aber war der Rund-Funk schon nicht mehr beim Ministerium, sondern öffentlich-rechtlich. Und als das Fern-Sehen kam und auch beim Rund-Funk war, wurde klar, dass Radio und Rund-Funk nicht ein und dieselbe Sache waren. Schöne deutsche Wörter, wie von einem Kind erfunden. Interessant, wie die seinerzeit avanciertesten Medien, die technischen Massenmedien des 20. Jahrhunderts, mit einer solch anschaulich einfachen Kindersprache auskamen. Erfindungen: Telegraf 1809, Fotografie 1822, Telefon 1872, Fonograf 1877, Film 1895, Radio 1918, Fernsehen 1928, Internet 1960/1970. Lange Zeit hatten die Geräte Bestand, leisteten ihren Dienst als fixe Größen der Alltagskultur, bis sie auf einmal Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer einzigen Plattform verschmolzen und das Internet zur Universalplattform für alles geworden war. Digitale Revolution und Internet haben zu einem Umschmelzungsprozess geführt, in dem alle diese medialen Erfindungen eine Metamorphose durchmachen. Nicht nur die Apparate werden umgeschmolzen – Radioempfänger, Fernseher, Telefon –, sondern auch die zu ihnen gehörigen Wörter. Auffälligerweise begegnet dem Kulturmenschen der Begriff ‚Radio‘ seit einigen Jahren in allerlei metaphorischen Übertragungen. So nennen sich Musikalben gerne Radio Soundso und Events in der Clubszene promoten ihr Produkt mit dem Attribut. Radio ist hip. Aber ein Webradio ist meist kein Radio, sondern eine Playlist, und wirkliches Radio ist doch aber Radioprogramm?! Der Metaphorisierung der Begriffe entspricht eine Auflösung der Form. Ovids Metamorphosen sind heute. Die Begriffe sind nicht allein mit Vorstellungen von Geräten und Empfangsformen verbunden, sondern auch mit Vorstellungen, was diese zu leisten haben. Seit mindestens zwanzig Jahren kämpft der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland mit der Medientransformation und der gleichzeitigen Aufrechterhaltung der An­sprüche, die an den Rundfunk gestellt werden. Und dieser kämpft mit seinem Publikum, das da heißt ‚Quote‘ oder ‚Klickzahlen‘. Auch ‚der Hörer‘ hat sich transformiert und heißt bei den Rundfunkberatungs-Firmen heute ‚Kunde‘. Radiowellen werden als ‚Marken‘ bezeichnet, Sendungen werden zu ‚Produkten‘, Künstler zu ‚Produzenten‘. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steigt in den Markt ein und tritt in Konkurrenz zu Audible, iTunes, Disney+, Netflix & Co. Muss er das denn?

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Sieht man sich den Hörbuch-Markt genauer an, dann zeitigt der Namen ‚Sparzwang‘, in besseren Momenten auch ‚Digitale KonVergleich zwischen der ARD-Mediathek und zum Beispiel Audible vergenz‘. Wir sprechen in Berlin von einer Million Euro weniger im sonderbare Ergebnisse. Gibt man aus gegebenem Corona-Anlass Programmetat. Und eine Akademie der Künste fragt besorgt, ob etwa ‚Camus: Die Pest‘ in die Suchmasken ein, so erhält man bei die anstehenden Programmreformen, zum Beispiel bei hr2-kultur der ARD 3 Ergebnisse, davon keinen Originaltext, bei Audible jedoch oder rbbKultur, den Kern dessen, was der öffentlich-rechtliche 56 Ergebnisse. Der Großteil dieser 56 Produktionen aber erweist Rundfunk in Deutschland leisten soll, denn auch bewahren oder sich als ehemalige ARD-Produktionen, die teils über Umwege an ob sie mit dem Gedanken an die Quote nicht auch diesen Kern verAudible verkauft worden sind. Erwerbe ich nun die ehemalige WDR- kaufen. Die ARD-Verantwortlichen sind in der nicht sehr beneiProduktion Die Pest für 13,95 Euro bei Audible, dann zahle ich mit- denswerten Situation, allen Kräften gerecht werden zu sollen, die hin doppelt: seinerzeit die Rundfunkgebühr und heute noch einmal am Rundfunk zerren: Programmauftrag / Legitimation des Rundden Ladenpreis. So macht die ARD sich selbst Konkurrenz. Dabei funkbeitrags gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern und der sind die Schätze ihres Archivs viele hundert Mal größer als die von KEF – der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundallen Amazons und Netflixes zusammen, nach Zahl und nach inne- funkanstalten / Wirtschaftlichkeit / Medientransformation. rer Vielfalt. Warum hält man sie nicht bei sich und öffnet sie selbst für die Öffentlichkeit? Auszug aus dem Rundfunkstaatsvertrag vom 1. Mai 2019, § 11: Tatsächlich entgleiten dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die jüngeren Hörerschichten, teils sogar in den Formaten, die eigens die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium für jene geschaffen sind. Radio und Fernsehen als Plattformen – und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher ‚Ausspielwege‘ – spielen für sie keine Rolle mehr. Live-Radio im Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, Netz wird kaum noch gehört. Das Leben, sagt mir eine Bloggerin, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfülsei viel zu durchgetaktet, man könne nur „zeitsouverän“ hören, in len. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in Gestalt von Podcasts. Die Hörer-Identität, einstmals erzeugt durch ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das interdie wiederkehrend vertrauten Programmpunkte einer Radiowelle nationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in und deren ModeratorInnen, entsteht heute, auch in den bildungsallen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hiernahen Schichten, durch Social Media, Facebook, Twitter, Instadurch die internationale Verständigung, die europäische Integram als eine Art tribal community über Themen: Film, Games, gration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Gender, Fridays for Future, Clubs, Psycho, Sport und Spiritualität Ländern fördern. Ihre Angebote haben der Bildung, Informain Gestalt von Podcasts, die ‚nahbarer‘ sind als ein passiv rezipiertion, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge tes Radioprogramm. In Form von Kommentaren kann direkt darauf insbesondere zur Kultur anzubieten. Auch Unterhaltung soll geantwortet werden, und aus Rezipienten werden AutorInnen: das einem öffentlich-rechtlichen Angebotsprofil entsprechen. Prinzip ‚Selbstwirksamkeit‘ dominiert. Kann das Radio dabei überhaupt noch ‚Programm‘ im her- Der Begriff der ‚Kultur‘ selbst aber verflüssigt sich. Schaltet man kömmlichen Sinn bleiben? die ARD-Kulturprogramme zu einem beliebigen Zeitpunkt ein, so ist Das ist die Frage. Und die Schlüsselfrage für den öffentlich- die Wahrscheinlichkeit groß, dass man gerade einen Dvořák, Haydn rechtlichen Rundfunk lautet: Wie kann er seinem im Staatsvertrag oder Beethoven erwischt. Als sei Kultur = Klassik. Dabei liegt der verordneten Kulturauftrag im Netz gerecht werden, wenn es kein Kern eines anspruchsvollen Kulturprogramms gerade im Wortanteil. Programm mehr gibt, wenn dort nur noch Einzelprodukte (PodUnd gleichzeitig findet ‚Kultur‘ inzwischen auf allen Wellen statt. casts) unmoderiert und ohne Kontext eingestellt werden? Der rbb-Sender radioeins bringt hochklassige journalistische KulDie Antwort müsste lauten, fürs Netz Plattformen und Mög- turbeiträge, beispielsweise im ‚Medienmagazin‘ eine große Senlichkeiten zu schaffen, die etwas Programmähnliches wären und dung zu 100 Jahren Rundfunk. inforadio, ebenfalls vom rbb, ist in die atomisierten Einzelprodukte moderieren und kontextualisieren. manchen Theater-, Film- oder Buchbesprechungen fast besser Der öffentlich-rechtliche Rundfunk reagiert und erzeugt mit sei- als die Beiträge auf rbbKultur. So vollzieht sich eine gleichzeitige nen Mediatheken und Podcasts eine tatsächlich überwältigende Bewegung von Abbau – die Kulturwelle wird noch mehr zur KlasFülle an kulturell wertvollen Einzelereignissen, ‚Produkten‘. Doch sikwelle – und Aufbau – die Kultur diversifiziert sich in die andedas Netz ist ein großer Katalysator, ein Beschleuniger für jegliche ren Wellen hinein. Art von Produkten, die jedoch Gefahr laufen, im großen Ozean des Das erinnert an die Anfänge des Rundfunks 1923, als er noch Internets lose herumzuschwimmen. Keineswegs antiquiert, son- Vollprogramm oder ‚Einheitsprogramm‘ war und auf einer Welle dern hoch brisant ist da die Frage, wo denn der eigentliche Radio- alles Gesendete Platz haben musste. Interessanterweise treten Teil bleibe: das Redaktionelle, das Programm, der Kontext: der – in den Anfängen des Radios eben jene Konfliktlinien deutlich zu aha! – ‚Geist‘ der Welle?! Tage, die jetzt, am Ende des herkömmlichen Radios, so virulent sind. Aktuell steht im Fokus der Kritik das sogenannte Kulturradio, Gerade auch die politischen. Arnolt Bronnens fragwürdig finsterer das in fast allen ARD-Anstalten zurzeit einer grundlegenden Trans- und zugleich so erhellender Rundfunk-Roman Kampf im Aether formation unterzogen wird. Sie trägt – ‚bedauerlicherweise‘ – den oder die Unsichtbaren (1935) ist das vielleicht sprechendste

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Zeugnis dessen. Und der wohl einzige Roman, in dem der Rundfunk selbst der Held ist. „Achtung … Berlin … Liebe Hörer, ich begrüße Sie daheim vor Ihrem Rundfunkgerät!“ Äther, Funke, das Wunder. Das Ereignis, eine Stimme von fernher im häuslichen Wohnzimmer zu hören, glich anfangs einer spiri­ tuellen Erfahrung, elektrisierte die Hörer. Anfangs wurde nur eine Stunde pro Tag gesendet, schnell wurde es mehr. Am 15. Mai 1925 wurde die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft gegründet. „Gleichzeitig näherten sich die Hörerzahlen rapide der ersten Million; die Wachstums-Kurve wies bereits auf die kommenden Millionen hin; die Linie war klar: der Funk griff über die technischen Avantgarden direkt hinein mitten ins Volk; der Funk wurde Volks-Funk.“ (Bronnen)1 Bald wurde den ganzen Tag gesendet. „Sechs Uhr bis acht Uhr, und in je dreizehn drei Viertel Minuten netto: Erlebnisse mit Film-Stars, Kleintier-Funk, Ist der Handwerker zu teuer?, Deutsche Geschichte in einer Viertelstunde, Thesen-Diskussion: Aufstieg oder Niedergang des Bürgertums, die Erzählung der Woche, das Interview der Woche – angesagt, abgesagt, aufgesagt, vorgesagt, nachgesagt, durch­gesagt, weitergesagt, nur so hingesagt – nichts ist untersagt, es kann über alles etwas gesagt werden. Das rasselt und prasselt in den Aether hinaus, das holpert und poltert in die Häuser hinein.“ 2 Und was sagt der Programmdirektor Bott aus Bronnens Roman in dem Hörspiel, das wir im Jahr 2007 für den Hessischen Rundfunk produziert haben? BOTT   So ist das Programm, einst unser Sorgen-Kind, heute die Quelle der Zufriedenheit, bei uns und bei den Hörern. REPORTER   Wie sind eigentlich Ihre Vorstellungen einer zukünftigen Programmstruktur? BOTT   Wissen Sie, unter uns, solange Musik aus der Kiste kommt, ist alles in Butter. (lacht schallend)

Das schrieb einer im Jahre 1934 und hatte ernsthaft vor, sich mit seinem Buch bei den Nazis anheischig zu machen. By the way: Ende der 20er Jahre befand sich Bronnen mit seiner Ehefrau Olga und deren Geliebten Joseph Goebbels in einer ménage à trois. Bronnen schildert in teils drastisch expressionistischen Bildern, wie jüdische Zeitungsverleger, kommunistische Verbände und braune Schlägertrupps versuchen, den Rundfunk zu unterwandern und zu manipulieren. Aber wie fast alles, was Bronnen anging, diesem vielleicht krummsten aller Hunde unter den deutschen Schriftstellern, verrutschte ihm der Roman, zumindest als nationalsozialistisches Eintrittsbillet. Denn alle geschilderten Kräfte kriegen gleichermaßen ihr Fett weg. Was Bronnen mit Kampf im Aether lieferte, war – wenn auch dramaturgisch verunglückt (denn ein „Rundfunk“ ist nun mal kein geeigneter Romanheld) – eine hochgradig kenntnisreiche Schilderung des mächtigsten Massenmediums des 20. Jahrhunderts in Deutschland und darin so pointiert,

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dass das Buch postwendend von Alfred Rosenberg verboten wurde und Bronnen aus Goebbels Reichsschrifttumskammer flog. Es wurde nie wieder aufgelegt. 1943 ging dann der, der sich mit seinem Rundfunk-Roman bei den Nazis anbiedern wollte, nach Österreich in den kommunistischen Untergrund. 1955 holte ihn der erste DDR-Kulturminister Johannes R. Becher in die DDR, wo Bronnen unter anderem am Berliner Ensemble mitarbeitete. BOTT  Scheiße. ERZÄHLER

… seufzte Bott. BOTT   Als Direktor dieser stündlich anwachsenden Kultur-Institution stehe ich schutzlos, gewissermaßen nackt meinen genialen, doch ungezügelten Künstlern gegenüber. MODERATOR (AUS DEM HIMMEL)   Wir müssen eben mehr Verwaltung schaffen. ERZÄHLER   Bott begriff das. Zwei Prokuristen wurden eingestellt, drei Direktions-Büros wuchsen aus den Papierkörben hervor. Ein Personal-­Chef begann seines Amtes zu walten. BOTT   In Kürze betrug der personelle Anteil der Verwaltungs-­ Abteilungen am Bestand der Funk-Stunde siebenzig von Hundert. ERZÄHLER   Und die Verwaltung folgte der allgemeinen Vorliebe aller Verwaltungen: Sie verwaltete mit Vorliebe sich selbst. Um die Anfänge des Rundfunks zu verstehen, gibt es seriösere Quellen, etwa die Schriften von Hans Bredow, Friedrich Bischoff, Rudolf Arnheim oder Walter Benjamin. Aber wenn man die politischen Kräfte, die am Rundfunk zerrten, in ihren Abgründen kennenlernen möchte, gibt es kaum ein beredteres Zeugnis. Die Gründer konzipierten den Rundfunk in Zeiten der wirtschaftlichen Not als einen reinen Unterhaltungsrundfunk, als ein Massenmedium, das dann, als Hitler siegte, diesem widerstandslos ausgeliefert war. 1923 wirkte der Rundfunk befreiend, zehn Jahre später, 1933, beklemmend. Der Rundfunk der Weimarer Republik hatte es versäumt, politisch demokratisch bildend auf seine Hörerschaft einzuwirken. In seiner grundlegenden Studie Das Radio attestiert der Medientheoretiker Wolfgang Hagen dem frühen Rundfunk in Deutschland genau das als kapitalen Fehler.3 Mit der Neukonstituierung des Rundfunks nach 1945 als A) föderaler und B) gebührenfinanzierter Rundfunk waren ihm staatliche Neutralität und Pluralität sowie ein Bildungs- und Kulturauftrag ins Stammbuch geschrieben. Das Föderale kam teils von den amerikanischen, die Gebührenfinanzierung von den englischen Besatzern, um eine Struktur zu schaffen, die der demokratischen und kulturellen Bildung dienen sollte. Das funktionierte so gut, dass der deutsche Rundfunk im europäischen Kontext heute zum Fels in der Brandung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geworden ist und ein vorbildlich plurales Programm bietet – im Gegensatz zu national-zentralistisch strukturierten Sendern wie der italienischen RAI oder dem zum Staatsorgan mutierten ungarischen Rundfunk. Selbst die alte Dame BBC muss sich der Übergriffe des Premierministers Boris Johnson erwehren. Aber das Modell kriselt, die Verantwortlichen stehen unter Recht­fertigungsdruck gegenüber populistischen Kräften nach

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außen – siehe AfD – und Reformdruck nach innen, nennen wir es freundlich ‚leicht sklerotische Verhältnisse‘. Und leider scheint der neue Weg zu sein: Rundfunk als Geschäftsmodell. In hausinternen Versammlungen werden die ARD-Mitarbeiter durch Beraterfirmen und Medienwissenschaftler für die neue Zeit des Rundfunks als Kulturfabrikant gecoacht. Begriffe dringen nach draußen. Das Programm müsse, heißt es bei hr2-Kultur, auf „leichte Durchhörbarkeit“ gerichtet sein und in Häppchen serviert werden, die dem Gebot der snackability entsprächen. Der Begriff ‚Kultur‘ solle besser vermieden werden, weil er irritiere, ‚Literatur‘ ebenfalls, stattdessen spreche man lieber vom ‚Buch‘. Kulturradio als mood management, wie man es vor einigen Jahren aus dem WDR vernahm. Von HörspieldramaturgInnen, die ihren Programmdirektoren verpflichtet sind, bekommen wir Hörspielleute schon mal gesagt: „Also das experimentelle Hörspiel, Oliver, kannst du vergessen heute, es geht um guten Mainstream, Literaturadaptionen, Serien, konsumierbare Erzählformate.“ Das ist natürlich ein fundamentales Missverständnis. Als wolle man, wenn man nur Wert darauf legt, seinen Standards von Zeitgenossenschaft treu zu bleiben, immer gleich schon das gefürchtet ‚Experimentelle‘ oder gar kunstvoll Verstiegene. Und sorgenvoll blickt man auf eine Dramaturgengeneration, die sich die Denke von Radiomanagern zu eigen macht. Kultur hat in den Häusern der ARD einen schweren Stand und wird nicht zuletzt gegen die Nachrichtenformate ausgespielt. Am rbb steht der Bau eines riesigen Medienzentrums mit Nachrichten­ schwerpunkt bevor, während gleichzeitig eine Million beim Kulturradio eingespart wird. Dabei weiß ein jeder Mensch, wie wenig ein Zahlen- und Faktencheck über sein tatsächliches gesellschaftliches Sein aussagen und wie leer uns der reine Nachrichtenfluss zurücklässt. ‚Sinn‘ – um einmal eine solch pathetisch-philosophische Dimension anzurufen – entsteht aus einer Vertiefung, die jene kulturellen und psychischen Schichten erreicht, die in unserem Sein die Hintergrundstrahlung ausmachen, entsteht also aus Anthropologie, Philosophie, Religion und Kunst. Wenn der Sender aber marktkonform reagiert und zu einem Geschäftsmodell mutiert, worin besteht für ihn das Geschäft, wenn er doch gebührenfinanziert ist? Und worin sein öffentlich-rechtlicher Charakter und worin sein Auftrag? Im täglichen Beleg, dass die Erhebung des Rundfunkbeitrags legitimiert ist? In der Beweisführung, dass die Quote ihn rechtfertigt durch Kundenbindung? Während ich dies schreibe, wird die Welt um mich herum von der Seuche bedroht. Und auf einmal ist klar, was eine funktionierende öffentlich-rechtliche Grundversorgung ist. Auf einmal ist da wieder die zentrierende Kraft des Rundfunks sichtbar in seiner inneren Pluralität und in seiner Fähigkeit zu bündeln, Orientierung und Wissen zu vermitteln. Offizielle Verlautbarungen seitens der Regierung, des Gesundheitsministers, des Robert-Koch-Instituts kommen über den Rundfunk – und werden von Fachjournalisten kritisch kommentiert. Der Virologe Drosten gibt einen täglichen Corona-Podcast auf NDR. Sogar die Netz-Kritik daran, dass die ARD auf zu wenige Expertenstimmen vertraue, wird in der ARD und im Deutschlandfunk als Debatte dargestellt und dokumentiert. Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters wendet sich über den Rund-

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funk an die Kunstschaffenden, und die Sender berichten von alternativen Auftrittsformaten, akuten Notlagen und neuen künstlerischen Finanzierungsideen in Zeiten der Seuche. Plötzlich ist die zentrierende und Orientierung gebende Kraft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks greifbar, und die Populisten, nicht nur in Deutschland, scheinen für den Moment entzaubert. ‚Zentrierung‘, um diesem Reflex gleich zu begegnen, heißt eben nicht ‚Zentralorgan‘, sondern Abbildung von Vielfalt und gleichzeitig Bündelung heterogener Kräfte durch Moderation – das hat der Rundfunk immer gekonnt, inmitten der Blasenbildung und Echokammern von hitzig erregten Netz-Communitys. Und wir sorgen uns um dieses Potenzial, wenn wir vom Abbau der freien Mitarbeiter durch Sparzwang hören – denn genau sie sind die Kräfte, welche die Pluralität des Programms ausmachen. Und man fragt sich, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk wirklich als Teil der Kulturindustrie auftreten muss oder ob er sich nicht besser auf seine ursprüngliche Qualität besinnt, die da heißt: Abbildung von kultureller Diversität und Vertiefung. EIGENSINN. „In anderen Zeiten“, schreibt der ehemalige Hörspielleiter des Bayerischen Rundfunks, Herbert Kapfer, „war das Radio ein Medium der Überraschung“, und appelliert daran, dass sich der Rundfunk „wieder stärker der eigenen inneren Medienfreiheit erinnert“.4 Die Klickzahlen in der ARD-Mediathek zeigen, dass Eigensinn und innere Medienfreiheit beim Publikum erwünscht sind. Die meistgeklickten Formate sind die großen Hörspiele und Features. Mit anderen Worten, Produktionen, die nicht in das gleichförmig aufgekratzte, massenkompatible Thriller-, Action- und MysteryProgramm von Netflix und Amazon passen, sondern eigene künstlerische Setzungen darstellen. Mit den vermutlich noch größeren Klickzahlen von Amazon konkurrieren zu wollen, hieße, nur noch das zu produzieren, was die großen Klickzahlen generiert: Mainstream. Der größte Schatz der ARD aber sind ihre eigenen Archive. Nicht zu vergessen, der Rundfunk als Kultur-Produzent, mit seinen Klangkörpern, Kompositionsaufträgen, Features, Hörspielen und Lesungen. Die pluralen Kräfte der künstlerischen Produktion in Deutschland, Europa und der Welt zum Ausdruck zu bringen, das Schaffen von AutorInnen, Komponisten, Darstellern, Filmleuten, Sängern, Architekten oder bildenden KünstlerInnen abzubilden und zu reflektieren, ist am Ende auch weniger eine Frage nach dem Kanon dessen, was man für kulturwürdig hält, als vielmehr die Kraft des approach, des gedanklichen Zugriffs. Gerade hier in Berlin und Brandenburg, wo das künstlerische Schaffen sich so konzentriert wie nirgendwo sonst in Deutschland, wo sich all diese schöpferischen Kräfte in den Rundfunk holen ließen, nicht nur als über sie berichtete, sondern als aktiv gestaltende, wäre ein öffentlich-rechtliches Kulturprogramm in einer Fülle möglich, von der wir träumen. 1 A . H. Schelle-Noetzel (Arnolt Bronnen), Kampf im Aether oder die Unsichtbaren. Berlin 1935, S. 230 2 Ebd., S. 378

3 Wolfgang Hagen, Das Radio. München 2005 4 Herbert Kapfer, Diskursmedium, in: Neue Rundschau 3 (2019), S. 90

OLIVER STURM, Regisseur, ist Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Film- und Medienkunst.


„WIR VERORTEN UNS DURCH HÖREN“ PAUL PLAMPER IM GESPRÄCH MIT THOMAS IRMER ÜBER DIE DIMENSIONEN DES ÖFFENTLICHEN RAUMS IN SEINEN HÖRSPIELARBEITEN

oben: Paul Plamper, Der Absprung, Festival soundseeing, Münster 2019

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THOMAS IRMER   In Ihren Hörspielen haben Sie sich immer wieder mit den Themen Öffentlichkeit und öffentlicher Raum auseinandergesetzt und sind mit einigen dieser Arbeiten als Toninstallationen selbst in den öffentlichen Raum gegangen. Jetzt ist der öffentliche Raum weitgehend gesperrt, als Ausnahmezustand. Was beobachten Sie? PAUL PLAMPER   Akustisch ist der öffentliche Raum ja nicht gesperrt. Wenn abends der Applaus für die Pfleger*innen und Ärzt*innen durch die Straße brandet, wird Schall zum verbindenden Element. Die Stille, die sich ansonsten gerade auf der Straße breit macht, entspricht eigentlich nicht den Möglichkeiten, die akustisch da wären, um mit der Isolation und Sperre umzugehen. Mich wundert, dass ich nicht mehr Rufe höre. Das war ganz anders bei dem Projekt Release (WDR/NDR 2004), bei dem wir mit jungen Gefangenen in zwei Berliner Strafanstalten Songs entwickelt haben. Damals war ich völlig überrascht, wie laut es im Gefängnis ist. Wahrscheinlich, weil es selbstverständlich ist, dass sich bei Einschluss alle über den Hof oder die Flure etwas zurufen. Im Gefängnis spürt man auch, was für ein Brandbeschleuniger für Konflikte die Umgebungsgeräusche sein können. Man kann die Tür hinter sich schließen, aber akustisch kann man sich die anderen ja am allerwenigsten vom Leib

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halten. Ich könnte mir vorstellen, dass dies auch gerade eine Rolle spielt bei der Zunahme von häuslicher Gewalt. Was mir in der jetzigen Situation außerdem auffällt, ist diese Mischung aus Vereinzelung und gleichzeitiger kollektiver Erfahrung. Das ist einer Radiosendung, die von den Hörer*innen in vielen einzelnen, sehr unterschiedlichen Situationen erlebt wird, vielleicht gar nicht so unähnlich. TI  In Ruhe1 (2008) und zuletzt Der Absprung (2018) behandeln Sie Situationen von Öffentlichkeit beziehungsweise in der Öffentlichkeit. Für die Aufnahmen haben Sie auch das Studio verlassen. Andererseits haben Sie auch neue Rezeptionsformen für das Hörspiel jenseits des Radios entwickelt, wenn zum Beispiel Der Kauf (2013) mit seinem Thema Wohnungseigentum auf städtischen Brachflächen dem Publikum als akustisches Environment angeboten wurde. Wie hat sich diese Idee von Öffentlichkeit entwickelt? PP  Die Idee, mit den Hörspielen vom Radio aus in den Raum zu gehen, kam aus dem Thema bei Ruhe 1 (WDR / Museum Ludwig). Da ging es mir im weitesten Sinn um so etwas wie ,kollektiv unterlassene Hilfeleistung‘ bei einem gewaltsamen Vorfall, den ich selbst erlebt hatte. Auf der Straße rangelte ein Mann mit einer Frau und zerrte sie plötzlich von meiner Gruppe weg, bevor jemand von uns einschritt. Ein ganz kurzer Moment, der vorüber war, ehe man sich’s versah. Es kam mir vor wie eine Art Kartenhaus, in dem wir uns alle in unserer Nicht-Reaktion aneinander angelehnt hatten – die Sozialpsychologie nennt das „Verantwortungsdiffusion“. Ich wollte dieses Herdenverhalten abbilden und nachvollziehbar machen, durch eine gleichzeitige Vielstimmigkeit. Daraus entstand dann eine Mehrkanal-Installation im Museum Ludwig. Wir haben eine abstrahierte Café-Situation entworfen, mit zwölf Tischen und darauf Lautsprechern. Aus jedem Lautsprecher kommt die Stimme eines Gastes und die Gespräche verlaufen parallel und im Loop. Alle fünf Minuten verstummen die Stimmen plötzlich, weil das Paar laut hörbar gegen die Scheibe knallt. Während sich draußen der Vorfall ereignet, gaffen alle nur. Nach diesem Moment der Ruhe folgt eine zögerliche Wiederaufnahme der Gespräche, ein langsames Crescendo, bis wieder alle auf Betriebstemperatur sind. Irgendwann münden die Unterhaltungen dann unmerklich in ihren Anfang, wie in einer Art Möbiusband. Und die Installation dreht die nächste Runde, als wäre nichts gewesen, bis zum nächsten Moment von Gewalt und Ruhe, und so fort. Die Besucher*innen können sich frei einen Weg durch das Stimmengewirr der Gespräche suchen, die einzelnen Gespräche an den jeweiligen Tischen belauschen und sich so ihr eigenes Hörspiel komponieren. Sie sind aktiver Teil der Installation, weil sie sich über die Lautsprecher beugen, um akustisch in die Gespräche zu zoomen. So werden sie auch optisch zu einer Art Platzhalter der Gäste am Tisch. Die Wahrnehmung wird im besten Fall auf die eigene Handlungsunfähigkeit zurückgeworfen, weil man nicht aktiv in das Geschehen eingreifen kann. Diese Form von begehbarer Hörspielszene entwickelte sich sehr organisch, vielleicht, weil Hören generell sehr viel mit Raum zu tun hat. Wir verorten uns durch Hören. Unser Ohr rückversichert uns permanent durch das Wahrnehmen der Resonanzen, was das für ein Raum ist, in dem wir stehen, und wo wir in ihm stehen. Zu dieser Art Platzhaltertum des Publikums kam

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Paul Plamper, Die Schlange, n.b.k., Berlin 2016

es später immer wieder, zum Beispiel bei Die Schlange (n.b.k., Berlin 2016). Beim Akustischen Kleist Denkmal (Kulturstiftung des Bundes / Maxim Gorki Theater 2011) ging das noch einen Schritt weiter. Da ist das Denkmal ohne die Besucher*innen gar nicht existent. Es besteht nicht aus Stein oder Metall, sondern aus Menschen mit Kopfhörern, die sich am Kleinen Wannsee auf dem Weg zum Grab von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist mit dem Dichter beschäftigen. Die Besucher*innen werden zum Denkmal, indem sie gedenken. Auch in Der Kauf (WDR / BR / DLF / Schauspiel Köln 2013) spielten die Hörer*innen eine physische Rolle, indem sie eine Stadtbrache temporär ‚besetzten‘. Die Aufführungsorte in verschiedenen Städten waren städtebaulich oft umkämpfte Brachflächen, die im Visier von Investoren standen. Wir haben mit Kunstkopftechnik gearbeitet, also mit Surround-Aufnahmen für Kopfhörer. Die hyperrealistische Räumlichkeit skizzierte ein Stadtviertel auf die Brache und sollte dazu anregen, sich eine Zukunft des leeren Terrains vorzustellen. Denn in diesem Hörspiel geht es um Glücksprojektionen auf Eigentum und um die Frage, ob wir das Eigentum besitzen oder das Eigentum uns. TI  Die Verbindungen von akustischem Raum und sozialer Öffentlichkeit variieren und erweitern Sie nachfolgend bei der „Fremde & Geister“-Trilogie über die Konstruktion des Fremden, ihrem letzten, über Jahre und verschiedene Stoffe und sogar unterschiedliche Arbeitsweisen hinweg gefassten Projekt? PP  Die Trilogie begann mit einem Satyrspiel, der Audio­ installation Future Dealers (Tonspur_passage/MQ 2016). In den sechs Lautsprechern der „Tonspur“-Passage im Museumsquartier in Wien setzte ein spektakulär sound-

designtes Raumschiff zwei ‚Afronauten‘ ab. Ihre Stimmen geisterten in der Passage herum und sprachen Passant*innen an. Die futuristischen Historiker sind höher entwickelte Wesen aus der Zukunft. ‚Farbenblind‘ für Hautfarben werfen sie einen Blick auf die zurück­ gebliebenen Europäer*innen des 21. Jahrhunderts. Als Schwarze in einer Fußgängerpassage werden sie natürlich sofort für Drogendealer gehalten, was sie um so mehr interessiert – ist Rassenunterscheidung in dieser prähistorischen Gesellschaft ein Fetisch oder Teil eines primitiven Kults? Der Hauptteil Dienstbare Geister (WDR / BR / DLF Kultur / MDR / Ruhrtriennale 2017) wendet die Perspektive von heute aus in die kolonialgeschichtliche Vergangenheit. 1905 sucht Sandra Hüller als verarmte junge Deutsche ihr Glück in der deutschen Kolonie Kamerun. Allein durch ihre Emigration steigt sie dort zur Herrin über Bedienstete auf, die sie ihre „dienstbaren Geister“ nennt. Deren heutiger Wiedergänger ist Olivier Djommou als junger Migrant aus Kamerun, der in einer parallel erzählten Geschichte 2015 in Deutschland Fuß zu fassen versucht. Man erfährt, wie Europa auch heute noch vom damals mit struktureller Gewalt installierten Machtgefälle profitiert, wie es weiterhin an der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Schieflage arbeitet, die junge Kameruner*innen nach wie vor in die Migration treibt. Europa, das Kamerun seit 130 Jahren schadet, ist für viele zur großen Heilsversprechung geworden und scheint als Ziel vollkommen alternativlos – als könne man nur noch versuchen, auf die Gewinnerseite zu wechseln. Die beiden Zeitebenen waren bei der Ruhrtriennale in zwei nebeneinander liegenden Räumen zu hören. Das Publikum wurde aufgeteilt und hörte historisch gesehen also in zwei Richtungen: aus der kolonialgeschichtlichen Vergangenheit in die Gegenwart oder umgekehrt. Die


Installation hielt die nebenan parallel laufende Zeitebene präsent, man konnte zum Beispiel hören, wie die Kolonialzeit als eine Art Poltergeist aus dem Nebenraum ins Heute greift. Mit Der Absprung (WDR / DLF Kultur / BR / Schlossund Kulturbetrieb Altenburg 2018) landet die Trilogie dann vor unserer Haustür, im Kulturbereich. Die Geschichte handelt von einem Schauspieler aus Kamerun, der mit einem internationalen Theaterensemble nach Leerstadt gekommen ist, um in der schrumpfenden Stadt Theater zu machen. Das geht einige Jahre gut, bis zur sogenannten Flüchtlingskrise, dann wird es für ihn als Afrikaner im deutschen Stadtraum ungemütlich. Schließlich ruft ein neurechter Demagoge zum Boykott gegen das Theater auf. Die Installation versucht, die gesellschaftliche Gemengelage der Kleinstadt in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Zerrissenheit erlebbar zu machen. Die verschiedenen Positionen und Fronten entfalten und bewegen sich um das Publikum herum. Stimmen gehen auf Distanz, oder sie ‚springen‘ von einem Sprungbrett herunter zum Publikum in den Lautsprecherkreis, der als ein von allen Seiten betretbares Forum gedacht ist. Wir touren damit durch verschiedene Städte. Am besten hat es bisher auf öffentlichen Plätzen funktioniert, zum Beispiel in Münster, wo sich Passant*innen dazugesellten und bis zur anschließenden Publikumsdiskussion blieben. TI  Für die Realisierung setzen Sie Methoden ein, die zusammengenommen ein ganzes ästhetisches Konzept ausmachen: Weg vom vollständig vorbereiteten Text, raus aus dem Studio, Einsatz von Improvisation und sogar Zufall, wichtige Entscheidungen erst in der Montage – das alles dient dem authentischen Charakter von Öffentlichkeit in Ihren Stücken. PP  Schon bei Hüttenkäse (WDR 1999) und Stopper (WDR 2000), den ersten musikalischeren Hörspielen mit Rappern, hatte ich eine Schwäche für die Improvisationen, die sie vor ihrem eigentlichen Einsatz oft zum Aufwärmen machen. Das Mikrofon ist dabei oft schon offen. Manchmal wird ein ‚Skit‘ daraus, also ein Zwischenstück auf dem Album, aber meist wird das weggeschnitten. Bei mir landeten diese Momente fast alle in den Stücken. Ich fand die Rapper in diesen ‚Préludes‘ so gelöst und erfinderisch. Sie machten Sachen, die sie in den anschließenden Takes zurückgehalten haben. Aber gezielt als Methode eingesetzt haben wir Improvisationen an Originalschauplätzen erst bei Top Hit leicht gemacht (WDR/NDR 2002). Das Hörspiel beruht auf Das Handbuch. Der schnelle Weg zum Nummer 1 Hit der britischen 80er-Jahre-Pop-Ikonen The KLF. Sie sprechen eine Garantie aus: Wenn du alle Anweisungen genau befolgst und dann innerhalb von drei Monaten keinen Nummer-eins-Hit gelandet hast, bekommst du dein Geld für das Buch zurück. Jeder Arbeitslose ist aufgerufen, sich sein Stück herauszuschneiden aus dem Kuchen des Musikbusiness – eine sarkastische und zugleich höchst unterhaltsame Medienkritik. Im Hörspiel kann man dann immer hören, was das Buch vorschreibt, und das ist gegengeschnitten mit Improvisationen, in denen Milan Peschel die Anweisungen spielerisch in der Realität ausprobiert. Mit diesem dokumentarischen Ansatz haben wir der Wirklichkeit etwas Fiktion untergejubelt und unseren Antihelden natürlich auch auf Platz 1 landen lassen.

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TI  Immerhin landete der aus dem Hörspiel entstandene Hit auf Platz 37 der deutschen Singlecharts, nicht ganz, wie es im Buche steht, aber mit der gegenseitigen Durchdringung von Hör-Spiel und Realität – und vor allem überzeugend durch Improvisation. PP  Ich finde, Improvisation ist vor allem ein sensibler Gradmesser für Kommunikation. Man hört sofort, ob wirklich interagiert wird oder eben dieser routinierte Sprechton stattfindet, der eigentlich nur im Radio zu hören ist. Eine Studioaufnahme schließt den Schmutz aus, die vielen kleinen Stör- und Nebengeräusche, die für mein Ohr aber elementar sind. Die akustische Umgebung ist immer ein Mitspieler. Denn unsere Stimme passt sich dem Raum und den Umgebungsgeräuschen mehr an, als uns bewusst ist. Wenn ein*e Schauspieler*in im neutralen Studioraum nur so tut, als ob sie oder er zum Beispiel einen Wasserhahn öffnet, hört man das – vielleicht weil es im Gegensatz zu anderen Medien kein Bild gibt, das von falschen Tönen ablenken, also die Wahrnehmung korrumpieren kann. Richtig interessant wird Improvisation, wenn Schauspielprofis mit Amateur*innen spielen. En passant fließen diverse Erfahrungen und Sprachen ein und über die Profis oft auch Fragmente anderer Arbeitsweisen, Rollen und Dramaturgien. Gleichzeitig sind selbst die besten Schauspieler*innen durchaus gefordert, nicht schauspielerisch zu wirken, wenn sie mit einem Amateur zusammenspielen, der auf den Punkt besetzt und ganz bei sich ist. Seit Top Hit … improvisieren wir oft auf der Basis eines Grundgerüsts der Geschichte sowie von Dialogentwürfen und Figurenprofilen. Gut ist, wenn meine Szenen als Anregung für eine Weiterentwicklung durch die Spieler*innen dienen, für Neuerfindungen. Ich erfahre dann mehr über meine Ursprungsidee, als wenn ich das

Geschriebene 1:1 inszenieren und aufnehmen würde. Es bleibt nicht bei dem stehen, was ich mir ausgedacht habe. Der Schnitt ist dann eine Fortsetzung des Schreibens. Monatelang verdichten wir die verschiedenen aufgenommenen Varianten der Szenen zu einer Art Konzentrat und musizieren mit dem Material, wobei im besten Fall inhaltliche und musikalische Entscheidungen zusammenfallen. Mir liegt daran, dass das Endergebnis etwas Suchendes behält. Die ehrlichste Form ist für mich die Skizze. Vielleicht weil ich vom Theater komme, widerstrebt mir immer noch irgendwo dieses Einfrierenmüssen in ein Endergebnis, in Nullen und Einsen. Deswegen dreht sich der Schnitt immer um die Frage, wie man das Lebendige ins Digitale hinüberretten, eine Art Energieabdruck aus den Aufnahmen schaffen kann, der im Kopf des Hörers virulent bleibt und weiterarbeitet.

PAUL PLAMPER ist Autor, Regisseur, Hörspielmacher und Klangkünstler. Am Theater inszenierte er unter anderem am Berliner Ensemble und am Stadttheater Istanbul. Seit 1999 schreibt und produziert er Hörspiele, überwiegend für den WDR. Für seine Werke erhielt er unter anderem 2011 den Prix Europa für Tacet und 2009 den Hörspielpreis der Kriegsblinden für Ruhe 1. Seit 2005 entwickelt Plamper Arbeiten im Stadtraum, wie Das Akustische Kleist Denkmal am Kleinen Wannsee (seit 2011), sowie Audioinstallationen, unter anderem gezeigt im Museum Ludwig Köln, im ZKM Karlsruhe, im MQ Wien und auf der Ruhrtriennale. THOMAS IRMER ist Literaturwissenschaftler und Autor bei Theater der Zeit sowie seit 2004 Mitglied der Jury für den Hörspielpreis der Kriegsblinden.

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„GET THIS CHARLIE,

GET THIS CHARLIE!“

ODER DIE GLAUBWÜRDIGKEITS­RESERVEN DES RADIOS Jochen Meißner

Einer der wenigen ikonischen Momente der Radiogeschichte basiert auf einem Ereignis vom 6. Mai 1937 im US-amerikanischen Bundesstaat New Jersey, als das Luftschiff Hindenburg zur Landung ansetzte.

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Der 31-jährige Radioreporter Herbert Morrison vom Sender WLS schließlich ist nicht zuletzt eine Frage der Geräte, die an der Aufund sein Toningenieur Charles Nehlsen waren extra aus Chicago zeichnung, Übertragung und Übermittlung beteiligt sind. Und die eingeflogen, um von der Landung des Luftschiffes LZ 127 „Hinden­ Empfangsgeräte und den medialen Kontext, in dem sie stehen, darf burg“ in Lakehurst zu berichten. Nehlsen wird die Reportage mit- man auch nicht vergessen. Ein Volksempfänger „VE 301“, der in tels eines transportablen Schallplattenschneidegerätes im wahrs- seiner Gerätebezeichnung auf das Datum der Machtübergabe an die ten Sinne des Wortes mitschneiden. Nach dem katastrophalen Nazis am 30. Januar 1933 verwies, hatte natürlich einen anderen Absturz des Zeppelins werden sie das Plattenschneidegerät zurück- medialen Status als ein Fernseher, der am 11. September 2001 in lassen und mit vier „Presto Direct Discs“ nach Chicago zurückkeh- scheinbar endloser Wiederholung den Einsturz der beiden Türme des ren. Die mit einem Zellulose-Nitrat-Lack beschichteten Alumini- World Trade Centers loopte. Endgeräte, die neben allen anderen umplatten waren damals der Industriestandard des Radios. Am Informationsströmen auch Datenpakete mit Audioinformationen empnächsten Morgen werden Teile der insgesamt 39-minütigen Repor- fangen, kommen in ihrer Entdinglichung dem nahe, was die amplitutage über den Chicagoer Sender gehen. Auch das Network NBC denmodulierten Wellen (AM) auf dem Mittelwellenband schon in der übernimmt die Aufzeichnung und erlaubt zum ersten Mal, dass eine Frühzeit des Radios vermochten. Die brachten selbst genug Energie voraufgezeichnete Aufnahme gesendet wird. Der amerikanische mit und konnten – mittels Kopfhörer und mit etwas, was als Antenne Radiohistoriker Michael Biel berichtet, dass er an seinen Fingern fungierte – quasi ohne verstärkendes Endgerät empfangen werden: abzählen könne, wie oft NBC bis zur Mitte des Zweiten Weltkriegs „Vom Mund zum Ohr auf dem Strahle der elektrischen Kraft …“ wissentlich oder unwissentlich Aufzeichnungen gesendet habe.1 Was ist es also, das unter einem Himmel voller Frequenzen Radio war ein Medium des Prinzips Live. und in einem Netz voller Datenpakete das Radio und die Radiokunst Ironischerweise war aber der ikonische Moment des Radios auszeichnet? In Krisenzeiten ist es auch heute noch die Anmutung, kein Live-Moment, sondern ein Live-on-tape-Moment. Was zählte, live auf der Höhe der Ereignisse zu sein. Es sind aber auch die Forwar nicht die Unmittelbarkeit des Augenblicks, sondern die authen- men der Erzählung und die Narrative, die die (nicht nur akustischen) tische Erschütterung des Journalisten Herbert Morrison, der etwa Welterfahrungen rahmen. Das war schon in der Frühzeit des Radios bei Minute 9 seines Berichts aufschreit: „It’s burst into flames, it’s so. Ohne den Absturz der Hindenburg hätte Orson Welles’ mit dem burst into flames and it’s falling, it’s crashing. […] Get this, Charlie, „Mercury Theatre on the Air“ live aufgeführtes Hörspiel The War of get this, Charlie! It’s cra… and it’s crashing, it’s crashing, terrible.“ 2 the Worlds nicht eine solche Wirkung entfaltet.5 Noch über 80 Jahre Das wasserstoffgefüllte Luftschiff geht in Flammen auf und stürzt nach seiner Ursendung am 30. Oktober 1938 ist die fiktive Repornahe des Landemastes ab. Vor seinen Augen spielt sich, wie Morri- tage von der Invasion der Marsianer das berühmteste Hörspiel der son sagt, eine der schlimmsten Katastrophen der Welt ab. Das Ent- Welt. Dem Örtchen Grover’s Mill (wie Lakehurst ebenfalls im USsetzen ist in seine Stimme eingeschrieben, ebenso wie seine Trauer: Bundesstaat New Jersey gelegen) bescherte es ein Denkmal, auf „Oh, the humanity.“ Die Schockwelle der Explosion hat sich auch dem an die Landung der Außerirdischen im Radio erinnert wird. sicht- und hörbar als Kratzer in die direkt geschnittene Schallplatte Seine Wirkung entfaltete das Hörspiel vor allem in der mit dem neuen eingeprägt. Toningenieur Charles Nehlsen ist es zu verdanken, dass Medium konkurrierenden Zeitungsindustrie, die sich über eine durch Schneidekopf und Stichel nicht die Aufnahmeplatten zerstört haben, das Hörspiel angeblich ausgelöste Massenpanik erregte. die in den National Archives der USA aufbewahrt werden.3 „Die Wirklichkeit des Radios ist die Wirklichkeit des Radios …“, Doch selbst im Moment der Überwältigung macht Herbert warnte der WDR-Hörspieldramaturg Klaus Schöning, als er 1977 Morrison seinen Job. Die an seinen Toningenieur und ersten Hörer eine deutsche Adaption des Hörspiels von Orson Welles6 realisierte, adressierte Aufforderung „Get this Charlie, get this Charlie“ sorgt und fuhr fort „… oder die Marsmenschen kommen“.7 Das war eine nicht nur dafür, dass man am nächsten Tag etwas zu senden hat, Warnung für die Hörer und eine Mahnung an die Macher, verantsondern auch, dass sein Botenbericht von einem historischen Ereig- wortungsvoll mit medialen Erzählungen umzugehen. Als das Hörnis überliefert wird. Die Explosion selbst ist auf der Aufnahme nicht spiel ein Jahr nach der Ursendung im Mittagsmagazin auf WDR 2 zu hören. Die Höhe von Morrisons überkippender Stimme aber um­so wiederholt wurde, erkundigten sich 158 Hörer beim Westdeutschen deutlicher. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Originalaufnah- Rundfunk nach den Marsmenschen8 – und das, obwohl sich Schömen immer etwa drei Prozent zu schnell abgespielt werden, wie ning jede Mühe gegeben hatte, den Charakter einer Livereportage Michael Biel bemängelt.4 Wohl ein Effekt der diversen Umschnitte zu vermeiden. Dass der Mittagsmagazinmoderator Lothar Dombvon den direkt geschnittenen Originalplatten auf Wachs-Master mit rowski, eine der prägenden Stimmen der Welle, auch in dem Hör33 Umdrehungen pro Minute und Schellackplatten mit 78 U/Min. spiel mitgespielt hatte, mag zur Verwirrung beigetragen haben. Mediengeschichtlich zeigt die mediale „Coverage“ dieses Ereig- Man kann zweifellos die mangelnde Medienkompetenz der Hörenisses Folgendes: Die Vorstellung vom Radio als ausschließlichem rinnen und Hörer beklagen, aber auch die hohe Glaubwürdigkeit Live-Medium, als das es mangels geeigneter Aufzeichnungsgeräte bemerken, die das öffentlich-rechtliche Radio genoss. Privatsenbegonnen hat, setzt sich bis weit in die Periode der professionellen der gab es damals in Deutschland noch nicht. Tonaufzeichnung fort. Außerdem erkennt man hier, dass das Prinzip Die Ressourcen, die Orson Welles ausgebeutet hatte, nämlich Live immer eine Kategorie der Vermittlung, also niemals „unmittel- die Form der Radioreportage mit ihren Live-Schaltungen zu Korrebar“ und in den wenigsten Fällen singulär ist. Der authentische Klang spondenten vor Ort, der fließende Formatwechsel von Information

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zu Unterhaltungsmusik und zurück, überdeckten den Wahnsinn, der sich in der extrem gerafften Erzählung abspielt: Innerhalb von nur einer Radiostunde sollten Raketen vom Mars gestartet sein, die Erde erreicht und unterworfen haben, um kurz darauf an Feinden zugrunde zu gehen, mit denen diese überlegene technische Zivilisation nicht gerechnet hatte: irdische Viren und Bakterien. Der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen hat auf ein Phänomen hingewiesen, das er „Hörvergessenheit“ genannt hat, „das vergisst, was es hörte, indem es vergisst, dass es hört, um also umso mehr von der Präsenz und Tatsächlichkeit des Gehörten überzeugt zu sein“.9 Diese Hör- oder allgemein Medienvergessenheit beschreibt präzise den Moment, in dem die Monster aus dem Schrank, die Marsmenschen aus dem All oder die Viren aus Wuhan kommen. Mehr noch als jede Medienfiktion, die als spielerische Kompetenzübung das ästhetische Bewusstsein jedes Medienkonsumenten kitzelt, besteht die Gefahr in der von interessierter Seite betriebenen Delegitimierung von medial vermittelten Informatio- Krieg der Welten-Denkmal in Grover’s Mill nen überhaupt. Denn wo alles nur „Erzählung“ ist, die Rahmung (das „Framing“) die Perspektive bestimmt und identitätspolitische Gegenwärtig, so die Kritik des Hörspielmachers Ulrich Bassenge Zuschreibungen Diskussionen und Diskurs blockieren, da kann in der Neuen Rundschau,10 sei der Radiobetrieb taub „für die Musik Wirklichkeit geleugnet werden, bis – oder selbst wenn – sich die der Wörter, die feinen Nuancen der Metasprache: Austriazismen realen Toten in den Kühllastern stapeln. bei Ernst Jandl, Bavarismen bei Paul Wührs O-Ton-Gebern, ripuIn dem Moment, in dem subversive Strategien der Künste zu arische Schwingungen im Vortrag von Michael Lentz“. Deshalb forMachttechniken der Herrschenden geworden sind, reagieren dert er die Hörspielabteilungen auf, ein Jahr lang auf ausgebildete Medienmacherinnen und -macher auf verschiedene Weise. Zum Sprecher und Sprecherinnen zu verzichten, um das Klangempfineinen mit dem Versuch, in journalistischen Formaten die Glaub- den zu schärfen. Außerdem fordert Bassenge, „ein Jahr (und es würdigkeitsressourcen des Radios (auf welchem Ausspielweg auch wird wohl dasselbe Jahr sein) keine Literaturadaptionen und keine immer) zurückzugewinnen. Podcasts wie die mit dem Virologen Form literarischer Zweitverwertung“ zu senden. Christian Drosten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk reaktivieren Gleichzeitig ist gegenwärtig in den Formaten der Radiokunst, das, was jahrelang auch in den Sendern als „Schulfunk“ geschmäht wie Hörspiel, künstlerischem Feature und erzählerischer Klang(und abgeschafft) wurde, weil „Storytelling“ ja so viel geiler war. kunst, eine Abschwächung des Langzeittrends zu dokumentariHauptkennzeichen des Prinzips Podcast ist jedoch nicht in schen Formaten zu beobachten. Was mit den O-Ton-Stücken der erster Linie das Expertentum, sondern die Beglaubigung seiner 1970er Jahre und Autoren wie Erika Runge (Bottroper Protokolle)11 Inhalte mit der eigenen Stimme. Noch nie gab es so viele First-per- oder Peter O. Chotjewitz (Die Falle oder Die Studenten sind nicht son-singular-Erzähler wie heute. Selten tritt der Autor hinter die an allem schuld)12 begann und sich bis in die Bühnenformate der zu erzählende Geschichte zurück. Die Abstraktionsleistung, dass Theater-Performance-Gruppen Rimini Protokoll (Karl Marx: Das jeder O-Ton, jeder Interview-Schnipsel Ergebnis eines Auswahl- Kapital, Erster Band)13 oder She She Pop (Testament)14 fortsetzte, prozesses ist, wird von den Hörern immer weniger erwartet. Statt- weicht einer zunehmenden Fiktionalisierung. Beide Gruppen sind dessen bekommt man nicht selten stundenlange, ungeschnittene übrigens für die Hörspieladaptionen ihrer Stücke mit dem immer Gespräche zu hören. Wer hätte gedacht, dass Langeweile ein her- noch wichtigsten deutschen Hörspielpreis, dem Hörspielpreis der ausragendes Merkmal von Authentizität ist. Nicht jeder Interviewer Kriegsblinden,15 ausgezeichnet worden. Beide Gruppen denken ihre ist genauso interessant wie sein Gesprächspartner, und nicht jede Hörspiele vom Radio her und sensibilisieren die Hörer für die MögFrage treibt den Erkenntnisfortschritt voran. Dafür ist man penibel lichkeiten und die Glaubwürdigkeitsreserven des Mediums. Lisa darauf bedacht, immer die eigene Perspektive – samt ihrer blinden Lucassen vom Theaterkollektiv She She Pop hat vom Radio gelernt, Flecken und Wahrnehmungsverzerrungen – transparent zu machen. „dass Hörspiel nämlich nicht Theater ohne Bild ist, sondern dass Im Hörspiel ist die Beglaubigung des Werks durch die Stimme Theater eine Art Hörspiel mit suboptimalem Timing, zu vielen Atmern, ungleich schwieriger. Es funktioniert am besten, wenn Autor und zu wenig Geräuschen und ohne Soundeffekte ist“.16 Sprecher identisch sind. So traten und treten Franz Mon und GerMan kann das Hörspiel aber nicht nur produktionsästhetisch, hard Rühm als Erklärer und Performer ihrer sprachexperimentel- sondern auch von den kommunikativen Effekten her denken. Das len Stücke auf. Carlfriedrich Claus machte seine Körperlichkeit, tut Schorsch Kamerun, Sänger der Punkband Die goldenen Zitrogenauer: seinen Artikulationsapparat, selbst zum Thema, und in nen. Auch er ist mit dem Stück Ein Menschenbild, das in seiner Christoph Schlingensiefs Stimme verschmolzen Künstler und Summe null ergibt17 ein Kriegsblindenpreisträger. Als Freund des Kunstfigur – deutlich vernehmbar auch in seinen Hörspielen. unauthentischen Sprechens – vorzugsweise durch ein Megaphon

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– hat er mit seinem „extratheatralen Hörspiel über das Ende aller verdeckt – ein Detail, eine Perspektive, ein Geschehen am Rande Vielfalt“ namens Kreiskolbenmotorhase die Aporien des schal der Ereignisse.“ Aufdeckung und Verdeckung sind die beiden Seigewordenen subversiven Sprechens analysiert.18 ten medialer Repräsentation (wie auch der Rezeption) von Welt – Sozialisiert in einer „dissident diskursiven Popkultur“ tritt eine Aporie, der nicht zu entkommen ist. Auch die Offenlegung dieKamerun in seinem Hörspiel in der Rolle des „Mitdemschwanzwed- ser Erkenntnis gehört zur Glaubwürdigkeitsreserve eines Mediums, lers“ auf, der über jedes Stöckchen springt, das ihm hingehalten das sich selbst reflektiert. Wenn, wie in Eran Schaerfs Hörspiel(en), wird. Als Kreiskolbenmotor-Hase rotiert Kamerun zwischen den These, Argument, Beweis und Beispiel in eins fallen und im VollIgeln, die immer schon vorher da sind und die Grenzen der kom- zug hörbar werden, dann zeigt das, was das Radio, was das Hörmunikativen Räume definieren. Denn souverän ist, wer über das spiel kann. Get this, Charlie. Framing entscheidet. Aber, und das ist die Pointe: In seinem gehetzten Gehechel wird Arbeit verrichtet – mechanische wie im Brenn1 Michael Biel, The Hindenburg 11 Erika Runge, Bottroper Protokolle, Broadcast, http://jeff560.tripod Regie: Peter Schulze-Rohr, raum des Kreiskolbenzylinders, ästhetische und politische im Hör . com/hindenburg.html, zuletzt Produktion: SDR, Ursendung: SDR, am 21.4.2020 11.6.1969 spiel. Der Titel des Hörspiels, Kreiskolbenmotorhase, macht also 2 Die komplette Aufnahme von 12 Peter O. Chotjewitz, Die Falle oder buchstäblich Sinn. „Get this Charlie, get this Charlie!“, hört man Herbert Morrisons Reportage findet Die Studenten sind nicht an allem sich hier: https://www.youtube schuld, Regie: Richard Hey, aus der Ferne Herbert Morrison rufen. .com/watch?v=tm36oLQzbQ0, Produktion: SDR/SR/WDR, zuletzt am 21.4.2020 Ur­s endung: 29.01.1969 Auf einfältige, widersprüchliche und destruktive mediale Bot3 Eintrag zu „Herbert Morrison – 13 Rimini Protokoll, Karl Marx: Das schaften mit Faktenchecks zu reagieren, kann nicht vorrangig die Hindenburg Desaster, 1937“ im Kapital, Erster Band, Regie: Helgard Eyewitness Programm der National Haug, Daniel Wetzel, Produktion: Aufgabe der Künste sein. So wie Schorsch Kamerun auf komplexiArchives, siehe https://www DLF/WDR, Ursendung: 20.11.2007 .archives.gov/exhibits/eyewitness/ 14 She She Pop, Testament – Ver­ tätsreduzierende Bösartigkeiten mit Komplexitätssteigerung reagiert, html.php?section=5, zuletzt am spätete Vorbereitungen zum Geneindem er beispielsweise über einen Ausdruck nachdenkt, „der nicht 21.4.2020 rationswechsel nach Lear, Hörspiel 4 Michael Biel, The Hindenburg nach der gleichnamigen Perfortaugt für H&M-Werbung oder den nächsten originellen Spruch von Broadcast mance von She She Pop und ihren 5 Orson Welles, The War of the Vätern, Komposition: Max Knoth, Christian Lindner“,19 so arbeitet auch der bildende Künstler und HörWorlds, nach dem gleichnamigen Christopher Uhe, Regie: She She spielmacher Eran Schaerf an der Steigerung von Komplexität. Roman von H. G. Wells, HörspielPop, Ursendung: Deutschlandradio fassung von Howard Koch, Regie: Kultur, 19.9.2011 In seinem Hörspiel Die Stimme des Hörers hat er schon 2002 Orson Welles, Ursendung: CBS 15 Der Preis wurde 1950 vom Bund 30.10.1938 der Kriegsblinden Deutschlands einen Begriff verwendet, den 2017 Kellyanne Conway, Beraterin 6 H. G. Wells, Der Krieg der Welten e.V. (BKD) ins Leben gerufen und des US-Präsidenten Donald Trump, benutzte, um eine besonders (nach dem Hörspiel von Orson zeichnet seitdem immer wieder Welles), übers. von Robert Schnorr, Hörspiele aus, die jeweils „state of dreiste Lüge zu überdecken.20 Sie nannte sie „alternative facts“. Im Bearbeitung und Regie: Klaus the art“ der Hörspielkunst waren. Schöning, Ursendung: WDR 16 Lisa Lucassen anlässlich der automatischen Talkradiosender „Die Stimme des Hörers“ in Scha18.4.1977 Verleihung des Hörspielpreises erfs gleichnamigem Hörspiel sorgt eine Software dafür, dass Daten 7 Klaus Schöning, Die Wirklichkeit der Kriegsblinden für das Hörspiel des Radios ist die Wirklichkeit des Testament – Verspätete Vorbereiwie etwa die Namen von Personen, Orten und Kriegen bisweilen Radios oder Die Marsmenschen tungen zum Generationswechsel kommen. Feature, Ursendung: WDR nach Lear am 12. Juni 2012 im durch „Alternativen“ ersetzt werden. 18.4.1977. Gedruckt in Klaus Kleinen Sendesaal des Westdeut2017 wurde Eran Schaerfs Hörspiel Ich hatte das Radio an Schöning (Hg.), Hörspielmacher – schen Rundfunks in Köln Autorenporträts und Essays. König17 Schorsch Kamerun, Ein Menschenur­gesendet.21 Der Titel zitiert einen anzüglichen One-Liner von Maristein/Ts. 1983, S. 123–134 bild, das in seiner Summe null 8 Werner Faulstich, Radiotheorie. ergibt, Regie: Schorsch Kamerun, lyn Monroe. Die Frage eines Reporters, ob sie beim Fotoshooting zu Eine Studie zum Hörspiel „The War Produktion WDR, Ursendung: einem Kalender nackt gewesen sei, verneinte sie: „It’s not true I had of the Worlds“ (1938) von Orson 25.9.2006 Welles. Tübingen 1981 18 Schorsch Kamerun, Kreiskolbennothing on, I had the radio on.“ Schaerfs Stück spielt, wie schon die 9 Wolfgang Hagen, Der Radioruf. motorhase, Regie: Schorsch Zu Diskurs und Geschichte des Kamerun, Produktion: WDR, Vorgängerproduktion, in einem fiktiven Radiosender. Diesmal ist es Hörfunks, in: Martin Stingelin und Ursendung 14.11.2017 ein Supersender, zu dem sich alle deutschsprachigen Anstalten in Wolfgang Scherer (Hg.), HardWar / 19 Schorsch Kamerun, Die Hamburger SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis hätten gegen G20 gestimmt. den dreißiger Jahren des 21. Jahrhunderts zusammengeschlossen 1945. München 1991, S. 243–274, Interview mit Stephan Lebert, in: hier S. 271 Die Zeit, 4.7.2017 haben werden. Nachrichten werden dort „zufallsautomatisch“ an 10 Ulrich Bassenge, Hoerspiel my ass. 20 E ran Schaerf, Die Stimme des die Hörer verteilt. Aktualität spielt dabei nur eine untergeordnete Eine Geschichte der Verachtung, Hörers, Regie: Eran Schaerf, Proin: Neue Rundschau 3 (2019), duktion: BR/ZKM/Intermedium 2, Rolle. Die Meldungen, die Eran Schaerf in seinem Hörspiel absetzt, Themenheft „Himmel Hörspiel“, Ursendung: 23.3.2002 hg. v. Michael Lentz, Frankfurt 21 Eran Schaerf, Ich hatte das Radio reflektieren auf hohem Abstraktionsniveau die medialen Implikati2019, S. 28–32 an, Regie: Eran Schaerf. Produkonen kanonischer Hörspiele. Der Lindberghflug / Ozeanflug von tion: BR, Ursendung: 7.4.2017 Bertolt Brecht kommt ebenso vor wie Der Tribun von Mauricio Kagel oder die bereits erwähnte Falle von Peter O. Chotjewitz. Selbstverständlich fehlt auch Orson Welles The War of the Worlds nicht. Die medientheoretische Rolle, die das Radio für Marilyn MonJOCHEN MEISSNER ist Hörspielkritiker für den Fachdienst roe spielt, ist die der Bedeckung – englisch „coverage“, was als Medienkorrespondenz und Autor von Radiofeatures (zuletzt: Voyager 3 – Eine Reise durch den radiophonen Raum). Von „news coverage“ auch Berichterstattung bedeutet. Monroes Äuße2006 bis 2010 war er künstlerischer Leiter des Hörspielsymrung habe also weniger Konsequenzen für die Modeindustrie als posions an der Eider am Nordkolleg Rendsburg. Er ist für die Medientheorie, heißt es in Schaerfs Hörspiel: „Monroe sagte, Mitveranstalter des Berliner Hörspielfestivals der freien was wir wissen: dass jede Berichterstattung zugleich auch etwas Szene und betreibt seit 2012 die Website hoerspielkritik.de.

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„MIHAELA UND IHRE TÖCHTER SPIELEN KEINE ROLLE,


THEMA EUROPA

DIE SIND DEN GANZEN TAG LANG HEXEN“ Johanna-Maria Fritz im Gespräch mit Anja Maier und Thomas Winkler

Johanna-Maria Fritz wurde 1994 geboren, hat an der OstkreuzSchule Fotografie studiert und ist seit 2019 Mitglied von Ostkreuz – Agentur der Fotografen. Ihre Bilder wurden gedruckt in Spiegel, Zeit oder National Geographic, ihre Arbeiten schon ausgestellt in Frankreich, Australien, China und den USA. Ausgezeichnet wurde sie mit dem Inge-Morath-Preis und dem Lotto Brandenburg Kunstpreis. In „KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“, der Ausstellung von OSTKREUZ – Agentur der Fotografen und der Akademie der Künste, die im Oktober am Pariser Platz eröffnet wird, ist sie vertreten mit einer Arbeit über Hexen in einer Roma-Community in Rumänien. Johanna-Maria Fritz lebt in Berlin.

ANJA MAIER / THOMAS WINKLER   Frau Fritz, für Ihre neue Fotoarbeit sind Sie nach Rumänien gereist. Was haben Sie dort gesucht? JOHANNA-MARIA FRITZ   Die Magie. AM/TW   Und: Sind Sie fündig geworden? JF  Ich habe zumindest Mihaela Minca gefunden. Mihaela ist eine Hexe, die mächtigste Hexe des Landes. Im April 2019 habe ich sie das erste Mal besucht. Zwar gibt es auch in Rumänien viele verschiedene Arten von Magie, aber ich wollte unbedingt eine Roma-Hexe begleiten, weil in der Roma-Community die Magie eine lange Tradition hat und immer noch eine sehr wichtige Rolle spielt. AM/TW   Wie sind Sie zu dem Thema gekommen? JF   Ich habe über mehrere Jahre das Thema Zirkus fotografiert, war in Island, Palästina, Afghanistan – bis hin zum Senegal –, um Zirkusse zu begleiten. Nachdem ich dieses Thema abgeschlossen hatte, war die „Magie“ sehr naheliegend. Also habe ich angefangen zu recherchieren und bin auf sehr viele spannende Geschichten gestoßen, die mit Magie zu tun haben. Und eine davon betrifft eben die Hexen in den Roma-Gemeinschaften. Wenn dieser Teil fertig ist, will ich am Thema dranbleiben und weitere magische Geschichten fotografieren. AM/TW   Wie hat man sich den Arbeitsalltag einer Hexe vorzustellen? JF   Mihaela arbeitet mit ihren beiden Töchtern und ihrer Schwiegertochter zusammen. Auch in der Familie der Schwiegertochter haben schon die Mutter und die Großmutter als Hexen gearbeitet. Bis auf eine Tochter wohnen alle zusammen in einem Haus. Dort kommen die Kundinnen und Kunden hin, bei Mihaela ist also immer etwas los. Einmal kamen zwei junge Männer mit einer toten Taube, denn für den Liebeszauber, den sie wollten, braucht man die. Allerdings läuft mittlerweile sehr viel über das Internet. Die Rituale werden live über Facebook oder Instagram gestreamt, entweder filmt eine der Töchter oder ein Ehemann. Das sehen sich dann Menschen auf der ganzen Welt an, und entsprechend kommen dann auch Wünsche für Rituale von überallher. Es gibt Liebeszauber und Feuerzauber, man kann sich Reichtum wünschen, man kann jemanden verfluchen lassen – und man kann sich natürlich die Zukunft lesen lassen. AM/TW   Und dafür gibt es eine Preisliste? JF   Nein, das dann doch nicht. Mihaela legt die Preise fest. Sie sieht sich das Facebook-Profil der Kunden an oder fragt, was die verdienen, um ihre Preise danach zu richten. Wenn man kein Geld hat, aber ein Problem, dann behandelt sie schon auch mal umsonst. Aber sie kann es sich leisten. Das Geschäft läuft gut, Mihaela hat immer was zu tun, obwohl die Verständigung mit der internationalen Kundschaft natürlich nicht ganz einfach ist. Mihaela spricht zwar kein Englisch, aber zwei der Töchter – und für den Rest gibt es ja Google Translate. AM/TW   In Ihren Fotos sind die Hexen bei der Arbeit zu sehen, das geht mitunter blutig zu. Auf einem Ihrer Bilder ist ein Herz zu sehen. JF   Ja, das ist ein Ochsenherz. AM/TW   Zu sehen sind auch brennende Besen. JF   Hexe ist ein Beruf, in dem natürlich viel mit Klischees

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gespielt wird. Bei Mihaela zuhause hängen überall kleine Hexenfiguren herum. Und der Besen ist natürlich – das weiß ja jeder – eines der zentralen Hexen-Klischees. Ich habe erst vor Kurzem die Bedeutung erfahren: Wenn man früher einen Besen vor die Tür gestellt hat, dann bedeutete das wohl, dass man kein fahrendes Volk und keine Hexen an der Schwelle haben wollte – es ist also eigentlich ein rassistisches Symbol. AM/TW   Geht es darum auch in Ihrer Arbeit?

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JF   Ja, mir war wichtig, dass ich eine Frau begleite – und eine Frau aus der Roma-Community. Diese Gesellschaft ist bekanntlich ziemlich patriarchal organisiert, und ich wollte zeigen, wie eine starke Frau in einer solchen Gesellschaft die Verhältnisse auf den Kopf stellen kann. Sie verdient mit Abstand das meiste Geld in der Großfamilie und hat entsprechend auch das Sagen. AM/TW   Sie wirkt sehr bossy auf den Fotos. JF   Das ist sie auch, auf jeden Fall.

AM/TW   Wie kommt man so einer Frau nahe? War das schwierig? JF   Gar nicht so sehr. Mihaela ist sehr offen, es sind auch fast immer Journalisten da, denn Presse ist für sie kostenlose Werbung. Es gibt natürlich gewisse Grenzen, aber mir fällt jetzt eigentlich nur eine ein: das Ausschlafen. Mihaela schläft wahnsinnig gerne lang. Das heißt, vor zwölf Uhr mittags geht gar nichts. Aber ansonsten? Ich habe Weihnachten mit der Familie verbracht, ich hätte Silvester mit ihnen feiern können.


AM/TW   Was auffällt, wenn man die Bilder betrachtet, ist vor allem die große Selbstverständlichkeit, mit der diese doch geheimnisvollen Rituale in den Alltag integriert sind. Oder ist die Hexe eine Rolle, die Mihaela spielt, und es gibt noch eine weitere Mihaela, die dann nach Feierabend das Kopftuch abnimmt? JF   Das ist kein Job. Mihaela und ihre Töchter spielen keine Rolle, die sind den ganzen Tag lang Hexen. Ich hatte auch in gewisser Weise erwartet, dass sich etwa die Stimmung ändert, wenn ein Ritual ansteht, dass das inszeniert wird. Aber so ist das nicht. So, wie Mihaela zaubert, so fährt sie auch Auto: ruppig wie ein 19-jähriger Macker, der gerade seinen Führerschein gemacht hat. Man erwartet ein Klischee von Mystik. Und es ist dann auch mystisch, aber eben auf eine ganz andere, spezielle Art und Weise. AM/TW   Haben Sie auch schon ihre Dienste in Anspruch genommen? JF   Nein, solange ich noch mit ihr arbeite, lasse ich das lieber sein. Das ist mir zu gruselig. Aber wenn ich mit der Arbeit fertig bin, dann werde ich mir schon was wünschen. AM/TW   In Ihrer Arbeit geht es um starke Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Ist das eine femi­ nistische Arbeit? JF   Ja, in bestimmten Punkten sicherlich. Natürlich ist Mihaela ein positives Beispiel für andere, weil sie als Frau in einer solch patriarchalen Gesellschaft eine machtvolle Position erreicht hat – und diese dafür nutzt, sich zum Beispiel auch für die Rechte von Homosexuellen einzusetzen. Und natürlich ist die Arbeit schon dadurch feministisch, dass eine Frau Frauen fotografiert – und dass nicht ein Mann, wie es immer war, eine Frau ablichtet. Wichtiger allerdings als der feministische Aspekt ist mir die Mystik, das Wesen der Zauberei, wie sie funktioniert. Es geht gar nicht so sehr darum, dass die Wünsche in Erfüllung gehen, dass die Zukunft genau so eintritt, wie Mihaela es vorhergesagt hat. Es geht vielmehr darum, dass sich jemand deines Problems annimmt. Man könnte auch in die Kirche gehen, zehn Ave Maria aufsagen, du kannst zu einem Therapeuten gehen, oder du gehst eben zu Mihaela – und sie hat das Talent, dass du dich mit deinem Problem bei ihr aufgehoben fühlst, sie hört zu und packt an. Ihr Mann hat es mal so ausgedrückt: Die Kunden verlieben sich in Mihaela wie in eine Mutter. AM/TW   Ihre Arbeit wird Teil der Ausstellung „KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“ sein. Was erzählt uns Ihre Arbeit über Europa? JF Sie erzählt eine von Millionen verschiedener Geschichten, die in diesem Europa geschehen. Sie erzählt von einem Europa, das man so nicht auf dem Schirm hat, sie erzählt nicht von Brüssel, Berlin oder Paris, sondern von einem der vielen Ränder Europas, an dem es noch überraschende, mystische Seiten zu entdecken gibt. Und natürlich erzählt sie auch von einem Kontinent, in dem Roma immer noch verfolgt und nahezu überall diskriminiert werden, obwohl die Dienstleistungen einer Hexe wie Mihaela auf der ganzen Welt nachgefragt werden. AM/TW   Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff „Europa“ hören? JF   Natürlich ist es schön, dass es in Europa kaum noch Passkontrollen gibt, dass wir uns frei bewegen und überall leben können, wo wir wollen. Aber das gilt ja nicht für

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alle. Wenn ich den Begriff Europa höre, dann denke ich an abgeschottete Außengrenzen, an das Elend in einem Flüchtlingslager wie Moria. Beim Gedanken an Europa werde ich – ehrlich gesagt – ziemlich sauer. AM/TW   Können Sie sich vorstellen, dass Europa zerbricht? JF   Ich kann mir alles vorstellen. Und ich habe keine Angst davor. Es wäre dann auch interessant, was dann entsteht und wie unsere Welt aussehen wird. AM/TW   Sie sind eine der jüngsten Fotografinnen in der Agentur Ostkreuz. Wann und wie sind Sie zur Fotografie gekommen? JF   Ich zwar zwölf oder dreizehn Jahre alt, als ich be­gonnen habe, alle meine Freundinnen und Freunde zu fotografieren. Damals sind wir in Baden-Baden, wo ich aufgewachsen bin, oft in alte Schlösser und Villen eingebrochen. Die waren oft nur eine Woche im Jahr bewohnt, wir sind da eingestiegen und haben fotografiert. Es war ein Abenteuer, es ging um den Nervenkitzel. Aber das hat mich wohl geprägt: Ich wollte schon damals mit der Kamera diesen speziellen Moment festhalten. AM/TW   Deshalb sind Sie Fotografin geworden? JF   Ich habe das nie aktiv entschieden, ich wollte nie ausdrücklich Fotografin werden, das hat sich so ergeben. Ich kann auch gar nichts anderes.

AM/TW   Wenn man sich Ihre bisherigen Arbeiten ansieht, fällt auf: Es geht bis heute vor allem um Menschen, um Menschen in Bewegung, Menschen in Konflikten, im Krieg. Was fasziniert Sie daran? JF   So viele Menschen es auf der Welt gibt, so viele Geschichten gibt es auch. Diese Geschichten will ich erzählen mit meinen Bildern. Ich habe seit Anfang meines Studiums eigentlich immer Menschen fotografiert, aber das habe ich nie aktiv entschieden, es hat sich so ergeben. Das waren einfach die Geschichten, die mich am meisten interessiert haben, am meisten bewegt haben. Ich habe zwar auch oft Landschaftsaufnahmen in meinen Arbeiten, aber im Zentrum steht schon immer der Mensch. AM/TW   Gibt es etwas, was Sie nicht fotografieren würden? JF   Nein, ich finde eigentlich alles interessant. Vielleicht Werbe-Fotografie. Ich habe während des Studiums mal Produktfotografie gemacht und würde es auch wieder machen, wenn ich Geld bräuchte. Aber ich habe, glaube ich, zu großen Respekt vor dem Handwerk: Ich war mal dabei, wie ein Werbefotograf eine einzelne Halskette mit vierzig Spiegeln und Lampen ausgeleuchtet hat. Das ist eine Wissenschaft, sehr spannend. Aber es wäre nicht meine Leidenschaft, zu viel Gefummel.

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AM/TW   Was hat man davon, Mitglied einer Agentur wie Ostkreuz zu sein? JF   Erst einmal weniger Papierkram. Der wird einem abgenommen. Dann hat man natürlich andere Möglichkeiten. Eine Ausstellung in der Akademie der Künste hätte ich wohl kaum allein bekommen. Vor allem aber ist es natürlich großartig, dass man so viele erfahrene Kolleginnen und Kollegen hat, die man jederzeit alles fragen kann. Die monatlichen Treffen, bei denen jeder seine neuen Bilder vorstellt und die dann diskutiert werden, sind auch toll. Da bekommt man natürlich auch Kritik ab, aber dieser Austausch ist sehr hilfreich.

ANJA MAIER, geboren 1965 in Ostberlin, ist Journalistin und Autorin. Für die taz – die tageszeitung berichtet sie als Parlamentskorrespondentin über CDU, CSU und das Kanzleramt. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, schreibt die taz-Kolumne „Bauernfrühstück“ und war an diversen Foto-Publikationen als Autorin beteiligt. THOMAS WINKLER, geboren 1965 in Nürnberg, schreibt seit sehr Langem für viele verschiedene Medien, darunter über die Jahre taz, Zeit oder Spiegel Online, über Kultur, Sport und was sonst noch anfällt. Seit 2011 arbeitet er als Musik­­­­redakteur für die Berliner Stadtmagazine zitty und tip. Das hier abgedruckte Interview ist ein Exzerpt eines Podcasts, der die Ausstellung begleitet. Ca. 30-minütige Podcasts mit allen Ostkreuz-Fotografinnen und -fotografen werden auf adk.de, ostkreuz.de und bei Spotify zu hören sein.

„KONTINENT – AUF DER SUCHE NACH EUROPA“

„KONTINENT – AUF DER SUCHE NACH EUROPA“ 2. Oktober 2020 – 10. Januar 2021

Eine Ausstellung von OSTKREUZ – Agentur der Fotografen und der Akademie der Künste Akademie der Künste, Pariser Platz 4, 10117 Berlin Eröffnung: 1. Oktober, zusammen mit den EMOP Opening Days / EMOP Berlin: 1. bis 31. Oktober 2020 in ganz Berlin und Potsdam

„KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“ ist die aktuelle, thematisch angelegte Gemeinschaftsausstellung aller Mitglieder der OSTKREUZ – Agentur der Fotografen in Kooperation mit der Akademie der Künste. Sie eröffnet am 1. Oktober 2020 den diesjährigen EMOP Berlin – European Month of Photography und die EMOP Opening Days. Als künstlerisches und politisches Statement im Akademie-Gebäude am Pariser Platz rückt die Ausstellung die Gegenwart Europas in den Mittelpunkt und beleuchtet diese kritisch in 22 Positionen. In freien Projekten erforschen die OSTKREUZ-Fotograf*innen verschiedene Aspekte des Miteinanders in Europa und nehmen sowohl persönliche, gesellschaftliche und politische

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Phänomene als auch grundlegende Strukturen und historische Entwicklungen in den Blick. Den Zugang zu komplexen Inhalten finden sie dabei immer über Bilder vom Menschen und seiner Umgebung. Die Themen der Arbeiten erstrecken sich von Fragen nach Identität und Sicherheit, über Renationalisierung, Migration und Integration bis hin zu einem grundsätz­ lichen Verständnis von Humanismus, Demokratie und Meinungs­freiheit. „KONTINENT“ möchte fruchtbare Impulse für die gegenwärtige Debatte über Europa bieten und fragt: Was verbindet uns? Wie leben wir zusammen? Wer ist mit „Wir“ gemeint, wenn von einem „Wir“ in Europa gesprochen wird?

Beteiligte Künstler*innen: Jörg Brüggemann, Espen Eichhöfer, Sibylle Fendt, Johanna Maria Fritz, Annette Hauschild, Harald Hauswald, Heinrich Holtgreve, Tobias Kruse, Ute Mahler, Werner Mahler, Dawin Meckel, Thomas Meyer, Frank Schinski, Jordis Antonia Schlösser, Ina Schoenenburg, Anne Schönharting, Linn Schröder, Stephanie Steinkopf, Mila Teshaieva, Heinrich Völkel, Maurice Weiss, Sebastian Wells und Sibylle Bergemann (1941–2010)  Kurator: Ingo Taubhorn Die Ausstellung wird gefördert vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), der Berliner Senats­v erwaltung für Kultur und Europa und der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.


THEMA EUROPA

GEGEN EINEIPOLARISIERUNG DER KÜNSTE Noémi Kiss

PROGRESSIVER WESTEN UND RÜCKSTÄNDIGER OSTEN?

NOÉMI KISS (*1974 in Gödöllő) ist eine ungarische Schrift­ stellerin, Kritikerin und Essayistin, deren Werke ins Englische, Deutsche, Polnische, Bulgarische, Rumänische und Serbische übersetzt wurden. Die deutsche Presse betrachtet Kiss als eine der vielversprechendsten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Kiss studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Soziologie und Hungarologie an der Universität Konstanz in Deutschland sowie an der Universität Miskolc in Ungarn, wo sie seit 2000 als Dozentin tätig ist. Kiss veröffentlicht regelmäßig Kurzgeschichten und fiktive Reiseberichte über Osteuropa sowie Essays über Fotografie und Literatur. Sie engagiert sich für die Anerkennung der kulturellen Vielfalt in der Peripherie Europas, die abseits der diskursbildenden Zentren existiert, sowie für eine europäische Zivilgesellschaft, insbesondere im Bereich der Kunst und Kultur. Veröffentlichungen auf Deutsch (Auswahl): Was geschah, während wir schliefen (Matthes & Seitz Berlin, 2008), Schäbiges Schmuckkästchen. Reise in den Osten Europas. Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöllő – Lemberg – Siebenbürgen- Vojvodina (Europa Verlag, 2015), Dürre Engel (Europa Verlag, 2018).

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Je nachdem, wo wir stehen und wohin wir unseren Kopf wenden: Die Kunst ist in Bewegung. Sie ist schließlich kein Glücksspiel, bei dem die Künstler den Ertrag ihrer Arbeit beim Lotto gewinnen. Dennoch gibt es Gesellschaften, die mehr Glück haben, in denen die Kunst weniger polarisiert ist als in Ungarn oder Europa – Gesellschaften, in denen die Politik das institutionelle System der Kunst nicht als Gegenstand des Kulturkampfes betrachtet. Die auf dem Feld eines solchen Kampfes aufbrechenden Hierarchien sollten für den einzelnen Künstler ohnehin nicht unmittelbar von Bedeutung sein, denn die Kunst ist kein Privileg des Zentrums. Sie kann auch nicht nur den Reichtum der Zentren bedeuten, die die Gelder verteilen und über die Vergabe der Auszeichnungen entscheiden. Gleichzeitig wird die Autonomie der Kunst, gerade weil das Vertrauen in die künstlerischen Institutionen abnimmt, immer mehr in Frage gestellt, und das gilt insbesondere für die mittlere Generation und die Jüngeren. Spricht man von Kunst auf europäischer Ebene, so ist der Zugang zu Förderungen (ebenso wie zur Kunst an sich) stark asymmetrisch. Ich erlebe die Kunst heutzutage als tägliches Hamsterrad – oder wie die Quarantäne in Zeiten des Coronavirus: als Isolation, als Abwendung. Plötzlich steht es mir klar vor Augen: Es macht gar keinen Unterschied, ob wir vor oder nach der Pandemie leben. Für einige (politisch ausgewählte) Künstler, die vom Staat regelmäßig Förderungen erhalten, ist es eine Phase von großer Schöpfungskraft. Ihnen reicht immer jemand (auch nach Erschütterungen von der Stärke eines Erdbebens) eine „helfende Hand“. Gleichzeitig stehen die sogenannten unabhängigen Künstler plötzlich ganz nackt auf den Online-Bühnen. Sie sind wieder bei null. Ob sie etwas Kreatives leisten oder gerade nichts tun, ist dem System Kunst egal. Für Künstler, die von einem Tag zum nächsten leben, die sich keiner wohlgepolsterten Mitgliedschaft in bedeutenden Kreisen rühmen können, ist die Zeit des Lockdown hart und schwer zu überstehen. Sie können die ruhige Zeit kreativer Isolation nicht genießen, im Gegenteil. Bei uns in Ungarn gibt es beispielsweise keinen Kreis freier Künstler. Die Literatur ist in die Gefangenschaft einer geschlossenen Gesellschaft von Buchmarkt und staatlichen Auszeichnungen geraten. Diese Systeme sind noch polarisierender während einer Pandemie. Die kulturellen Räume Europas sind gespalten, denn mit der wirtschaftlichen Ungleichheit geht häufig eine kulturelle einher. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Kultur im Osten oder in der Provinz nicht entwickeln würde – nur reflektiert sie über das europäische Dasein eben auf ganz andere Weise. Warum dem so ist und was der „osteuropäische“ („nicht progressive“, als konservativ titulierte, sich verschließende, introvertierte, homogene, sich

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vor dem Fremden fürchtende usw.) kulturelle Raum sagt / worauf er seinen Fokus richtet – das ist meines Erachtens heute eine der spannendsten Fragen. So werden Themen wie Entfremdung von der Landschaft, Abwanderung, Armut, Ent/Nationalisierung, Mauer und Grenzen, Gettos, Krankheiten, das Trauma von 1989, neue innereuropäische Kolonisation und das Leben in ländlichen Regionen verarbeitet. Dazu später mehr.

Die in den Zentren anzutreffenden Vorstellungen sind häufig auf mindestens einem Auge blind. Und das andere richtet seinen Blick starr auf die (Groß)Städte und ihre urbane Kultur. Tatsächlich aber ist die Kultur – aus Sicht ihrer Akteure – sehr vielschichtig, da innerhalb und außerhalb der Städte sehr unterschiedliche Konsumenten und kulturschaffende Szenen anzutreffen sind. Es wäre die Aufgabe des institutionalisierten Kunstsystems, diese Differenzen, Trennlinien und Grenzen aufzuzeigen – und aufzuheben. Um nur ein ungarisches Beispiel zu erwähnen: Die Einbeziehung der Dörfer, der Städte und der Bevölkerung, die an den ostungarischen Grenzen lebt – die von Ukrainern, Rumänen, Ruthenen, Zipsern usw. bewohnten Regionen –, in den kulturellen sowie gesellschaftlichen Raum ist bei uns in Ungarn eine zentrale, jedoch bisher ungelöste Herausforderung. Gleichzeitig sitzen in Budapest die Menschen – im Fall der Literatur vornehmlich Männer – in ihren Blasen und steuern von dort aus ihre gegenseitigen Belohnungssysteme.

Dies wird durch die internetbasierte Subkultur in den Bereichen der Musik, Literatur, Film und bildenden Kunst etwas aufgelockert, doch die Kultur Europas wird nach wie vor nicht in ihrer (regionalen) Vielfalt wahrgenommen, sondern bezieht sich auf bestimmte Werte und Identitäten des Westens. Lokale Kultur und Subkultur wurden in die Bahnen von Konsum und Gentrifizierung gelenkt – wenn das so bleibt, werden sich die Grenzen zwischen Ost und West, zwischen Stadt und Land sowie zwischen Zentrum und Provinz noch weiter verhärten. Dabei wäre gerade das Gegenteil notwendig. Die langfristige Förderung lokaler Kultur ist in der Peripherie noch wichtiger als im Zentrum. Insbesondere in östlichen Regionen, die über ein intensives kulturelles Leben verfügen. Sie könnte dafür sorgen, dass bestimmte ländliche Räume und an die EU angrenzende östliche Regionen nicht länger abgehängt werden. Denn dort, wo wirtschaftliches und kulturelles Kapital zur Verfügung steht, ist auch die kulturelle „Identität“ umfassend organisiert, wo dieses Kapital aber nicht vorhanden ist, wo es eine Grenze gibt, dort stirbt sie ab oder wendet sich nach innen; sie schottet sich ab, gibt auf, wird introvertiert, frustriert und handlungsunfähig – dies kritisieren viele Intellektuelle seit Jahren an der heutigen neoliberalen und marktorientierten Kulturperspektive aufs Schärfste. (Im Hinblick auf die Kultur kann eine solche Abschottung andererseits auch sehr produktiv sein und eine kreative Wendung nehmen; daher wäre es gerade wichtig, den Ausdruck dieses Prozesses in Musik, Literatur oder Theater in das kanonisierte Feld des Zentrums einzubeziehen.)

TRANSNATIONALISMUS IN DER GRENZSITUATION

KULTUR UND POLITIK IM HEUTIGEN OSTEUROPA

Wie kann es sein, dass eine traditionell kulturell vielfältige Stadt an die Peripherie gedrängt wird – wie das ukrainische Uschhorod an der ungarisch-slowakischen Grenze; das ungarische Debrecen an der Grenze zu Rumänien; die rumänischen Städte Cluj-Napoca (dt. Klausenburg) und Brașov (dt. Kronstadt) in Siebenbürgen oder Oradea (dt. Grosswardein) an der ungarischen Grenze; die westukrainischen Städte Lwiw (dt. Lemberg) und Czernowitz – und bestimmte Bevölkerungsgruppen das europäische, transnationalistische Dasein, das Verschwimmen der Grenze vollkommen anders wahrnehmen als diejenigen, die in den Zentren, den Hauptstädten Europas leben? Warum sollte derjenige, der im grenznahen Gebiet lebt, weniger einsehen, dass die Grenze unwichtig ist, als der im Zentrum Lebende? Die Dichotomien von Zentrum und Peripherie, von West und Ost bestimmen die kulturelle und multikulturelle, ideell globalisierte Landkarte von heute und sorgen doch zugleich für geistige Immobilität. Wer in den Genuss von Kultur kommt, ist Konsument. Die Produktionsstätte von Kultur, der Ort, wo sie entsteht und vor allem kanonisiert wird, ist aber das Zentrum. Die Peripherie verzichtet auf jegliche Teilhabe an diesem Prozess – weil sie arm ist, über keine zahlungsfähige Schicht verfügt, zu weit entfernt liegt, schwer erreichbar oder damit beschäftigt ist, Überlebensstrategien auszuarbeiten. Dafür passt sie ihr Verhalten an, stülpt sich „westliche“ Identitäten über, solche, mit denen sie sich erfolgreich durchzusetzen vermag.

Im politischen und wirtschaftlichen Raum treten die Grenzlinien nicht minder deutlich hervor als bei den kulturellen Präferenzen. So ist das Markenzeichen der östlichen Ränder Europas die Abwanderung. Und ihr kulturelles Kapital nehmen die „Migranten“ mit in den „Westen“. Dabei hat sich doch in Ungarn, Polen, Rumänien oder der Ukraine deutlich herauskristallisiert, wie die Menschen ihre eigene Politik zum Ausdruck bringen, und zwar nicht nur in den Wahllokalen, sondern in der Art, wie die Kunst (Theater, Musik, Literatur, die Traditionen in der bildenden Kunst) sich entwickelt und über gesellschaftliche Spannungen reflektiert. Oder anders ausgedrückt: eben nicht reflektiert. Denn das Zentrum nimmt diese Probleme der Peripherie nicht wahr. Vielmehr spricht es die Sprache der in der Provinz / im Osten / an der Peripherie lebenden Menschen überhaupt nicht. Es achtet nicht auf die lokale (ebenso europäische, sogar proeuropäische) Zivilgesellschaft. Dabei würde sich gerade die Kunst dazu eignen, die Schere nicht weiter aufgehen zu lassen – dafür zu sorgen, dass gewisse Gruppen nicht in eine entfremdete und passive Position gedrängt werden: in eine Lage, in der sich nicht die Vorstellung eines ersehnten kulturellen Raums erfüllt, sondern nur das Bild renovierter Behörden, neu asphaltierter Gehwege und mit öffentlichen Geldern erbauter Betongebäude auftaucht. Gerade dort bedarf es der Förderung der Kultur, wo sich die finanzielle Unterstützung der Europäischen Union einzig und allein auf Beton beschränkt.

ZENTRUM UND PERIPHERIE

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Wenn aber nicht das lokale Leben den kulturellen Raum bestimmt, sondern die wortführenden „Texte“ des Zentrums, dann werden die neuen Betongebäude vergebens errichtet, dann bleiben sie nur hohle Mauern. Der vom Westen kommende Impuls verliert jeglichen Sinn und bleibt ein groteskes Zeichen. Die Orientierung nach Westen und die Erwartungen, die an diese Orientierung geknüpft sind, werden nicht erfüllt. Und dabei hilft die bewährte Praxis des Ostens, die Abwanderung, ganz und gar nicht. Wie die kultursoziologischen Forschungen der vergangenen Jahre gezeigt haben, bleibt der Provinz heute nichts anderes übrig, als am Ausschreibungswettbewerb der sogenannten Abgehängten teilzunehmen (zwangsverpflichtet dazu, irgendeine defizitäre Identität oder defizitäre Demokratie zum Ausdruck zu bringen). Dieser Wettbewerb entspringt der Hegemonie der Zentren, die die Gelder verteilen, er schlägt sich aber zugleich in den Zentren nieder, beziehungsweise erschöpft er sich in der kritiklosen Übernahme des Westens durch die östlichen oder osteuropäischen Regionen, windet sich in der Falle der Orientierung am sogenannten Westen. Die vom Zentrum propagierten Ideale sind im Osten nur heiße Luft, im Zentrum selbst bilden sie eine Blase, die den Blick nach außen erschwert. Für die real existierende Bevölkerung der Provinz aber sind solche um- und übergestülpten Identitäten endlose Spielereien, die früher oder später in (profitorientierten) Kulturfabriken enden und in diesen Regionen zu keinen wesentlichen Ergebnissen (Offenheit, Selbstausdruck, Befreiung) führen. AUCH DIE PROVINZ KANN ZENTRUM SEIN Die heutige „Provinz“ – oder mit einem anderen Wort: Peripherie – basiert mitnichten auf einer festgelegten Identität und denkt selbst mit Blick auf das eigene Dasein nicht daran, dass die Würfel schon gefallen sind. Vielmehr richten sich die Fragen auf das Verhältnis von Peripherie und Zentrum, das jeglichen Reichtum und jegliche Vielfalt aufhebt. Die meisten Künstler möchten ihre eigene Kultur in dem wirtschaftlichen und politischen Raum vor Ort ausdrücken und über diesen kulturell reflektieren. Ergiebige Themen gibt es genug: - Progressiver Westen und rückständiger Osten? - Auch die Provinz kann Zentrum sein – wie kommt sie zur Geltung und wie mischt sich das Zentrum in die gesellschaftlichen Veränderungen in der Peripherie ein? - Die Kultur und Stimme der Provinz – die kreative und selbstreflexive Rolle der Kunst - Die Kultur in der Stadt und auf dem Land. Wie ist der konservative kulturelle Raum heutzutage aufgebaut? Was sagt er und wovon spricht er? - Wo ist die Grenze? Wann übertreten wir sie? Wie verhält es sich mit Stadtgrenzen / Landesgrenzen / religiösen und gedankliche Grenzen zwischen den Generationen? - Ist die Kultur entpolitisiert? Kanalisiert sich die Kultur, ist sie auf Profit aus und gentrifiziert sie sich oder ist sie Selbstausdruck, Widerstand, Freigeistigkeit, Reflexion, frei von profitorientiertem Denken?

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- Migration nach Osten – eine Aufforderung zur Umkehr der Verhältnisse: Gehen wir aus dem Zentrum in die Peripherie, aus dem Westen in den Osten. Wer migriert und warum? ZUM VERHÄLTNIS ZWISCHEN SYSTEMWANDEL UND KULTUR HEUTE Politisch wurde 1989/90 nicht die Demokratie an sich auf die geopolitischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Osten übertragen, sondern eine durch Institutionen garantierte, auf dem Prinzip der checks and balances aufbauende Variante derselben: Geschaffen wurde eine liberale Elitedemokratie. Der künstlerische und kulturelle Raum war ein paar Jahre lang der entleerte Raum der verarmten postsozialistischen Schicht. Gleichzeitig handelt das elitäre Modell der Demokratie primär von der Machteinschränkung und dreht sich nur sekundär um die Frage, ob das Volk überhaupt an der Machtausübung teilnimmt, und wenn ja, in welcher Form. Wer konsumiert die Kultur und gibt es überhaupt etwas zu konsumieren? In der westlichen Welt – die ja dem Osten als Modell diente und angedient wurde – geriet das demokratische System, das in die Zivilgesellschaft eingebettet ist, Klasseninteressen repräsentiert und auf Massenparteien aufbaut, spätestens in den 1980er Jahren in die Schieflage. Im Folgenden spielte dort die immer stärker von den Medien abhängige Politik eine zunehmend wichtige Rolle. Auch wenn dieses Jahrzehnt in Ungarn die Glanzzeit der Zivilgesellschaft war, übernahm im Augenblick der Wende die neue politische Elite das neopopulistische System der mediatisierten Politik als eine Art franchise, als einzig mögliches Modell – womit sie jegliche gesellschaftliche Alternative hinwegfegte. Die wirtschaftliche Kluft wandelte sich zu einer kulturellen. An bestimmten Orten gibt es keinen Zugang zur Kultur mehr. So gibt es gesellschaftliche Gruppen – vor allem in der Provinz –, die von der Kultur vollständig ausgegrenzt sind. Ebenso verhält es sich in der Wirtschaft: Von mehreren möglichen Varianten des Kapitalismus hielten die Experten Ende 1989 die vorherrschende neoliberale für das einzig mögliche Modell, mit dessen Hilfe die neue Elite den wirtschaftlichen Übergang gemäß dem Washington-Konsens realisierte. Doch der von vielen ersehnte Kunstmarkt nach 1990 wurde nicht mit dem entsprechenden Tempo und Wirkungsgrad ausgebaut. Daher konnte er den Künstlern, Musikern und Schriftstellern, die eine Kunsthochschule absolviert hatten, keine wirkliche Lösung für ihre Probleme bieten. So bedeuten das Ausschreibungssystem und – heute zunehmend häufiger – die Residenzprogramme sowie die Aufträge der Kultur-Hauptstädte nur einen provisorischen Ausweg. Doch gerade weil sich der kulturelle Raum innerhalb eines Landes offensichtlich polarisiert hat, ist die Zeit gekommen, die hier benannten Probleme der Hierarchien und verzerrten beziehungsweise verschleierten Wahrnehmungen von Peripherie und Zentrum offen anzusprechen und Vorschläge für gemeinsame europäische Lösungen auszuarbeiten. Aus dem Ungarischen von Eva Zador

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JUNGE AKADEMIE

„ICH   ARBEITE HART DARAN, OHNE JEGLICHE SELBSTZENSUR  ZU DENKEN UND ALLE FILTER VON MIR FERNZUHALTEN“ Farhad Delaram im Gespräch mit Clara Herrmann

Farhad Delaram, Away from Home, 2017

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Der iranische Filmemacher Farhad Delaram hat bisher sechs sehr intensive und eigen­ willige Kurzfilme gedreht. Der jüngste, Tattoo, wurde 2019 bei der Berlinale mit dem Gläsernen Bären als Bester Kurzfilm in der Sektion Generation 14plus ausgezeichnet. Im Februar 2020 kam Farhad Delaram für eine Residency an der Jungen Akademie zurück nach Berlin – zu der Zeit also, als gerade wieder die Berlinale stattfand, bei der iranische Filme zahlreich und mit starker politischer Stimme vertreten waren. Ein idealer Anlass, über die iranische Filmszene und seinen eigenen Ansatz zu sprechen.


CLARA HERRMANN

Ihre Filme beschäftigen sich mehrheitlich mit politischen Themen. Wie gelingt es Ihnen, unter den gegebenen Bedingungen Filme zu produzieren, die offen die gegenwärtigen Zustände im Iran kritisieren? FARHAD DELARAM   Ich würde meine Filme nicht als politisch beschreiben. Ich versuche, meine persönliche Sichtweise auf die Gesellschaft in meine Filme einfließen zu lassen. Aber im Iran wird jedes Thema, das wir uns aussuchen, unweigerlich politisch. Bevor ich näher auf Ihre Frage eingehe, sollten wir kurz über die unterschiedlichen Rahmenbedingungen sprechen, die für Kurzund Spielfilme gelten. Und weil ich Kurzfilme gedreht habe, kann ich dazu mehr sagen. Bei der Produktion eines Kurzfilms gibt es keine strikten Regeln. Beispielsweise haben wir mehr Spielraum, unsere Vorstellungen zu verwirklichen, und bekommen mit etwas Mut und Geschick auch die nötigen Genehmigungen. Im Grunde kannst du tun und lassen, was du willst, die Zensur kommt erst zum Schluss. Bei Spielfilmen dagegen greift die Zensur bereits bei der Abnahme des Skripts. Und selbst kurz vor der Vorführung können Spielfilme noch zensiert werden. Für diese Ebene sind dann wieder andere Menschen mit anderen Meinungen zuständig. Das heißt, einem Spielfilm kann nach der Produktionserlaubnis immer noch die Vorführerlaubnis versagt werden! Andererseits kann ein bereits fertiggestellter Kurzfilm von den Festivals im Iran, die praktisch alle staatlich sind, boykottiert werden, sodass den Film im Grunde niemand sehen kann. Er wird im Keim erstickt, der Künstler zum Schweigen gebracht. Das liegt daran, dass Kurzfilme trotz Streaming-Möglichkeiten eben letztlich für Festivals produziert werden. Außerdem kann das nachträgliche Hochladen eines Films auf eine entsprechende Plattform im Anschluss an einen solchen Boykott den oder die Filmemacher*in in Schwierigkeiten bringen, wenn er oder sie beispielsweise einen Spielfilm machen will. CH   Wie

würden Sie den zeitgenössischen Film im Iran be­­ schreiben? Und wo verorten Sie sich selbst? FD   Wie in jedem anderen Land gibt es zwei Strömungen oder Kategorien: Blockbuster, die den größten Teil der Industrie ausmachen, und Filme, die eher in Richtung Kunst tendieren. Während erstere seit Langem über mittelmäßige Komödien nicht hinausgekommen sind, konnten letztere in den vergangenen zwanzig Jahren weltweit Erfolge feiern. Andererseits hat die Szene nicht nur meiner Meinung nach schon seit geraumer Zeit ein Problem: Sie orientiert sich – in manchen Fällen bis zur schieren Kopie – an erfolgreichen Vorbildern. Beispielsweise haben viele iranische Filmemacher*innen erfolglos versucht, Kiarostami zu imitieren, als dieser zu internationalem Ruhm gelangt war. Und als Asghar Farhadi vor etwa elf Jahren bei renommierten Festivals wie der Berlinale und Cannes Preise gewann und bei den Golden Globes und Oscars für Aufmerksamkeit sorgte, wechselten iranische Filmemacher*innen ihren Fokus, um fortan Filme in seinem Stil zu produzieren. Der Grund für diese sinnlose Nachahmerei sind meiner Meinung nach das Wachstum des Cyberspace und immer neue Filmfestivals. Der Erfolgsdrang von Filmemacher*innen (und allgemein von Künstler*innen) wächst mit jedem Tag. Also produzieren sie

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Dreharbeiten zu Farhad Delarams Tattoo

Filme, von denen sie sich eine Chance auf Preise versprechen. Aber natürlich schlägt sich auch die Abneigung der Regierung gegenüber einer bestimmten Gruppe von Filmemacher*innen nieder, denn der Löwenanteil des Produktionsbudgets wird von der iranischen Regierung beigesteuert. Und die hat eine klare Vorstellung, wer dazugehört und wer nicht. Das ist nun ein sehr grober Überblick über den zeitgenössischen Film im Iran. Selbstverständlich gibt es immer noch einige Filmemacher*innen, die alles geben, um ihre eigene Stimme zu finden, und selbst in diesen schwierigen Zeiten eine unverwechselbare Perspektive auf die Welt entwickeln. Ihre Frage danach zu beantworten, wo ich im zeitgenössischen iranischen Film stehe, ist nicht ganz leicht. Als Kurzfilmemacher, der ich ja immer noch bin, suche ich trotz des Erfolgs meines letzten Films, Tattoo, nach wie vor meine eigene Perspektive in der Filmwelt. Ich arbeite hart daran, ohne jegliche Selbstzensur zu denken und alle Filter von mir fernzuhalten. Das heißt, ich will weder Festival-Filme produzieren noch die Zensur zu Hause kampflos akzeptieren. Der Film hätte auch enden können, ohne dass ich Position beziehe. Dieser Versuchung habe ich widerstanden und meine Sicht klar zum Ausdruck gebracht. Oder ich hätte eine konventionellere, im Iran eher akzeptierte Form wählen können, habe mich stattdessen aber für einen sehr persönlichen Ansatz entschieden. Ich suche immer einen Weg, den von mir bevorzugten Filmstil umzusetzen, auch wenn mir bewusst ist, dass das von Tag zu Tag schwieriger wird. CH   Nach dem Filmstudium an der Universität Teheran haben Sie als Drehbuchautor für das iranische Staatsfernsehen gearbeitet, bevor Sie als Regisseur tätig wurden. Wie hat diese Erfahrung Ihre Praxis beeinflusst? FD   Ich habe das Geschichtenerzählen schon immer geliebt. Also entschloss ich mich, einen Zugang zur Filmwelt durch das Schreiben von Geschichten zu finden. Nachdem ich die Drehbuchseminare als einer der Besten abgeschlossen hatte, lud mich mein Lehrer zu seinem Drehbuch-Workshop ein. Wenn wir – so seine Überzeugung – die Zuschauer*innen des Staatsfernsehens zu selbstständigem Denken anregen wollen, müssen wir Stücke mit

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gehaltvolleren Sujets schreiben, keine propagandalastige Ware. Diese Perspektive war für mich sehr wichtig, um nicht klein beizugeben. Allerdings kamen wir damit praktisch nirgendwohin. Mehr als vierzig meiner Synapsen und Skripte wurden abgelehnt – und ich bin nur eine einzelne Person. Wenn ich mich den Vorgaben der Sender-Aufsichtsräte angepasst hätte, wäre nichts übriggeblieben von meiner Art zu denken. In dieser Zeit lernte ich viel über die verschiedenen systemimmanenten Arten von Zensur. Das machte mich noch entschlossener. Ich kam mehrfach in den „Genuss“ von Demütigung und lernte, nicht aufzugeben. Dem Schreiben der Drehbücher tat das sehr gut. Kurzzeitig arbeitete ich auch freischaffend als Autor fürs Radio. Dort war es leichter, das zu schreiben, was ich wollte. Doch ein Jahr nach der Präsidentschaftswahl 2008 wurde das Radio „gesäubert“ und die Zusammenarbeit mit mir beendet. CH   Ihr Kurzfilm Tattoo handelt von einer jungen Frau, die ihren Führerschein erneuern möchte und sich aufgrund ihrer Tattoos einer psychologischen Untersuchung im Polizeikrankenhaus unterziehen muss. Die Handlung zeichnet ein perfides Machtsystem, das unangepasste Bürger*innen demütigt und sie hilflos in scheinbar unendlichen Spiralen aus Verdacht und falschen Anschuldigungen gefangen hält. Wie haben Sie diese Geschichte geschrieben, eine eigene Sprache dafür gefunden? FD   Dazu muss ich Sydney Lumet zitieren, der gesagt hat: „Bevor ich beginne, ein Drehbuch zu schreiben, frage ich mich immer, warum ich es schreibe.“ So mache ich das auch, und wenn ich eine Antwort finde, lege ich los. Tattoo ist das einzige von allen meinen Kurz- und SpielfilmDrehbüchern, dessen Idee ich mir nicht ausgedacht habe. Vor einiger Zeit rief eine Bekannte weinend bei mir an und erzählte von einem Verhör, das sie über sich ergehen lassen musste, als sie ihre Fahrerlaubnis erneuern wollte. Dazu muss man wissen, dass der Führerschein im Iran alle zehn Jahre zu erneuern ist. Zunächst habe ich nicht weiter über diese Geschichte nachgedacht – ein weiterer Beleg für die unzähligen furchtbaren Dinge, die in unserer Gesellschaft Tag für Tag passieren. Zudem war die Frage, ein Tattoo zu haben oder nicht, für mich kein Thema. Bis ich bei Recherchen darauf stieß, dass andere Personen Ähnliches erlebt hatten. Dann fiel mir auf, wie sehr diese Situation meiner eigenen Erfahrung glich, wenn es darum ging, mein Drehbuch und mich selbst zu beurteilen: Wenn ich die Zustimmung zu einer simplen Sache haben wolle, müsse ich die Dinge in einer ganz bestimmten Art angehen, so der Tenor. Damals sagte ich meinen Freund*innen, dass jedes noch so kleine „Ja“ ein Mosaikstein des übergreifenden Systems sei, unter dem wir leiden. So wurde die Geschichte zu meinem persönlichen Anliegen, und ich begann sie zu schreiben. Es ist schwer zu erklären, wie ich meine Sprache finde. Zunächst müssen das Thema, die Charaktere oder die Geschichte mich berühren. Sobald das passiert, ist mir die Geschichte selbst nicht mehr wichtig. Ich suche nur nach einem Weg, sie so wirkungsvoll wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Mir geht es nie darum, eine erzählte Welt zu rekonstruieren, sondern eine bildliche zu schaffen. Wichtig

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Farhad Delaram, Tattoo, 2019

ist für mich, nicht für das Publikum zu schreiben (Produzent*innen, Festivals, eine größere Öffentlichkeit oder eine kleine gebildete Schicht). Aus der Perspektive des Regisseurs kann ich diese Frage leichter beantworten, weil ich – glaube ich – meine Filmsprache gefunden habe. Laut der Menschen um mich herum bin ich weder besonders sympathisch noch strenge ich mich an, glücklich zu wirken. Ich bin auch gegenüber der Zukunft meiner Gesellschaft skeptisch, aber ich werde den Versuch nicht aufgeben, sie zu ändern. Diese Einstellung wird in jedem einzelnen Bild und der Inszenierung all meiner Filme deutlich. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, stelle ich es mir gleichzeitig vor meinem inneren Auge vor, so dass all diese Momente durch den Filter meiner Persönlichkeit laufen. CH

Die Verhörszene, in der vier Männer die junge Frau befragen und einschüchtern, ist schwer zu ertragen. War es Ihnen wichtig, dass die Hauptfigur eine Frau ist? Auch wenn Sie nicht nur mächtige Männer zeigen …


FD

Ich bin froh darüber, dass diese Szene seit der ersten Vorführung auf der Berlinale bei allen denselben Eindruck hinterlassen hat. Denn von den ersten Proben bis zum finalen Schnitt wollte ich genau dieses Gefühl hervorrufen. Es war unwichtig, ob mein Protagonist weiblich ist oder nicht. Auch die Tatsache, dass ich die Geschichte zuerst von einer Frau gehört hatte, hatte keinen Einfluss. Ich bin damit eher wie mit einer dramaturgischen Notwendigkeit umgegangen. Wie Antonioni schon sagte, verleihen weibliche Charaktere einem Film mehr Tiefe und Komplexität. Stellen Sie sich ein Land vor, in dem eine Frau zu sein der wichtigste Grund sein könnte, sich gegen die gegenwärtige Situation aufzulehnen. Also dachte ich, dass es stärker wäre, wenn das schlussendliche „Nein“ im Film von einer Frau ausgesprochen würde. Wenn unsere Gesellschaft je eine grundlegende Veränderung durchmachen sollte, werden Frauen sie anstoßen – davon bin ich überzeugt. Und wie Sie schon sagten, habe ich der Protagonistin eine weitere weibliche Figur gegenübergestellt, die Macht hat und die Unterdrückungskette in Gang setzt. CH   Der sehr symbolische, fast schon mystische Film Away From Home (2017), den Sie vor Tattoo produziert haben, ist in seiner Kritik subtiler, aber umso bedrohlicher, wie Sie während einer Vorführung einmal erklärt haben. Im Iran wurde er denn auch verboten. Was war der Grund dafür? Gleichzeitig schreiben Sie dem Film eine heilende Kraft zu. Woher nimmt er diese Kraft? FD   Away From Home handelt von den Menschen und Beziehungen, die bei den postrevolutionären Säuberungen ge- und zerbrochen wurden. Dieser Teil der Geschichte ist das rote Tuch der Regierung. Der Film mag zwar nicht explizit von dieser Vergangenheit sprechen, aber seine surrealistische Symbol- und Bildwelt nimmt die wohlinformierten Zuschauer*innen unweigerlich mit in diese Zeit – unabhängig davon, ob sie in ihr gelebt oder nur darüber gelesen beziehungsweise davon gehört haben. Ich wurde zehn Jahre nach der Revolution geboren, im September 1988, dem schlimmsten Monat dieser tragischen Zeit. Seit ich alt genug bin, die damaligen Ereignisse zu verstehen, erscheinen mir der Tag und Monat meiner Geburt immer düsterer. Ich kam in einer Zeit zur Welt, in der vielen Menschen aufgrund ihrer Haltung das eigene Leben genommen und das ihrer Familien für immer zerstört wurde. Die Angehörigen wissen zum Teil nicht einmal, wo ihre Geliebten begraben sind, und falls sie noch im Iran leben, haben sie nicht das Recht, um sie zu trauern. Als Kind lernte ich durch unseren Bekanntenkreis einige dieser Menschen kennen und fühlte mich irgendwie schuldig, an diesem Tag geboren worden zu sein. Die Grundidee des Films stammt aus einem Traum, in dem der Hund meiner verstorbenen Großmutter ihren Leichnam in ihrem eigenen Haus auffraß. Als ich das Drehbuch auf Basis dieses Traums schrieb, wollte ich den Überlebenden des Schwarzen September mitteilen, dass sie die Erlebnisse hinter sich lassen und – auch wenn das schwer ist – nach dreißig Jahren zum Leben zurück­ kehren müssen. Das war auch eine Art Heilungsprozess für das Schuldgefühl, das ich empfand.

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CH   Inwiefern

bezieht sich der surrealistische Stil des Films auf iranische Literatur und Kultur? FD  Wenn man mit Filmexpert*innen der ganzen Welt über iranisches Kino redet, sprechen sie höchstwahrscheinlich über realistische Filme, die sich mit der Gesellschaft befassen. Das liegt daran, dass es wenig utopische Filme gibt. Und wenn man einmal einen sieht, erkennt man sofort, dass der/die Filmemacher*in nur ein international erfolgreiches Vorbild imitiert hat. In der Literatur hingegen gab es viele prominente surrealistische Autoren wie Sadegh Hedayat, Houshang Golshiri und Gholam-Hossein Sa‘edi. Sie waren immer meine Lieblingsautoren, allen voran Sa‘edi, der aus der aserbeidschanischen Region des Iran stammt. Er schreibt Texte, die filmischen Bildwelten stark ähneln. Vier der besten iranischen Filme wurden von ihm geschrieben oder sind Adaptionen seiner Geschichten. Die Sprache meines Films war ebenfalls aserbeidschanisch, denn auch ich stamme aus dieser Region. All das sind Gründe für den surrealistischen Stil meines Films. Ich sollte noch hinzufügen, dass Filmemacher*innen, die der Zensur ausgesetzt sind, oft auf Symbolismus und Surrealismus zurückgreifen – das war ein weiterer Grund. Manchmal gönne ich mir mit meinen Freund*innen den Spaß zu sagen, dass wir in einer surrealistischen Zeit leben, weil die Dinge, die unserem Land passieren, so unwirklich sind, dass es scheint, als befänden wir uns in einem Traum. CH

Derzeit arbeiten Sie an Ihrem ersten Spielfilm. Wovon wird er handeln? FD   Ja, nachdem ich das Drehbuch für einen Kurzfilm, den ich in Berlin drehen möchte, fertiggestellt habe, schreibe ich nun eines, das Grundlage für meinen ersten Spielfilm sein soll. Ich habe bereits einige Spielfilm-Drehbücher geschrieben. Für mein Debüt wünsche ich mir aber einen persönlicheren Film, der sich stärker mit der gegenwärtigen Situation in meinem Land beschäftigt. Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der seine erfolgreiche Karriere aufgibt und mit einem Freund Nachtschichten in einem Krankenhaus übernimmt. Er lebt sogar zwischen Krankenhaus und Auto. Das Krankenhaus ist voller Menschen, denen es schlechter geht als ihm, weshalb er sich besser fühlt. Bis er eines Nachts auf der psychiatrischen Station eine Frau mittleren Alters trifft. Er empfindet eine starke persönliche Ähnlichkeit zwischen der Frau und sich selbst, was sein Leben in eine neue Richtung lenkt. Aus dem Englischen von Johanna Schindler

CLARA HERRMANN ist Leiterin der Jungen Akademie der Akademie der Künste.

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DIE BESUCHERIN Anna Weidenholzer

Was mir zuerst auffiel, war ihr Schritt. Gut, wenn man hier arbeitet, ist ein schneller Schritt an und für sich etwas Auffälliges, aber das war es nicht, nein, sie hatte einen äußerst bemerkenswerten Gang. Betrachtete man nur das linke Bein, schien alles in der Norm, richtete man allerdings die Aufmerksamkeit auf das rechte, fürchtete man bei jedem Auftreten, es würde abknicken, so sehr schob sich der Knöchel zur Seite. Im Alter würde sie bestimmt Probleme damit bekommen, dachte ich. Ich ging eine Weile hinter ihr, ich kannte die Besucherin nicht. Auch das kommt immer wieder vor. Es gibt Menschen, die besuchen ihre Verwandten nur einmal im Jahr, in manchen Familien kann das von großem Vorteil sein. Ich merke sie mir alle, aber verrichte ich an einem anderen Tag Dienst, besteht keine Chance, jemanden zu kennen. Auf den ersten Blick mag das an einem Ort, wo das Vergessen stetig auf dem Vormarsch ist, nicht wichtig scheinen. Doch gerade hier braucht es Halt, und gerade hier braucht es Menschen, die sich an jedes Detail erinnern. Zuerst muss die Seele bewegt werden, erst dann der Körper, das ist unser Leitspruch hier. Ich blieb also hinter der Besucherin, sie bemerkte mich nicht. Kurz zögerte sie, dann steuerte sie den blauen Ohrensessel in der Wohnküche an: Frau Schneeweiß, sind das Sie? Schneeweiß schaute auf und hielt mit beiden Händen die Puppe auf ihrem Schoß. Sehr gerne, antwortete sie und die Besucherin nickte. Es war kurz nach Mittag, die meisten befanden sich auf ihren Zimmern, nur wenige dösten in den Sesseln in der Wohnküche. Nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen, in der Regel herrscht hier eine gute Stimmung, wir lassen keine Feiern aus, man weiß ja nie, aber nach dem Essen sind die meisten müde. Nach dem Essen sollst du ruh’n oder tausend Schritte tun, so sagt man doch, und dass sich jede für das erstere entscheidet, ist naheliegend.

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Die Besucherin zog einen Stuhl heran und setzte sich, nicht direkt neben Schneeweiß, sie hielt Abstand, einen Meter bestimmt. Ich begann die Spülmaschine auszuräumen, so hatte ich sie gut im Blick, sie verhielt sich, als hätte sie mich nicht bemerkt. Wir sind daran gewöhnt, manche Menschen sehen durch uns durch, solange es keinen Grund gibt, sich zu beschweren. Manche, nicht alle, die meisten sind uns sehr freundlich gesinnt, vor allem die Klientinnen, entschuldigen Sie bitte, die Klientinnen und der Klient, vor zwei Monaten ist Herr Seifried eingezogen. Ich räumte also die Gläser aus, da hörte ich, wie sich die Besucherin räusperte. Ich möchte für die Kühe spielen, sagte sie leise und bemühte sich, zu Frau Schneeweiß Augenkontakt herzustellen, die nun mit dem linken Arm ihrer Puppe beschäftigt war. Es dauerte eine Weile, schließlich nickte sie. Komm zur Ruhe, setzte die Besucherin fort, beruhige dich, haben sie mir geraten. Lass gehen, aber es geht nicht weg. Ich habe es mit Meditation versucht, wie es mir meine Kollegin empfohlen hat, ich habe Wolken gezählt, wie mein Mann, wenn er – alles, alles habe ich versucht, und glauben Sie mir, es gibt keinen Ort, den ich nicht durchforstet hätte. Nichts, keine Spur, nichts. Mit der rechten Hand strich Frau Schneeweiß der Puppe langsam über den haarlosen Kopf, sie brachte sie in die Waagrechte, die Augen schlossen sich. All die Jahre hatte sie mir nicht gefehlt, sagte die Besucherin, und dann stand ich in der Fußgängerzone von Timișoara und spürte ein Loch in der Brust, Temeschwar. Jetzt blickte Schneeweiß auf, die Besucherin verschränkte die Beine. Der Kongress ging erst in einer Stunde weiter, ich war ziellos durch die Stadt spaziert. Und plötzlich war da dieser ältere Mann, er spielte ohne Publikum, ich wollte vorbeigehen, aber ich blieb. Er schien ganz woanders zu sein, während er den Bogen über die Saiten führte. Ich habe das Wort Geige immer der Violine vorgezogen. Mein Großvater war ein Wirtshausgeiger, er spielte die Leute hinein in ihren Rausch und manchmal auch wieder hinaus, hinein in ihre Wünsche und wahnwitzigen Ideen. Die Männer steckten einander Mäuse in die Stiefel und lachten, wenn es einer zu spät bemerkte, auf der Wirtshausbank rutschten sie so lange nach, bis der Unbeliebteste ganz außen saß, meine Großmutter erzählte mir davon, dann stießen sie ihn zu Boden, meistens während er gerade aus seinem Bierkrug trank. Sie lachten viel, aber es war kein freundliches Lachen. Das Wirtshaus ist kein liebenswürdiger Ort, davon sprach Großmutter oft. Wenn Großvater spielte, war er vor Mäusen und Stößen sicher, auch deshalb spielte er, aber nicht nur. Er war ein schweigsamer Melancholiker, so würde ich ihn heute nennen. Wenn er es nicht mehr aushielt, holte er das Fahrrad aus der Hütte und fuhr zum Weidevieh. Vorbei am Wirtshaus, die Alleen entlang, die die Landstra-


ßen säumten. Er lehnte sein Fahrrad an einen Baum, packte seine Nun passierte, was ich erwartet hatte, Schneeweiß versuchte, ihre Geige aus, spannte den Bogen und spielte, manchmal stundenlang. Bluse aufzuknöpfen. Frau Schneeweiß, ich bin gleich bei Ihnen, sagte Die Kühe waren ein gutes Publikum. Danach schien es ihm leichter ich schnell und füllte die Puppenflasche mit lauwarmem Wasser. zu sein, sagte meine Großmutter. Aber was erzähle ich Ihnen. So geht es leichter. Sie ließ von der Bluse ab, ich drückte ihr Sehr gerne, sagte Frau Schneeweiß, als die Besucherin nicht das Fläschchen in die Hand. Ist es nicht zu heiß?, fragte sie und hielt weitersprach. Die Puppe hielt sie nun gegen ihren Oberkörper es wie immer gegen ihr Handgelenk. Nein, das verträgt sie schon. gedrückt. Ich schloss die Spülmaschine und füllte Sirup und WasDie Besucherin schaute aus dem Fenster, plötzlich erhob sie ser in die Krüge. Da rutschte die Besucherin auf ihrem Stuhl nach sich und holte ihre Handtasche vom Tisch. Auf Wiedersehen, sagte vorn, sie stellte beide Füße auf den Boden: An all das dachte ich, sie und deutete eine Verbeugung an, vielen Dank, dass Sie sich als ich mit diesem Gefühl in der Brust in der Fußgängerzone von Zeit genommen haben. Timișoara stand. Wenn du die Geige spielst, ist es, als ob du dein Sehr gerne, antwortete Frau Schneeweiß und spritzte ihrer Herz auf die Schulter legtest und es sprechen könnte, manchmal Puppe Wasser in den Mund. stockt es, manchmal geht es leicht. Merk dir das, sagte Großvater, Dann ging die Besucherin, ohne sich von mir zu verabschieals ich das erste Mal vor ihm spielte, es ist immer das, was aus dir den. Ich blieb bei Schneeweiß, bis die Puppe gefüttert war, manchherauskommt. Ich war sieben, vielleicht acht Jahre alt und ich wollte mal zieht sie das Fläschchen aus dem Mund und spritzt sich Waskein Herz auf der Schulter liegen haben. Der Geiger von Timișoara ser auf die Bluse, wenn man sie aus den Augen lässt. Ich dachte spielte und spielte. Ich schaute auf die Uhr und warf alle Münzen, an den Bahnhof von Linz, wo nachts Vivaldi gespielt wird, um die die ich bei mir hatte, in seinen Hut. Er verbeugte sich kurz, ohne Obdachlosen und Jugendlichen zu vertreiben. Nie wieder kann ich die Geige abzusetzen. Vivaldi hören, ohne den Bahnhof zu sehen. Ich weiß nicht, was jetzt Aber das Gefühl ließ mich nicht mehr los. Ich bin kein melan- mit den Leuten dort ist. Wie auch immer, ein paar Stunden, nachcholischer Mensch, diesen Wesenszug hat Großvater meiner dem die Besucherin gegangen war, deckte ich mit Frau Huber den Schwester vererbt, doch die Geige gab er mir. Auf der Rückreise Tisch für das Abendessen. Dort, wo die Besucherin ihre Tasche malte ich mir aus, wie ich wieder Geigenstunden nehmen würde, abgestellt hatte, fand ich einen Notizzettel, den sie liegen gelasich sah mich auf Vortragsabenden zwischen Teenagern, zu Weih- sen hatte. Katharina Schneeweiß, stand darauf, freundliches Lehrnachten im Kreis der Familie, ich sah mich zu den Kühen fahren. mädchen in Großvaters Wirtshaus, noch versuchen. Zuhause begann ich sofort zu suchen, aber nichts. Überall habe Sie muss gewusst haben, was passieren wird. An diesem Tag ich nachgeschaut, wirklich überall, kein Schrank, den ich nicht min- war sie unsere letzte Besucherin, nach ihr kam niemand mehr. Am destens drei Mal ausgeräumt hätte. Nichts, sie ist weg. Die Kinder nächsten Tag trat das Besuchsverbot in Kraft. Einige merken es behaupten, sie hätten noch nie eine Geige gesehen, mein Mann sich, andere nicht, manchen fällt überhaupt nichts auf. Frau Huber meint, er erinnere sich, dass wir den Koffer beim letzten Umzug erzählt verstärkt von den Russen, wie sie im Dorf auftauchten und mitgenommen hätten, aber seitdem sei sie ihm nicht mehr unter- die letzte Kuh schlachteten, immer wieder: Wir haben nur wenig gekommen. Er könne sich das nicht erklären, aber er verstehe auch davon bekommen. Wir nehmen es mit Humor, auch das sagt sie. nicht, warum mir plötzlich etwas fehle, für das ich mich Jahre nicht Wir nehmen es mit Humor. Wir hoffen, dass es früher vergeht. Wir interessiert hätte. haben in unserer Kindheit Schlimmeres erfahren, wir werden auch Frau Schneeweiß legte die Puppe zurück auf den Schoß, sie das überleben. nestelte an ihrer Bluse. Ich war mir sicher, es würde nicht mehr Frau Schneeweiß lacht verstärkt, würde man sie nicht kennen, lange dauern, ich beeilte mich mit den Krügen. Die Besucherin könnte man vermuten, sie sei froh, dass kein Besuch mehr kommt. schien nichts zu bemerken. Ich bin die Geige, auch das hat Großvater gesagt, flüsterte sie. Da setzte Schneeweiß ein: Jeden Sommer sind die Schwalben zu uns gekommen und haben im ersten Stock gebrütet, wir konnten das Fenster nicht schließen, also hat mein Mann einmal ANNA WEIDENHOLZER, Schriftstellerin, war 2019 die Eier in den Kühlschrank gelegt, wir wollten sie zurück ins Nest Stipendiatin der JUNGEN AKADEMIE. 2013 stand sie mit ihrem ersten Roman Der Winter tut den Fischen gut auf bringen, aber wir haben sie dort vergessen und irgendwann waren der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, 2016 sie weg, es muss – die Schwalben sind nach diesem Sommer nie mit dem Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen wiedergekommen. Nie wieder waren sie da. Es tat uns schon sehr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2019 erschien leid um unsere Glücksbringer. Finde einem Schwan ein Boot.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCK   Z EITSPRUNG HAIFA, 1947 – – – BERLIN, 1933 Maren Horn

Zwei Jahre, zwei Länder, zwei Leben – so lässt sich der Inhalt des hier vorzustellenden kompakten Büchleins1 knapp umreißen. Aufgefunden im Nachlass des Schriftstellers Arnold Zweig, sticht unter den fast neunzig dort überlieferten Terminkalendern die hochwertige Aufmachung bereits durch den Ledereinband und den in Gold geprägten Schriftzug „Appointments“ hervor. Die Nutzung solch eines intimen Dokuments durch zwei Personen ist eher ungewöhnlich. Genau das offenbaren jedoch die beiden nebeneinanderstehenden Handschriften. Zuerst fällt der Name des Erstbesitzers ins Auge, notiert in unverwechselbar feiner Handschrift: M. Eitingon B[erlin] 1933. Beim weiteren Blättern wird deutlich, dass es sich um den Patientenkalender des Gründers des Berliner Psychoanalytischen Instituts, Max Eitingon, handelt. Darin hat der Arzt die Namen der bei ihm zur Analyse erscheinenden Personen – es waren durchschnittlich vier bis sechs pro Tag – festgehalten, darunter: Gebert, Holländer, Horowitz, Kayser, Richards, Rosenfeld, Stern, Wolff. Am Freitag, den 6. Januar 1933, begann Eitingon mit den Analysesitzungen, musste diese jedoch acht Monate später, am Mittwoch, den 6. September, beenden. Es war der Tag, an dem er offensichtlich sein Institut, das sein Lebenswerk war, zum letzten Mal betrat. Am 31. Dezember 1933 verließ er Deutschland für immer und emigrierte nach Palästina. Dort hatte Arnold Zweig zehn Tage vorher, nach Stationen unter anderem in Prag, Wien und Sanary-sur-Mer, einen sicheren Zufluchtsort vor den nationalsozialistischen Machthabern gefunden. Dass Max Eitingon seinen Patientenkalender des Jahres 1933 auf dem Weg ins Exil im Gepäck trug und bis

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zum Lebensende sicher aufbewahrte, obwohl er schmerzlicher Beleg dafür gewesen sein dürfte, was er in Deutschland zurücklassen musste, zeigt die Bedeutung dieses Dokuments für ihn. Arnold Zweig wird der zweite Eigentümer, als er ein Jahr nach dem Tod des Freundes von dessen Witwe Mirra dieses private Geschenk erhält. Der Kalender passte auf das Jahr 1944, das heißt, die Wochentage stimmten mit den Kalendertagen überein, wie Zweig selbst darin verzeichnete, er nutzte ihn jedoch laut seinem Vermerk „1947, Haifa“ erst drei Jahre später. Spärlich, man meint eine gewisse Scheu Zweigs beim Schreiben zu spüren, sind die darin enthaltenen persönlichen Aufzeichnungen von ab- oder eingesandten Briefen, Terminen, gelegentlich zu Werken. Sein parallel geführtes „Pocket Diary 1947“2 hingegen ist dicht und ausführlich mit Notizen und Entwürfen gefüllt. Mehrere Indizien sprechen dafür, dass die Freundschaft zwischen Max Eitingon und Arnold Zweig bereits in den 1920er Jahren in Berlin begonnen hatte. Am 17. Januar 1933 fand nach Eitingons Kalender – der auch einige persönliche Termine, etwa zu Reisen, enthält – ein Treffen mit Zweig statt. Im Exil wurde Eitingon für Zweig zum engen Vertrauten, wie die ab 1935 überlieferte Korrespondenz belegt. Einen festen Bezugspunkt ihrer Verbundenheit bildete dabei Sigmund Freud, der mit seiner Theorie der Psychoanalyse als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts gilt. Beide Männer standen in ständigem Brief- und Telefonkontakt zu Freud, jedoch konnte Eitingon Freud häufiger besuchen und stellte damit für Zweig ein zusätzliches Bindeglied zum großen Gelehrten dar. Mit der Besetzung Österreichs durch die Natio-

nalsozialisten wuchs die Sorge um Freuds Sicherheit, und auch die Freunde in Palästina bangten um dessen Leben. Zwar konnte Freud am 21. Mai 1938 schon die neue Londoner Adresse mitteilen, jedoch mit dem Zusatz: „unbestimmt wann, hoffentlich noch im Mai“.3 Am Abend des 3. Juni erhielt Zweig von Eitingon per Telefon die erlösende Mitteilung der bevorstehenden Ausreise Freuds. Auch wenn Freud sicher sein konnte, dass die Nachricht Zweig unmittelbar erreichen würde, schrieb er seinem Dichterfreund direkt am Tag der Abreise eine Postkarte, die in ihrer nüchternen Formulierung noch im Moment der Rettung die Anspannung erkennen lässt: „Leaving today for Elsworthy Road, London N. W. 3. Affect. greetings Freud.“ 4 Sowohl der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, als auch einer der ersten und treuesten Anhänger seiner Lehre, Max Eitingon, starben im Exil.5 Arnold Zweig kehrte 1948 zurück in ein – grundlegend verändertes – Deutschland. Mit ihm gelangten Dokumente der verstorbenen Freunde, darunter der Behandlungskalender und die Briefe Max Eitingons sowie 62 Originalbriefe Sigmund Freuds, nach Berlin. Literarisch setzte Zweig seinen Gefährten ein Denkmal und verarbeitete gleichzeitig die persönlichen Verluste, indem er seine im Exil begonnenen Manuskripte „Freundschaft mit Freud“ sowie „Traum ist teuer“ beendete. In letzterem ist für den kundigen Leser hinter der Figur des Manfred Jacobs unschwer Max Eitingon zu erkennen. Der Ich-Erzähler, ebenfalls Psychoanalytiker, beschreibt den Besuch in der Wohnung des verstorbenen Dr. Jacobs und erinnert sich wehmütig an „ein Wiedersehen mit dem fachlichen Teil seiner Bibliothek! Alle Jahrgänge unserer Zeitschriften standen da, anständig gebunden, alle Bücher der drei oder vier Verlage, in denen unsere Internationale Psychoanalytische Gesellschaft die Ergebnisse ihrer Forschung niedergelegt hatte […].“6 Gut möglich, dass Zweig beim Schreiben auch an Eitingons uneigennützige Unterstützung in den schweren Exiljahren dachte. Der Freund hatte ihm durch Vermittlung von Vorträgen zu Einkünften verholfen. Außerdem beherbergten die Eitingons das Ehepaar Zweig bei Aufenthalten in Jerusalem oder besorgten kostenloses Quartier. Nachweislich setzte sich Eitingon beim Leiter der Deutschen Abteilung der Jewish Agency, Georg Landauer, für eine monatliche Zuwendung ein, die Zweig ab 1940 bis zum Ende seines Exils auch erhielt. Max Eitingon, Sigmund Freud und Arnold Zweig verband eine außergewöhnliche Freundschaft, immer wieder kreuzten sich ihre Wege. Nicht nur in dem hier vorgestellten Kalender, auch in anderen nachgelassenen Papieren Arnold Zweigs kann man ihnen folgen. 1 „Appointments Book“, Akademie der Künste, Berlin, Arnold-Zweig-Archiv (im Folgenden AZA), Nr. 2637 2 „Pocket Diary 1947“, AZA, Nr. 2638 3 Postkarte von Sigmund Freud an Arnold Zweig, Wien, 21.5.1938, in: Ernst Freud (Hg.), Sigmund Freud, Arnold Zweig. Briefwechsel, Frankfurt am Main 1968, S. 169. Das handschriftliche Original liegt im AZA, Nr. 7389. 4 Postkarte von Sigmund Freud an Arnold Zweig, Wien, 4.6.1938, ebd. Das handschriftliche Original liegt im AZA, Nr. 7390. 5 Sigmund Freud starb am 23. September 1939 in London, Max Eitingon am 30. Juli 1943 in Jerusalem. 6 Arnold Zweig, Traum ist teuer, Berlin 1963, S. 267

MAREN HORN ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Literaturarchiv der Akademie der Künste.


Detailansicht des Terminkalenders


ÜbereinanderProjektion eines Fotos von 1906 mit dem heutigen Bildausschnitt

EIN UNGEWÖHNLICHES COMEBACK: PETER LUDWIG LÜTKES GEMÄLDE LAGO DI NEMI Werner Heegewaldt

Im Oktober 2019 erhielt die Kunstsammlung der Akademie einen überraschenden Hinweis von einem privaten Sammler: Ein Düsseldorfer Auktionshaus biete ein Gemälde an, das vermutlich zum Altbesitz der Preußischen Akademie der Künste gehöre. Zum Verkauf stand ein Ölbild des Berliner Landschaftsmalers Peter Ludwig Lütke (1759–1831), das im Katalog als „Lago di Nemi, 1790. Monogrammiert. Betitelt und datiert. Öl/Lwd./ doubl., 51,5 x 83,5 cm“ beschrieben wurde. Es zeigt eine Ansicht des südöstlich von Rom in den Albaner Bergen gelegenen Nemisees, der nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel der Hauptstädter, sondern auch ein häufiges Motiv der Landschaftsmaler im 18. und 19. Jahrhundert war. Die Bezeichnung des Bildes legte nahe, dass es sich dabei um ein in der „Lost-Art-Datenbank“ des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste registriertes Bild der Berli-

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ner Akademie handelte. Auffällig waren jedoch die abweichenden Maße dieses Gemäldes (124,5 x 170 cm), ein anderer Bildträger (Öl auf Holz) und die Tatsache, dass es als kriegszerstört oder irreversibel beschädigt galt. Der ungewöhnliche Ausschnitt des im Auktionskatalog abgebildeten Werkes und der Vergleich mit einer SchwarzWeiß-Aufnahme des Berliner Bildes verwiesen auf eine erste Spur. Im Wasser des Nemisees spiegeln sich zwar die südlich gelegene Bergkette und das Städtchen Genzano wider, die Vorbilder sind aber nicht erkennbar, weil sie außerhalb des Bildrandes liegen. Diese Form der Komposition ist für die Zeit des Klassizismus zumindest eigenwillig, wenn nicht geradezu außergewöhnlich. Konnte es sich bei dem zum Verkauf stehenden Gemälde um einen Ausschnitt des Berliner Werkes handeln, das auf unbekanntem Wege in den Kunstmarkt gelangt war?

Da die Auktion kurz bevorstand, war Eile geboten. Um die These zu erhärten und Besitzansprüche anzumelden, recherchierte die Provenienzforscherin der Kunstsammlung, Carolin Faude-Nagel, innerhalb kurzer Zeit die notwendigen Informationen. Die Quellen sind zwar lückenhaft, aber die wenigen Puzzlesteine ließen sich schon bald zu einem Bild zusammensetzen. Das Gemälde wurde erstmals 1797 in der jährlichen Akademieausstellung in Berlin gezeigt. Der Katalog enthält eine ausführliche Beschreibung: „Man sieht überall eine Mischung von Weinbergen, Lustwäldchen, Äckern, Wiesen, Lust- und Landhäusern […], welche noch von zwey artigen Städtchen unterbrochen werden. Das im Bilde zur linken Hand heißt Nemi, wovon der See seinen Namen hat, das jenseits desselben Gensano. Über den See hinweg sieht man die Ebene des alten Latiums mit der Stadt Civita la


vigna auf einem Hügel und das mittelländische Meer im Horizont.“ Lütkes Werk war die Frucht eines zweijährigen Studienaufenthaltes in Italien. 1785 reiste er über die Schweiz nach Rom, Neapel und Sizilien und wurde Schüler des erfolgreichen Landschaftsmalers Jakob Philipp Hackert. Er begleitete ihn auf seinen Ausflügen und übte sich in Studien nach der Natur. Seine Skizzen bildeten die Vorlagen für später entstandene Werke. Vermutlich gab sein Lehrer auch die Anregung zu diesem Motiv. Hackert hatte bereits 1784 ein sehr ähnliches Bild vom Nemisee gemalt, das sich heute im Szépművészeti Múzeum in Budapest befindet. Der Akademie der Künste war Peter Ludwig Lütke eng verbunden. Nach seiner Rückkehr aus Italien wurde er 1787 zum Ehren- und Senatsmitglied und zwei Jahre später zum ersten Professor für Landschaftsmalerei ernannt. Wann genau der „Nemisee“ in den Besitz der akademischen Sammlungen gelangte, ist aufgrund fehlender älterer Inventare unbekannt. Ein Hinweis in der Personalakte des Malers belegt, dass sich das klassizistische Landschaftsgemälde dort zumindest seit 1831 befand. Im Jahr 1906 wurde es in der Ausstellung „Ein Jahrhundert Deutscher Kunst. Aus der Zeit von 1775–1875“ in der Berliner Nationalgalerie gezeigt. Dem Katalog ist die einzige Abbildung in Schwarz-Weiß zu verdanken, die sich bis heute erhalten hat. Nachdem das großformatige Werk lange Zeit den Sitzungssaal der Sektion Musik am Pariser Platz schmückte, wurde es 1938, nach dem Auszug der Akademie, an die Berliner Hochschule für Musik ausgeliehen. Dort konnte es noch Mitte der 1950er Jahre nachgewiesen werden, war jedoch durch Kriegseinwirkung teilweise zerstört. Da „eine Wiederherstellung unmöglich ist“, ordnete der zuständige Berliner Senator für Volksbildung am 23. Mai 1955 die Vernichtung des Gemäldes an. Auf dem Schreiben findet sich der handschriftliche Vermerk: „Im Kunstinventar gelöscht 9.XI.56.“ Danach verlieren sich die Spuren in den Akten. Die Vermutung, dass das Bild nicht vernichtet, sondern von unbekannter Hand „gerettet“, stark beschnitten, doubliert und widerrechtlich in den Handel gebracht wurde, ließ sich durch Indizien schnell erhärten. Eine pass- und maß-

stabsgerechte Projektion der Abbildung im Auktionskatalog auf die Fotografie von 1906 machte deutlich, dass beide in jedem Detail übereinstimmen und es sich demnach beim Düsseldorfer Bild um einen Ausschnitt handelt. Ein anderer Beweis war die Bezeichnung des Werkes, die sich im unteren Rand erhalten hat: „Lago di Nemi. 18 m[iglia] d[a] Roma. P.L. [Ligiertes Monogramm von Peter Ludwig Lütke]“. Die ungewöhnliche Entfernungsangabe (18 Meilen von Rom) in der Beschriftung findet sich so auch auf der Inventarkarte der Akademie der Künste von 1938. Zwei Fehler konnten die Recherchen ebenfalls ausräumen. Die Datierung im Katalog muss von 1790 auf 1796 korrigiert werden. Eine Vergrößerung zeigt deutlich, dass auch die Signatur im Krieg leicht beschädigt wurde und heute der obere Teil der letzten Ziffer 6 nicht mehr genau erkennbar ist. Die Angabe „Öl auf Holz“ stellte sich schließlich als Übertragungsfehler aus dem Inventar heraus. Nicht geklärt werden konnte jedoch die spannende Frage, wer das Bild entwendet hatte und wie es in den Kunsthandel gelangt war. Recherchen nach einem kanadischen Auktionshaus, dessen Aufkleber sich auf der Rückseite des doublierten Gemäldes befindet, brachten keine Ergebnisse. Vielleicht handelte es sich auch nur um die Finte eines Vorbesitzers, der die Herkunft verschleiern wollte und einen alten Keilrahmen nutzte. Der Zeitpunkt der Entwendung war günstig gewählt. Mitte der 1950er Jahre gab es nur noch sehr wenige Personen, die um den Besitz der Preußischen Akademie wussten und ihre Interessen wirkungsvoll hätten vertreten können. Die Sozietät war zwar formal nicht aufgelöst, existierte aber faktisch nicht mehr. Und die neue, 1954 in West-Berlin gegründete Akademie konstituierte sich gerade erst. Mit diesen Beweisen ausgestattet, konnte die Akademie erreichen, dass Lütkes Gemälde in der Auktion nur unter Vorbehalt zugeschlagen wurde. Dank der nachfolgenden, über einen Kunstanwalt geführten Verhandlungen erhielt die Kunstsammlung das Bild schließlich zurück, musste jedoch eine Entschädigung an den Vorbesitzer zahlen. Kein ungewöhnliches Verfahren, da der juristische Streitweg viele Unwägbarkeiten mit sich

Detail mit der Künstlersignatur

bringt und in der Regel kostspielig ist. Für die Akademie ist die Rückgabe in mehrerlei Hinsicht ein Gewinn. Zum einen besitzt sie nun wieder eines von ursprünglich vier Ölbildern Peter Ludwig Lütkes, der die Landschaftsmalerei als Ausbildungsfach in der Akademie etablierte und unter anderem Karl Friedrich Schinkel und Carl Blechen zu seinen Schülern zählte. Zum anderen dokumentiert der Fall erneut, wie wirkungsvoll es ist, wenn sich die Akademie der Künste als Rechtsnachfolgerin für die Erforschung und Rückgewinnung des verlorenen Kunstbesitzes der Preußischen Akademie einsetzt. Eine Ausstellung, in der Lütkes Gemälde neben anderen prominenten „Rückkehrern“ in die Kunstsammlung am Pariser Platz präsentiert wird, ist in Planung.

WERNER HEEGEWALDT ist Direktor des Archivs der Akademie der Künste.

Der Nemisee ist kein Einzelfall. Die Preußische Akademie der Künste hat infolge des Zweiten Weltkriegs durch Auslagerung, Plünderung und Beschlagnahme der Trophäenkommissionen der Roten Armee einen großen Teil ihres Kunstbesitzes verloren. Ein gedruckter Verlustkatalog aus dem Jahre 2005 verzeichnet 2.188 Positionen, darunter Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen und Medaillen. Angebote aus Privathand und Funde in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zeigen, dass sich wichtige Teile erhalten haben. Das Archiv der Akademie der Künste bemüht sich seit Jahren intensiv um die Erforschung und Restitution der Kunstschätze.

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„MÖGE DAS ALLERÄRGSTE NICHT ÜBER MICH KOMMEN!!! Katharina Rudolph

Leonhard Frank in Paris, um 1939

Es ist Ende Mai 1940. Der Schriftsteller Leonhard Frank lebt in (etwa Leo Lania, Soma Morgenstern, Balder Olden, Hertha Pauli, ärmlichen Verhältnissen im Exil in Paris. Er spricht kein Franzö- Hans Natonek und Walter Mehring), die Frank auf seinem Weg sisch, fühlt sich allein und isoliert. Seit sieben Jahren ist er auf der begleiteten, und durch ein Konvolut von etwa sechzig Briefen und Flucht, die Nationalsozialisten in Deutschland haben seine Bücher Telegrammen vor allem aus den Jahren 1939 bis 1942, die sich in verbrannt und ihn, nachdem er Berlin 1933 verlassen hat und Privatbesitz befanden und mittlerweile in den Bestand des Archivs zunächst in die Schweiz gegangen ist, ausgebürgert und sein Ver- der Akademie der Künste gelangt sind. mögen beschlagnahmt. „Leonhard Frank leidet besonders bitter „[…] ich bin seit 25. hier“, schreibt Frank am 30. Mai 1940 in unter dem Exil, zu dem er sich, wie zu etwas Selbstverständlichem, einem dieser Briefe, der in die Schweiz an seine Lebensgefährtin entschlossen hat“, schreiben Klaus und Erika Mann. Maria Meinen geht. Beinahe drei Jahre hat er mit ihr zusammen in Dann muss er erneut fliehen. Viele Etappen und Details seiner Paris gelebt, dann ist sie – vorübergehend, wie beide glaubten – Flucht, die ihn von Paris über die Bretagne, Marseille, Spanien, im März 1940 zurück in die Schweiz gefahren. „[…] ich weiss noch Portugal ins rettende Amerika führte, lagen lange im Dunklen. Nun nicht, wie lange wir hierbleiben und wohin wir kommen und was mit aber lassen sie sich erhellen durch bisher nur teilweise ausgewer- uns geschieht“, schreibt Frank, „ich will die Hoffnung noch nicht tete Autobiografien und Erinnerungen von Schriftstellerkollegen sinken lassen, dass ich Dich wiedersehen darf.“ Wo befand er sich

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und was war geschehen? Der Briefkopf verrät: Er war in ein Inter- Buffalo, wohin er kam und von wo aus er am 30. Mai seinen Brief nierungslager gekommen, in das Sportstadion Buffalo in M ­ ont­rouge, an Maria Meinen schrieb, „vergiftete“, so Soma Morgenstern, der ebenfalls dort interniert war, die Angst vor der Wehrmacht den einer Kleinstadt südlich von Paris. Die Lage der vielen Emigranten in Frankreich hatte sich gerade „Schlaf der Nächte und die Speise des Tages“. Die deutschen Solwieder dramatisch verändert. Das Land befand sich zwar seit über daten hatten Holland und Belgien überrannt und kamen jetzt auch acht Monaten im Krieg mit Deutschland, war in dieser Zeit aber nur in Frankreich unaufhaltsam näher. Jeder war „mit derselben einam Rande betroffen gewesen. Kampfhandlungen waren großteils zigen Frage beschäftigt: Kommen wir hier noch rechtzeitig weg?“ ausgeblieben, die deutsche Armee hatte im Osten Polen überfallen Oder würde man bleiben müssen, „bis die Deutschen kommen und und dann im Norden Dänemark und Norwegen, im Westen aber war uns massakrieren?“ Anfang Juni, als in Paris Fliegerbomben fielen und deutsche Soles ruhig geblieben. Es war für Frankreich jene Zeit, die als „drôle de guerre“, als seltsamer Krieg oder „Sitzkrieg“ in die Geschichts- daten bereits bis auf etwa 200 Kilometer herangerückt waren, wurde schreibung und die Erinnerungen vieler Autoren eingegangen ist. Frank zusammen mit weiteren Gefangenen an die Atlantikküste Am 10. Mai 1940 begann jedoch eine neue Phase. Als deutsche gebracht, in ein Lager beim Fischerort Audierne. Maria Meinen sollte Soldaten auch in Holland, Belgien und Luxemburg einmarschierten erst Anfang Juli wieder von dem Geliebten hören. Am 14. Juni 1940, und Frankreich unmittelbar bedrohten, reagierte die Regierung in zehn Tage nach Franks Ankunft, erschütterte die Insassen die NachParis, was die Emigranten betraf, wie schon bei Kriegsbeginn: Sie richt, dass Paris eingenommen worden war. Verzweiflung brach aus, ordnete ihre Internierung an. Und diesmal, das war abzusehen, „Schrecken kroch durch das Lager wie ein scheußliches Monster mit würde es viel schlimmer werden. Im Herbst 1939 waren Frank und tausend Armen“, so der Journalist Leo Lania. „Von morgens bis abends viele andere Emigranten und Nazigegner nur für einige Wochen wanderten“ die Internierten „zwischen den Baracken hin und her, ververhaftet worden. Mittlerweile war die Fremdenfeindlichkeit jedoch loren und hilflos“, verstrickt in endlose Diskussionen darüber, was weiter gewachsen, eine „große Fremdenpsychose“ brach aus, wie geschehen würde, wenn die Deutschen anrückten. Nach einem gescheiterten Ausbruch spielte Frank mit dem Geder Schriftsteller Soma Morgenstern schrieb, verursacht durch Ängste vor einer vermeintlichen fünften Kolonne, vor feindlichen danken an Selbstmord. Er habe einen neuen Roman begonnen, sagte Agenten, Saboteuren und Kriegshetzern, die im Untergrund gegen er zu Soma Morgenstern, „ich bin mit meiner Arbeit so zufrieden das Gastland arbeiteten, wie Zeitungen immer wieder suggerierten. wie seit Jahren nicht mehr. Und jetzt muß ich mich umbringen …“. In seiner Autobiografie mit dem bezeichnenden Titel Links wo Morgenstern war nicht besonders überrascht, er und andere dachdas Herz ist berichtet Frank, dass er gerade an seinem Roman ten ja ebenfalls daran, sich zu töten. Der Roman, von dem Frank schreibend im Bett gesessen habe, als Polizeibeamte aufgetaucht erzählte und an dem er schon seit 1939 gearbeitet hatte, schildert die Geschichte eines naturverbundenen Mädchens aus einem abgeseien und erklärt hätten, „daß er sich den folgenden Morgen in einem legenen Schweizer Bergtal, das allmählich zur jungen Frau wird und Lager einfinden müsse. Sein Manuskript nahm er mit.“ Im Stade heiratet, deren Ehe scheitert und die sich dann in einen englischen Historiker verliebt. Vorlage und Anregung nahm Frank, wie bei fast jedem seiner Werke, direkt aus dem eigenen Leben. Dem Engländer hatte er Züge von sich selbst gegeben, Mathilde, die Heldin der Erzählung, war Maria Meinen nachempfunden, nach der er sich, wie viele der neu aufgefundenen Briefe zeigen, unaufhörlich sehnte. Bereits während seiner ersten Internierung im Jahr 1939 hatte er sich schreibend aus der bedrückenden Wirklichkeit eines Gefangenenlagers in die Welt seines Romans hineingeträumt. Die Arbeit hatte für ihn eine unmittelbar heilsame Funktion. Auch jetzt gab sie ihm Halt: Er würde das Manuskript seines Romans für die kommenden Wochen in seinen Mantel einnähen und das kleine Paket „als Kopfkissen“ benutzen, wie er später in seiner Autobiografie schrieb. Als die deutschen Soldaten tatsächlich anrückten und nur noch wenige Minuten entfernt waren, flüchteten Frank und Lania, wie viele andere auch. „Es war nicht leicht, über den mit eingelassenen Glassplittern und mit Stacheldraht überzogenen Rücken der glatten und hohen Mauer zu turnen“, berichtet Morgenstern, der es nicht schaffte. Dem Schriftstellerkollegen Balder Olden glückte es: „Von unten geschoben, von oben gezogen, flog man auf den Kamm der Mauer“, schrieb er, „half den nächsten Mann nachziehen und sprang auf weichen Ackerboden.“ Etwa zwanzig bis dreißig Männer entkamen auf diesem Weg.

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Sie wussten, dass sie nicht in Sicherheit waren und jederzeit gefasst werden konnten, aber „das Gefühl der Freiheit gab uns Zuversicht“, notierte Lania. Mit ihm und einem weiteren Gefährten, einem Rechtsanwalt aus Prag, war Frank in den kommenden Wochen unterwegs auf einer Odyssee in die noch unbesetzte Zone im Süden des Landes. Am 3. Juli erhielt Maria Meinen endlich Nachricht: „Ich bin auf der Reise (mit dem Fahrrad!)“, ließ er sie knapp wissen. 1.500 Kilometer legten Frank und seine Begleiter zurück, mit dem Auto, dem Bus, der Eisenbahn, zu Fuß und mit dem Fahrrad – immer in Lebensgefahr, bis sie endlich Mitte Juli Marseille erreichten. Nur von dort gab es noch Wege hinaus aus Europa. Frank, zwar erleichtert, aber wie alle anderen in großer Furcht vor der Auslieferung an die Deutschen, schrieb an Maria Meinen: „Ach, meine geliebte Maria […], ich hätte so viel Unbeschreibliches zu berichten, dass ich nicht weiss, wie ich es ausdrücken soll. […] Welches Schicksal mir bevorsteht, ist zur Zeit noch nicht zu übersehen. Möge das Allerärgste nicht über mich kommen!!!“ In den folgenden Wochen schickte er „Brief um Brief an seine Freundin, die Heldin seines Romans“, erinnerte sich später die österreichische Schriftstellerin Hertha Pauli, die mit Frank, Walter Mehring, Hans Natonek, Emil Julius Gumbel und einigen anderen Unterschlupf über einem kleinen Bistro gefunden hatte. Alle Briefe Franks an Maria Meinen, die nun im Archiv der Akademie der Künste liegen, dokumentieren die Verzweiflung, die unsichere Lage der Emigranten, die unübersichtliche Situation in Marseille, den Kampf um Visa und Ausreisegenehmigungen und seinen unstillbaren Wunsch, die Geliebte wiederzusehen. Gelegentlich las er den Gefährten in ihrem Versteck aus seinem neuen Roman vor, der „Ein langes Leben mit dir“ heißen sollte – ein Titel, in dem sich Franks Wünsche und Hoffnungen ausdrückten. Nach Wochen voller Sorge darüber, ob er jemals ein US-Einreisevisum erhalten würde, glückte es schließlich unter anderem durch die Hilfe von Thomas Mann. Frank ging am 9. Oktober 1940 in Lissabon an Bord eines Schiffes, das ihn in die USA bringen sollte, „schweren Herzens“, wie er schrieb. „Was soll er, ein deutscher Schriftsteller, in Amerika?“ Die Liebesgeschichte zwischen ihm und Maria Meinen endete traurig: Er versuchte unermüdlich, sie zu sich in die Vereinigten Staaten zu holen, doch die Ereignisse hatten Marias Liebe aufgerieben. Die beiden sahen einander nie mehr wieder. Der Traum von „einem langen Leben“ mit der Geliebten war zerplatzt. Franks Roman, sein treuer Begleiter auf der Flucht, erschien später unter dem schlichten Titel Mathilde.

„ich bin mit meiner Arbeit so zufrieden wie seit Jahren nicht mehr. Und jetzt muß ich mich umbringen …“.

KATHARINA RUDOLPH ist Autorin des Buches Rebell im Maßanzug. Leonhard Frank. Die Biographie, das im August im Aufbau Verlag erscheint. Der vorliegende Text basiert auf diesem Buch. Das der Forschung bisher unbekannte Briefkonvolut, das sich nun im Archiv der Akademie der Künste befindet, wurde von ihr in privatem Besitz ausfindig gemacht. Die Autorin war die erste, die Einsicht in diese Unterlagen nehmen und sie für das Buch verwenden durfte. Katharina Rudolph arbeitet als freie Journalistin unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

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Brief von Leonhard Frank an Maria Meinen, Montrouge, 30. Mai 1940


„ICH MÖCHTE AN KEINEM ANDEREN BERUF ZUGRUNDE GEHEN“ ZUM WERK LEONHARD FRANKS UND ZU SEINEM ARCHIV AN DER AKADEMIE DER KÜNSTE

Maria Meinen, undatiert

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Leonhard Frank (1882–1961) gehörte zu den bedeutenden Autoren der Weimarer Republik. In ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, kämpfte er sich ohne höhere Schulbildung an die Spitze des Kulturbetriebs. 1928 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, seine Romane und Erzählungen wurden in viele Sprachen übersetzt und zum Teil verfilmt, er schrieb erfolgreiche Theaterstücke und Drehbücher. Für seine politischen Überzeugungen stand er konsequent ein. Als einer von sehr wenigen deutschen Autoren ging er zweimal ins Exil, während des Ersten Weltkriegs und während der NS-Zeit. 1933 wurden seine Bücher in Deutschland verbrannt, 1934 wurde er, zusammen mit Klaus Mann, Erwin Piscator, Wieland Herzfelde, Alfred Kantorowicz und vielen anderen, ausgebürgert. Frank floh zuerst in die Schweiz, wo er die über zwanzig Jahre jüngere Maria Meinen (1905–1992) kennen- und lieben lernte. 1937 ließ sie sich scheiden und ging mit ihm nach Paris, wo sie als Ausdruckstänzerin arbeitete. 1939 begann Frank, den an ihrem Vorbild orientierten Roman Mathilde zu schreiben, der ihn während der Flucht begleitete und den er erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Los Angeles abschloss. Der „zarte […] Roman eines Frauenlebens“ – so bezeichnete Thomas Mann das Werk – erschien 1948 bei Querido in Amsterdam, einem der wichtigsten Verlage des deutschsprachigen Exils, und in Übersetzungen in England und den USA. Im Erscheinungsjahr gingen allerdings nur 1.300 Exemplare der Querido-Ausgabe über die Ladentheke, 1949 waren es noch rund 390. Das Buch, das auch von einem Krieg handelte, den alle vergessen wollten, hatte wenig Erfolg. Leonhard Frank schrieb gesellschaftskritische Werke und Liebesgeschichten. Seine bekanntesten Bücher sind Die Räuberbande (1914), Die Ursache (1915), Der Mensch ist gut (1917), Karl und Anna (1927) und Links wo das Herz ist (1952). Er war überzeugter Sozialist, trat jedoch nie in eine Partei ein – dazu war er zu sehr Individualist und Außenseiter. „Sein Leben“, so resümierte er in seinem 1952 erschienenen autobiografischen Roman Links wo das Herz ist, „war das eines kämpfenden deutschen Romanschriftstellers in der geschichtlich stürmischen ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Bücher sind Bildnisse seines Innern. Er hat sich von Jugend an um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen, und ist der Meinung, daß Menschen, die das nicht tun, die Achtung vor sich selbst verlieren müssen […].“ Leonhard Frank setzte sich zeitlebens für Frieden, soziale Gerechtigkeit und für humane Lebens- und Arbeitsbedingungen ein. Seine Romane und Erzählungen sind stark autobiografisch geprägt, die Stärken liegen in der präzi­ sen Beschreibung seelischer Vorgänge und nuancierter

Stimmungen und Atmosphären sowie in der literarischen Gestaltung kritikwürdiger gesellschaftlicher Zustände. „Kunst ist Weglassen“, war dabei Franks Credo, der Schriftsteller müsse alles Überflüssige vermeiden und dürfe nur das Wesentliche, das Charakteristische von Schauplätzen und Situationen darstellen. Seine Tätigkeit verglich er mit der eines Handwerkers. Der Autor müsse sich „an den Schreibtisch anschrauben, und schuften, wie jeder andere Arbeiter. […] Ich arbeite in der Tat und buchstäblich überall und in jeder Situation […] bis zur Gehirnhautentzündung. Ein aufreibender Beruf! Ich möchte an keinem anderen Beruf zugrunde gehen.“ 1960 übergab Leonhard Frank sein Archiv der Akademie der Künste in Ostberlin, deren Korrespondierendes Mitglied er seit 1956 war. Von wenigen Ausnahmen abgesehen beginnt die Überlieferung erst mit dem Jahr 1940, als er in den USA ein sicheres Zufluchtsland vor den Nationalsozialisten erreicht hatte. Bei den Werkmanuskrip-

Das Buch handelte von einem Krieg, den alle vergessen wollten.

ten wird die Lücke besonders spürbar. Es existieren keine originalen Handschriften aus über 20 Jahren schriftstellerischer Tätigkeit, auch die Romane Die Jünger Jesu, Links wo das Herz ist und Mathilde sind nur fragmentarisch überliefert. Manuskripte von Erzählungen und publizistischen Texten sind zwar in großer Zahl vorhanden, die frühen Texte in der Regel jedoch nur in neueren Fassungen, die nach dem Krieg entstanden sind. Aufsatzmanuskripte, autobiografische Arbeiten, Würdigungen und Reden belegen Franks Engagement gegen Krieg und Atomrüstung. Eine umfangreiche Gruppe bilden die dramatischen Arbeiten, hauptsächlich veröffentlichte Schauspiele, Hörspiele und Filme, die zum Teil hand- oder maschinenschriftlich in mehreren Fassungen vorliegen. Dicke Korrespondenzkonvolute enthalten persönliche Briefe von Freunden, Bekannten und der Familie. Hervor­ zuheben sind Briefe von Arnolt Bronnen, Theodor Brugsch, Oskar Maria Graf, Elisabeth Hauptmann, Franz Hammer, Lotte und Walter Janka, Alfred Kantorowicz, Katia Mann, Robert Neumann, Nico Rost und Eva Siao. Zahlreiche geschäftliche Briefe geben Einblicke in die wirtschaftliche Seite seiner Arbeit. Glückwunschschreiben und Leserbriefe zeugen ebenso von der Anerkennung seiner Leistungen wie wissenschaftliche Werke und Rezensionen seiner Bücher, die vor allem als Druckbelege aus Zeitungen und Zeitschriften überliefert sind. Das Archiv umfasst vier laufende Meter Schriftgut, das entspricht circa 20.000 Blatt beschriebenem beziehungsweise bedrucktem Papier, das der Forschung und interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

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KRISE ALS CHANCE Ist die Aufforderung, die Krise als Chance zu begreifen, mehr als nur ein Gemeinplatz? Zumindest schriftlich lässt sich die Ambivalenz des Begriffs fassen. Das chinesische Schriftzeichen für Krise besteht aus zwei Teilen: Gefahr und Gelegenheit. Auch das aus dem Griechischen stammende Wort krísis (Wende- und Höhepunkt eines gefährlichen Konfliktes) birgt die Doppeldeutigkeit in sich. Frank Fath und Anja Lüdtke – zwei Künstler/innen, die mit Werken in der Berliner Sammlung Kalligrafie der Akademie der Künste vertreten sind – haben den Begriff auf ihre Weise interpretiert.

„Der Begriff der Krisis ist für mich eng verbunden mit einer Szene aus Väter und Söhne von Turgenjew. Dort ringt der Sohn Basarow im Hause seines Vaters um Leben und Tod. Der Vater, selbst Arzt, klammert sich an die Krisis in der Hoffnung auf dann beginnende Besserung. Der Wandel ist selbst­­ ver­ständlich. In der Krisis, die schwer und ungreifbar, diffus eine Änderung gebären wird. Und was daraus eventuell Gutes entsteht, ist nicht unmittelbar klar.“ – Frank Fath

Frank Fath, Chance, 2020. Gouache, Papier Hahnenmühle, Spitzfeder und Automatic Pen

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„Die Bedeutung des zweiteiligen chinesischen Zeichens für Krise beinhaltet sowohl Gefahr, als auch Gelegenheit. Hieraus entsteht im besten Falle eine Chance. Die drei Elemente der Gleichung: Gefahr + Gelegenheit = Chance wollte ich grafisch zueinander in Beziehung setzen. Das Wort ‚Chance‘ weist beim Durchlaufen und Durchdringen der Gefahr einen Weg aus der Krise. Die Gelegenheit ist die Zutat, ohne die der Prozess schwer möglich wäre.“ – Anja Lüdtke

Anja Lüdtke, Chance, 2020. Gouache, Sumi Ink, Graphit auf Hahnemühle „Burgund“, Flachpinsel und Bleistift

SUSANNE NAGEL ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bibliothek und verantwortlich für die Berliner Sammlung Kalligrafie der Akademie der Künste.

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„ABER GELD MÜSSTE MAN HABEN“ Anke Matelowski

UNBEKANNTE FRÜHE BRIEFE DES MALERS RUDOLF LEVY

Rudolf Levy und Genia Levy, ca. erste Hälfte der 1920er Jahre, Ausschnitt

Brief von Rudolf Levy an seinen Vater Julius Levy, Paris, 21. Oktober 1905, Ausschnitt

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Rudolf Levy (1875–1944) ist heute nur wenigen Kunstinteressierten bekannt. Dabei wurde er zu seinen Lebzeiten als Begründer des Pariser Café-du-Dôme-Kreises, als Maler und Poet geachtet und verehrt. In Stettin ge­b oren und in Danzig aufgewachsen, besuchte er zunächst die Kunstgewerbeschule in Karlsruhe und studierte Malerei in München. Ende 1903 ging Levy nach Paris und entdeckte mit dem Maler Walter Bondy das anfangs unscheinbare Café du Dôme am Montparnasse. Bald wurde es zu einem bedeutenden Zentrum eines deutschen Künstlerkreises, dem neben Malern und Bildhauern auch Literaten, Kritiker und Kunsthändler angehörten. Tagsüber ging man seiner Arbeit nach oder besuchte Ausstellungen, abends traf man sich dort, um über die Impressionisten und Cézanne zu diskutieren. Von Hans Purrmann, dem Freund aus frühen Studienjahren, ist die Einschätzung überliefert, dass Levy auch hier – wie schon in München – rasch im Mittelpunkt des Künstlerkreises stand. Er war geistreich und schlagfertig, seine Meinung wurde fast widerspruchslos hingenommen. Aus der frühen Pariser Zeit haben sich impressionistische Freilichtstudien erhalten. Von entscheidender Be-­ deutung für Levys künstlerische Entwicklung war jedoch die Begegnung mit Henri Matisse. Von 1908 bis zum Frühjahr 1912 gehörte er der Académie Matisse an, seit Ende 1911 war er sogar für einige Monate deren Leiter. Der Kunsthändler Alfred Flechtheim knüpfte 1911 Kontakte zu dem Kreis in Paris. Wohl auf seine Initiative hin beteiligte sich Levy 1912 an der legendären Sonderbund-Ausstellung in Köln, in der die europäische Moderne systematisch und umfassend zu sehen war. Kurz darauf nahm Flechtheim ihn unter Vertrag. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Levy in Frankreich stationiert war, präsentierte Flechtheim 1922 in Berlin die erste Einzelausstellung. Unter dem Titel Die Lieder des alten Morelli erschien gleichzeitig als Privatdruck der Galerie ein Band mit Gedichten und Versen Levys. Seit dem Jahreswechsel 1926/27 lebte Rudolf Levy – wie viele andere Künstler des Dôme-Kreises – in Berlin. Er wurde in die Berliner Secession aufgenommen und war dort mehrere Jahre in der Jury und im Vorstand aktiv. Zu Levys Freundeskreis zählten nun unter anderem Erika


und Klaus Mann, der Regisseur Erik Charell, die Bildhauerin Renée Sintenis und Joachim Ringelnatz. Auf malerischem Gebiet fand Levy in den zwanziger Jahren zu seinem persönlichen Stil, der sich zwischen Expressionismus und Realismus bewegte. Das Stillleben wurde für ihn zur vorherrschenden Bildform, aber auch südliche Landschaften und eindrucksvolle Porträts sind in seinem Schaffen zu finden. Levy beteiligte sich an zahlreichen Ausstellungen, die Werke wurden von privaten Sammlern und Museen erworben. In der Berliner Akademie der Künste präsentierte er ebenfalls regelmäßig seine Arbeiten, und Max Pechstein schlug ihn 1930 und 1932 als Mitglied vor. Gewählt wurde er allerdings nicht. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft musste Levy Deutschland im April 1933 verlassen. Damit begann eine dramatische Odyssee, die ihn von Frankreich nach Mallorca, dann in die USA und wieder zurück nach Europa führte. Zeitweilig lebte er in Jugoslawien, später auf Ischia und in Rom, bis er 1940 Florenz erreichte. Dort wurde er im Dezember 1943 verhaftet und starb vermutlich Anfang Februar 1944 während der Deportation nach Auschwitz. Bisher war nur ein Teilnachlass aus der Exilzeit Rudolf Levys bekannt. Die Unterlagen konnten in Florenz gerettet werden und befinden sich heute im Bargheer Museum in Hamburg. 2018 entdeckte ein Berliner Exil-Forscher ein noch unbekanntes Konvolut mit Dokumenten Rudolf Levys aus der frühen Zeit bis etwa 1920 und vermittelte es an die Akademie der Künste. Im Zentrum der Neuerwerbung stehen Briefe, die er zwischen 1905 und 1907 aus Paris an seinen Vater Julius Levy in Danzig schrieb. Sie ermöglichen einen sehr persönlichen und unverklärten Blick auf die Entwicklung des jungen Künstlers, dessen Leben von ständigen Geldsorgen begleitet war. Immer wieder bittet Levy um Überweisungen oder bestätigt diese, teilt Pläne mit oder versucht dem Vater seine künstlerischen Fortschritte zu vermitteln. So schreibt er am 21. Oktober 1905: „Herzlichen Dank für Übersendung der 400 fr[ancs] Ich habe dieselben, wie ich angab verwendet und habe mir ein Atelier gemietet mit einem Zimmer dabei für 1000 fr[ancs] jährlich. Ich habe dasselbe unbedingt notwendig, da ich etwas Größeres beginnen will. Anbei sende ich dir Quittung über die Quartalsmiete. Ferner den unterschriebenen Schuldschein.“ Im Oktober 1905 kann der Dreißigjährige erstmals ein Bild im Pariser Herbstsalon ausstellen, die Mitteilung der Société du Salon D’Automne hat sich im Konvolut erhalten. Doch wie er an den Vater schreibt, ist das Bild „schlecht gehängt“, und er weiß nicht, ob die Kritik es erwähnen wird. Aber Levy lässt sich nicht entmutigen und arbeitet gleichzeitig auf sein Ziel hin: „Montag gehe ich wieder anständig an die Arbeit im neuen Atelier. Bis zum Frühjahr hoffe ich in Berlin ein Bild auszustellen und ein berühmter Mann zu werden. Aber Geld müßte man haben. Ohne Geld ist das alles so unendlich schwer. Ich müßte einmal 1000 fr[ancs] hier in den Fingern haben, von denen ich keine Schulden zu zahlen hätte, sondern lediglich für meine Arbeit verwenden könnte.“ Die finanziellen Sorgen gerade junger Künstler waren nicht ungewöhnlich. Von Hans Purrmann wissen wir, dass sie die meiste Zeit im „Dôme“ verbrachten, „um auf Geld aus der Heimat zu warten, oder auf irgendeinen, den man anpumpen konnte“.1 Levy berichtet in den Briefen auch von Bekannten, vom täglichen Leben, wie dem Besuch der Synagoge, oder von der Arbeit an neuen Bildern: „Montag beginne ich mit

dem Porträt eines Herrn Uhde, eines ziemlich bekannten Schriftstellers.“ Hier handelt es sich um den Autor und Kunsthändler Wilhelm Uhde, der am Montparnasse eine berühmte Galerie betrieb und dem Café-du-Dôme-Kreis ebenfalls angehörte. Das erwähnte Bild ist im Werkverzeichnis noch nicht erfasst und vermutlich unbekannt. Hoffnungen und Zweifel wechseln sich ab, zudem werden Konflikte mit dem Vater deutlich. Anfang November 1905 besteht die Aussicht, ein Bild zu verkaufen, und Levy schreibt: „Ich bin wie gesagt aber guten Mutes und glaube sicher bald dahin zu gelangen, daß sich auch weitere Kreise, für das was ich schaffe interessieren werden. Ich hoffe bereits in diesem Winter im Salon des Independants mit einer größeren Anzahl Bilder vertreten zu sein und auch pekuniären Erfolg zu haben.“ Doch schon im nächsten Brief ist er von der Reaktion des Vaters „arg“ enttäuscht und vermisst in dessen Ausführungen „in erster Linie die Anerkennung und das Verständnis für die Situation“. Im Herbstsalon des Jahres 1905 haben die Bilder von Matisse und den Fauves großes Aufsehen erregt. Sie bleiben nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung Levys, der ein Jahr später erneut mit einem Gemälde zugelassen wird. Erwartungsvoll teilt er seinem Vater im September 1906 mit: „Vielleicht habe ich im Salon mit meinem Bilde Erfolg. Ich denke[,] da[ß] diesmal die Kritik mich mehr berücksichtigen muß, als im vorigen Jahre. Erstens schon der Größe der Bilder wegen. Zweitens auch der Bedeutung der dort angeschlagenen Richtung wegen.“ Und tatsächlich wird er von einem französischen Kritiker erwähnt, der Zeitungsausschnitt ist im Konvolut vorhanden. Leider fehlen in den Briefen umfangreichere Hinweise zum Café-du-Dôme-Kreis, doch im Gegensatz zu den bisher bekannten Erinnerungen verschiedener Künstler an diese Gruppe sind die Aufzeichnungen Quellen aus

erster Hand. Sie geben Auskunft über die frühe Entwicklung Rudolf Levys sowie über die allgemeine Situation von Künstlern im Paris dieser Zeit. Einen zweiten Schwerpunkt des übernommenen Konvoluts bilden Briefe des Vaters und der Geschwister an Rudolf Levy während des Ersten Weltkriegs. Sie enthalten wie das ebenfalls vorhandene Soldbuch weitere biografische Details. Das Verhältnis zum Vater hat sich nun offenbar verbessert. Dieser begrüßt die Teilnahme seines Sohnes am Krieg und erwartet, dass er „der Familie Levy und ganz Israel Freude und Ehre“ bereite. Als Rudolf Levy im Oktober 1915 das Eiserne Kreuz verliehen wird, ist der Vater so erfreut darüber, dass er ihm umgehend Geld übersendet. Anders als während des Paris-Aufenthalts ist er nun sehr an den Erlebnissen des Sohnes interessiert. Nach dem Kriegsende lernt Rudolf Levy 1919 in München Eugenie (Genia) Schindler (1894–1953) kennen. Sie heiraten, und Genia Levy wird im Berlin der zwanziger Jahre eine bekannte Fotografin. Wiederholt fotografiert sie auch Werke und Ausstellungsvorbereitungen der Berliner Secession, die in Katalogen und der Presse veröffentlicht werden. Wenige Familienbriefe an sie sowie ein gemeinsames Foto haben sich erhalten. Obwohl sich Genia und Rudolf Levy später scheiden lassen, bleiben sie freundschaftlich verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich Genia Koppold, wie sie nun heißt, mit früheren Bekannten dafür ein, das Andenken an den Maler wachzuhalten. Sie ist es auch, die das vorliegende Konvolut für die Nachwelt aufbewahrt hat. 1 Barbara und Erhard Göpel (Hg.), Leben und Meinungen des Malers Hans Purrmann. Wiesbaden 1961, S. 59

ANKE MATELOWSKI ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv Bildende Kunst der Akademie der Künste.

Rudolf Levy, Bildnis Hans Purrmann, Öl auf Leinwand, 92,5 × 73 cm, 1930/31, Köln, Museum Ludwig JOURNAL DER KÜNSTE 13

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FREUNDESKREIS

DIE ROLLE DER WIRTSCHAFT IN EINER VERÄNDERTEN GESELLSCHAFT EIN GASTBEITRAG VON ANDREAS DORNBRACHT, GESCHÄFTSFÜHRENDER GESELLSCHAFTER DER ALOYS F. DORNBRACHT GMBH & CO. KG

Alles scheint in diesen Tagen aus den Fugen geraten zu sein. Kaum eine Planung oder Erwartung, kaum eine Vorstellung und Idee, an die man vor zwei Monaten mit Blick auf das noch junge Jahr fest glaubte, hat heute noch die gleiche Bedeutung. Diese Wochen fühlen sich an wie eine bleierne Zeit. Dabei ist es nicht so, als gäbe es nichts zu tun. Gerade diejenigen, die eine hohe Verantwortung tragen, beispielsweise für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für deren Gesundheit und Wohlergehen, für ihre Arbeitsplätze, genau wie für die Unternehmen und Organisationen, denen sie angehören, sind aktuell enorm gefordert. Noch nie hatte dabei die Gesundheit eine solche Priorität. Dornbracht beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Thema. Die Vision des Unternehmens ist die Gestaltung und Steigerung von Lebensqualität, Lebensenergie und Lebensglück innerhalb von Lebensräumen. Hierbei stehen Wasseranwendungen und -erlebnisse im Mittelpunkt, die im Idealfall durch ihr Design und ihre technische Konstellation zu einem festen Bestandteil der täglichen Badbenutzung werden sollen. Die aktuellen Ereignisse eröffnen eine völlig neue Perspektive darauf. Dabei lässt sich heute kaum abschätzen, ob das positive oder eher negative Auswirkungen auf das Unternehmen haben wird. Dies ist nur ein Beispiel, das verdeutlicht, wie sich Unternehmerinnen und Unternehmer mit dem Zweck und den Zielen – dem „Purpose“ ihrer Unternehmen innerhalb der Gesellschaft für die Zeit nach Covid-19 beschäftigen müssen. Dafür ist jetzt kaum Zeit, und auch der Kopf ist momentan nicht frei, um kreativ vorauszudenken. Und auch wenn der eigene Intellekt uns ständig mahnt, den Blick weiter zu heben, so fahren viele von uns nur noch auf Sicht. Die Herausforderungen im Tagesgeschäft sind so ungewöhnlich und verlangen so viel Flexibilität und Kraft, dass keine Luft für mehr bleibt. Halten wir als Individuen, halten unsere Unternehmen und Organisationen, hält unsere Gesellschaft diesen Zustand aus? Und wenn ja, wie lange und mit welchen Auswirkungen? Es gibt zwei Richtungen, die unseren Umgang mit den Folgen dieser Krise bestimmen. Zwei Möglichkeiten, wie wir unseren Blick auf „die Zeit danach“ richten können:

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Wir können dystopische Szenarien entwerfen, die uns am Ende wahrscheinlich in eine tiefe Depression führen. Oder wir können an uns selbst als Menschen, als Gemeinschaft und Gesellschaft glauben, die aktuell lernt, dass es „danach“ nicht weitergehen kann wie bisher. Vieles haben wir schon immer ganz gut gemacht. Anderes haben wir – wider besseres Wissen – trotzdem unverändert beibehalten. Einiges Neue haben wir schnell angenommen, weil es unser Leben vereinfacht hat. Und manchem haben wir uns auch verweigert, obwohl es eigentlich sinnvoll erscheint. Wie in einem Lückentext kann man hier die Themen einfügen, die individuell am besten passen. Bei ehrlicher und anständiger Selbstreflexion wird keiner von uns Mühe haben, ausreichend Stoff dafür zu finden. Diese Krise ist beispiellos. Sie trifft nicht eine Nation, ein Geschlecht, eine Hautfarbe, eine politische Partei, eine bestimmte Orientierung oder Glaubensgemeinschaft. Sie macht an Grenzen nicht Halt und sie schert sich auch nicht besonders darum, ob wir arm oder reich sind, unfrei in Diktaturen oder frei in Demokratien leben. Und weil sie uns einfach nur als menschliche Organismen bedroht, sind wir alle von ihr grundsätzlich gleichermaßen betroffen. Genau darin liegt die Chance, dass wir mit einem kollektiv veränderten Bewusstsein in die Zeit nach der Krise gehen. Gesellschaften sind Kulturen, in denen viele „Player“ mit ganz unterschiedlichen Zugehörigkeiten und Motivationen interagieren. Durch die alles überspannende und miteinander verbindende Wirkung der Pandemie sind „danach“ die Chancen für ein gemeinsames Streben nach einer gerechteren, sichereren und lebenswerteren Existenz für uns alle größer als „davor“ – größer als jemals in der jüngeren Geschichte. Darin liegt auch eine Verpflichtung für uns alle. Als Individuen, als Partner, als Familienangehörige, als Kollegen, als Mitglieder in Vereinen – egal in welcher sozialen Rolle wir uns bewegen, sollten wir mehr denn je offen für neue Perspektiven und Ideen sein. Unternehmer haben mit ihren Möglichkeiten bei der Mitgestaltung und Entwicklung der Gesellschaft eine besondere Verantwortung. Dass sie dabei unternehmerisch denken und den Geschäftszweck im Blick haben müssen, ist kein Nachteil. Denn jeder kann aus seinen

unterschiedlichen Rollen und den damit einhergehenden Kompetenzen und Interessen die Auseinandersetzung und Meinungsbildung nur bereichern. Der Kunst kann dabei eine ganz besonders wertvolle und für viele Unternehmen noch neue Bedeutung zukommen. Denn die Art und Weise, wie Kunstschaffende sich einer Fragestellung, einem gesellschaftlichen Problem, einer Aufgabe oder Herausforderung, einer bestimmten Materialität oder einem spezifischen Medium nähern, ist ganz besonders. Sie ist, obwohl Kunstschaffende und Unternehmende sich in ihren Zielen oft ähneln, vor allem anders, als es in der Wirtschaft üblich ist. Die Herangehensweise in künstlerischen Schaffensprozessen ist vor allem deutlich offener und viel weniger durch Eitelkeiten abgelenkt. Sie fokussiert den Blick auf das Wesen der zu behandelnden Fragestellung und sie ist von der Lust geprägt, einer Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Dieser unbedingte Wille und die oft gnadenlose Ehrlichkeit führen manchmal soweit, dass die eigene psychische und physische Unversehrtheit aufs Spiel gesetzt wird. Entsprechend tief und nachhaltig berührend sind die Ergebnisse. Die Unternehmerinnen und Unternehmer, die mit künstlerischen Interventionen in ihren Organisationen bereits Erfahrungen gemacht haben, werden es bestätigen: Sie bieten sinnstiftenden Mehrwert und sind eine Bereicherung für beide Seiten. Diese Zusammenarbeit zweier gleichberechtigter Partner – auf Augenhöhe – schafft neue Gedankenanstöße, führt zu neuen Erkenntnissen und beschleunigt Innovationsprozesse. In diesen Zeiten, in denen es vor allem freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern, aber auch Kunstinstitutionen besonders schwerfällt, wieder auf die Beine zu kommen, kann daher der Appell an den Mut der Verantwortlichen in Unternehmen nicht laut genug sein. Und dies gilt für Kleinunternehmer genauso wie für große Industriefirmen: Probieren Sie etwas Neues aus, bieten Sie Kunstschaffenden als Vordenker und Anstifter zu Neuem eine Plattform.

Dornbracht unterstützt die Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 3, 8, 12, 16, 20, 24, 29 Fotos Julia Baier | S. 4, 6, 11, 15, 19, 23 Fotos Marina Dafova | S. 22 Abbildung Courtesy Parthas Verlag Berlin | S. 30–35 Fotos Manos Tsangaris | S. 36/37 Foto Mareike Maage | S. 41 Foto Tilman Meckel, S. 42 Foto Hans Broich-Wuttke, S. 43 Foto Paul Plamper | S. 44 Foto picture alliance / AP Photo, S. 46 Foto Ze Wrestler / Wikipedia (Public Domain) | S. 48–52 Fotos Johanna-Maria Fritz / OSTKREUZ | S. 56 Foto Saeed Khangheshlaghi, S. 57 Foto Mohammad Masoumi, S. 58 Filmstills Courtesy Farhad Delaram | S. 62, 63 Akademie der Künste, Berlin, Arnold-Zweig-Archiv Nr. 2637 | S. 64, 65 links und rechts Bibliothek der Akademie der Künste, Berlin, Sign. 2019 B 622-2 und Kunstsammlung Inv.-Nr. MA 468; Foto Ilona Ripke | S. 66, 69 Reproduktion: Archiv Katharina Rudolph. Original aus Privatbesitz, Fotograf unbekannt, S. 67+68 © Aufbau-Verlag und Akademie der Künste, Berlin, Leonhard-Frank-Archiv, Nr. 104 | S. 70 © Frank Fath, Berliner Sammlung Kalligrafie der Akademie der Künste, BSK 707, S. 71 © Anja Lüdtke, Berliner Sammlung Kalligrafie der Akademie der Künste, BSK 706 | S. 72 links Akademie der Künste, Berlin, Rudolf-Levy-Archiv, Nr. 15, rechts Fotograf unbekannt, Akademie der Künste, Berlin, Rudolf-Levy-Archiv, Nr. 31, S. 73 Museum Ludwig, Köln, Inv.-Nr. ML 76/2936, Foto: © Rheinisches Bildarchiv, rba_c005167

Journal der Künste, Heft 13, deutsche Ausgabe Berlin, Juni 2020 Auflage: 3.000

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