Journal der Künste 18 (DE)

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JOURNAL DER KÜNSTE

KUNST DER NACHHALTIGKEIT FRAGEN AN EINE RABBINERIN GERHARD LEO EINE JUGEND IM EXIL

DEUTSCHE AUSGABE MAI 2022


S. 5

S. 27

S. 61

EDITORIAL

KOLONIALES KUPFER

Johannes Odenthal

Naomie Gramlich

MILEIN COSMAN – GEZEICHNETE SCHNAPPSCHÜSSE Anna Schultz

S. 8

S. 32

ANTISEMITISMUS – FRAGEN AN EINE RABBINERIN

MAULBEERZEILEN

S. 66 Esther Kinsky

Delphine Horvilleur im Gespräch mit Jeanine Meerapfel

NEUES AUS HOLLYWOOD – DAS ARCHIV VON FRIEDRICH HOLLAENDER Andrea Clos

S. 34 S. 12

„WIR MÜSSEN UNS VON DER VORSTELLUNG LÖSEN, DASS FASCHISMUS WAHNSINN IST“ Kader Attia im Gespräch mit Johannes Odenthal

„DEN GROSSEN HUNGER HABEN WIR ÜBERHAUPT ERST GEWECKT“ Carola Bauckholt, Julia Gerlach und Iris ter Schiphorst im Gespräch Interventionen von Christina Kubisch, Peter Ablinger und Trond Reinholdtsen

S. 68 FUNDSTÜCK

„EINE KLEINE DISKRETE FEIERLICHKEIT“ DIE WIEDERERÖFFNUNG DER VILLA SERPENTARA IN OLEVANO Anneka Metzger

S. 15

CARTE BLANCHE S. 44

KATHARINA SCHULTENS S. 22

CARTE BLANCHE S. 72

FRITZ FRENKLER

NACHHALTIGKEIT/ÖKOLOGIE

Christian Tschirner

KUNST IM KERN C. Sylvia Weber

S. 54

REEDOCATE ME! ZUR KUNST DER TRANSFORMATION

FREUNDESKREIS

KUNSTWELTEN

DIE REISE NACH PORTBOU – TAGEBUCH-AUSZÜGE Jeanine Meerapfel

S. 25 S. 57

DAS ENDE VOM KAPITALISMUS Ulrike Herrmann

NEUES AUS DEM ARCHIV

EINE JUGEND IM EXIL – SPURENSUCHE IM GERHARD-LEO-ARCHIV Carsten Wurm

MILA TESHAIEVA, geboren 1974 in Kiew, ist seit 2016

JOHANNA-MARIA FRITZ, geboren 1994 in Baden-Baden,

Mitglied der Agentur OSTKREUZ. Zu ihren Einzelausstel-

ist seit 2019 Mitglied der Agentur OSTKREUZ. 2018 war

lungen zählen InselWesen. InselAlltag, Museum

ihre Einzelausstellung Like a Bird zum gleichnamigen

Europäischer Kulturen, Berlin 2017, und Imagined

Projekt über Zirkus in muslimisch geprägten Ländern in

Communities, MIT Museum, Boston 2018, 2013 erschien

der Anne Clergue Galerie, Arles, zu sehen, 2019 erhielt

ihre Publikation Promising Waters, 2015 Faces and

sie den Deutschen Friedenspreis für Fotografie.

Stories of Entrepreneurs und 2016 InselWesen.

Die hier auf den Seiten 30/31, 42/43, 52/53, 64/65,

Die hier auf den Seiten 3, 4, 6/7, 20/21 und 74 abge-

70/71 und 73 abgedruckten Bilder aus der Ukraine

druckten Bilder aus der Ukraine wurden vom 1.3. bis

wurden am 5.3.2022 aufgenommen.

18.3.2022 aufgenommen.




EDITORIAL

Das Journal der Künste wurde 2016 gegründet, zu einem Zeitpunkt, als sich Hunderttausende von flüchtenden Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak auf den Weg nach Mitteleuropa machten. Uncertain States hieß das Programm, mit dem die Akademie der Künste auf eine Ausnahmesituation in der Welt reagierte. Im Verlauf der 18 Ausgaben des Journals sind die großen Krisen nicht gelöst worden, es sind vielmehr immer neue Ausnahmesituationen und Notstände hinzugekommen wie der Brexit, die Zunahme autoritärer Strukturen in Europa, das Erstarken rassistischer und nationalistischer Gruppierungen, die Anschläge in Halle und Hanau, die vermehrten Anzeichen der Klimakatastrophe, seit Beginn 2020 vor allem die Coronapandemie und schließlich in den letzten Wochen der Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wo stehen die Künste? Und wo stehen wir als Institution, die für die Künste eintritt? Fragen zu Asyl, zur rechtspopulistischen Spaltung der Gesellschaft, Zukunft Europas, Systemrelevanz der Kunst und zur eigenen Ohnmacht betreffen uns als Institution im Kern und werden immer neu in den Beiträgen des Journals reflektiert. So überlagern sich auch in diesem Heft die Themen, die uns seit Jahren begleiten: die Kontinuität von Antisemitismus in den westlichen Gesellschaften oder das Weiterbestehen kolonialer und faschistischer Denkfiguren bis heute. Die beiden Gespräche mit der Rabbinerin Delphine Horvilleur und dem Kurator der Berlin Biennale, Kader Attia, reflektieren diese Zusammenhänge. Wie ein Einbruch in unsere alltägliche Arbeit durchdringen die beiden fotografischen Kriegstagebücher von Johanna-Maria Fritz und Mila Teshaieva dieses Heft. Die OSTKREUZ-Fotografinnen informieren uns mit ihren Bildern über die emotionalen und materiellen Ausnahmesituationen im Osten Europas. Und gleichzeitig überlagert das eine große und zentrale Zukunftsthema alle Kampfplätze der Gegenwart: die Frage, wie eine Zukunft auf diesem Planeten für die nachkommenden Generationen aussehen kann. Diese Fragestellung wird auch die Akademie in den nächsten Jahren beschäftigen. Ein Rückblick auf das Symposium ReEDOcate Me! zu Jahresbeginn hat die Notwendigkeiten von Wandel im Umgang mit den natürlichen Ressourcen am historischen Beispiel der Edo-Zeit in Japan aufgezeigt. Ulrike Herrmann und Naomie Gramlich beschreiben insbesondere die Verbindung zwischen Kapitalismus und kolonialen Strukturen als historisch gewachsene Grundlage, die uns die Spielräume für Veränderung in der Zukunft nimmt. Auf dem

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Weg einer literarischen Erkundung nähert sich Esther Kinsky dem Thema der differenzierten Erfahrung von Natur in der postindustriellen Landschaft Italiens. Die Sektion Musik wird sich in den nächsten Monaten systematisch mit der Frage beschäftigen, wie der notwendige Wandel nicht nur die Praxis von Komponist*innen verändern muss, sondern auch die Strukturen von Institutionen. Das Gespräch zwischen Carola Bauckholt, Iris ter Schiphorst und Julia Gerlach fordert zu einem strukturellen Umdenken und neuen Formen des Handelns auf, denen sich unsere Institution stellen muss. In der utopischen Praxis eines Trond Reinholdtsen und den landschaftlichen Interventionen von Christina Kubisch oder Peter Ablinger werden konkrete Ansätze dieser neuen künstlerischen Praxis vorgestellt. Die Beiträge aus der Rubrik „Neues aus dem Archiv“ setzen einen Schwerpunkt auf die Erfahrung von Exil und Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Zentrum stehen der Komponist Friedrich Hollaender, der Journalist und Widerstandskämpfer Gerhard Leo sowie die Zeichnerin und Karikaturistin Milein Cosman, die im Exil überlebt haben und die historische Dimension der aktuellen Themen belegen. Das Tagebuch der Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel von der Reise nach Portbou mit Abiturientinnen aus Berlin auf den Spuren von Walter Benjamin erzählt von der konkreten Praxis intensiver Vermittlungsarbeit für eine junge Generation kritischen Denkens. Die Carte blanche haben wir in diesem Heft doppelt vergeben: an den Industrie-Designer Fritz Frenkler, der Nachhaltigkeit konsequent auch als eine Frage der Gestaltung beschreibt, und an die Lyrikerin Katharina Schultens, die ab 2022 auch die Leitung des Hauses für Poesie übernehmen wird. Sie spürt in ihren Gedichten der sprachlichen Erfassung von GegenwartsVerwerfungen nach. Schließlich ein Wort in eigener Sache. Als Initiator und verantwortlicher Herausgeber des Journals der Künste verabschiede ich mich mit dieser 18. Ausgabe. Meinen Mitherausgeber*innen Kathrin Röggla und Werner Heegewaldt sowie dem Redaktionsteam mit Lina Brion, Anneka Metzger und Martin Hager danke ich für die großartige Zusammenarbeit, die auch die Basis für die Weiterentwicklung des Journals sein wird. Johannes Odenthal Programmbeauftragter der Akademie der Künste

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JEANINE MEERAPFEL Das Problem des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland bereitet uns große Sorge. Vor drei Tagen – an Jom Kippur – jährte sich der Anschlag auf die Synagoge in Halle, bei dem zwei Menschen getötet wurden. Immer wieder müssen wir beobachten, dass Friedhöfe beschädigt und geschändet werden. In diesem Land werden Synagogen angegriffen, und deshalb fragen wir uns: Wie ist das möglich? Wie kann das sein?

ANTISEMITISMUS FRAGEN AN EINE RABBINERIN

DELPHINE HORVILLEUR Bevor ich über meine Begegnungen mit Antisemitismus an anderen Orten und bei anderen Gelegenheiten spreche, möchte ich von meiner eigenen Begegnung mit dem wiedererwachenden Antisemitismus erzählen – oder besser gesagt davon, wie der Antisemitismus in der Gesellschaft, in der ich lebte, für mich 1980 Gestalt annahm. Ich war damals 15 Jahre alt, es geschah in Carpentras in Südfrankreich, einer bekannten Stadt in der Provence. Ein Friedhof wurde geschändet. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich von so etwas hörte, und ich habe noch vor Augen, wie ich mit meinem Vater im Auto saß und er mich ansah und sagte: „Das ist das Einschneidendste und Schrecklichste, was wir seit Kriegsende erlebt haben.“ Für ihn war es ein absoluter Schock – und für mich auch, denn ich erinnere mich, dass ich eigentlich gedacht hatte, meine Generation würde von so etwas verschont bleiben. Ich dachte, sie wäre dagegen „immun“, wie man heute sagt. Die Shoah war ja vorbei und die Menschen hatten verstanden. Ich glaubte wirklich, dieser Krieg würde nicht der unsere. Aber an diesem Tag wurde mir klar, dass es auch unser Kampf sein würde, und meine Generation würde kämpfen müssen. JM Die Schändung des Friedhofs, die Sie in diesem Moment mit Ihrem Vater erlebten – da ist etwas mit Ihnen geschehen, und Sie sagten sich: „Ich muss etwas dagegen unternehmen …“ Sie gingen nach Israel, lernten Hebräisch. Wie kam es dazu? DH Ich denke, ich ging mit 17 nach Israel, weil meine Gedanken dazu, was es heißt, jüdisch zu sein, bereits sehr tiefgreifend waren. Worum geht es bei meiner jüdischen Identität? Darüber habe ich in den letzten 40 Jahren immer wieder nachgedacht, weil, wie Sie wahrscheinlich wissen, niemand imstande ist zu definieren, was es eigentlich bedeutet, jüdisch zu sein. Israel war für mich mit 17 also ein Versuch, eine Antwort auf diese eigentlich aussichtslose Frage zu finden.

JM Sie haben darüber geschrieben, dass man – „bis Google 2012 in Frankreich verklagt wurde, […] nur den Namen einer bekannten Persönlichkeit in die Suchmaschine eingeben [musste], damit einem automatisch das Schlagwort Jude angeboten wurde: François Hollande Jude … George Clooney Jude … Und was ist mit dem Weihnachtsmann?“

Die Formen des Antisemitismus sind vielfältig: von offener Gewalt bis zu subtileren Mechanismen der Vorurteilsbildung. Die Gefahr rechter Angriffe ist konkret, der antisemitische Anschlag auf die Jüdische Gemeinde in Halle am 9. Oktober 2019 ist nur ein erschütterndes Beispiel. Beim Akademie-Dialog am 12. Oktober 2021 sprach Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste und Filmemacherin, mit der französischen Rabbinerin Delphine Horvilleur, die für ihren Essay Überlegungen zur Frage des Antisemitismus in frühen rabbinischen Schriften nach Erklärungen für das Entstehen des Antisemitismus gesucht hat und einen neuen Blick auf die Gegenwart wirft. Das Gespräch wurde aufgezeichnet und online veröffentlicht unter https://www.adk.de/de/news/?we_objectID=63086. Im Folgenden einige Auszüge:

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DH Tatsächlich gab es 2012 in Frankreich ein Urteil, das Google untersagte, solche Assoziationen herzustellen, aber sie wurden nicht von Google oder einer anderen Suchmaschine erzeugt. Die Verbindungen knüpften die Computer selbst, weil so unglaublich viele Menschen – vor allem in Frankreich, muss ich hinzufügen – wissen wollten, wer jüdisch ist … Das ist besonders interessant, weil dieses Verhalten eigentlich gegen den klassischen antisemitischen Diskurs verläuft, der besagt, ich sehe es Juden an, ich erkenne sie. Sie haben ein bestimmtes Aussehen, eine bestimmte Art zu sprechen und zu gehen. Es sind also genau die Menschen, die vorgeben, Juden schon von Weitem identifizieren zu können, die bei Google nachschauen. Vielleicht ist diese Person jüdisch, und ich weiß es nicht. Es gibt diese Besessenheit davon, dass der Andere sowohl anders als auch gleich ist. Das ist ein spezifischer Aspekt des Antisemitismus, denn im klassischen Rassismus geht es um die Erkenntnis, dass der Andere anders ist: Er hat einen anderen Akzent, er hat nicht die gleiche Hautfarbe, spricht nicht die gleiche Sprache, hat nicht die gleichen Gewohnheiten usw. Es ist also der Andere, minderwertig und wahrgenommen als der Andere: Ich stehe über ihm, und er ist anders. Das ist klassischer Rassismus. Aber Antisemitismus ist komplexer, in gewisser Weise subtiler. Ich sage nicht, dass er besser oder schlechter ist, verstehen Sie mich nicht falsch, ich mache keine Klassifizierung zwischen Formen von Hass. Sie müssen alle gleichermaßen bekämpft werden. Aber ich denke, Antisemitismus ist anders, weil ein Antisemit jüdische Menschen


Akademie-Präsidentin und Filmemacherin Jeanine Meerapfel (links) und Rabbinerin Delphine Horvilleur beim Akademie-Dialog am 12.10.2021

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als zu sehr anders und zu sehr gleich betrachtet. Jüdinnen und Juden wurde vorgeworfen, anders zu sein, sie essen nicht das Gleiche, sie heiraten nur untereinander, sie haben eine spezielle Sprache … aber sie wurden noch stärker angegriffen, wenn sie wie wir sprechen, wie wir gehen, wie wir aussehen, assimiliert wirken. Es ist also interessant, dass sie dafür gehasst werden, dass sie sowohl gleich als auch fremd sind, anders und genau wie wir. Es ist ein besonderer Hass. Und eine weitere Besonderheit dieses Hasses, die Ihnen sicher aufgefallen ist, ist, dass Antisemitismus im Gegensatz zum klassischen Rassismus, der sich eher oberhalb des gehassten Objekts positioniert, sehr oft mit einer bestimmten Art von Neid oder Eifersucht Hand in Hand geht. Man sieht eine jüdische Person an und denkt, dass sie etwas besitzt, das einem selbst gehören sollte. JM Sie sagen auch, dass Jüdinnen und Juden meistens für das gehasst werden, was sie haben, nicht für das, was sie nicht haben. Andererseits gibt es vor allem diese Beständigkeit, diese Beharrlichkeit. Jüdische Menschen lassen sich nicht unterkriegen, scheint mir. Und das ist eine Quelle der Frustration. Man kann sie nicht loswerden. Hartnäckig vereiteln sie ihren eigenen Untergang, und diese Beharrlichkeit ist ein unerträglicher Affront, „Können sie nicht einfach sterben wie alle anderen?“ fragen Sie in Ihrem Buch. „Sie wollen einfach nicht verschwinden.“ DH Nun, einzeln verschwinden Juden ziemlich leicht, aber kollektiv ist das ein anderes Thema. Entschuldigen Sie den schwarzen Humor, aber ich denke tatsächlich, dass ein klassischer und grundlegender Bestandteil des antisemitischen Hasses die Tatsache ist, dass die jüdische Zivilisation unverwüstlich zu sein scheint, andere Zivilisationen hingegen verschwunden sind – sie hatten ihre Zeit und Macht, aber dann waren sie weg. Es scheint eine jüdische Langlebigkeit zu geben, die kaum zu erklären ist. Jüdische Menschen selbst können es sich nicht erklären. Es könnte aber etwas mit dem zu tun haben, worüber ich zuvor sprach: mit der Tatsache, dass niemand definieren kann, was es bedeutet, ein Jude zu sein. Und weil es keine Definition gibt, gibt es auch keine „finition“. Es kann kein Ende geben, denn wie ich in meinem Buch sage, wird dir erst der nächste Jude sagen können, was es bedeutet, Jude zu sein. Es gibt so viele jüdische Witze darüber, dass niemand weiß, wie man Jüdischsein definiert. Übrigens glaube ich, dass jüdischer Humor ebenfalls ein sehr aufschlussreicher Schlüssel sein kann, um diese Langlebigkeit zu erklären. Jüdischer Humor rettete Jüdinnen und Juden in gewisser Weise über einen langen Zeitraum der Geschichte hinweg und half ihnen, Geschichte, Schriftwerke und sich selbst auf eine Art neu zu interpretieren, die sie am Leben hielt. Ich denke, es gibt eine Verbindung zwischen der Tatsache, dass sich das Judentum Definitionen und damit Grenzen des Existierens entzogen hat, und antisemitischem Hass. Denn sehr oft, wenn man genau hinschaut, geht es im antisemitischen Diskurs um Grenzen. Es geht um Definitionen, wer dazugehört und wer nicht. Wer ist von hier, wer ist nicht von hier? Wo liegen die Grenzen einer Nation und wer ist für Durchlässigkeit und möglicherweise Kontamination einer Struktur verantwortlich? Bei Anti-Impf-Protesten trifft man häufig auf antisemitische Rhetorik, die diese Demonstrationen unterwandert, weil Antisemitismus immer mit Narrativen von Verseuchung und Reinheit spielt. Und wenn jemand von der Grenze seines Körpers, seiner Gruppe und seiner Nation besessen ist, können Sie ziemlich sicher sein, dass sehr bald das Wort „Jude“ für das verwendet wird, was Menschen daran hindert, wirklich sie selbst zu sein, ein authentisches, reines Selbst zu entwickeln. Es ist also keine große Überraschung.

Und Abraham beginnt seine Reise in das gelobte Land, das in der Bibel Kanaan genannt wird. Mit dem Verlassen seines Elternhauses, wird er zu „Ivri“, wörtlich derjenige, der den Fluss überquert, derjenige, der an einem Ort war und auf dem Weg zu einem anderen Ort ist. Interessant ist, dass in der Bibel namentlich genannte Personen meist nach ihrem Herkunftsort benannt sind. Dieser kommt aus Kanaan, jener kommt aus … so wie wir sagen würden, dieser Mensch ist Franzose, jener Deutscher. Oft definieren wir uns über den Ort unserer Geburt, über die Sprache, die wir sprechen, oder den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, das Haus unserer Eltern. Doch die hebräische Identität fußt auf dem Gegenteil. Sie besagt, dass unser Vater Abraham – man glaubt, dass er der Vater aller monotheistischen Glaubensrichtungen ist – nicht nach dem Ort benannt wird, an dem er geboren wurde, sondern nach der Tatsache, dass er diesen Ort verlassen hat … Lassen Sie uns das einen Moment lang aus einer philosophischen Perspektive betrachten. In der Bibel wird jemand zur Vaterfigur, der in der Lage war, sich von seinem Ursprung zu trennen, an einen anderen Ort zu ziehen, seine Identität zurückzulassen und eine andere anzunehmen, die von jüdischen Menschen als die ursprüngliche, authentische Identität angesehen wird, die hebräische Identität, die proto-jüdische Identität. Diese Identität ist demnach die Fähigkeit, sich selbst nicht durch den Ort zu definieren, an dem man geboren wurde. Man definiert sich durch die Tatsache, dass man den Geburtsort verlassen konnte, um in ein gelobtes Land zu gehen. Ich denke immer wieder über diese Geschichte nach, weil ich finde, dass es eine extrem politische Geschichte ist. Gerade in heutiger Zeit sind wir in Europa von Menschen umgeben, von Politiker:innen, die nicht müde werden zu behaupten, dass das, was uns ausmacht, der Ort ist, an dem wir geboren wurden, unsere Herkunft – obwohl das grundlegende spirituelle Modell unseres Glaubens besagt, dass es die Fähigkeit ist, sich über den eigenen Weg und nicht über den Geburtsort zu definieren. JM In Ihrem Buch gibt es auch Passagen, in denen Sie darüber sprechen, auf Zerbrochenem aufzubauen. Mir scheint das sehr wichtig. Ich zitiere: „Welcher Zusammenhang besteht zwischen dieser ‚Theologie der Leere‘, der Religiosität einer Abwesenheit, und der antisemitischen Obsession? Durch die jüdische Glaubenskonstruktion über der Bruchstelle entsteht ein nahezu unverwüstliches System. Und genau das werfen die Antisemiten den Juden und dem Judentum im Laufe der Geschichte vor: ihre Unverwüstlichkeit. Mit Sicherheit zählt jene Widerstandsfähigkeit zu den Geheimnissen der jüdischen Langlebigkeit.“ Und dann geben Sie ein Beispiel: „[K]eine jüdische Hochzeit [ist] denkbar, bei der diese Bruchstelle nicht in einem zerschellenden Glas anklingt. Dabei geht es nicht einfach darum, eine schmerzliche Vergangenheit heraufzubeschwören, die 2.000 Jahre zurückliegende Zerstörung des Tempels, sondern das werdende Paar, jede künftige Konstruktion daran zu erinnern, dass sich das jüdische Leben nur im Bewusstsein seiner Versehrtheit, seines eigentlichen Fundaments entfalten kann.“

JM „Der Hebräer (Ivri)“, schreiben Sie, ist „wörtlich derjenige, der überquert, der Überquerende. Weil er die Welt seiner Kindheit und seiner Herkunft verlassen hat, nimmt Abraham einen Namen an, der sich auf sein Handeln bezieht, den Namen der Überquerung.“ Bitte erzählen Sie uns ein bisschen mehr darüber.

DH Ja. Und so wird es in jüdischen Erzählungen und Riten weitergeführt. Als Moses vom Berg Sinai herunterkommt, was tut er als Erstes? Er zerbricht die Tafeln. Und als der Tempel wieder aufgebaut ist, wird er wieder zerstört. Wir wiederholen diese Geschichte des Zerbrechens fortlaufend. Hier lässt sich auch eine Verbindung zu der Wertschätzung des Unvollständigen erkennen. Der Idee, dass wir nicht in einer vollkommenen Welt leben können, in einer Welt der Ganzheitlichkeit. Dass wir von Anfang an unvollständig sind. Wir befinden uns in einem Zustand der Gebrochenheit, des Mangels. Brüche in unserem Leben anzuerkennen, das ist die Bedingung für die Begegnung mit sich selbst und mit dem anderen – und ich glaube tatsächlich, dass diese Vorstellung eine sehr große Rolle in der jüdischen Geschichte spielt und dass es eine Grundlage jüdischer Widerstandsfähigkeit und Beständigkeit ist. All diese imperialistischen Ideen, eins zu sein, das Römische Reich, Nazi-Deutschland – all diese Zivilisationen bauen auf Diskursen von Einheit auf, und ich denke, Einheit ist immer ein Vorspiel zu Totalitarismus und politischer Gewalt.

DH Abraham stammt aus einer Stadt namens Ur in Chaldäa. Er kommt vermutlich aus einem heidnischen Haus, und eines Tages hört er diesen Ruf Gottes, der lautet: „Lech-Lecha: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“

JM Aber das erzeugt auf gewisse Weise wieder das antisemitische Gefühl, denn ein Volk, das mit seiner Gebrochenheit lebt, mit dem Nicht-Ganz-Sein, immer entschlossen weiterzumachen gerade wegen dieser Gebrochenheit, stellt so etwas wie einen Affront dar.

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DH Ja. Und ich denke, Sie haben hier das eigentliche Mysterium angesprochen, nämlich dass wir geneigt sind zu glauben, dass Antisemiten Juden hassen, weil jüdische Menschen etwas besitzen, was Antisemiten nicht haben. Aber das Geheimnis ist: Das Gegenteil ist der Fall. Antisemiten hassen Juden häufig, weil wir dieses Etwas genauso wenig haben, aber offensichtlich damit leben können. Und das ist das große Problem. Wie kann es sein, dass das Andere auf dieser Idee der Zerbrochenheit aufbaut und damit leben kann, während man selbst überzeugt ist, dass die eigene Vorstellung von Sicherheit und Zukunft auf Vollkommenheit und Integrität basiert? Ich glaube, dass Antisemitismus allzu oft eine Obsession der Integrität ist. JM Es ist interessant, weil es auch eine ganze Welt gibt, in der uns beigebracht wird, nach Vollkommenheit zu streben. Und was Sie sagen, ist das genaue Gegenteil. DH Ja. Es ist die Fähigkeit, sich zu lösen; ich denke, das ist die Definition von Reife. Ich habe gerade ein Buch über Trauerprozesse geschrieben. Wir reden in unserer Gesellschaft so viel über Resilienz und Wiedergutmachung. Aber seien wir ehrlich, so etwas gibt es nicht. Nichts kann repariert werden. Wenn es kaputt ist, ist es kaputt, und Resilienz ist keine vollständige Wiedergutmachung. Das war sie nie. Wahre Resilienz ist die Fähigkeit, mit dem Zerbrochenen zu leben. Es geht darum, in deinem Leben mit etwas weitermachen zu können, das es nicht mehr gibt. Es ist ein Gespenst, aber die Gespenster wirst du nicht los. Und das Einzige, was du tun kannst, ist herauszufinden, was für einen Raum du für sie findest und welche Art von Gespräch du mit ihnen führen kannst. Für mich ist es sehr bewegend, Ihnen das heute Abend in Berlin sagen zu können, weil ich mir eigentlich keine Stadt vorstellen kann, in der es mehr Geister gibt als in dieser. Es ist eine Stadt der Geister.

Detailaufnahme der Einschusslöcher in der ausgebauten Tür

DELPHINE HORVILLEUR, geboren 1974 in Nancy, ist Rabbinerin und eine der Leitfiguren der Liberalen Jüdischen Bewegung Frankreichs (MJLF). Sie ist Herausgeberin der Zeitschrift Tenou’a – Atelier de

Tür der Synagoge im Paulusviertel von Halle nach dem versuchten Anschlag

pensée(s) juive(s) und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Weiblichkeit und Judentum. Die deutsche Fassung der Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, aus der hier zitiert wird, erschien 2020 bei Hanser. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

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„WIR MÜSSEN UNS VON DER VORSTELLUNG LÖSEN, DASS FASCHISMUS WAHNSINN IST. ER IST EINE POLITISCHE AGENDA.“ KADER ATTIA IM GESPRÄCH MIT JOHANNES ODENTHAL

Deneth Piumakshi Veda Arachchige, Self-Portrait as Restitution – from a Feminist Point of View, 2020, 3D SLA-Druck des Körpers der Künstlerin

Die in diesem Jahr von Kader Attia kuratierte Berlin Biennale baut auf dem Konzept der „Reparatur“ auf. Im Zentrum steht die These, dass der „Kolonialismus in der Gegenwart fortwirkt, auch lange nachdem Menschen im Globalen Süden ihre politische Unabhängigkeit erreicht haben. Kader Attia blickt auf mehr als zwei Jahrzehnte dekoloniales Engagement zurück. Das Konzept der Reparatur hat sich dabei als eine Möglichkeit kulturellen Widerstands erwiesen, als eine Art der Handlungsmacht, die in unterschiedlichen Praktiken und Wissensformen Ausdruck findet.“ Im Gespräch mit Johannes Odenthal skizziert Attia die Grundzüge dieses Denkens, das in sein Konzept der Verschränkung von Kolonialismus, Faschismus und Kapitalismus einfließt. Das Gespräch fand nur wenige Tage vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine statt. Kader Attias Reflexionen über den Kolonialismus – und dessen langes Fortbestehen nach einer formalen Entkolonialisierung – erhalten angesichts eines unverhüllten Imperialismus, der bis vor Kurzem in dieser Form undenkbar schien, eine zusätzliche Dringlichkeit.

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Johannes Odenthal Ihr Konzept für die zwölfte Ausgabe der Berlin Biennale beinhaltet Überlegungen zum Verhältnis von Faschismus und Kolonialismus. Eine der entscheidenden Fragen dabei ist, wie der westliche Universalismus auf allen Ebenen dekonstruiert werden kann. Kader Attia Auf gewisse Weise ist Universalismus ein aus dem europäischen Denken und dem Zeitalter der Aufklärung übertragenes Wissen. Von Descartes über Immanuel Kant bis Jean-Jacques Rousseau und darüber hinaus existiert ein jahrhundertealter Kanon, der das „moderne Denken“ prägt. Dabei wird oft vergessen, dass dieser Kanon nicht zuletzt von politischen Machtstrukturen geformt wurde, die in erster Linie am Erhalt und an der Verbreitung ihrer eigenen Rhetorik, ihrer eigenen Konzepte interessiert waren. Wir denken zu wenig über den Ursprung nach, aus dem sich diese Konzepte entfalteten. Den heutigen Diskurs über dekoloniales Denken kennzeichnet das Missverständnis – in Frankreich, in Deutschland, in Belgien, in Portugal, überall in Europa –, dass die Debatte über den Kolonialismus abgeschlossen ist, nach dem Motto, „es wissen doch alle, dass die Zeit des Kolonialismus vorbei ist“. Aber das ist falsch. Für die meisten ist es selbstverständlich, dass ein ehemals kolonisiertes Land heute frei ist, weil es unabhängig ist. Aber der Begriff der Kolonialität wird innerhalb dieser universellen Projektion nur an eine andere Stelle verschoben. Der Philosoph Abdelkébir Khatibi schreibt in seinen Memoiren, dass Marokkos Problem – seit es im Jahr 1979 seine Unabhängigkeit erlangte – darin besteht, sich selbst entkolonialisieren zu müssen; genauer gesagt: Das Selbst muss sich dekolonisieren. Das universelle Selbst als Idee lässt sich in Europa lokalisieren, aber der Ort dieser Artikulation wird stets verschleiert. „Dekolonisation“ verweist in erster Linie auf europäische Länder, weil die dortigen Gesellschaften sich nach wie vor nicht eingestehen, dass koloniale Ausbeutung einer ihrer Stützpfeiler ist. Es ist nicht einfach, sich selbst zu dekolonisieren, für beide Seiten. Kürzlich sprach ich in einem Vortrag in Karlsruhe darüber, in welchem Ausmaß koloniale Besatzung in Wirklichkeit die Konstruktion eines dem Anderen aufgezwungenen Traums ist. Ich bezog mich auf Algier, wo ich einen Großteil meiner Zeit verbringe. Dort gibt es einen prächtigen Boulevard namens Didouche Mourad. Es ist sehr schön, die Straße hinauf bis in die Innenstadt zu spazieren. Vorbei an hübscher französischer Architektur, von Neoklassizismus über Art déco bis hin zur Moderne. Doch es fühlt sich an, als würde man im Traum eines Anderen wandern. Die Kolonisatoren hatten einen Traum, den sie den Anderen aufgezwungen haben. So wie es Joseph Tonda, ein weiterer Soziologe, den ich sehr schätze, im Titel seines neuesten Buches formuliert: Afrodystopie. La vie dans le rêve d’Autrui – „Leben im Traum eines anderen“. Wie Sie sagen: Das zentrale Thema heute ist der Universalismus. Ich möchte das nicht als Wertung verstanden haben, einige universalistische Ideen sind mir sehr sympathisch. Aber die Frage ist: Wer formuliert ihn und von wo aus? Zur Zeit der Aufklärung war es Europa, das die Kategorien von Welt produzierte. Von der Natur – ich denke zum Beispiel an Humboldt und Buffon; Foucault schrieb sehr viel dazu – bis zu Kategorien von Geschlecht, „Rasse“, Religion. Gleichzeitig schuf man Kategorien des Anderen: den Schwarzen, den Araber, den Asiaten, die Frau, den Schwulen. Der weiße Mann bildete nie eine solche Kategorie, und diese Unsichtbarkeit ist in meinen

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Augen ebenfalls kolonial bedingt. Es ist ein Prozess, der darauf abzielt, den Anderen zu vermessen, um ihn zu beurteilen, zu kategorisieren und damit zu kontrollieren. Diese Produktion und Vermaßung von Identitäten ist das Gegenteil der humanistischen Ideale, für die der Universalismus einzustehen vorgibt. Die Dinge ändern sich heute zwar langsam, aber zeitgenössische Künstler*innen bilden letztlich nur eine Nische in unserer Gesellschaft. Wir Künstler*innen repräsentieren nicht die Gesellschaft; wir sind ein Labor. JO Was wir Aufklärung nennen, war zutiefst mit konkreten Vorstellungen von Natur, Macht und Ökonomien verwoben; gleichzeitig impliziert der Universalismus, dass die getrennten Realitäten, in denen wir zum Beispiel im Norden oder Süden leben, unentrinnbar miteinander verbunden sind. Auf der einen Seite birgt das eine planetare Utopie, um Überlegungen aus verschiedenen Perspektiven zusammenzuführen; wir sind also möglicherweise in der Lage, eine Sackgasse in ein Konzept zu transformieren, das uns dabei hilft, auf diesem Planeten zu überleben. Aber auf der anderen Seite greifen offensivere Kon-

Cover Femmes du Vietnam, 1974, Nr. 1

zepte von Schriftstellern wie Frantz Fanon, Aimé Césaire oder Achille Mbembe die westliche Hegemonie konkret an: Der Faschismus als Struktur sei nur eine Richtungsänderung des kolonialistischen Universalismus, jetzt werde er nicht nur den Anderen, sondern auch sich selbst oktroyiert und zerstöre dabei die eigene Identität, das europäische Selbst. Als Deutscher ist es Teil meiner Geschichte, mich immer wieder damit auseinanderzusetzen. Davor gibt es kein Entrinnen. Es hilft sich klar zu machen, dass es nicht darum geht, ob ein Konzept besonders intelligent ist oder eine schöne, bessere Welt verspricht. Es geht darum, die Grundlagen unserer Existenz in Europa tatsächlich zu hinterfragen. KA Zwischen Kolonialismus und Faschismus lassen sich viele Verbindungslinien ziehen. Ich denke sogar, dass der Faschismus an einem bestimmten Punkt eine koloniale Agenda entwickelt. Es ist eine Transformation der Welt auf Grundlage einer Vision. Und hier sind wir wieder beim Traum angelangt. Denn all die Goebbels, Francos, Mussolinis, diese Faschisten, hatten einen Traum. Einen katastrophalen Traum – für uns ist es ein Albtraum, aber für sie war es ein Wunschtraum. Und diesen Traum zwangen

sie anderen auf. Sie wollten dem Rest der Welt den Faschismus aufzwingen. Außerdem gibt es zahlreiche Spielarten des europäischen Faschismus: portugiesische, spanische, italienische, belgische, französische Varianten. In den 1950erJahren, als die Alliierten das Ende des Faschismus und von Nazi-Deutschland feierten, wies Aimé Césaire darauf hin, dass sie den heimischen Faschismus – genannt Kolonialismus – ignorierten. Natürlich wird Kolonialismus von Rassismus, von Antisemitismus, von der Ausbeutung des Reichtums Anderer, der Transformation der Gesellschaft und der Etablierung sozialer Unterschiede gefördert. Natürlich wird er außerdem durch Krieg, durch Gewalt angetrieben. Fanon hat es auf unterschiedliche Arten beschrieben, aber an Césaires Aussage finde ich interessant – und sie ist noch heute aktuell –, dass er versuchte, die Verantwortung von einem Ort auf einen anderen zu verlagern. Er verschiebt die Verantwortung für den Faschismus auf die Seite der Alliierten. Psychiatrie, Psychoanalyse und ein psychologischer Zugang zur Politik interessieren mich sehr. Es gibt einen ganzen Diskursstrang, der das Naziregime zu einem geisteskranken Projekt von Verrückten erklärt. Ich halte das für einen Fehler, weil es den Nationalsozialismus zu einem irrationalen Unterfangen macht. Erstens spricht diese Interpretation ihm die Verantwortung ab und zweitens verschleiert sie das politische Projekt hinter der Ideologie. Das eigentliche Problem, das wir verstehen müssen, ist, dass ein politisches Projekt immer das Potenzial zu einem faschistischen hat. Jedes politische Projekt, das als Traum einer Gruppe von Menschen existiert, der anderen aufgezwungen werden soll, läuft Gefahr, in den Faschismus abzugleiten. Ganz besonders in einer Wirtschaftskrise, wie wir sie heute erleben. Und wir stehen auch vor einer sozialen Krise durch die Pandemie, durch die sozialen Medien, dadurch, dass Menschen nicht mehr zusammenkommen können. Stattdessen haben sie Zoom-Meetings. Sowohl die Pandemie als auch die digitale Durchdringung und Steuerung aller Lebensbereiche verstärken gesellschaftliche Ängste und erhöhen damit die Anfälligkeit des Subjekts für Manipulationen durch politische Extremisten. Wenn Césaire diagnostiziert, dass die Alliierten sich nicht um den Faschismus in ihren eigenen Ländern gekümmert hätten, kritisiert er den Kolonialismus als politisches Projekt, als ein politisches Projekt mit eigener Agenda und Handlungsmacht. Der Kolonialismus ist an sich ein antidemokratisches Projekt, und deshalb halte ich ihn für faschistisch. Die Grundhaltung ist so simpel wie brutal: Wir kommen, wir nehmen ein Gebiet ein, machen uns die Menschen untertan, wir verwandeln eure Vorstellungen von der Welt. Wie Achille Mbembe es beschreibt, bestand die Kongokonferenz letztlich aus einer Gruppe von Menschen, die sagten: „Geht nach Afrika, erobert Territorien und erklärt den Menschen dort: ‚Das ist gut für euch, wir bringen euch Fortschritt.‘ Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass Faschismus Wahnsinn ist. Er ist eine politische Agenda. JO Haben Sie in diesem Zusammenhang auch Zygmunt Baumann im Sinn? Er hat sehr deutlich gemacht, dass der Faschismus kein Unfall war: Der Faschismus entwickelte sich systematisch aus der Modernisierung der Gesellschaft heraus. Noch eine weitere Facette ergibt sich, wenn man auf das geteilte Berlin blickt. Auch der Osten entwickelte einen Traum. Heute stellen wir fest,

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dass das ein spezifisches Denken des Widerstands, des Andersseins beinhaltete. Es war nicht alles vorhanden, man musste sich in dieser „Mangelwirtschaft“ arrangieren. Von der Gegenwart aus betrachtet scheint es mir, dass es damals viele produktive Momente gab, die aktuelle Formen des Widerstands inspirieren könnten. Momente, die uns helfen könnten zu überleben und die Gesellschaft anders zu denken. Als wir bei einer anderen Gelegenheit darüber sprachen, sagten Sie, dass die Art und Weise, wie Ost- und Westdeutschland wiedervereint wurden, eine Form der Kolonialisierung war, dass koloniale Strukturen auch mitten in Europa vorkommen. In Berlin gibt es also nicht nur eine Verbindung zum Faschismus; ein weiterer Strang führt zur westlichen Dominanz über den Osten Europas. KA Die Leute lebten vierzig Jahre lang in einem bestimmten Umfeld, einem politischen Umfeld, einem sozialen Umfeld, einem wirtschaftlichen Umfeld. Und innerhalb von nicht viel mehr als drei Jahren verschwand all das komplett. Ich wuchs nicht in diesen Strukturen auf, aber ich habe mich intensiv mit der DDR-Geschichte beschäftigt, und das gängige Narrativ ist, dass sich die Menschen der SED entledigen wollten. Den Kommunismus wollten sie mit der Revolution gar nicht loswerden. Und diejenigen, die ihn loswerden wollten, wollten nicht, dass ein von der Leine gelassener Kapitalismus alles übernimmt und die bestehenden Strukturen eliminiert. Meines Wissens wurden in Ostdeutschland innerhalb von sechs Jahren etwa 7.000 Fabriken geschlossen. Gewöhnlich gehen wir davon aus, dass Kapitalismus einer Gesellschaft guttut, weil er Arbeitsplätze schafft. Aber wir vergessen dabei die Macht des Kapitalismus als unkontrollierbares System. Der Ökonom Keynes hat mich schon immer beeindruckt, weil er davon ausgeht, dass der Kapitalismus und die Wirtschaft vom Staat zu kontrollieren sind. Doch während der Wiedervereinigung überschattete das Symbol des Mauerfalls alles und quasi unter der Hand wurde Vertretern des westdeutschen Kapitalismus, zum Beispiel Versicherungsunternehmen, ein roter Teppich ausgerollt. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten. Gerade in Berlin gab es zahlreiche Skandale im Bereich der Immobilienspekulationen. Ich finde es interessant, hier eine Verbindung zu dem herzustellen, was heute im Bereich der Digital Governance passiert. Um einen Begriff des Philosophen Bernard Stiegler zu verwenden, hat die „allgemeine Organologie“ des Kapitalismus zuweilen ein toxisches Derivat. Was während der Wiedervereinigung passiert ist und was heute im Bereich der Computational Governance passiert, weist meines Erachtens gewisse Ähnlichkeiten auf. Das System ist derart hegemonial angelegt, dass allen, die nicht Schritt halten können, praktisch keine Existenzchance gewährt wird. Jean Lassègue, ein französischer Philosoph, der sich mit digitalem Recht beschäftigt, stellt fest, dass wir in einer Welt leben, in der die wahren Akteure die Programmier*innen und Digital-Ingenieur*innen sind. Wir sprechen hier von gerade mal 10.000 Menschen weltweit. Die Mehrheit der Menschen hat keine Ahnung, wie das Ganze funktioniert. Und aufgrund der Unfähigkeit, diese Steuerung zu verstehen oder gar zu kontrollieren, sind die meisten Menschen keine Akteur*innen des Systems, sondern Opfer in ihm. Diese von der Computational Governance hervorgebrachte Unfähigkeit erinnert mich an ein Gespräch, das ich mit einem Psychiater hier in Berlin geführt habe. Nach der Wiedervereinigung hatte

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er viele ostdeutsche Ingenieur*innen, Architekt*innen, Menschen mit hoher Bildung erlebt, die vier oder fünf Jahre, nachdem sie ihren Heimatort verlassen hatten, zurückgekehrt waren. Sie hatten versucht, im Westen Fuß zu fassen, aber es hat nicht funktioniert. Ihnen fehlten die nötigen Skills. Dieser Mangel an Fähigkeiten, innerhalb des kapitalistischen Umfelds wettbewerbsfähig zu sein, kommt dem Mangel ziemlich nahe, mit dem wir heute konfrontiert werden. Viele Menschen haben keine Ahnung, wie Digital Governance – diese Blackbox der algorithmischen Gourvernementalität – funktioniert. Datenerhebungen nutzen ständig unser Verhalten aus und verändern uns, und wir wissen nichts davon. Viele Intellektuelle wollen den Kolonialismus nicht mit dem vergleichen, was während der Wiedervereinigung passiert ist. Und ganz sicher ist es nicht dasselbe, aber es gibt gemeinsame Fundamente: Kapitalismus und Gewalt. Man kann es auch mit der heutigen Funktionsweise von Computational Governance vergleichen, denn wir gehen davon aus, dass Technologie „die Welt rettet“. Zur Zeit der deutschen Einheit dachte man, dass der Kapitalismus besser sei als der Kommunismus. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Kommunist, ich möchte nur klarstellen, dass das Problem darin besteht, dass der Kapitalismus außer Kontrolle geriet, und genau das Gleiche passiert heute mit Kryptowährungen und dezentralen Ökonomien. Keynes hat postuliert, dass eine Wirtschaft zumindest vom Staat oder – würde ich sagen – von Gesetzen kontrolliert werden muss. Und deshalb spreche ich hier von Kolonialismus. Als die Kolonisatoren in Amerika, in Afrika, in Algerien ankamen, existierten keine Gesetze, an die sie sich gebunden fühlten. Es gab Rechtssysteme, die in Europa für Briten, Deutsche, Franzosen usw. galten, aber als sie in Afrika waren, war da nichts, dem sie glaubten Folge leisten zu müssen. Es war ein offenes Büfett, an dem sich jeder frei bedienen konnte. Wir sollten den Kolonialismus als ein System verstehen, das auf ein Umfeld trifft, in dem es ohne jede Regel agiert, und weil es keine Kontrollen gibt, vereinnahmt es Kapital, menschliches und mineralisches Kapital. JO In Ihrer künstlerischen Arbeit nutzen Sie häufig Archive, das kulturelle Gedächtnis als Widerstand und Korrektiv. Wir sprechen von einem Archival Turn, der sich politisch aufgeladen hat. Das ist eine starke Metapher, die auch in der Kunst Verwendung findet. KA Im Kontext des Biennale-Themas der „Reparatur“ ist es interessant, das Archiv als Vermächtnis all dessen zu sehen, was der Antikolonialismus als Protestbewegung geleistet hat. In gewisser Weise denke ich, dass die jüngere Generation heute ein Waisenkind ist, was das Erbe früherer Kämpfe anbelangt. Beispielsweise gab es früher schon im globalen Süden verschiedene feministische Bewegungen. Feministinnen wie Paola Bacchetta oder Françoise Vergès beklagen, dass jüngere Generationen denken, dekolonialer Feminismus sei etwas Neues. Das ist er aber nicht; es gab algerische, palästinensische, südafrikanische, ugandische Feministinnen, mongolische Frauen, die für Unabhängigkeit, für Freiheit, für die Emanzipation von Frauen kämpften. In der Sammlung von Egidio Marzona entdeckte ich einige sehr interessante Flugblätter einer vietnamesischen feministischen Bewegung aus der Zeit des US-Vietnam-Krieges. Wir werden sie auf der Biennale zeigen, denn ich finde es wichtig, dass eine Ausstellung nicht nur eine Hülle für Künstlerstatements

ist. Wir müssen Kunstwerke verstehen können, die Ausdruck des eigenen Selbst oder eines Kollektivs, eines Denkens in Raum und Zeit sind. Das kann emotional, poetisch oder politisch sein. Schließlich gibt es noch einen weiteren Aspekt des Archivs, der die Biennale-Ausstellung noch stärker zu einem Ideenlabor macht. Ich möchte daran erinnern, dass es in der Vergangenheit bereits Diskurse über Kolonialismus und koloniales Erbe gab, zum Beispiel in Bezug auf Restitution – das ist nicht neu – und es ist interessant, die Genealogie dieser Diskussionen kennenzulernen. Doch einige Themen wurden noch nicht weiterentwickelt. Wir finden sie in Archiven, aber nicht in Kunstwerken. Es gibt Archive zu völlig unbekannten Themen wie der Besetzung Westneuguineas, der Besetzung der Westsahara durch Marokko. Natürlich wissen wir über Palästina Bescheid, wir stoßen überall auf dieses Thema. Wenn es aber um Marokko und Westneuguinea geht, ist das weniger der Fall. Beides sind muslimische Länder, die andere muslimische Länder besetzen. Für mich ist es wichtig festzuhalten, dass kolonialistische Übergriffe weder eine Frage rassistischer Zuschreibungen noch der Religion sind. Sie sind kapitalistische Derivate. Kolonialität ist die Übernahme eines Landes und seines Reichtums. Und wenn ich einen Schritt weitergehen wollte, würde ich sagen, dass die faschistische Ideologie im Grunde auch von kapitalistischen Absichten angetrieben wird – einfach um Profit zu machen. JO Wenn Sie von „Reparatur“ sprechen, meinen Sie nicht in erster Linie Reparationszahlungen oder die Rekonstruktion von etwas Vergangenem. Können Sie Ihr Verständnis von „Reparatur“ genauer beschreiben? KA Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Begriff. Dadurch wurde mir klar, dass Reparaturen allgegenwärtig sind. Reparatur ist eine Form der Vermittlung. Als ich als Künstler auf der dOCUMENTA (13) zum ersten Mal mit diesem Begriff arbeitete, war es mir wichtig, ihn erst sehr wörtlich und dann konzeptuell zu verstehen. Ich wollte zeigen, wie komplex man den Begriff sehen kann, von der modernen westlichen Sichtweise bis hin zu einer nicht-westlichen und vormodernen. Heute denke ich, dass Reparatur in vielerlei Hinsicht die Kraft ist, die uns antreibt, auch auf dieser 12. Berlin Biennale. Ich verstehe das Projekt als ein soziales, etwas, das ich tue, um die Gesellschaft, in der ich lebe, zu verbessern. Mit den Ausstellungen, dem öffentlichen Programm und dem Medienprogramm möchte ich eine Form der Reparation der Wunden vorschlagen, die uns in einer dystopischen Gesellschaft einander entfremden. Ein Dialog kann hier den Anfang bilden. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

KADER ATTIA, aufgewachsen in Frankreich und Algerien, studierte Philosophie und Kunst in Paris und Barcelona. Heute lebt und arbeitet er in Berlin und Paris. Mit seinem interkulturellen und interdisziplinären Forschungsansatz untersucht er die Perspektiven von Gesellschaften auf die eigene Geschichte.


CARTE BLANCHE

KATHARINA SCHULTENS BIBLIOTHEKARINNENJAGD (IMPRO-ELEGIE) ich will etwas fragen, verehrte Bibliothekarinnen deren Jagd das Multiversum stabilisiert. ich kann nicht verzichten. wie geht das? mein kleines Kind riecht auf dem Kopf nach Butter. mein großes ist ein Tiger, inzwischen. Fee M. hat drei Eier, aus denen Kinder geschlüpft wären, vernichtet. Fee R. ließ ihre Eier gleich im Schrank, und S, tja die war zu spät dran. es liegt nicht an Kindern, auch nicht an toten, dass ich so müde bin. meine Müdigkeit wächst aus der Welt. Kinder halten mich hier. es liegt nicht an Kindern, nicht an Müdigkeit, es liegt an Gedanken. immer Gedanken, aber ich hab keine Zeit, weiter zu denken. hier oder sonstwo: deine Umstände sind deine Form, Herz. deine Muße kaufst du dem Schlafe ab. ich sage: ich bleibe im Wald. hier sind keine andern. ich will nie mehr ein Vögelchen sein. doch. Spechtin. und du, Herzliebster, mein morscher Ast. das Multiversum produziert ein Haiku über meinen Herzliebsten, den Krachast, plus meinen scharfen Schnabel. so muss ich nichts sagen. manche Kinder altern nicht, innen. fortan werde ich unter riesigen Tannen stehen. ein Mädchen namens Eufinger hält meine Hand, behauptet, gleich trete ein Riese aufs Haus. nie verlass ich diesen Wald, nie diese Wiese. alle hier polieren nonchalant komplett unsichtbare, goldene cufflinks. Mannschaften haken ihre Ausrüstung in parlamentarischen Marmor, zerschlagen freudig parlamentarisches Glas. Adjektive zipfeln. alle haben Bärte, Sterne und Waffen zu tragen. mein Kind hat Angst vor Gebrüll. behalt davon was. üb damit Verzicht, bis zu den echten Dingen. ich dachte, ich wäre … tja, noch nicht leer. (2021)


KARTONCODE (MORSESERENADE) ist es nun eigentlich vorbei? bist du geschützt? falls ja, wie lange noch? ich ordere alsbald einen Bannkreis für Kommentare bzw. Konnektivität. nie so schön wie im August – bloß, dass April war, und alles lag am Boden, Zahlen, Zugriffe, Partygelaber endlich waren sie still, endlich war Ruhe. in diesem Karton, den wir bewohnen, meine ich. also, dieser Karton, dessen Wände wir beschriftet haben mit Bars, Veranstaltungen, Leitartikeln und sonstiger Erster Welt-Staffage. stell dir bitte vor, der stünde in einem richtig nassen Garten. ach nee, zu schön. stell dir eine Müllkippe vor, so als adäquate Metapher für den Rest der Welt, bzw. den UNINTERESSANTEN Rest – dann weicht aber der Karton trotz Beschichtung zunehmend durch, wa? es stinkt jetzt auch drinnen, das lernten wir. lernten wir, außer ein Mindestmaß an Vorratshaltung, noch etwas? Zorn vielleicht? Empathie? ach: Verwendung wasserdichter Materialien. ja.

(2021)


SO SPOTTE CH CH CH (SPOTTLIED) doch, deiner, Duckvogel, und deiner auch, du Vollidiot im nummerierten Untergrund, euch spotte ich, und eurer auch, ich spotte eurer SUV-Köppchens, ja, sorry, auch des Kalauers. ich spotte Ihrer, Frau Lehrerin mit magischer Bedarfsquali und deiner, du Erbsenkoch im Ultrawahn, ich spotte spotte, spotte, spotte: notwendig, ich spotte Notwehr denn ich kann nicht länger: Empathie, ich bin am fernsten Kap. ich spotte: Proklamationen, Fachbegriffen, 140 Zwitschereien Finis, finiten ferngesteuerten Ressourcen, allen wirklich allen unter Blumenmasken, sorry, allen, ja, ich weiß war gut gemeint. bis die urbane Party am Kanal euch eingeladen hat. Verzeihung. FRIEDENSDEMO. ich spotte, reagiere, spotte, ich verzweifele ich küsse kleine, fein müffelnde Gliedmaßen, zarte, weiche, mit friedlich ererbtem Wohlstand untersetzte speckbewehrte Schenkelchen, ich SPOTTE, habe aufgegeben, bin jetzt mindestens so müde so verbrannt wie eine Hexe oder eine Grundschullehrerin, doch die nimmt sich noch ernst. ich nehme alles ernst, es entgleiten mir ins Wasser die Vergleiche – vom Kap kommst du, bevor du fuffzich, bevor du voller gut erhoffter Funken wirst, nicht wieder runter. Kolleginnen, o bitte schickt mir eine Mission. rettet eine junge Grundschullehrerin in mir. die hat gesagt, Weisheit sei simulierte Waffe aller, die mittleren Alters zu bequem, noch was zu lernen, seien, also dementsprechend fernestarrend, hin zum Kap, wo Empathie ausgeht, sich wendeten, wo Spott beginnt, da will ich – nein, SIE haben doch überhaupt keine Ahnung! SIE in ihrem Kommentarknäuel! WTF. niemanden interessiert, was du willst, sagt mein Drache. kommt mein Drache in meine Bar, sagt: ach. aber einer meiner Vergleiche taucht am Automaten auf, hat Lanzen dabei, atmet: noch. (2020)


ROUTEN

draußen: abhanden. buschfeuer, huschende leute tragen in große tücher eingeschlagen ihre abkömmlinge. sag: ich bin dir unabkömmlich, sag: ich bin unverzichtbar, herz.

ich habe nichts mehr übrig an weichheit über das hinaus was ich an weichheit für dich habe und für mein kind. schon meine mutter kommt zu kurz, ihr herz stockt. ich will aufrufen: ölfelder, kommandeure und ihre irren augen jede pipeline endet verwirrt in einem kommandeur, dessen blick die welt anzünden will. ich will, herz, die welt nicht mehr aufrufen. sag: feigheit, sag: lust, sag: ennui, schlag mich. schlag mich in ein großes tuch ein und trag mich vor deiner brust dein weiches tier, schmiegsam, draußen im busch. wir müssen alles nehmen, was wir haben, es ist viel wenn wir in prozenten rechnen, und wenig, zu wenig rechnen wir in energie. (2015, erschienen 2017)

ICH DACHTE, WIR HÄTTEN ES GETÖTET, ES IST ÜBERALL findet ihr es nicht bemerkenswert, nach jahren phantastischer uniformen sternenbesetzt: in immer denselben rebellischen kombinationen von olivgrün und gold, silber, blau, violett nach jahren in bärten, baretten, krawatten, fremden talaren, jetzt: ist es das haar, ist es das haar, hats sehnsucht: nach akkuratesten scheiteln pomade, coiffage in orange, sommersprossen; taucht aus adretten schachteln auf, kugelsicher stehn sie zum andenken in !fiesen vitrinen, es sprengt sie von innen, springt aus der gaspistole irgendeines großvaters, unauffällig reinigt die passende tante sie, sie funktioniert und das wars es schickt sich an zur multiplikation, springt, wackelt vor und zurück, auf dem krönungspodium seines parteitags, sticht unterm studiotisch seiner moderatorin geschickt in den unterleib, zieht sein blutiges stilett direttamente aus dem eigenen rücken ja wenn seine nägel wachsen schrumpfen seine hände mitten in der nächsten geste hat tonnen voll gas in mehreren wüsten, einen plan zur schuldlosen aufkündigung aller völkerverträge, ist es nicht komisch, ist es nicht komisch, klingt es hysterisch wisst ihr wenn ich es liste, ich muss nicht mal lügen oder kreativ wahrhaftig sein es ist mitten unter uns, ist ein lied, ein rhythmus, hört ihr: (2016, erschienen 2017)

schon geschehen


ES WAR INKORREKT ZU TRÄUMEN pu, der präsident, stand mit einem bein im sattel, ritt im kreis warf küsse in unsre gegend. meine hände applaudierten, immer jene ganz links und ganz rechts von neun paaren, die ich besaß. ich war auf einer dienstreise, wusste nicht, ob ich je und von wo ich zurückkehre oder ob ein anderer an meiner stelle kommt, kühl geworden ist, ich war fremdfinanziert, trank dienstlich: 1. in einer kleinstadt am rhein, dienstags um 10 nach 11 bemerkte uns ein koch; 2. downtown SF, 20. stock eines hotels, ohne krawatte wir gingen distinguiert in sneakers. 3. keiner sprach, alle taten so, als ob es draußen immer glitzert und nie dies große beben kommt. als ob die ranches im valley nicht längst 4. knochenhügel wären, während wir die neue welt erfinden als ob nicht 4,5 mandelproduzenten aquifer um aquifer leerten während villengärten auf dem hügel wucherten während wir 5. immer weiter über zahlungsarten sprachen, über disruption als schlüsselelement, und unsere ahnenreihe der großen krebstoten ingenieure und entrepreneure waberte langsam im grasgeruch durch die lobby lurche in einer monsterapp, warteten wir auf attraktionen bis 6. pu, der präsident, auf geleakten akten freitreppen herunterritt wir waren im 20. stock, aber noch nicht oben. weizen wurde projektiert wir fielen 7. im falschen land ein, entfernten uns mit jedem meter des rückflugs weiter in den kalten krieg. pu sprach: stell dir moskau als song vor, er spielt auf dem mond; versteh, dass euch keiner dort versteht, ihr auch keinen so ist eure ausgangsposition für 8. den markt: eure worte knicksen mit verschränkten armen hockend werfen sie ihre beine ins klischee aus diesem rhythmus, aus dieser gottverdammten diplomatie ist kein entkommen. politik, eure scheiternde liebe, euer bewusstes entkoppeln der welt: so spielt ihr, man bliebe 9. befreundet. es gibt immer einen weg vom mond stellt die musik nicht an: !bis gleich sagt mein herz es sagt immer bis gleich es meint immer bis dann es sagt niemandem jemals bis wann (2015, erschienen 2017)

KATHARINA SCHULTENS Lyrikerin, ist seite 2021 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Literatur. Ab September 2022 ist sie die neue Leiterin des Hauses für Poesie.




NACHHALTIGKEIT/ÖKOLOGIE

REEDOCATE ME! ZUR KUNST DER TRANSFORMATION

Massive Rodungen führen im 9. Jahrhundert in Zentralamerika zu einem Rückgang der Niederschläge, es kommt zu verheerenden Dürren, die hoch entwickelte Mayakultur kollabiert. Bodenerosion, Nahrungsmangel und schließlich Zusammenbruch der Kultur sind auch die Folgen einer radikalen Entwaldung der Osterinsel im 13. Jahrhundert.1 Die Geschichte kennt zahlreiche solcher Fälle des Zusammenbruchs von Zivilisationen aufgrund von Umweltzerstörung; Beispiele gelungener Transformation finden sich seltener. Eines davon ist die japanische Edo-Periode. 250 Jahre lang wirtschaftete Japan erfolgreich ohne äußere Energie- und Ressourcenzufuhr. Ausgehend von dem historischen Modell der Edo-Zeit untersuchte das interdisziplinäre Symposium ReEDOcate ME! im Januar 2022 in der Akademie der Künste und im Goethe-Institut Tokio Denk- und Gestaltungsräume einer ökologischen Transformation.

Christian Tschirner

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden, heißt es in Hans Jonas’ Das Prinzip Verantwortung von 1979. Über 40 Jahre später, fünf Jahre nach Unterzeichnung des Pariser Klimaschutzabkommens, müssen wir feststellen, dass die beschlossenen Maßnahmen weder ausreichen, um angemessen auf die ökologische Krise zu reagieren, noch überhaupt umgesetzt werden. Wir wissen, dass unsere Zivilisation auf dem Spiel steht, doch Wissen und Handeln klaffen weit auseinander. Und obwohl die Künste mit ihrem breiten gesellschaftlichen Einfluss in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen könnten, kommen auch hier die notwendigen Transformationsprozesse nur schleppend in Gang. Der Titel des Symposiums spielt mit dem Begriff Re-Education, dem Programm der damaligen US-Regierung, das mit Mitteln aus Bildung, Kunst, Literatur und Unterhaltung eine geistige Entnazifizierung Deutschlands (und Japans) vorangetrieben hat. Kulturelle Angebote wie Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen, Hörfunksendungen und Wanderausstellungen sollten autoritäre, rassistische Einstellungen verdrängen und im Rückgriff auf humanistische Traditionen ein positives Verhältnis zur Demokratie anstoßen. Anders als durch ein grundsätzliches Umlernen und Umdenken, das auch auf eine radikale Veränderung unserer Alltagskultur zielt

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– so die These –, sind auch wir nicht zu retten. Welche Rolle könnten die Künste dabei spielen? Der japanische Sonderweg der Edo-Zeit beginnt im 17. Jahrhundert: Die kolonialen Bestrebungen der europäischen Großmächte werden zunehmend als Bedrohung empfunden. Ein Aufstand christlicher Bauern und Samurai im Jahr 1639 bietet Anlass, das Christentum zu verbannen und jeglichen Kontakt mit dem Ausland zu verbieten. Folge der drakonischen Selbstisolation in Verbindung mit einer regen feudalen Bautätigkeit ist nicht nur ein akuter Mangel an Energie und Rohstoffen: Im Zusammenhang mit großflächigen Abholzungen der japanischen Wälder kommt es immer häufiger zu Überschwemmungen, zu Dürren, zu Nahrungsknappheit.2 Für die japanische Gesellschaft beginnt damit ein Experiment: Während die westliche Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts den Energie- und Ressourcenverbrauch der Menschheit durch den Einsatz fossiler Brennstoffe radikal verändert, ist der Preis japanischer Eigenständigkeit der Verzicht auf externe Energie und Ressourcen. Da es auf den Inseln keine nennenswerten Kohlevorräte gibt, bedeutete dies, fast ausschließlich auf der Grundlage von Sonnenenergie zu wirtschaften. Abgesehen von Eisen und einigen anderen Metallen werden nur noch nachhaltige, pflanzliche Stoffe verwendet. Da die Produktionsrate durch das natürliche Wachs-

tum der Pflanzen begrenzt ist, steht Material allerdings nie im Überfluss zur Verfügung. Lange bevor diese Begriffe im Westen bekannt werden, ist die Antwort der Edo-Zeit ein ausgeklügeltes Recycling- und Reparatursystem. Gleichzeitig beginnt ein gezieltes Aufforstungs- und Bodenverbesserungsprogramm, bei dem die feudale Regierung in einer Art Joint Venture mit privaten Forstunternehmern zusammenarbeitet.3 Bei einer relativ hohen Bevölkerungsdichte (etwa doppelt so hoch wie die heutige Weltbevölkerungsdichte) gelingt es, die Waldflächen auf den Inseln zu vergrößern und den Boden fruchtbarer und ertragreicher zu machen. Und auch wenn es in Folge von Missernten immer wieder zu Hungersnöten kommt, sind der allgemeine Lebensstandard und die Lebensqualität in Japan höher als in anderen asiatischen oder westlichen Ländern. Auf Grundlage einer gesteigerten landwirtschaftlichen Produktivität entwickelt sich eine äußerst lebendige urbane Kultur. Die Alphabetisierungsrate liegt deutlich über derjenigen europäischer Länder der Zeit. Handwerk und Künste erleben eine Blüte.4 Die Zeugnisse der Edo-Kultur gelten bis heute als typisch japanisch. Ihren Ursprung hatten sie jedoch in der akuten Ressourcenkrise: Tatami, Kimono, Papierwände, sogar Sushi gehen auf die Notwendigkeit zurück, ressourcenschonend und energiesparend zu wirtschaften.


Azby Brown, „Samurai House and Garden“, aus Just Enough: Lessons in Living Green from Traditional Japan, 2010

Das Japan der Edo-Zeit war eine agrarische Gesellschaft. Es ist weder möglich noch wünschenswert, zu einer vorindustriellen Gesellschaft zurückzukehren. Klar ist aber auch, dass wir – wollen wir als Zivilisation überleben – das Niveau unserer Ressourcennutzung so nah wie möglich der vorindustriellen Zeit annähern müssen. Umso interessanter ist es, sich nach historischen Vorbildern umzusehen: Die Edo-Zeit kann hier als Modell einer Welt dienen, deren Ressourcen begrenzt und inzwischen nahezu erschöpft sind. Ungünstig wirkt sich ein eurozentrisches Fortschrittsnarrativ aus, das geradezu reflexhaft jede Frage nach Begrenzung negiert. Wie wir „Wirtschaft“, „Fortschritt“ und „Entwicklung“ verstehen, und wie wir daher über die Vergangenheit, aber auch die Zukunft unserer Gesellschaft nachdenken, ist zutiefst geprägt durch den fossilen Kapitalismus. Eine auf technische Innovation, Wirtschaftswachstum und Globalisierung verengte Fortschrittsperspektive verhindert die Entwicklung nachhaltiger Wirtschaftsmodelle.5 Möglicherweise sind diese Perspektiven unserer Wirtschaftsform allerdings grundsätzlich eingeschrieben. Ein Kapitalismus ohne technische Innovation und Wachstum scheint undenkbar oder ist zumindest gibt es bislang noch kein Beispiel dafür. Das Ende fossiler Energien, die Einführung einer Kreislaufwirtschaft wären gleichbedeutend mit dem Ende des Kapitalismus. „In einer kli-

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maneutralen Wirtschaft müssten sich Millionen von Arbeitnehmern umorientieren, zum Beispiel würden sehr viel mehr Menschen in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern“, so die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann. Damit ließe sich allerdings kaum Geld verdienen. Da ein Großteil des heutigen Energieverbrauchs von Strukturen verursacht wird, die die gesellschaftliche Grundversorgung gewährleisten, kann Nachhaltigkeit heute allerdings nicht durch eine Re-Education einzelner Individuen – etwa durch Appelle zu Konsumverzicht und dergleichen – erreicht werden, sondern es braucht Gesetzgebungen und Rechtsverordnungen. Auch hier lohnt ein Blick in die Edo-Zeit.7 Unsere grundlegende Beziehung zur Welt ließe sich in Krieg und Besitz zusammenfassen, schreibt Michael Serres. Und: „Die Bilanz der Schäden, die der Welt bis auf den heutigen Tag zugefügt worden sind, kommt den Verheerungen gleich, die ein Weltkrieg hinterlassen hätte.“8 Die internalisierte Wachstumslogik, die zu diesem Kriegszustand geführt hat, zeigt sich auch in Debatten im Kunstbereich: Eine notwendige Transformation wird vielfach mit Verzicht und Askese gleichgesetzt oder gar als Angriff auf die Kunstfreiheit erlebt. Dabei orientierten sich gerade europäische Architekten der Moderne

wie Bruno Taut, Walter Gropius oder Werner Düttmann, der Architekt des Akademiegebäudes am Hanseatenweg, an der reduzierten japanischen Edo-Architektur. Der Zwang zur Reduktion führte offenbar zu raffiniertem Materialeinsatz und einer besonderen Sinnlichkeit der Ästhetik.9 Es stellt sich also die Frage, ob und unter welchen Umständen Prinzipien der Reduktion, der Vereinfachung, der Wiederverwertung und der Entschleunigung Innovationen in der Kunstproduktion begünstigen können. Auf dem im Oktober 2022 in der Floating UniversitY geplanten ReEDOcate ME! Festival werden Künstler*innen wie Michikazu Matsune, Toshiki Okada, Andreas Kreiner, Nagara Wada, Akira Takayama, Metis Arts, raumlabor, Christophe Meierhans, Sachiko Hara und les dramaturx in eigens entwickelten Formaten Antworten darauf suchen. Während im historischen Japan gesetzliche Normen offenbar zu gesellschaftlicher und künstlerischer Innovation führten, will das Festival umgekehrt Impulse für Gesellschaft und Politik setzen. Die Edo-Zeit endet für Japan traumatisch: Am 8. Juli 1853 laufen vier amerikanische Kanonenschiffe in die Bucht von Edo, dem heutigen Tokio, ein. Die schwarzen Rauchwolken, die sie ausstoßen, und die Fähigkeit, ohne Windkraft und Segel zu manövrieren, lösen einen Schock aus. In der Edo-Epoche hatte Japan sogar auf die weitere Entwicklung von Feuerwaffen verzichtet, deren

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Technologie aus Europa importiert und in den Bürgerkriegen des 16. Jahrhunderts bereits benutzt worden war. Es ist dies der einmalige Fall, dass eine hochgerüstete Militärmacht eine überlegene Technologie aufgab und zu traditionellen Waffen zurückkehrte. 250 Jahre lang hatte das Land keinen Krieg erlebt. Mit Ankunft der vier Kanonenschiffe wird die militärtechnische Unterlegenheit Japans schlagartig klar. Matthew Perry, der die Schiffe kommandiert, weigert sich, die Bucht wieder zu verlassen und droht, mit seinen Geschützen die Hauptstadt Edo zu zerstören. Er führt ein Schreiben des amerikanischen Präsidenten mit sich, in dem die Öffnung der japanischen Häfen für amerikanische Handelsschiffe gefordert wird. Perry macht klar, dass Amerika nur eine positive Antwort akzeptieren wird. Ein Jahr später kehrt er mit acht Kriegsschiffen zurück und zwingt Japan den „Vertrag über Frieden und Freundschaft“ auf, der das Ende der Edo-Zeit und damit eines 250-jährigen japanischen Sonderwegs besiegelt. Verträge mit anderen westlichen Mächten folgen – so unter anderem 1861 der preußisch-japanische Handelsvertrag. Japan wird nicht nur Teil einer globalisierten, kapitalistischen Ökonomie, es beginnt eine beispiellose Aufholjagd, um den technologischen Rückstand gegenüber den westlichen Kolonialmächten zu verringern. Die dazu benötigten Rohstoffe verschafft es sich – ganz nach westlichem Vorbild – durch die Kolonisierung Koreas und der Mandschurei.

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Vergleiche Adam Voiland und Maria José-Viñas, „Ancient Dry Spells Offer Clues About the Future of Drought“, NASA Features (5.12.2011) zum Pre-Columbian Collapse der Maya; „Warum die Maya-Kultur unterging“, Focus online (24.2.2012); Jared Diamond, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt am Main 2005. Professor Yuko Tanaka auf dem Symposium ReEDOcate ME!. Daigo Kosakai auf dem Symposium ReEDOcate ME! Susan B. Hanley, Everyday Things in Premodern Japan, Oakland 1997. Matthias Schmelzer auf dem Symposium ReEDOcate ME! In ihrem Vortrag auf dem Symposium ReEDOcate ME! Siehe auch Ulrike Herrmanns Beitrag in dieser Ausgabe. Michaela Christ auf dem Symposium ReEDOcate ME! Michel Serres, Der Naturvertrag, Frankfurt am Main 1994, S. 59. Fritz Frenkler und Azby Brown auf dem Symposium ReEDOcate ME!

ReEDOcate ME! Konzeption: Benjamin Baldenius-Förster, Aljoscha Begrich, Christian Tschirner, Makiko Yamaguchi Produkionsleitung: Elisa Leroy Mit: Azby Brown, Künstler, Architekt, Autor; Nicholas Bussmann, Komponist; Michaela Christ, Leiterin des Forschungsbereichs Diachrone Transformationsforschung am Norbert Elias Center for Transformation Design & Research an der Universität Flensburg; eat&art taro, Künstler; Fritz Frenkler, Industriedesigner, Direktor der Sektion Baukunst an der Akademie der Künste Berlin; Ulrike Herrmann, Wirtschaftsjournalistin und Publizistin; Toshikatsu Ienari, Architekt, dot architects; Daigo Kosakai, Kurator am EdoTokyo Museum; Bastian Reiber, Schauspieler und Regisseur; Sampo Inc, Architekten; Matthias Schmelzer, Wirtschaftshistoriker und Klimaaktivist; Yuko Tanaka, Präsidentin der Hosei University, Tokio; Andres Veiel, Film- und Theaterregisseur; Nagara Wada, Autorin und Künstlerin Eine Kooperation von Akademie der Künste, Berlin, Goethe-Institut Tokio, Japan Foundation, Kyoto Experiment Festival, Schaubühne Berlin, Floating UniversitY Berlin

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Azby Brown, „What Happens to a Demolished Building?“, aus Just Enough

CHRISTIAN TSCHIRNER ist leitender Dramaturg an der Schaubühne Berlin. Nach seiner Ausbildung zum Tierpfleger im Zoo Leipzig studierte er an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Seither arbeitet er als Schauspieler, Autor, Regisseur und Dramaturg.

14.10 – 23.10.2022 Floating UniversitY Berlin ReEDOcate ME! Festival Performance, Lecture, Diskussion, Partizipation https://reedocate-me.com


DAS ENDE VOM KAPITALISMUS

Klimaschutz kann nur gelingen, wenn das Wachstum aufhört. Was sich aus der Corona-Krise lernen lässt – und von der britischen Kriegswirtschaft ab 1940. Ein Beitrag zu ReEDOcate ME!

Ulrike Herrmann

Die Coronapandemie machte das Undenkbare denkbar: Plötzlich flogen keine Flugzeuge mehr, der Ausstoß an Treibhausgasen sank rapide, Öl wurde zur Ramschware, und viele Länder führten eine Art bedingungsloses Grundeinkommen ein. Der Staat hatte allerorts das Sagen, und sogar die Neoliberalen forderten plötzlich milliardenschwere Konjunkturprogramme. Die Globalisierung schien genauso beendet wie der ungebremste Kapitalismus. Es wirkte, als wäre ein Weg gefunden, der zu mehr Nachhaltigkeit führt. Doch dieser Schein trügt. Die Coronakrise zeigt gerade nicht, wie man den Kapitalismus hinter sich lassen kann – sondern beweist im Gegenteil, dass unser Wirtschaftssystem zum Wachstum verdammt ist. Der Lockdown dauerte in den meisten Ländern nur wenige Wochen, und dennoch belaufen sich die Schäden nun auf Billionen Dollar. Längst wären viele Unternehmen pleite und fast alle Beschäftigten arbeitslos, wenn die öffentliche Hand nicht permanent neue Hilfsprogramme auflegen würden, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Momentan besteht der Trick darin, einfach neues Geld zu „drucken“, indem der Staat Kredite aufnimmt. Die Coronakrise wird im wahrsten Sinne des Wortes mit Geld zugeschüttet. Die EU mobilisiert mehr als eine Billion Euro; Deutschland ist bei denkbaren Hilfen von etwa 1,4 Billionen Euro angekommen. Es ist unmöglich, diese gigantischen Schulden zu tilgen und zurückzuzahlen. Stattdessen setzt man auf Wachstum. Sobald die Wirtschaftsleistung steigt, verlieren die Schulden an Relevanz – bis sie irgendwann vergessen sind. Bleibt nur ein Problem: Die Klimaschützer*innen haben recht, dass man in einer endlichen Welt nicht unendlich wachsen kann. Die Europäer*innen, inklusive Deutschland, hinterlassen einen ökologischen Fußabdruck, als könnten sie drei Planeten verbrauchen, aber bekanntlich gibt es nur die eine Erde. Bisher hoffen die Regierungen, Wirtschaft und Umwelt langfristig irgendwie versöhnen zu können. Die Stichworte heißen „Green New Deal“ oder „Entkopplung“ von Wachstum und Energie. Angeblich wäre es sogar billig, die Welt zu retten. Die meisten Studien gehen davon aus, dass ein vernünftiger Klimaschutz nur maximal ein bis zwei Prozent des Brut-

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toinlandsprodukts kosten würde. Fragt sich bloß, warum sich in der Umweltpolitik so wenig tut, wenn sie doch fast umsonst ist? Irgendwo muss sich ein Denkfehler verbergen. Um diesem Fehler auf die Spur zu kommen, lohnt sich ein Blick auf die CO2-Steuer, die kürzlich in Deutschland eingeführt wurde und das „Herzstück“ der hiesigen Klimapolitik sein soll. 2021 lag die Abgabe bei 25 Euro die Tonne CO2, um bis 2025 auf 55 Euro zu steigen und anschließend 55 bis 65 Euro zu betragen. Kritiker*innen bemängeln vor allem, dass die Steuer viel zu niedrig ist. So fordert das Umweltbundesamt, der CO2-Preis solle bei 180 Euro die Tonne liegen. Um diese abstrakten Zahlen in die konkrete Welt zu übersetzen: Ein Liter Diesel würde dann etwa 50 Cent mehr kosten. Das ist viel Geld. Doch leider gilt auch hier, dass der Satz „viel hilft viel“ falsch ist. Dem Klima würden die „Klimasteuern“ nichts nützen. Denn egal, wie hoch die Energiesteuern sind: Dieses Geld bleibt im System. Die Bürger*innen müssen zwar tiefer ins Portemonnaie greifen, wenn sie Energie verbrauchen – aber ihr Geld landet dann beim Staat, der es wieder ausgeben kann und damit für neue Nachfrage und neue CO2-Emissionen sorgt. Die OECD musste bereits feststellen, dass es „keinen klaren Zusammenhang gibt zwischen den Emissionen eines Landes und der Energiebesteuerung“. An diesem Befund ändert sich auch nichts, wenn die Energiesteuern sozial ausgestaltet werden. So wird in Deutschland gefordert, dass der Staat auf die Einnahmen aus der CO2-Steuer verzichtet und ein „Energiegeld“ an die Haushalte auszahlt. Arme Familien würden profitieren, weil sie eher wenig Energie verbrauchen, während die Reichen belastet würden. So gerecht diese Umverteilung wäre: In der Summe hätten die Haushalte netto genauso viel Geld wie vorher, um zu fliegen, Auto zu fahren und im Internet zu streamen. Die Politik verwechselt Betriebs- mit Volkswirtschaft: Ein höherer CO2-Preis hat zwar eine Lenkungswirkung – aber nur beim einzelnen Produkt. Die Gesamtwirtschaft wird weiter in die Klimakatastrophe gesteuert. Die Deutschen tappen in die altbekannte Falle des Bumerangeffekts. Dieses Paradox wurde bereits 1865 vom britischen Ökonomen William Stanley Jevons beschrieben

und ist eine der wenigen Voraussagen über den Kapitalismus, die sich als richtig herausgestellt hat. Wer Energie oder Rohstoffe spart und mit weniger Materialeinsatz die gleiche Gütermenge herstellt, der steigert in Wahrheit die Produktivität und ermöglicht damit neues Wachstum. In der Umweltpolitik hat es wenig Sinn, nur auf Preise und Marktmechanismen zu setzen. Das weiß auch die Politik. Die große Hoffnung ist daher, die gesamte Wirtschaft komplett auf Ökostrom umstellen zu können – ob Verkehr, Industrie oder Heizung. Diese Idee klingt jedoch nur so lange gut, wie man die offensichtlichen Probleme verschweigt. Ein E-Auto ist, auch wenn es mit Ökostrom fährt, keineswegs umweltfreundlich, sobald die rohstoffintensive Herstellung berücksichtigt wird. Zudem entsteht Ökostrom nicht aus dem Nichts, sondern produziert ebenfalls Folgekosten. Windräder sind zwar längst nicht so umweltschädlich wie Kohlekraftwerke, aber auch sie greifen in die Landschaft ein und werden schnell zu einem Müllproblem. Denn Windräder laufen nur maximal dreißig Jahre und sind anschließend Industrieruinen aus neunzig Metern Schrott. Bisher ist noch völlig unklar, wie man die verschlissenen Rotoren-Blätter recyceln soll. Vor allem aber: Ökostrom wird immer knapp bleiben. Diese Aussage mag zunächst seltsam wirken, denn die Sonne schickt 10.000-mal mehr Energie zur Erde, als die sieben Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard Europas genießen könnten. An physikalischer Energie fehlt es also nicht, und dennoch wäre es eine Milchmädchenrechnung zu glauben, Ökoenergie könnte im Überfluss zur Verfügung stehen. Denn Sonnenenergie allein nutzt gar nichts; sie muss erst eingefangen werden. Solarpaneele und Windräder sind jedoch technisch aufwändig – jedenfalls deutlich aufwändiger, als Kohle, Öl oder Gas zu fördern und zu verbrennen. Momentan wirkt der Ökostrom konkurrenzfähig, weil damit „nur“ fossiler Strom ersetzt wird – und zwar im laufenden Betrieb. Die Bilanz wird sofort schlechter, wenn der Ökostrom gespeichert und in der gesamten Wirtschaft eingesetzt werden soll. Erhellend ist der „Erntefaktor“ EROI, der misst, wie viele EnergieEinheiten investiert werden müssen, um neue Energie-

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Azby Brown, „Rice Production and Its Byproducts“, aus Just Enough

Einheiten zu gewinnen. Dabei stellt sich heraus, dass Ökostrom maximal die Hälfte der Netto-Energie liefern kann, die sich mit fossilen Varianten erzeugen lässt. Das ist bitter. Denn damit ist klar, dass Ökostrom teuer ist und sich die Effizienz halbieren würde. Sobald aber die Produktivität sinkt, kann es kein Wachstum mehr geben. Die Wirtschaft muss schrumpfen, wenn man sie allein mit Ökostrom antreiben will. Aber wie soll man sich dieses Schrumpfen vorstellen? Es hilft, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, dann ist eine klimaneutrale Wirtschaft nur denkbar, wenn man auf sämtliche Flugreisen und das private Auto verzichtet. Auch Banken und Versicherungen sind weitgehend überflüssig, wenn eine Wirtschaft schrumpft. Gleiches gilt für PR-Berater, Reisebüros, Messelogistiker oder Grafikdesigner. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmer*innen müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Menschen in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern. Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist im wahrsten Sinne des Wortes „alternativlos“. Wenn wir unseren CO2-Ausstoß nicht auf netto Null reduzieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem ungeplanten Chaos käme es wahrscheinlich zu einem

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Kampf aller gegen alle, den die Demokratie nicht überleben würde. Der Rückbau des Kapitalismus muss geordnet vonstattengehen. Zum Glück gibt es bereits ein historisches Modell, an dem man sich orientieren könnte: die britische Kriegswirtschaft ab 1940. Damals standen die Brit*innen vor einer monströsen Herausforderung. Sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht wirklich kommen sehen und mussten nun in kürzester Zeit ihre Wirtschaft komplett auf Krieg umstellen, ohne dass die Bevölkerung hungerte. Das erste Ergebnis war eine statistische Revolution: Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung entstand, die bis heute ein Standardwerkzeug aller Ökonomen ist. Mit diesem neuen Instrument ließ sich ausrechnen, wie viele Fabriken man nutzen konnte, um Militärausrüstung herzustellen, ohne die zivile Versorgung zu gefährden. Es kam zu einem Kapitalismus ohne Markt, der bemerkenswert gut funktioniert hat. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber die Produktionsziele von Waffen und Konsumgütern wurden staatlich vorgegeben – und die Verteilung der Lebensmittel öffentlich organisiert. Es gab keinen Mangel, aber es wurde rationiert. Die Brit*innen erfanden also eine private und demokratische Planwirtschaft, die mit dem dysfunktionalen Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte. Die staatliche Lenkung war ungemein populär. Wie die britische Regierung bereits 1941 feststellen konnte,

war das Rationierungsprogramm „einer der größten Erfolge an der Heimatfront“. Denn die verordnete Gleichmacherei erwies sich als Segen: Ausgerechnet im Krieg waren die unteren Schichten besser versorgt als je zuvor. Zu Friedenszeiten hatte ein Drittel der Brit*innen nicht genug Kalorien erhalten, weitere zwanzig Prozent waren zumindest teilweise mangelernährt. Nun, mitten im Krieg, war die Bevölkerung so gesund wie nie. Beim Klimawandel ist die gesamtgesellschaftliche Aufgabe ähnlich groß. Wieder geht es ums Überleben der Menschheit. Aus der Coronakrise lässt sich zwar nicht viel für die Zukunft lernen, aber eine Lektion hält sie doch parat: Der Staat hat erneut gezeigt, dass er schnell und wirkmächtig handeln kann. Diese Kompetenz muss er als nächstes nutzen, um geordnet aus dem Wachstum auszusteigen.

ULRIKE HERRMANN ist Wirtschaftsredakteurin bei der taz. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau und hat an der FU Berlin Geschichte und Philosophie studiert. Ihr neuestes Buch ist Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind (2022). Den hier in leicht modifizierter Form abgedruckten Vortrag hielt sie bei ReEDOcate ME! im Januar 2022 in der Akademie der Künste, Berlin.


KOLONIALES Naomie Gramlich

KUPFER

In ihrer Videoarbeit Reflections of the Raw Green Crown verweist die Künstlerin Otobong Nkanga auf die Untrennbarkeit von westlicher Architektur, Medieninfrastrukturen und Extraktivismus. Eine längst überfällige Denaturalisierung von Rohstoffen.

Otobong Nkanga, Reflections of the Raw Green Crown, 2015

Das dreiminütige Video Reflections of the Raw Green Crown (2015) zeigt Otobong Nkanga mit dem Rücken zur Kamera.1 Die Künstlerin trägt eine Krone aus grob bearbeitetem Malachit und steht den Kupferdächern der Kaiser-WilhelmGedächtniskirche in Charlottenburg und der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg gegenüber. Aus Malachit kann Kupfer gewonnen werden. Nkanga rezitiert ein Gedicht über die Begegnung zwischen rohem und verarbeitetem Kupfer, das verschüttete Erinnerungen in der Berliner Metropole freilegt, die ihrerseits zur kolonialen Vergangenheit des Ortes Tsumeb in Namibia führen. „You have travelled a long way through land and sea to crown the tops of your captor’s roofs. […] You remain silent and do not want to be traces for fear of the horror within. […] I am raw. A distinct cousin. But we are from the same core. […] Guessing that you might remember Tsumeb.“ Die Otavi-Region im Norden Namibias, in der Tsumeb liegt, war bekannt für ihr mineralogisch einzigartiges und immens großes Kupfervorkommen. Zeitgleich zum Bau beider Kirchen wurde die Gegend, die dem heutigen Namibia entspricht, zwischen 1884 und 1915 vom Deutschen Reich annektiert. In der Region um Tsumeb lebten und arbeiteten vorwiegend die Bevölkerungsgruppen der Khoisan und Damara. Sie bauten Kupfer ab und tauschten es. Durch die Deutschen wurden sie um ihren Reichtum und ihre Ökonomie gebracht. Wo vor hundert Jahren der „Grüne Hügel“ stand, wie Tsumeb früher wegen der Malachiteinschlüsse im Gestein genannt wird, klafft heute ein über 100 Meter tiefes Loch in der Erde. Bis zur Schließung der Mine im Jahr 1996 wurden 90 Jahre lang über 27 Millionen Tonnen Kupfer, Zink und Blei, Cadmium, Silber und Germanium nach Deutschland, Belgien und die USA verschifft. Bereits 1899 wurden die deutschen Kupferreserven im Zuge des wachsenden Elektrizitätsausbaus für Strom, Telegrafie und Telefon knapp. Um Europas unersättlichen Hunger nach Kupfer zu stillen,

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wütete in Tsumeb ab 1900 der Minen-Frontier2 in Form deutscher Kolonialverwaltung. „The fear of the horror within“, wie Nkanga sagt. Durchgesetzt wurde ein System von sukzessiver Landenteignung und sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen. Präkoloniale Technologie und Ökonomie wurden zerstört, Armut und ökologische Verseuchung sind die Hinterlassenschaften. Für das ab 1990 unabhängige Namibia bleibt, wie dessen erster Präsident Sam Nujoma feststellt, nur noch wenig Kupfer übrig.3 Nkanga arbeitet mit der videoästhetischen Verzerrung des Fischaugenobjektivs und weitet damit den städtischen Raum so weit aus, dass postkoloniale Verbindungen hervortreten. Koloniales Kupfer aus Namibia, so lässt sich spekulieren, findet sich nicht nur in Kirchendächern, sondern ist in Form von Elektrizitätskabeln in Häuserwände eingearbeitet, hält Straßenbahnen am Laufen, versorgt ganze Städte mit Strom und – in Anbetracht der Tatsache, dass Kupfer unendlich recycelbar ist – auch mit Internet. Tsumeb ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Systems von Kolonialität und Kolonialismus, über das rohstoffreiche Orte annektiert, enteignet und in ein weltweites Kapital- und Infrastrukturnetz eingespannt wurden und werden, um sie maximal auszusaugen und als Ruinen wieder auszuspucken. Aluminium, Zinn, Kupfer, Gold, Kobalt, Silber, Palladium und ein Dutzend andere Stoffe liefern die geologische Materialität, welche die Speicherung, Übertragung und Weiterverbreitung von Medientechnologien überhaupt erst ermöglicht. Diese Stoffe, hervorgebracht durch extraktivistische Politiken und Infrastrukturen, sind untrennbar verwoben mit Medientechnologien. Wer Letztere ausschließlich als soziale Massenmedien versteht, ignoriert, dass sie co-konstitutiv für eine „Massenvernichtung“4 von Ökologien und Menschen vorwiegend in Ländern des Globalen Südens sind.

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Otobong Nkanga, Reflections of the Raw Green Crown, 2015

DAS UNAUSSPRECHBARE IM ROHSTOFF Nkangas Arbeit ist als ein Plädoyer zu verstehen, Verbindungsgeschichten zwischen Medientechnologien, Infrastrukturen und Architekturen im Globalen Norden und Orten der Ausbeutung zu erzählen. Nkanga nennt sie „space of shine“ beziehungsweise „places of obscurity“.5 Da beide unmittelbar miteinander und mit Kolonialismus und Extraktivismus zusammenhängen, lassen sie sich nicht unabhängig voneinander betrachten. Und dennoch: Auf die post- und neokolonialen Wege von Rohstoffen hinzuweisen, scheint heute fast schon plakativ. Drängende Fragen entstehen daraus selten. Ich möchte deswegen einen Schritt zurückgehen und fragen, auf Basis welcher Vorstellungswelten Tsumeb überhaupt „obskur“ und der Computer, auf dem dieser Text entsteht, „glänzend“ werden konnte? Oder anders: Wie werden koloniale Beziehungen im (Nicht-)Sprechen von „Rohstoffen“ naturalisiert? Diskursive Arbeit Was dazu beiträgt, koloniale Verbindungen zu verkennen, ist das Konzept des „Rohstoffs“ selbst. Rohstoffe sind nicht nur Materie wie Baumwolle, Kupfer oder Erdöl, vielmehr sind sie mit einem bestimmten Denken verbunden, das seinen Ausgangspunkt im Kolonialismus und seiner Geschichte hat. Zeitgleich mit der Kolonisierung des afrikanischen Kontinents tauchten die Begriffe „Ressource“ und „Rohstoff“ im ökonomischen Vokabular Europas auf. Während vorher die Rede von „natürlichem Reichtum“ oder „mineralischen Schätzen“ war, gaben „Ressourcen“ und „Rohstoffe“ der materiellen Grundlage modern-kolonialer Gesellschaften ihren Namen. Etymologisch geht „Ressource“ auf die drei lateinischen Komponenten von „re“ für „wieder“, „sub“ für „von unten her“ und „regere“ für „gerade richten“ zurück. Die Vorstellung eines sich selbst regenerierenden Wachstums verwandelt sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu etwas Statischem, das es zu entdecken, klassifizieren, verbessern und mobilisieren gilt. Fortan bestimmt dieses Verhältnis einen universalistischen Zugang zu Natur und verdrängt bzw. inkorporiert andere Modi, sich ökologisch, sozial oder spirituell auf die materielle Existenz zu beziehen. Die Geschichte des Begriffes „Rohstoff“ beschreibt, wie das eigentlich hoch emotionale Thema der materiellen Existenz, die in Träume, Imaginationen und Vorstellungen von Macht, Identität, Recht und Geschlecht eingelassen ist, in Vorgängen der Szientifizierung immer stärker versachlicht und intransparent gemacht wird. In den Propagandamedien deutscher Kolonialpolitik – Karten, Lexika, Zeitschriften etc. – bildet sich der Begriff „Rohstoff“ in Abgrenzung zur

„Technologie“ heraus. Dem binären System „Rohstoff“ vs. „Technologie“ ist die geografische Trennung von Kolonie als Ort der Extraktion einerseits und Metropole als Ort der Weiterverarbeitung andererseits eingeschrieben. Die geografische Aufteilung verkörpert wiederum die zeitliche Ordnung von „primitiv“ vs. „fortschrittlich“. Diese verläuft entlang der vorgestellten Bewegungsrichtung von Natur zu Kultur und damit vom Rohzustand zur Fertigstellung. Da Rohstoffe „roh“ sind, existieren sie ausschließlich im Hinblick auf einen kommenden Zustand, der nur mittels der Technologie des Westens erschlossen werden kann. Die vermeintliche Unvollständigkeit der Rohstoffe dient dem Globalen Norden zur Legitimierung, sie greifbar, relevant und profitabel zu machen. Kurz gesagt: Rohstoffe werden als „natürlich“, „vorzeitlich“ und „verfügbar“ konzipiert, was koloniale Imaginationen weiterträgt und präkoloniale Technologien und Ökonomien ignoriert. Die Geschichte des Konzepts „Rohstoff“ zeigt, dass materielle Einheiten in diskursive und kulturelle Arbeit eingelassen sind, die bis heute für Individuen und Gesellschaften den Rahmen vorgeben, wie materielle Existenz gedacht wird.6 Was aber eigentlich passiert, wenn von „Rohstoffen“ die Rede ist, ist, die koloniale Gewalt, die mit dem Rohstoffabbau einhergeht, unaussprechbar zu machen. Anna L. Tsing schreibt: „Der Minen-Frontier ist als Schock und Disruption gekommen. […] Da [diejenigen, die den Frontier ausführen] in der Erwartung kommen, Ressourcen auszubeuten, können sie ignorieren, auf welche traumatische Art und Weise diese Ressourcen produziert werden.“7 „Rohstoffe“ tragen den Schock des Minen-Frontiers weiter, weil dessen Gewalt darin unaussprechbar bleibt. Das Konzept ähnelt den Begriffen terra nullius oder „Niemandsland“, die suggerieren, dass Land in den Kolonien unbewohnt war. Selbst der Begriff „Kolonialismus“, der sich von „bebauen“ und „kultivieren“ ableitet, euphemisiert dessen Gewaltregime. Weil diese Begriffe Gewalt subsumieren und zum Schweigen bringen, müssen sie selbst als Formen epistemischer Gewalt verstanden werden. „Rasse“ und Rohstoffe Wenn Nkanga in Reflections of the Raw Green Crown dem Malachit und dem Kupfer ihren Körper leiht, stellt sie fest: „Surprisingly, you look like me. […]. I am raw. A distinct cousin. But we are from the same core.“ Die Verwandtschaft zwischen Mineral und Schwarzen Menschen, auf die sie anspielt, ist mehr als eine Metapher. Denise Ferreira da Silva hat in ihrer Analyse von Nkangas Arbeiten die kolonialrassistische Rekonfiguration von Schwarzsein herausgestellt, die mit einer Negation von Menschlichkeit und einer verdinglichten Materiali-


tät einhergeht.8 Rassismus ist die Verneinung und Verdinglichung von Menschlichkeit, die Menschen zu vermeintlich leicht extrahierbarer Materie für Arbeitsprozesse machen soll. Während des transatlantischen Versklavungshandels wurden Schwarze Menschen nicht zufällig mit dem Wert von Gold und anderen Metallen und Mineralien gleichgesetzt.9 Es gibt folglich Parallelen im Denken von Rohstoffen und „Rasse“. Nicht nur Schwarzsein, sondern auch Weißsein spielt beim westlichen (Nicht-)Denken von Rohstoffen eine zentrale Rolle. Nkanga legt die koloniale Kupferspur Tsumebs nicht zufällig zu zwei Kirchen. Genauso wenig ein Zufall ist es, dass Motive der Göttlichkeit und Transzendenz dazu genutzt werden, die Elektrizität im beginnenden 20. Jahrhunderts als immateriell zu konzipieren. Beispielhaft zeigen das die Werbeillustrationen des Elektrokonzerns AEG. Die „Göttin des Lichts“, so der Titel der Illustration, überstrahlt nicht nur dunkle Wolken, sondern auch den ganzen Globus mit einer elektrischen Glühbirne und ihrem weißen, an antiken Schönheitsidealen ausgerichtetem Körper. Was dazu beiträgt, Elektrizität als materielos darzustellen und damit die kolonialen Bedingungen des Kupferabbaus unaussprechbar zu machen, ist die Bildtradition des Lichts der Aufklärung, die sich hier mit den idealen Vorstellungen von weißer Weiblichkeit übersteigert. Weißsein ist keine Hautpigmentierung, sondern ein modernes Ideal, in dem sich auch das Begehren nach Transparenz und Sauberkeit verkörpern. Richard Dyer schreibt: „Weiß zu sein bedeutet, sich von allem Schmutz, ob fäkal oder anderweitig, befreit zu haben, weiß auszusehen bedeutet sauber auszusehen.“10 Technologie wie Elektrizität in Idealen von Weißsein und weiblicher Unberührbarkeit zu imaginieren, scheint von der Vorstellung getrieben, koloniale Gewaltgeschichte und Extraktivismus zu transzendieren. Elektrizität im 20. Jahrhundert ist wiederum erst durch koloniales Kupfer entstanden. Mit Nkanga gesprochen, führt besonders die Imagination des „Glanzes“ von Weißsein zur „Obskurität“ kolonialer Beziehungen. Die hier mit Nkanga gezogenen Verbindungen sprengen epistemische Risse in die Vorstellung von Medientechnologien als glänzend, immateriell und letztendlich weiß. In diesen muss auch Platz für eine ganz konkrete Frage sein, nämlich was wir eigentlich schulden.

Während im Fall der Kirchendächer und kupferbasierten Medieninfrastrukturen koloniale Rohstoffe intransparent bleiben, gibt es umso deutlichere Bezüge in der Berliner Mauerstraße am historischen Gebäude der Deutschen Bank. Die Deutsche Bank war einer der finanzstärksten Hauptakteure der Otavi Minenund Eisenbahn-Gesellschaft, die die Eisenbahn von Tsumeb zum Hafen nach Swakopmund bauen ließ, um das Kupfer zu verschiffen. Die Eisenbahn steht nicht nur für die finale Enteignung der Khoisan und Damara, sondern hängt auch zusammen mit dem Genozid an den Ovaherero, da die Eisenbahn durch ihr Land gebaut wurde, was ein Grund für deren Widerstand war.11 Die Fassade des Gebäudes zeigt die weiße Imagination dieser Szene: Weiße Figuren übergeben Eisenbahn und Fackel an die lokale Bevölkerung, die rassistisch dargestellt ist. Dass die Selbstüberhöhung von Weißsein und Technologie bis heute zur Verleugnung kolonialer Gewalt dient, zeigt sich darin, dass das Gebäude erst vor Kurzem renoviert wurde. Es wird Geld für die Rekonstruktion einer Fassade von 1908 verwendet, während Restitutionsforderungen der Nachfahr*innen kolonialer Verbrechen, an denen sich heute zentrale Akteur*innen der Deutschen Ökonomie massiv bereichert haben, abgeschmettert werden.12

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Die Arbeit ist nach einem einfachen Login über die Homepage der Künstlerin zugänglich. „Frontier“ meint ein System der Expansion, das seit dem 16. Jahrhundert zur Grundlage des kapitalistischen Wachstums wird. Um ständig neue Rohstoffe abzuziehen, werden geografische Grenzen verschoben, die später ökologische und soziale Zerstörung zurücklassen. Sam Nujoma, Copper. Geology and economic impact in Namibia, Zambia and the Democratic Republic of the Congo, Windhoek 2009, S. 86. Timothy LeCain, Mass Destruction: The Men and Giant Mines That Wired America and Scarred the Planet, New Brunswick 2009. Denise Ferreira da Silva, 1 (life) ÷ 0 (blackness) = ∞ − ∞ or ∞ / ∞: On Matter Beyond the Equation of Value, in: e-flux Journal 79 (2017) (https://www.e-flux.com/journal/79/94686/1-life-0-blackness-or-on-matter-beyond-the-equation-of-value/, zuletzt am 18.3.2022), fortan Ferreira da Silva 2017. Anna Lowenhaupt Tsing, The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, Princeton und Oxford 2015 (dt. Ausgabe: Der Pilz am Ende der Welt, übers. von Dirk Höfer, Berlin 2018). Anna Lowenhaupt Tsing, Natural Resources and Capitalist Frontiers, in: Economic and Political Weekly 38/48 (2003), S. 5100–5106, hier S. 5100. Vgl. Ferreira da Silva 2017, vgl. Anm. 5. Vgl. auch Kathryn Yusoff, A Billion Black Anthropocenes Or None, Minneapolis 2018. Richard Dyer, White, London und New York 1997, S. 76. Naomie Gramlich, Mediengeologisches Sorgen. Mit Otobong Nkanga gegen Ökolonialität, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13/24–1 (2021), S. 65–76. Anon., German bank accused of genocide, BBC News (25.9.2001) (news.bbc.co.uk/2/hi/business/1561463. stm).

NAOMIE GRAMLICH, ist wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in im Fachbereich Medienwissenschaft an der Universität Potsdam und schreibt an einer Promotion zum Thema Extraktivismus und (De-)Kolonisation am Beispiel der Kupfermine in Tsumeb, Namibia. They hat zahlreiche Texte zur Kolonialität von Rohstoffen und Infrastrukturen, zur Kolonialgeschichte von botanischen Gärten und zu intersektional-femiGöttin des Lichts, Plakat von Louis Schmidt, 1888

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nistischen Methoden veröffentlicht.

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MAULBEERZEILEN Esther Kinsky

Die hiesige Gegend, die zona, wie die Leute sagen, ist offenes, sanftes Hügelland, eingefasst von den auslaufenden Ostalpen im Norden und dem Meer im Süden, beide Grenzen verschwimmen oft in dunstigem Blau. Bei scharfem Winterlicht sind die Berge rosa bei Sonnenaufgang, orange bei Sonnenuntergang, und die Scharten und Kerben und schroffen Linien der Felsverfaltungen lassen sich ausmachen. Nach Süden läuft das Land flach zur Küste hin aus, von Flüssen durchzogen und unschlüssig zu inselbetupften Lagunen zerfasernd. Hier, in dem Gelände, das weder Berg- noch Küstenland zugehört, wachsen Buchen, Eichen, Kastanien in kleinen Hainen auf kalksteinigen Auswüchsen oder in geschützten Senken, Hasel- und Hainbuchengebüsche säumen Wege, Lehmgruben und Torfmoore liegen hinter Akazien und Weidenhecken und wucherndem Holunder. Die Felder sind klein, passen sich den Wellen der Landschaft und ihrer Geschichte der Verschiebungen an. Jeder stärkere Regen in Herbst und Winter bringt Steine an die Oberfläche der brach liegenden Äcker, Zeugnisse längst vergangener Zertrümmerungen, auf denen die hiesige Lieblichkeit gediehen ist. An den Ecken der Felder türmen sich die Steinbrocken zu konischen kleinen Erhebungen, von den Bauern mühsam beim Pflügen aufgesammelt, kleine Gedenkmale der Not und Fron, Unterschlupf für die scheuen, pechschwarzen Carbon-Schlangen, die im Frühjahr hervorgekrochen kommen, um sich zu vermehren. Das alles ist Teil des jahrtausendealten Hintergrunds

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einer von Migration, vom Hin und Her der Wanderschaft und Suche geprägten Gegend. Die Wanderbewegungen gingen von Ost nach West, von Süd nach Nord, gelegentlich auch in entgegengesetzte Richtung. Angetrieben von Not und von Gier, von Neugier und Überdruss, von Unersättlichkeit und Kriegslust. Zwischen den Feldern ziehen angelegte Reihen gleichartiger Bäume die Grenzen, manche Reihen stehen doppelt, junge Bäume wachsen in geringem Abstand zu den alten, die geschlagen werden sollen, wenn die nächste Generation herangewachsen ist. Grenzmarkierungen aus dicken, kurzen, kompakten Baumstämmen mit einer grauen, körnigen Rinde, schroff und schartig wie die felsigen Seiten der fernen Alpenhänge. Die Rinde sieht rau aus, doch abseits der Scharten und Risse fühlt sie sich unter den Fingerkuppen weich an, glatt wie Stoff. Manche Stämme sind ganz von Efeu umrankt. Die Baumreihen schaffen ihre Art Ordnung im Gelände, sie teilen die Flächen auf, lenken den Ausblick. Im frühen Winter werden sie gestutzt, wo ein Besitzer sich zur Arbeit findet, die Motorsägen heulen durch die stille Winterluft, bis die Stämme von allen Ästen und Zweigen geschoren aufragen und aussehen wie aus der Erde gereckte geballte Fäuste. Der Holzschnitt wird in den Tagen vor Neumond vorgenommen, das ist hier die Sitte. Zur Unzeit geschnittenes Holz will nicht brennen oder weint im Feuer und lässt sich zu nichts recht verwenden. Die gebündelten Äste werden als Feuerholz nach Hause gebracht, das dünne Reisig, das in der Wintersonne rötlich schimmert wie Schilf-

stengel, bleibt liegen und kommt – wenn der Schnitt beizeiten gemacht wird – auf das große Feuer, das am höchsten Punkt des Dorfes zum 6. Januar entzündet wird. Ein Feuer, das erst den Abgang des alten Jahres besiegelt und dem jeder einen abgebrauchten Gegenstand zuführen soll, um einen rechten Neuanfang zu machen. Alle schauen dann auf die Richtung, in die der Wind den Rauch treibt. Geht er Richtung Meer, wird es ein Jahr der Armut, und viele werden fortziehen müssen, um sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, weht er Richtung Berge, wird es ein gutes Jahr am Ort, das alle ernährt. Ein alter Glaube der zona, die von der Armutsemigration der letzten Jahrhunderte ebenso geprägt ist wie von zwei Jahrtausenden der durchziehenden Migration. Ich erkannte die Bäume anfangs nicht, die kahlen, beschnittenen Stämme erinnerten mich an die Kopfweiden am Rhein, die ebenso verstümmelt in die allerdings viel nebligere und grauere Luft der dortigen Winter ragten. Der armselige Stumpf einer Krone war nur an den rötlichen Wundflächen der abgesägten Äste vom Stamm zu unterscheiden. Doch das Laub, das im Frühjahr sehr schnell zum Vorschein kommt, ist ganz anders als das der Weiden: große, tiefgrüne, etwas glänzende Blätter drängen sich aus dem Holz, und nach wenigen Tagen ist die Krone wiederhergestellt: hellgrün und dicht. Maulbeerbäume waren es, wie ich lernte, die eine Geschichte in die Landschaft schrieben. Sie markierten die Grenzen zwischen den Feldern der Herren und waren das einzige, was den Bauern außerhalb der bienenwabenartigen Dörfer gehörte. Das Laub der Maulbeerbäume


diente zur Seidenraupenzucht, die die Bauern betreiben durften. Die Seidenspinnerraupen fressen ausschließlich Maulbeerblätter, nur dieses Laub regt die Drüsen in ihrem Unterkiefer an, zwei Fäden hervorzubringen, die sich durch das von einer weiteren Drüse produzierte Sekret, den Seidenleim, zu einem einzigen Strang verbinden. Dieser Strang wird als ein langes Gespinst von der Raupe zum Kokon gewickelt, in dem sie den Weg der Metamorphose zu begehen hofft, um als Imago, als fertiger, alles Raupenhafte überwindender Schmetterling wieder ans Licht zu gelangen. Den wenigsten verpuppten Raupen einer Zucht gelingt dieser Weg. In den aus Ästen und Netzen angefertigten Gestellen schwelgen sie im Maulbeerlaub und werden versorgt und behütet, bis der Kokon gesponnen ist. Dann muss die Raupe sterben, damit der Kokon aufgehaspelt und der dünne, viele Dutzend Meter lange Strang in einen webtauglichen Seidenfaden überführt werden kann. Es war ein trauriges Geschäft, möchte man meinen, für die Frauenund Kinderhände, denen die Raupen anvertraut waren und die dafür sorgten, dass eine jede Raupe spann und spann, um in der weichen, warmen Hülse, die nur sie anzufertigen imstande war, verwandelt zu werden. Dieselben Hegerinnen, unter deren Aufsicht und Fürsorge der Kokon entstand, würden diesen eigenhändig an die nächste Phase in der Seidenherstellung weitergeben, in welcher die eingesponnenen Lebewesen im Innern des Fadenpanzers abgetötet wurden, um den Faden gewinnen zu können. Unter den Augen der fürsorglichen Frauen und Kinder span-

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nen die Raupen ihren Untergang und konnten nicht anders. Die fertigen Kokons trugen die Hegerinnen in eigens dafür angefertigten Behältern den langen Weg bis zum Tagliamento, die staubige Straße entlang, schon unten im Flachland, wo wenige Bäume Schutz boten und die Mais- und Getreidefelder größer waren. Am Rand des Schwemmlands des Tagliamento, der in regenreichen Wochen und nach der Schneeschmelze reißend war und groß wie ein See, befand sich die Seidenspinnerei, eine schöne Fabrik, aus Ziegelsteinen erbaut mit hohen, kirchenartigen Bogenfenstern, durch die ein sanftes Licht auf die Vorrichtungen zum Abtöten der Raupen, zum Aufhaspeln des Kokons, zum Verspinnen der Kokonstränge fiel. Aus diesen zu hohen, großen Rollen versponnenen Fäden, die auf ihren Spulen saßen wie Kokons für gewaltige Riesenschmetterlinge, wurde an anderem Ort Seide gewebt. Die schöne Fabrik, einst Heimat der ersten Gewerkschaft Italiens, ist heute verfallen. Der Fluss dehnt sich auch nach der Schneeschmelze nie mehr so weit aus wie früher, den Sommer über ist er ein weites, gleißendes Kiesfeld, und im Schwemmland wuchert ein Weidendickicht. Das Gebäude ist zum großen Teil von Efeu umrankt wie die alten, unversorgten Maulbeerbäume zwischen den kleinen Feldern des Hügellands, die Fenster sind blind oder zerbrochen, doch die Fabrik ist immer noch schön, ein aufgelassener Tempel der Hoffnung auf mäßigen Wohlstand und bessere Zeiten. Der Boden ist mit Scherben bedeckt, die Wände mit Spinnweben.

Die Maulbeerbäume wachsen weiter, werden gestutzt, gefällt, sprießen neu, ihr Laub ernährt keine Seidenraupen mehr und verwandelt sich nicht mehr durch die Unterkieferdrüsen der von Sehnsucht nach einer vollkommenen Metamorphose angespornten Raupen in einen Strang, einen Kokon, einen Faden, in Seide. Ihr Holz wird auch jetzt noch für Fässer verwendet, für die hölzernen Mundstücke von Blasinstrumenten, für kleine Fiedeln, die man in abgelegenen Gegenden spielt, für Ziergegenstände, die ihrer schönen Maserung wegen begehrt sind. Eines Wintertages ist die zona von Schnee bedeckt. Die Schneedecke ist dürftig und dünn, doch verschiebt sie die Proportionen von hell und dunkel, von nah und fern, die Luft ist schneegrau. Die kahlen Maulbeerfäuste, die sich aus dem Boden recken, stehen jetzt wie eine andere Schrift auf dem schütteren Weiß, eine andere Geschichte, die entziffert sein will.

ESTHER KINSKY, Lyrikerin, Prosaautorin und Übersetzerin, ist seit Ende 2021 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Literatur. 2020 erhielt sie den Deutschen Preis für Nature Writing.

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„DEN GROSSEN HUNGER HABEN WIR ÜBERHAUPT ERST GEWECKT“ Ein Gedankenaustausch zum Verhältnis von Ökologie, Gesellschaft und Kunst zwischen Carola Bauckholt, Julia Gerlach und Iris ter Schiphorst

Die globale Bedrohung durch Klima- und Umweltkrise beunruhigt viele Musikschaffende so grundlegend, dass sie ihr Tun hinterfragen und Wege suchen, dieser Zeugenschaft in Musik, Klang und kollektiven Projekten Ausdruck zu verleihen. Um sich über neue Handlungsansätze auszutauschen und über die Rolle der Kunst zu diskutieren, veranstaltet die Sektion Musik der Akademie der Künste am 7. und 8. Oktober 2022 gemeinsam mit europäischen Partnern eine Open-Space-Konferenz. Ende August 2023 ist ein Festival geplant, das lokale und globale Perspektiven in Klangkunst, elektroakustischer und instrumentaler Komposition sowie partizipativen Formaten zusammenführt. Von Klang berührt zu werden, Umweltveränderungen durch Musik und, ganz entscheidend, durch das eigene Hören und Zuhören, Tun und Teilhaben erfahrbar zu machen, sind dabei die Leitbilder.

JULIA GERLACH Was bedeuten die Themen Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit im Feld unserer Kunstform, der Musik – ästhetisch, sozial und ökonomisch? Wirken sie sich auf das Komponieren aus? Soll Musik politisch sein oder Inhalte transportieren? CAROLA BAUCKHOLT Wir sind in einer Situation, wo es schlicht um das Überleben der Menschheit geht, also um die Zukunft unserer Nachfahren. Wir wissen schon lange, dass unser Wachstumssystem selbstmörderisch mit den Ressourcen umgeht. Aber jetzt bekommen wir es auch zu spüren. Darüber hinaus passieren Dinge, die wir uns nicht vorgestellt haben – dass sich die Grenzen innerhalb Europas schließen wegen einer Pandemie, dass Veranstaltungen nicht mehr stattfinden – und dass am 24. Februar russische Truppen in der Ukraine einfielen. Es stellt sich für viele in unserer Sektion fundamental die Frage, wie wir uns künstlerisch in diesen Krisen verhalten. Muss ich nicht expliziter werden? Hat meine Musik eine konkretere Aufgabe? IRIS TER SCHIPHORST Im Moment fällt es mir schwer, zu „Nachhaltigkeit“ etwas zu schreiben oder zu denken; dieser Krieg verschiebt die Prioritäten. Wir stehen in Europa vor einer ganz neuen politischen Realität, die wir anzuerkennen gezwungen sind und in der sich nichts weniger zeigt als das Gesicht einer grausamen Ordnungsmacht, verkörpert in der Person Putins, eines brutalen Imperialisten, der offenbar von langer Hand seine Großmachtpläne vorbereitet hat und jetzt den historischen Moment gekommen sieht, sie umzusetzen – und dabei vor nichts zurückschreckt. Gleichzeitig wurde gerade wieder ein Teilbericht des sechsten Sachstands-

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berichts des Weltklimarates IPCC veröffentlicht, in dem, wie üblich (wie man inzwischen leider versucht ist zu sagen) vor gefährlichen und weitreichenden Zerstörungen der Natur und deren Folgen gewarnt wird. Folgen, die – und hier unterscheidet sich dieser Bericht von allen früheren – in der nahen Zukunft vor allem Europa überdurchschnittlich hart treffen werden. Der Kontinent steht in jeder Hinsicht vor extremen Herausforderungen, die alle seine Bürger*innen betreffen werden. Ich kann nur hoffen, dass wir diesen Herausforderungen standhalten und so unverbrüchlich am Wert der Demokratie festhalten, wie es uns die Ukrainer*innen vorleben.

„Warum wir hier sind, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass wir Neuankömmlinge sind (kein Vergleich mit den Mittieren, Mitpflanzen, Mitpilzen, die seit Millionen von Jahren den Planeten bewohnen). Die angebliche Krone der Schöpfung hat diese in einen beklagenswerten, komatösen Zustand gebracht.“ Luca Lombardi

ITS Wir wissen, dass der sogenannte „Klimawandel“ oder besser: die dramatische Zunahme der Erderwärmung mit all ihren katastrophalen Folgen menschengemacht ist. Trotzdem sind nicht alle Menschen gleich verantwortlich. Und auch die Auswirkungen treffen nicht alle gleich. Daher finde ich das Wörtchen „wir“ in diesen

Debatten sehr problematisch. Es verschleiert nicht nur, dass es Profiteure der Umweltzerstörung gibt, die zur Rechenschaft gezogen werden müssten, und dass sich die am globalen Kapitalismus gut Verdienenden den Folgen der Umweltzerstörung am besten entziehen können, sondern auch, dass diese Folgen diejenigen besonders hart treffen, die am wenigsten dafür können. Immerhin hat sich diese Krone der Schöpfung im Namen der UN zu den sogenannten 17 Nachhaltigkeitszielen durchgerungen, die bis zum Jahr 2030 durchgesetzt werden sollen. Zuallererst genannt sind dort, dass Armut und Hunger beendet werden sollen, eine hochwertige Bildung steht bereits an vierter Stelle, natürlich ist auch Geschlechtergerechtigkeit erwähnt, und es geht bis hin zu konkreten ökologischen Maßnahmen, basierend auf den drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales. Zu schön, um wahr zu sein? Und das alles unter Beibehaltung von Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung etc.? Also jenes Systems, das verantwortlich ist für die gegenwärtige Misere? Der Soziologe Klaus Dörr rät, es darauf ankommen zu lassen. Möge sich zeigen, ob dieses System in der Lage ist, „den Karren aus dem Dreck“ zu ziehen. Die bisherigen Erfahrungen sprechen allerdings dagegen. Denn die Diskrepanz zwischen den formulierten und den realisierten Zielen ist im Laufe der Jahre eher größer statt kleiner geworden. In der Zwischenzeit gilt es, auf allen Ebenen, künstlerisch und politisch weiterzuarbeiten, die Nachhaltigkeitsziele fest im Blick zu behalten und gegebenenfalls „Druck von unten“ aufzubauen, wenn sich abzeichnet, dass sie nicht eingehalten werden. JG Der Anspruch, unsere Gesellschaft in all ihrer Fragmentiertheit zu transformieren, ist hoch. In Konferenzen von Kulturschaffenden zu Nachhaltigkeit geht es immer wieder um diesen grundlegenden Wandel und den Beitrag, den Kultur und Kulturinstitutionen dabei spielen können, besonders wenn es um Strukturen und Haltung geht. Wir sind eine große Institution, die von Künstler*innen getragen wird. Wo setzen wir an? Bei der Institution? Den Aufträgen und Stipendien? Der Kunst und Musik? CB Wir sind die Nerven der Gesellschaft. Wir zeigen auf, die Frage ist aber, wie explizit wir das tun. Ich erinnere mich, dass ich als Jugendliche ein Stück von Gerhard Rühm gespielt habe. Das war so um 1987, der Titel: kleine geschichte der zivilisation. Ruhige Ganztonakkorde auf dem Klavier und vom Zuspiel hören wir Autos, vereinzelt, immer mehr werdend bis zu einem großen Kollaps und dann weiter nur die ruhigen Klavierakkorde. Das ist eine ganz klare Darstellung der Situation, oder? Ich bin auch aufgewachsen mit Mauricio Kagels Oper Die Erschöpfung der Welt. Ich erinnere mich noch an den ersten Satz: „Gott schuf den Menschen und schuf ihn wieder ab.“ Oder auch sein Stück Mare Nostrum, da ging es schon


Christina Kubisch, RHEINKLÄNGE (fluid landscapes), 2013/2014

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1978 um die Vermüllung des Mittelmeeres. Die Bedrohung unseres Lebensraumes durch unser selbst geschaffenes Gift war sehr, sehr präsent in dieser Zeit, doch später wurden wir irgendwie abgelenkt. Das Bewusstsein war da, nur die Handlungen blieben aus. JG Ja, es ist erschütternd: In den 1970er- und 1980erJahren war das Wissen und das Bewusstsein vorhanden, auch reflektiert und aufgezeigt in Musik, bei Rühm, Kagel und auch Luc Ferrari, der in dem Hörspektakel Allo, ici la terre von 1974 ausführlich aus Texten von Wissenschaftler*innen zitiert. Jetzt ringen wir um Handlungskonzepte und während wir das tun, fragen wir uns, ob es noch einen hinreichenden Effekt haben kann. Welche Notwendigkeit seht ihr in der Kunst? CB Es geht weder um ein Greenwashing der Kunst noch darum, der Kunst Bedingungen zu stellen. Genauso wie wir auf Augenhöhe mit Lebewesen, Luft und Wasser agieren sollten, so sollten wir auch mit unserer Kunst umgehen. Nicht ihr unseren beschränkten Geist aufdrängen, sondern ihr Lebensraum geben. Dabei meine ich durchaus den Schaffensprozess, denn Klänge und Materialien sind oft klüger als wir selbst. Ihnen zu folgen, mit ihnen zu spielen, heißt für mich komponieren. ITS Ja, natürlich, unser Geist ist beschränkt, aber ich denke, wir benötigen ihn heute mehr denn je, wie die Ereignisse um uns herum zeigen. Darum interessieren mich als Komponistin immer wieder auch Konzepte, die mit künstlerischen Mitteln zur „Selbstermächtigung“ beitragen. So auch in meinem Stück Konzepte zu Fläche(n) für Chöre und andere Gruppen: „Fläche“ wird darin problematisiert als versiegelte Fläche, umgerechnet als „ökologischer Footprint“ oder als behördlich verordnete Maximalgröße einer Flüchtlingsunterkunft, oder auch jene Fläche, die wir als Europäer*innen die meiste Zeit unseres Tages besetzen, und zwar buchstäblich, nämlich den Stuhl. Auf Klang-Flächen, u. a. auf die Musik György Ligetis, wird aber auch Bezug genommen. Es ist ein performatives Stück mit offener Form, dessen Inhalte die Ausführenden nach einem von mir gestalteten „Listenspiel“ in einem längeren Prozess selbst erarbeiten. Die Resultate, die ich bis jetzt sehen durfte, waren zum Teil total verblüffend und sehr spannend … JG Ein spannendes Konzept, das über die Selbstermächtigung der Aufführenden auch auf einen Transformationsprozess abzielt. Im Kontext der Akademie der Künste stellt sich da natürlich die Frage: Wie kann eine Institution transformiert werden – als Abbild der Gesellschaft, mit all ihren verzahnten Strukturen? Wenn man von der gesamten Gesellschaft die Transformation erwartet, dann geht das nur, wenn auch Institutionen sich transformieren, wenn unsere Tätigkeiten, unsere Konzerte, unsere Veranstaltungen, eine andere Gestalt annehmen, sich verändern. Doch da gibt es noch viele Fragezeichen, wie man konkret zur Tat schreitet, wie man einen partizipativen Prozess anstößt, um nicht wie in den 1980erJahren plötzlich feststellen zu müssen: Die Wissenschaftler*innen haben alles gesagt, die Künstler*innen haben das in ihren Werken explizit gemacht, aber darauf folgte keine Handlung. ITS Ja, ohne die Transformation der Institutionen geht es nicht. Da gibt es ja schon Handlungsweisen, Leitfä-

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den und Pilotprojekte. Die Akademie sollte sich hier anschließen. Darüber hinaus sollte politische Wirksamkeit durch ein Wechselspiel von „bottom up“ und „top down“ erreicht werden. Von „oben“ werden (je nach Parteibuch/jeweiliger Regierung oder Institutsleitung) die „großen“ Ziele vorgegeben, die dann „unten“ in detaillierten Teilbereichen ausgearbeitet werden, um als Ergebnisse wieder nach oben, „bottom up“ zu wirken. Oft kollidieren jedoch diese zwei Bereiche, „oben“ und „unten“, sodass Druck von „unten“ nötig ist, damit sich „oben“ etwas mehr bewegt. Wenn also zum Beispiel im Kulturbereich „von oben“ Nachhaltigkeit ausgerufen wird und damit wie selbstverständlich „nur“ Sparmaßnahmen und Verzicht gemeint sind, ist es an den Kulturschaffenden selbst, dieser Einseitigkeit entgegenzutreten – und gegebenenfalls auch vehement die Nachhaltigkeitsziele der UN einzufordern, die meiner Meinung nach fast alle auch auf den Kultursektor übertragen werden können. Ich persönlich würde mir wünschen, dass auch wir Komponist*innen und Künstler*innen mehr miteinander ins Gespräch kommen, auch und gerade über inhaltlichästhetische Fragen im Zusammenhang von „Nachhaltigkeit“. Uns meinetwegen auch streiten. Die zeitgenössische Musik ist ja heute so divers wie nie zuvor. Und jede kleine Gruppe, jeder Kreis von Komponist*innen und Musiker*innen bewegt sich vornehmlich in seiner eigenen Blase … Gerade darum brauchen wir meiner Meinung nach viel mehr Diskussionen untereinander, denn auch wir müssen ja unsere Routinen hinterfragen – auch die künstlerischen; wir müssen persönliche Glaubenssätze überprüfen etc. CB Du sprichst die künstlerische Vielfalt an. Gerade in der Klangkunst und Landschaftskomposition wie auch im Bereich der Field Recordings sind verschiedenste Möglichkeiten für nachhaltigeres Produzieren oder das Thematisieren und Offenlegen ökologischer Fragen gewachsen. Ich möchte hier ein Projekt vorstellen, das mich besonders beeindruckt hat. Es war bereits 1990, als Daniel Ott das Festival Rümlingen initiiert hatte. Ado Müller, Pfarrer in einem kleinen Dorf bei Basel, stellte seine Kirche zur Verfügung. Von diesem Startpunkt ist das Festival in die Landschaft gegangen. Zum Beispiel wurde das „Zwielicht“ thematisiert, der Sonnenunterund -aufgang auf einem Hügel im Baselland komponiert. Das war für mich damals abwegig. Wer kommt um vier Uhr nachts zu einem Sonnenaufgang ins Umland? Aber Daniel Ott hat seine Vision unbeirrt umgesetzt und Komponierende angesprochen, die Beiträge zum jeweiligen Konzept geleistet hatten. Zu meiner Überraschung war es unglaublich voll, die Leute kamen in Bussen aus Basel und sind hochgewandert, um den Sonnenaufgang in verschiedenen Klangsituation zu erleben – Manos Tsangaris mit Markus Stockhausen auf dem Baum, ich lag auf klingenden Heuballen. Oder das Projekt „stromaufwärts“, bei dem ein ungeahnt zahlreiches Publikum eine ganze Nacht im Dunkeln stromaufwärts wanderte, an verschiedenen Klangstationen vorbei, die wegen der Dunkelheit meist nur akustisch wahrnehmbar waren – bis auf die Bettenlandschaft in einer Lichtung im Mondlicht. JG Für mich war die eigene Hörposition wichtig. Der Umstand, dass man eine Region erwandert, einen Hügel hinaufsteigt, dass damit eine gewisse Anstrengung verbunden ist, dass man zwischen der Rezeption der eigens für das Festival komponierten Stücke auch alle anderen

Klangmomente und Stillen wahrnimmt, war für mich die zentrale Erfahrung. Da die Wanderung über sechs Stunden dauerte, war es auch einfach eine substanzielle, erfahrungsreiche Zeit. CB Diese körperliche Arbeit führt einfach zu einer ganz untypischen Zeit, einer starken Beteiligung. Das Festival Rümlingen war auch immer sehr sozial und ökologisch orientiert. Daniel Ott hat die dort lebenden Menschen involviert, die lokalen Musikgruppen und auch andere Menschen, als Hilfe und Catering. Es geht dabei nicht nur um eine einzelne Komposition, sondern um die Idee, ein Gebiet zu befragen und klanglich erlebbar zu machen: Ort, Habitat und Bevölkerung. JG Das klingt nach einer Art Gegenmodell zu internationalen Uraufführungsevents wie den Donaueschinger Musiktagen, inklusiv mit starker lokaler Beteiligung, draußen und damit ohne hohen technischen Aufwand, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, ohne viele internationale Beteiligte, die mit dem Flugzeug einfliegen. Aber kommen wir ohne Weltberührungen aus? Ist es nicht gerade für diese „große“ Transformation entscheidend, trans-hemisphärische Gemeinschaften auszubilden und in einen intensiven Dialog zu treten, auch mit Blick auf Klimagerechtigkeit und die 17 Nachhaltigkeitsziele? Müssen wir nicht dringend aus unserer Bubble austreten und die riesigen Probleme in anderen Regionen der Welt adressieren? CB Das ist wichtig und ein großer Konflikt in unserer Arbeit. Die Technologie ist kleiner und leistungsstärker geworden, aber viel mehr Menschen nutzen sie. Es hat ja auch Vorteile, zum Beispiel wird deutlich weniger Papier verbraucht. Ich versuche gegen unser überreiztes Tempo zu arbeiten und bei einer Sache zu bleiben, um Intensivierung und Tiefgang zu ermöglichen. Im globalen Zusammenhang bewegt aber noch ein ganz anderer Aspekt: Die Verarmung der Artenvielfalt. Wir gehen vor die Tür und haben den Klang von Insekten vergessen. Was heißt das Schwirren von Insekten? Heute höre ich vereinzelte Hummeln und freue mich darüber. Das ist ein eklatanter Unterschied zu Erfahrungen in meiner Kindheit. Ich erinnere mich noch, wie die Autoscheiben geputzt wurden, weil sie voller toter Insekten waren. Und heute? Murray Schaffer hat schon 1971 in Kanada das „World Soundscape Project“ ins Leben gerufen, das weltweit Klanglandschaften aufnimmt, untersucht und dokumentiert. Die meisten dokumentierten Habitate existieren überhaupt nicht mehr. Das Aussterben der Arten verläuft exponentiell bis zum Kollaps. Neulich lernte ich David Monacchi kennen, der in Italien die Organisation Fragments of Extinction gegründet hat. Ich konnte seinen Film Dusk Chorus in einer 8-KanalVersion hören. Er hatte im Amazonas-Gebiet, wo die Biodiversität die höchste Dichte hat, Aufnahmen gemacht und versucht diese Erfahrung weiterzugeben. Das hat mir die Augen geöffnet – diese Palette von Klang von den tiefsten bis zu den höchsten Frequenzen in einer ungeheuren Dichte und Lautstärke. Es war für mich ein Erlebnis mitzubekommen, wie die Organismen zusammenwirken, dass sie sich auch gegenseitig hören. Jedes Tier hat nur eine Überlebenschance, wenn es einen freien Platz im gesamten Frequenzband findet. Sonst müssen sie woanders hingehen, wo sie hörbar sind. Diese Vielstimmigkeit und riesige Palette von Tiefen und Höhen zu


RHEINKLÄNGE (FLUID LANDSCAPES) Christina Kubisch

Zweiteilige Klanginstallation an den Ufern des Rheins (Oktober 2013 – Dezember 2014)

Christina Kubisch, RHEINKLÄNGE (fluid landscapes), 2013/2014

Der Rhein ist nicht einfach ein Fluss, er ist Mythos, Ort der Romantik, Erholungsort, aber auch Wasserstraße, Überschwemmungsgebiet, Abflussrinne der Industrie sowie umkämpfte Grenzlinie während der beiden Weltkriege. Aber wie klingt der Fluss? Was hört man am Rhein? In der Rheinliteratur der Romantik wird viel von singenden Menschen auf Booten gesprochen (die berühmte Rheinische Liedertafel ist ein Beispiel dafür), von den Geräuschen der Fähren und Treidelschiffer, vom plätschernden Ufer etc. Aber meistens bleiben die literarischen Beschreibungen „stumm“, das Auge genügte anscheinend, um einen gewissen Grad der allgemeinen Verzückung zu erreichen, und man kann annehmen, dass die Kontemplation in einer bestimmten Zeit noch nicht durch laute und heftige Geräusche gestört wurde. Die Diskrepanz zwischen dem, was man am Rhein sieht und was man hört, war der Ausgangspunkt für meine Arbeit: Rheinklänge (fluid landscapes). Es geht um das Hören an, über und unter dem Wasser. Was hört man und was sieht man gleichzeitig? Entsprechen die Blicke den Klängen oder umgekehrt?

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Der Rhein wurde von mir im Laufe mehrerer Wochen an seinen Ufern, auf den Brücken, unter und über dem Wasser abgehört und aufgenommen. Dabei gibt es Klänge, die ohne Hilfsmittel erfahrbar sind, wie auch Klänge, die erst durch spezielle Mikrofone/Hydrofone und Tonabnehmer hörbar werden. Besonders interessant waren für mich Klänge, die nicht sofort wahrnehmbar sind, die eigentlich unhörbar sind, aber hörbar gemacht werden können. Dazu gehören Übertragungen von Unterwassermikrofonen (Hydrofonen), mit denen man die Bewegungen der Schiffe ganz anders hören kann als von der Oberfläche aus. Die Schiffe haben über Wasser fast gleichmäßige und nicht sehr typische rhythmische Geräusche oder Klangfarben, unter Wasser aber haben sie eine erstaunliche Eigendynamik. Wasser trägt und verbreitet Schall anders als Luft. Man hört die verschiedenen Schiffsmotoren bereits lange, bevor man die Schiffe sieht, und der Frequenzbereich geht bis in tiefste Lagen. Die Klänge vor allem von modernen Containerschiffen sind unter Wasser so intensiv und laut wie die von Autos auf einer Autobahn.

In der Installation werden sich unterirdisch und überirdisch kreuzende „zeitgenössische“ Rheinklänge an beiden Rheinufern hörbar gemacht, räumlich verbunden durch die sogenannte Südbrücke (Konrad-AdenauerBrücke). Eine zweite Brücke entsteht durch die Klänge selbst, die von einem Ufer zum anderen wandern, die immer wieder an dem einen oder anderen Ufer auftauchen, als wären sie durch die Luft geflogen oder unter Wasser geschwommen. Diese Klänge instrumentalen oder elektronischen Ursprungs kommen zu den real verstärkten Geräuschen des Rheins als verbindendes Element hinzu. Sie sind flüchtige Ereignisse, die aus dem Äther oder dem Wasser zu kommen scheinen, nicht greifbar oder identifizierbar, wie eine indirekte Entgegnung auf den realen Geräuschpegel der Rheinschifffahrt.

CHRISTINA KUBISCH, Installations- und Klangkünstlerin, ist seit 2013 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik.

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DAS ARBORETUM SEITELSCHLAG Peter Ablinger

Baumpflanzung im Jahr 2008

Aus der Mitte der 1990er-Jahre stammt ein Stück der „Weiss/Weisslich“-Reihe, das aus Baumrauschen besteht: 18 verschiedene Bäume wurden aufgenommen und hintereinandergeschnitten, sodass die Unterschiede der jeweiligen Klangfarben des Rauschens klar hervortreten. Zur gleichen Zeit hatte ich das Stück Weiss/ Weisslich 26, Skizzen für ein Arboretum entworfen, der Plan war, Bäume nach akustischen Gesichtspunkten zu pflanzen. Da ich nicht damit rechnete, sofort eine Möglichkeit für die Umsetzung eines solchen Konzepts zu erhalten, bestand das Stück vorerst aus einem sich über die Jahre hinweg ständig erweiternden Notizbuch mit Beobachtungen in der freien Natur und verschiedenen Gestaltungsideen zu speziellen Anordnungen für solche Baumpflanzungen. Zirka zwölf Jahre nach der ersten

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Skizze ist im April 2008 das erste Arboretum in Ulrichsberg gepflanzt worden. Aber natürlich ist damit wieder nur ein weiterer Schritt getan auf dem Weg zum eigentlichen Arboretum, denn die Bäume sind noch jung und bieten dem Wind (der an der ausgesuchten Stelle angeblich „immer“ bläst) noch nicht genug Widerstand, um richtig zu klingen. Die Bäume müssen erst wachsen, das Stück wird erst in dreißig bis vierzig Jahren seine volle Entfaltung erfahren. Es ist also ein besonders nachhaltiges Projekt! (aus: Vom Gesamtkunstwerk zum Gesamtwerk, Gespräch mit Andreas Fellinger, leicht modifiziert, Erstveröffentlichung in freiStil. Magazin für Musik und Umgebung, Wien 2008)

PETER ABLINGER, Komponist, Klangkünstler, ist seit 2012 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik.


hören, hat mich seelisch sehr berührt angesichts der Ödnis, die wir hier durch Asphalt und unser bequemes Leben erreicht haben. Welchen Verlust wir erlitten haben, ist uns überhaupt nicht bewusst. JG Intakte biodiverse Ökosysteme sind auch akustisch reich, man kann also auch hören, wenn Systeme kaputt gehen. Im Sommer habe ich beim Festival Klang Moor Schopfe in Appenzell einen interessanten Soundwalk mitgemacht mit dem Schweizer Künstler Marcus Maeder, der gemeinsam mit Wissenschaftler*innen ein spezifisches Mikrofon entwickelt hat, das Biodiversität in Böden – Leben und Aktivität – klanglich erfasst und hörbar macht. Tote Böden, durch Versiegelung oder Umweltschäden verödete Böden oder vertrocknete Moore klingen nicht, da hört man weniger bis nichts. Lebendige, intakte Böden zeitigen eine reiche Klangwelt. Man kann durch diese Methode aber auch feststellen, wie sich Regionen erholen. Maeder benutzt auch ein anderes Mikrofon, das er in Bäume steckt, um den Trockenstress hörbar zu machen, das ist ein rhythmisches Geräusch, ein Knattern. Es geht darum, durch Zuhören die Dringlichkeit erfahrbar zu machen. ITS Mir geht neben dem Verlust, den ihr ansprecht, noch etwas ganz anderes durch den Kopf: Müssten wir nicht erreichen, dass eine solche Vielstimmigkeit auch im menschlichen Zusammenleben möglich wird? Bräuchten wir nicht eine bessere, sozial gerechtere Ordnung, in der tatsächlich jede Stimme zählt? Die Geschichte lehrt uns, dass dies erstritten werden muss! ITS Der große Hunger geht ja immer weiter. Es geht immer wieder um „Landnahmen“, die der Neo-Liberalismus forciert, forcieren muss, weil er immer neue Märkte zu erschließen hat, um zu „wachsen“, um „am Laufen blei-

„Wir hatten den Respekt vor der Natur verloren, die Empathie mit den vielen anderen Lebewesen, hatten uns nur in uns selbst hineinversetzt. Jetzt sterben die Bäume, Vögel und Wespen. Und es wird immer wärmer in unserem Treibhaus. Aber – das darf man nicht vergessen – wir hatten die besten Absichten. Wir wollten mit der Industrialisierung den Hunger der Menschheit stillen und den Wohlstand fördern. Das ist irgendwie schiefgelaufen. Den großen Hunger haben wir überhaupt erst geweckt.“ Walter Zimmermann

absurd ist. Für sie ist es vor allem diese Eigentumsform, die die Naturzerstörung immer weiter beschleunigt. CB: Da ist die Kunst gefragt, indem sie diese Problematik hörbar, erfahrbar macht. Emotionale Berührung passiert ja erstaunlicherweise erst, wenn uns im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser entweder bis zum Halse steht, wie kürzlich im Ahrtal, oder wenn es uns in unserer Gefühlswelt stark anspricht. Ich finde es sehr interessant, dass es sogar einen Begriff dafür gibt: „Solastalgie“. Solastalgie bezeichnet das Gefühl des Verlusts und emotionale Not, die wir empfinden, wenn sich negativ wahrgenommene Umweltveränderungen vor unseren Augen entfalten. Der Begriff wurde von Glenn Albrecht, Professor für Nachhaltigkeit an der Murdoch University in Westaustralien, im Jahr 2005 geprägt. Es sind jetzt nicht mehr wissenschaftliche Fakten, sondern es geht uns an die Substanz. Wir kennen das ja alle, den Unterschied von der intellektuellen Einsicht zu dem, wenn es uns gepackt hat, wir es erleben und mit Wut und Trauer reagieren. Dann können wir unser Verhalten ändern. Wir beschäftigen uns seit einiger Zeit in der Sektion Musik der Akademie der Künste explizit mit dem Thema, und je intensiver wir darüber nachdenken, desto radikaler und katastrophaler stellen wir auch unsere Arbeit in Frage. Insofern brennt es so unter den Nägeln, sich damit zu beschäftigen. ITS Andreas Malm hat darauf hingewiesen, dass unter der Bedingung einer sich erwärmenden Welt die zeitlichen Zusammenhänge Jahrhunderte in die Vergangenheit und in die Zukunft reichen. So sind die heutigen Temperaturen im Nahen Osten Folgen von Verbrennungsprozessen, die zu anderen Zeiten und anderen Orten stattgefunden haben. Können wir Komponist*innen, die wir ja auch Zeitspezialist*innen sind (unsere Kunst entfaltet sich in der Zeit), unsere Kompetenz nicht vielleicht dafür nutzen, diese Zeitdimensionen und Kausalitäten hörbar zu machen? In meinen Arbeiten geht es immer wieder auch um das Zusammenwirken von heterogenem Material aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten und um die Frage, welche Zusammenhänge sich hörend dabei einstellen … CB Solastalgia ist im Übrigen der Titel eines Stückes, das gerade in Zusammenarbeit mit der Geigerin Karin Hellqvist im Elektronischen Studio der Akademie entsteht. Im letzten Jahr haben wir uns Klänge von Eis – schmelzendes Eis, Reibungen der Eisschollen, wie es klingt, wenn Wasser und Luft unter einer dünnen Eisdecke agieren – hin und hergeschickt und Karin hat diese Klänge auf der Geige imitiert. Viele Aufnahmen widmeten sich oft nur einem Aspekt. Das führte zu vielen Einzelspuren, die wir zusammengefügt haben. Wir sind klanglich in das Element Eis hineingekrochen und lassen es durch unsere Ohren sprechen.

auch Bewusstheit für diese globalen Verflechtungen schaffen. Auch die Arbeiten von Christina Kubisch zielen darauf, Unhörbares hörbar zu machen, elektromagnetische Spannungen, wie sie unsere Computer abgeben, oder wie massiv sich die Schifffahrt auf dem Rhein unter Wasser anhört. CB Es gibt viele Kooperationen zwischen der Naturwissenschaft und der Musik, weil unser Ohr, also das künstlerische Ohr, anders wahrnimmt als das naturwissenschaftliche Ohr. Das zeigt sich schon an der Entwicklung der verschiedenen Mikrofonsysteme. Mikrofone sind ja die Verlängerung unserer Hör-Perspektive, und die bestimmen auch die Ergebnisse. Ebenso die Analysewerkzeuge. Insofern gibt es eine Notwendigkeit unserer Ohren.

„RÜMLINGER LANDSCHAFTSOPERN in die Stadt appliziert/transponiert. Etwa Stücke, die für einen Bach oder Fluss der Rümlinger Landschaftsidylle komponiert wurden, auf den Fluss oder Strom des 6-spurigen Verkehrs am ‚17. Juni‘ anwenden. – Im Sinne von: Auch DAS ist Natur! Auch WIR sind Natur. Natur hat konsequenterweise gar keinen Gegenbegriff. Natur ist Unsinn. Im Sinne von: Allein schon den Begriff ‚Natur‘ anzuwenden ist ein Ablenkungsmanöver von den wirklichen Problemen. ‚Keine Menschen, keine Probleme.‘ (Stalin)“ Peter Ablinger

CAROLA BAUCKHOLT, Komponistin, Verlegerin, Intermedia-Künstlerin, ist seit 2013 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik, und seit 2021 Direktorin der Sektion.

ben“ zu können, (obwohl wir wissen, dass dieses Modell eigentlich längst an sein Ende gekommen ist). Dieser „Hunger“ macht tendenziell vor nichts Halt. Nicht vor dem Wasser, nicht vor der DNA, nicht vor der Pflege, nicht vor den Bodenschätzen im entlegensten Naturreservat. Die Philosophin Eva von Redecker beschreibt unser ganz merkwürdiges Eigentumsrecht: Ein Wald darf abgeholzt werden, wenn die Eigentümer es so entscheiden, auch wenn es ökologisch oder sogar ökonomisch

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JG Es ist interessant, dass du das Beispiel mit dem Eis bringst. Die Eisschmelze ist eine unter zahlreichen Umweltveränderungen, die wir nicht direkt erleben. Und zeitlich-räumliche Entfernungen sind bei Berührungen ein Problem. Viele Regionen auf dieser Welt sind schon viel gravierender und existenzieller vom Klimawandel betroffen als wir. Darum können wir die globalen Verflechtungen nicht ausgrenzen, wir müssen sie mitdenken, auch wenn wir sie nicht direkt erleben. Musik kann

IRIS TER SCHIPHORST, Komponistin, Interpretin und Autorin, ist seit 2013 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik, und seit 2021 Stellvertretende Direktorin der Sektion. JULIA GERLACH ist Sekretär der Sektion Musik der Akademie der Künste.

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KRISE, DEPRESSION, OKKULTISMUS UND KOMPONIEREN IN DER ENDZEIT! THE NORWEGIAN OPRA! THE FOLLOWERS OF “Ø”! AUF DEM WEG ZU EINER ÄSTHETIK DES APOKALYPTISCHEN EXISTENTIALISMUS! Trond Reinholdtsen

Komponieren war für mich immer ein Panikakt (der Abgabetermin, die Ideenlosigkeit, die Mitstreiter*innen …), und vielleicht habe ich eine Veranlagung zu einem pessimistischen und alarmistischen Weltbild. Darf ich darauf hoffen, dass mir das eine gewisse ästhetische Kompetenz verleiht, um den ökologischen, sozialen und digitalen Katastrophen unserer Zeit zu begegnen? Wie können wir die Kunst vor der Politik retten? „Krise“ – aus dem Griechischen krisis, „Entscheidung“, wie krinein „entscheiden“. Im Jahr 2012 habe ich (eines) mein(er) (vielen) Krisenstück(e) „Musik“ geschrieben, und die Krise, um die es hier geht, ist natürlich die allseits bekannte „Krise der Musik“. Die Dramaturgie des Stücks schließt verschiedenste vergebliche Versuche ein, die zeitgenössische Musik und die Konzertsituation mit neuem Leben zu füllen. Das Stück baut sich zu einer dramatisierten krisis, einem Moment der Spaltung und Entscheidung auf: ein großes NEIN zur Gesamtsituation des Konzerts, zum standardisierten Verhältnis zwischen Komponist*in und Musiker*in, zum Produktionsapparat des Festivals für Neue Musik, zur Bürokratisierung und Akademisierung der Neuen Musik. Stattdessen formierte sich ein

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neues Genre: „Opra“ – eine eigene Institution, begründet in meinem eigenen Opra-Haus „The Norwegian Opra“ – wo sich (vielleicht) eine utopische Idee purer künstlerischer Freiheit verwirklichen ließe. Um dieses Ziel zu erreichen, bestand meine ursprüngliche Strategie darin, alles selbst zu machen (Komposition, Regie, Bühnenbild, Performance, Ticketverkauf und einziger Gast im Publikum). Zehn Jahre später hat die Institution ein kleines Imperium im schwedischen Wald errichtet, bestehend aus zwei OpraHäusern, einer Opra-Scheune und einer Opra-Wiese sowie einer engagierten Crew von Opra-Superstars. Die OpraSerie „Ø“ umfasst mittlerweile siebzehn Episoden, in denen wir den Rückzug dreier Protagonist*innen von der Welt – vom „Außen“, vom „System“, vom steigenden Meeresspiegel – verfolgen, um uns in Kontemplation und Konzentration auf das sogenannte weltverändernde „Ereignis“ vorzubereiten. Ein Spin-Off nach „Ø“ beginnt: Die „Followers of Ø“. Die „Followers of Ø“ haben alle Folgen der Opernserie „Ø“ gesehen, vielleicht im Internet. Die Followers sind idealisierte Publikums-Prekariat-ProletariatsInterpret:innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Botschaft von „Ø“ in die Praxis umzusetzen und „so zu handeln, dass es keinen Unterschied mehr zwischen Leben und Idee gibt“.

Ich denke, die „Followers of Ø“ verkörpern unter anderem auch das Fantasiebild eines utopischen Universalismus: Die Figuren repräsentieren sozusagen ALLE Ausgestoßenen – die Schwachen, die Dummen, die Alten und die Einsamen. Sie bauen das ständig wachsende Off-Grid-Prepper-Operndorf auf einer Wiese in Schweden auf und konstruierten vor Kurzem eine voll funktionsfähige Outdoor-Air-Conditioned-Geoengineering-Wetter-Maschine, einen Waldbrand-Lösch-Apparat, einen RegenwasserFilter, ein riesiges Popcorn-Anhäufungs-Lager und nicht zuletzt ein privates Kino-Pantheon, in dem die kompletten Ø-Filme ununterbrochen gezeigt werden (weil es einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende der Musikgeschichte).

TROND REINHOLDTSEN, Komponist, ist seit 2021 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik.


Trond Reinholdtsen, Follower: „Wir arme Leut!“, Still aus Followers of Ø, part 1, 2021

Trond Reinholdtsen, Followers: „Ø will be with you until the End of the World“, aus Followers of Ø, part 1, 2021




CARTE BLANCHE „gutes design ist so wenig design wie möglich“ dieter rams, aus: die 10 prinzipien für gutes design

fritz frenkler

es gibt nichts vom menschen geschaffenes, das nicht mit design in verbindung gebracht werden kann. unsere welt ist gestaltet. dies ist vielen menschen nicht bewusst – für sie bedeutet design nur, dinge „schön zu machen”. auch manche designer:innen meinen noch immer, sie müssten „schönes” schaffen, und daran krankt das designverständnis. design ist heute aber viel mehr. es ist mehr als nur die form, die der funktion folgen muss. als designer:innen müssen wir das gesamtsystem, die anwendung und notwendigkeit eines produktes, produktsystems oder einer dienstleistung (produkt) betrachten. wir müssen das bewusstsein für den gesellschaftlichen kontext und die herausforderungen unserer zeit mit technologischen entwicklungen verbinden. es geht darum, gesellschaftlich, ökologisch und menschlich verträgliche produkte zu gestalten, die sich auf unsere mit- und umwelt positiv auswirken. technik kann nicht politisch sein, aber design und es muss stellung beziehen. wir müssen uns gemeinsam der herausforderungen annehmen, die interessen eines angemessenen lebens zu vertreten. dies umfasst nicht nur, gewollte produkte zu erzeugen, sondern unternehmen und organisationen auch klarzumachen, dass ein neues produkt nicht funktioniert und nicht notwendig ist, wenn es sozial fragwürdig oder ökologisch problematisch ist. ökologie (nachhaltigkeit) ist einer der wichtigen faktoren, die bei der entwicklung und herstellung eines produktes zu berücksichtigen sind. in einer modernen gesellschaft, die überfluss und konsum feiert, was zu katastrophalen klimaproblemen führte, sollten reduktion und nachhaltigkeit in den mittelpunkt des gestaltungsprozesses gestellt werden. reduktion wird oft mit zurückhaltung und sparsamkeit in verbindung gebracht. sie führt jedoch nicht zwangsläufig zu einschränkungen, sondern steigert die effizienz und fördert die innovationen. wir müssen keine neuen produkte kaufen, wenn die ersten von guter qualität waren. wir müssen nicht so viel müll erzeugen, das zur verschmutzung von boden und wasser beiträgt, wenn mehr wert auf die materialauswahl in den herstellungsphasen gelegt wird. durch qualitative forschung, hohe funktionalität und nachhaltige ressourcen kann design nur von reduktion profitieren.







allgemein lässt sich die idee der reduktion auch auf den japanischen buddhismus und die philosophie von sen no rikyū zurückführen. diese tradition reiste durch die geschichte bis in die neuzeit und findet sich aktuell in einer vielzahl von feldern wieder – von architektur, produktdesign bis hin zu mode und kunst. zuerst aus japan kommend, von den niederländern nach europa gebracht und manifestiert in den werken von de stijl, bauhaus, vhutemas, hfg ulm und später in den braun-designs von dieter rams. in japan gewann der begriff der reduktion im 20. jahrhundert wieder zunehmend an popularität. einige zeitgenössische vertreter dieses minimalistischen ansatzes sind die designer und architekten shirō kuramata, ken'ya hara, tadao andō, sori yanagi, isamu noguchi, kenzō tange, kishō kurokawa, kengo kuma, shigeru ban, kenji ekuan. am beispiel von zahnmedizintechnologie, die von fritz frenkler und seinen f/p design teams für den japanischen dental-produkthersteller morita entwickelt wurde, sehen wir deutlich die stärke einer formalminimalistischen und nachhaltigen gestaltungsphilosophie, die eine neue generation japanischer und deutscher designer sowie auch andere hersteller inspiriert. mit zunehmender technologischer komplexität der geräte setzt fritz frenkler auf reduktion. das schafft präzision, sinnfälligkeit und klarheit. diese elemente bieten sicherheit bei der verwendung dieser geräte und erhöhen die notwendige hygiene. sie sind leicht zu identifizieren und bieten dem nutzer eine ruhige und übersichtliche behandlungsatmosphäre. dental x-ray / veraview x800 / j. morita. mfg. corporation, kyoto, japan / design by fritz frenkler and f/p design dental handpiece maintenance unit / lubrina 2 / j. morita. mfg. corporation, kyoto, japan / design by fritz frenkler and f/p design intraoral camera / penviewer / j. morita. mfg. corporation, kyoto, japan / design by fritz frenkler and f/p design endomotor with apex locator / triauto zx2 / j. morita. mfg. corporation, kyoto, japan / design by fritz frenkler and f/p design dental treatment unit / soaric / j. morita. mfg. corporation, kyoto, japan / design by fritz frenkler and f/p design

fritz frenkler ist industrial designer, gründer von f/p design mit studios in münchen, berlin und kyoto, emeritus of excellence, technische universität münchen (TUM), vorstandsmitglied der if design foundation, hannover und direktor der sektion baukunst in der akademie der künste, berlin.





KUNSTWELTEN

DIE REISE NACH PORTBOU – TAGEBUCH-AUSZÜGE JEANINE MEERAPFEL

Vom 18. bis zum 23. September 2021 fand die vom Walter Benjamin Archiv und von KUNSTWELTEN lange geplante und wegen der Pandemie immer wieder verschobene Reise mit Abiturientinnen des Berliner Rosa-Luxemburg-Gymnasiums, der Präsidentin der Akademie der Künste, Jeanine Meerapfel, und dem Leiter des Walter Benjamin Archivs, Erdmut Wizisla, nach Portbou statt. Sie reisten mit dem Zug 16 Stunden über Paris und Perpignan an und waren auf dem Rückweg an die 20 Stunden unterwegs. In den Monaten davor hatten sie das Archiv besucht, unter anderem Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, sein Moskauer Tagebuch, Auszüge aus seinem Passagen-Werk und ebenso Berichte von Freunden und Zeitgenossen gelesen, Filme über die Geschehnisse im spanischen Grenzort Portbou gesehen und ZoomGespräche geführt. In Portbou besuchten sie Dani Karavans Passagen-Denkmal, sie sahen das Hotel, in dem Walter Benjamin sich das Leben genommen hatte, um seiner Auslieferung zurück nach Frankreich zuvorzukommen, liefen am 21. September den von seiner Fluchthelferin Lisa Fittko beschriebenen Weg in den Pyrenäen vom französischen Banyuls nach Portbou, den Benjamin am 24. und 25. September 1940 gehen musste. Die Regisseurin Sophie Narr begleitete die Gruppe und drehte einen Reisefilm, der am 2. Mai 2022 in der Akademie der Künste öffentlich vorgeführt wurde.

Der Wind peitscht die Haare ins Gesicht der Fremden. Der Heimkehrenden. Laut pfeift es in den Ohren und rauscht. Ist es das Meer? Das Blut? Dort die Grenze. Dann: grenzenlose Stille. Kein Wind und auch kein Wort. Nur der Atem und am Horizont das stille Meer. Achtsam schließen sich die Augen. Es ist das Blut. In den Pyrenäen, Florentine Osche, 21.9.2021

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TAGEBUCH EINER REISE

Vielleicht doch eine ziemliche Überforderung. 19 minutes de retard – voilà – die Ansagen im Zug sind nur auf Französisch / Keine guten Argumente für die Völkerverständigung.

Berlin, 17. September 2021 Einen Tag vor der Reise frage ich mich, ob ich genug gelesen habe, ob ich genug weiß. Meine Faszination für Walter Benjamin ist viel mehr meine Faszination für seine Lebensgeschichte. Denn oft verstehe ich seine Sätze nicht. Manchmal finde ich sie präzise und sogar komisch: „Gestern haben wir Dings gesehen.“ Sein Freund: „Was für ein Dings?“ W. B.: „Na, den Sonnenuntergang.“ Das Schlimme ist, dass wir W. B. von seinem Tod her betrachten. Hätte er das gewollt? Mich interessiert, warum er sich so wenig mit dem Judentum auseinandergesetzt hat. Warum er nicht auf Gershom Scholems Ideen eingegangen ist. Und warum er es nicht versucht hat, das Judentum für sich zu erobern.

Sonntag, 19. September 2021 In Perpignan machen wir uns auf den Weg zum Centre d’Art Contemporain Walter Benjamin. Nur gibt es das gar nicht mehr. Wir finden nur ein Centre d’Art Contemporain, mit einer ästhetisch nicht überwältigenden Ausstellung eines Malers und Bildhauers im ersten Stock und einer definitiv geschmacklosen Foto-Ausstellung im 2. Stock. Ein schönes Haus. Eine verquere Geschichte. Im Sommer 2020 hatte sich die Akademie der Künste solidarisch erklärt mit den französischen Intellektuellen, die am 30. Juni 2020 mit einem offenen Brief in Le Monde dagegen protestierten, dass der damals neu gewählte rechtsgerichtete Bürgermeister von Perpignan (Rassemblement National) den Namen von Benjamin illegitimerweise benutzte, um sich mit

18. September 2021 Zugfahrt nach Frankreich. Abfahrt frühmorgens um sechs – nicht „meine“ Zeit. Alle – die Schülerinnen, die Lehrer, wir von der Akademie – versammeln sich am Gleis 13. Alle tragen Masken, ich habe Sorge, dass ich sie nicht wiedererkennen werde. Ich trage das dicke Buch bei mir: Begegnungen mit Benjamin, herausgegeben von Erdmut Wizisla. Habe nicht alles gelesen, lange nicht. Im Zugabteil kommt ein Mann auf uns zu. Kerstin und ich sitzen uns gegenüber und reden leise – ich weiß nicht, ob er vielleicht zur Gruppe gehört, schaue ihn also freundlich an. Er sagt zu mir, streng: „Können Sie lesen?“ Ich habe das Buch über Benjamin in der Hand, also sage ich, naiv: „Ja“ (fühle mich gleich schuldig, weil ich nicht alles gelesen habe ...). Der Mann zeigt auf ein Zeichen an der Zugwand: „Ruhebereich, Quiet zone, Area del silenzio, Zone repos …“ Der Mann nickt, mit sich zufrieden („da steht es ja“) mit dem Kopf, dreht sich ab und geht auf seinen Sitz zurück. – Nun ist das Fläschchen mit der Händedesinfektion in meiner Handtasche aufgegangen. Alles ist nass. Auch dieses Tagebuch, aber nur die oberen Ecken. Reisen in Zeiten der Pandemie …

Tagebuchseite

JOURNAL DER KÜNSTE 18

Passagen-Denkmal, Jasmin Schubert

fremden Federn zu schmücken. Glücklicherweise haben die Erben von W. B. dem Bürgermeister untersagt, den Namen zu benutzen. Nun heißt der Ort eben Centre d’Art Contemporain – tout court – und lebt seine unbedeutende Existenz weiter. Starker Wind in Perpignan: Die Mädchen spielen „Papierflieger“ in den offenen Koffer. Zielen. Wir nehmen den Zug nach Portbou. „Ah“ und „oh“, als wir das Mittelmeer sehen. Die Internet-Verbindung in unserem Abteil ist: ‚Frontera 1941‘. Hier in Portbou hat sich W. Benjamin umgebracht, in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1940. Wir fragen am Abend die Schülerinnen, was in ihren Augen der Sinn dieser Reise ist. „Nachempfinden“, sagen sie. Durch die Anstrengung der Reise nachempfinden, was W. Benjamin durchgemacht hat. E. Wizisla bohrt, fragt nach – eine Schülerin, sichtlich bewegt, sagt, ja, nachempfinden, um dann endlich Ruhe zu finden. „Ruhe zu empfinden – “

Passagen-Denkmal, Florentine Osche

Montag, 20. September 2021 Wir gehen gemeinsam zum Gedenkort „Passagen“, sehen die Arbeit von Dani Karavan. Keine Worte können die aufgewühlten Gefühle beschreiben, die dieses Kunstwerk hervorruft. Die Schülerinnen: Einige setzen sich davor, beginnen zu zeichnen. Andere gehen die Stufen herunter bis zur Glasscheibe, wo es nicht mehr weitergeht. Sie sind sehr ruhig. Jede muss selbst mit ihren Gefühlen umgehen. Kaum Gespräche, nur ruhiges Aufnehmen. Nachmittags Bahnhof. Meeting mit Pilar von der Fundación Angelus Novus (nach dem Engel von Klee, den Benjamin so liebte). „… ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ W. B., Über den Begriff der Geschichte (1940) Gesprächsrunde am Abend, die Schülerinnen erzählen, was ihnen bei der Lektüre aufgefallen ist. Die Beschreibungen der Begegnung zwischen Asja Lacis und Walter Benjamin erzählen sie zu zweit. (8 Schülerinnen / 3 Lehrer / 2 Archivare / Marion / Kerstin + ich). Die Schülerinnen lesen Zitate, die ihnen aufgefallen sind. Beschreibungen von Benjamin, insbesondere von Asja Lacis, von Charlotte Wolff, von Lisa Fittko. Sie versuchen, die Psychologie Benjamins zu verstehen. Marion Neumann zitiert Brecht, versucht, das Politische an Benjamin zu unterstreichen.

Dienstag, 21. September 2021 Die Gruppe wird den Weg von W. Benjamin „gehen“. Sie brechen früh auf, ohne mich. Ich traue mir keine 6 Stunden Bergklettern zu. Am Ende waren sie mehr als 8 Stunden unterwegs; sie verloren den Weg, trennten sich, fanden wieder zusammen – Gegen 17 Uhr beginne ich mir Sorgen zu machen … Über WhatsApp beginne ich einen Dialog mit Erdmut Wizisla.

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- „Seid Ihr ok?“ - „Das wissen wir nicht. Oder, besser gesagt: Wir können es erst sagen, wenn wir den Weg wiedergefunden haben. Aber wie geht es dir?“ – - „Mir geht es gut. Bin im Zimmer und schreibe. Aber: habt ihr den Weg verloren? Muss ich mir Sorgen machen? Ihr solltet langsam zurückkommen …“ - „Wir möchten auch gern zurückkommen. Gib uns noch nicht auf. Aber Sorgen musst du dir noch nicht machen.“ - „Jetzt sind alle wieder zusammen. Die Sonne ist aufgegangen und wir bewältigen die letzte Stunde!“ - „Gut! Bitte halte mich auf dem Laufenden.

Skizze, Jasmin Schubert

Letzter Tag in Portbou Wir besuchen die Ausstellung im Bahnhof über das Haus, das als Haus Benjamin aufgebaut werden soll. Eine Stiftung W. B. wird geführt von Pilar. Nach der Besichtigung brauchen wir einen Ort, um uns zu treffen und zu reden. Wir fragen Pilar, ob es in Ordnung ist, wenn wir Plastikstühle nehmen und uns alle auf eine Zugplattform setzen. Kein Problem. Wir sitzen im Halbrund am Ende der alten Plattform. Die Mädchen erzählen = – „Mir ging es so, ich wollte – auch wenn ich nicht bedroht war – runter ans Meer.“ – „Ich fand das überwältigend. Alle waren ruhig an der Grenze“, sagt Elli – den Hund zu ihren Füßen. – „Ich dachte, wir sollten uns noch mehr einfühlen.“ – „Ob ich mich reinfühlen kann … wenn man da ist, ist fragwürdig.“ – „Die Flucht in einen größeren Kontext stellen.“ – „Es ist schön am Mittelmeer, aber …“ – „Wir müssen nicht unbedingt Empathie empfinden.“ – „Extreme Dankbarkeit, ich kann ’ne Art Urlaub machen, und dagegen, was ihm und anderen geschehen ist. – „Ich hab ’ne Art Ruhe empfunden.“ – „ Keiner von uns – zum Glück – ist in der Situation …“ – „Dankbar sein“ – „Ich glaube, es ist im Sinne Benjamins, dass wir darüber nachdenken.“ – „Ich setze mich kritisch mit allem auseinander.“ – „Brücke zur Gegenwart zu schlagen“ – „Warum soll man nicht nüchtern sagen, dass man es nicht nachvollziehen kann.“ – „Sich freuen das Privileg zu haben, nicht verfolgt zu werden“

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Die Reise geht zu Ende

Skizze, Florentine Osche

Sie wollen von mir wissen, an welche Traditionen der jüdischen Religion ich mich halte. Ich erkläre, dass ich zwar nicht gläubig bin, aber an der Kultur des Judentums festhalte. Dass mein Elternhaus jüdisch-liberal war (3-Mal-imJahr-Juden / Juden die zu Pessach, Rosch ha-Schana + Jom Kippur zur Synagoge gehen.) Ich erzähle über Pessach, dass es ein Fest der Befreiung ist. Dass ich die eine oder andere zu Pessach einladen kann … Und da waren alle begeistert = alle wollen mit. Jetzt muss ich sehen, wie ich das nächstes Jahr organisiere. Aber, da verstand ich, in der Schule kriegen sie das alles nicht mit. Wie sollen sie auch? Ohne jüdische Lehrer. Mir war immer klar, dass der große „Gap“ nur in einer Schule mit aktivem Religionsunterricht überwunden werden kann.

Wieder früh, 5.30 Uhr, Abfahrt von Portbou nach Cerbère, wo wir den Zug nach Paris nehmen. Diskussion darüber, ob wir in Paris durch das Viertel Marais gehen (warum?). Niemand will das, mit Gepäck durch die Pariser Straßen laufen. Also entscheiden sich alle, zum von Christo (posthum) verhüllten Arc de Triomphe zu gehen. Wir treffen uns alle am Gare de l’Est wieder, besteigen den Zug nach Frankfurt, wo wir dann ein letztes Mal umsteigen werden in den Zug nach Berlin. Fazit der Reise = es gibt kein Fazit, nur eine weitergehende Erfahrung; ein Wissen, das in den nächsten Tagen und Wochen wachsen, sich verdichten wird.

Skizze, Florentine Osche

Anmerkungen zum Text: Kerstin = Kerstin Diekmann (Persönliche Referentin der Akademie-Präsidentin) Marion = Marion Neumann (Leiterin KUNSTWELTEN – Kulturelle Vermittlung)

JEANINE MEERAPFEL, ist Filmemacherin und Präsidentin der Akademie der Künste.

Skizze, Florentine Osche

Das Unwissen über das Judentum bei diesen Mädchen – die aufgeklärt und aufgeschlossen sind – sind die Schuld und der schreckliche Fehler der Erwachsenen. Was denken die deutschen Kulturplaner und Pädagogen, wie man Antisemitismus bekämpft, wenn kaum lebendiges Judentum erlebt werden kann? Die sollten sich schämen für ihre Dummheit und für ihr Unwissen. Am Abend gehen wir gemeinsam essen, noch einmal auf der Rambla, neben dem Strand, in einer einfachen Bar. Da hatten wir uns mit der Schwester des Besitzers, Mari, angefreundet, und sie gebeten, für uns Paella zu kochen. Was sie tat. Und auch ein paar Portionen gekochtes Gemüse, da die meisten Mädchen nur vegetarisch essen. Das große Thema für diese jungen Frauen ist die Klimapolitik. Das interessiert sie am meisten. Die zwei, die schon 18 sind, werden dieses Jahr zum ersten Mal wählen.


NEUES AUS DEM ARCHIV Gerhard Leo mit seinem Vater Wilhelm Leo vor der Buchhandlung LIFA (Librairie Française Allemande) in der Rue Meslay, Paris, ca. 1934

Carsten Wurm

EINE JUGEND IM EXIL SPURENSUCHE IM GERHARD-LEO-ARCHIV

Urkunde, mit der dem Schüler Léo Gérard von seiner Schule gute Leistungen bescheinigt werden, 1934

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Der Weg, den der spätere Journalist Gerhard Leo durch das Exil ging, ist seit dem Erscheinen seiner Autobiografie Frühzug nach Toulouse (1988, franz. 1989) und den familiengeschichtlichen Büchern seines Enkels Maxim Leo, Haltet euer Herz bereit (2009) und Wo wir zu Hause sind (2019), bekannt. Er führte vom kleinen brandenburgischen Rheinsberg nach Paris und Toulouse und dort in die Reihen der Résistance. Nach der Einrichtung des Gerhard-Leo-Archivs können nun die einzelnen Wegmarken dokumentarisch belegt werden. Die wenigen, aber aussagekräftigen Papiere und Fotos ergänzen das Gesamtbild vom Exil in Frankreich um wichtige Facetten. Da ist zunächst eine Urkunde, mit der dem Schüler Léo Gérard – so die französische Schreibweise – von seiner Schule gute Leistungen im November 1934 bescheinigt wurden. Gerhard Leo war 11 Jahre alt und besuchte die französische Schule erst seit gut einem Jahr. Im September 1933 war er mit den Eltern nach Paris gekommen, ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Anfangs hatte er sich der neuen Sprache sogar verweigert, weil er wieder nach Rheinsberg zurückwollte, in das schöne Haus mit Garten am See und zu seinen Freunden. Jetzt war er darin so weit, dass er belobigt wurde. Später sollte Gerhard Leo als Journalist ebenso gut französisch wie deutsch schreiben. Die Familie floh nach Frankreich, weil der Vater Wilhelm Leo, ein bekannter Rechtsanwalt aus einer assimilierten jüdischen Familie, als Gegner des Nationalsozialismus hervorgetreten war. So hatte er 1927 einen Rechtsstreit gegen Joseph Goebbels gewonnen. Der damalige Gauleiter von Berlin hatte behauptet, dass er 1920 während der Rheinlandbesetzung von französischen Militärangehörigen gefoltert worden sei und davon die Behinderung am Bein davongetragen habe. Wilhelm Leo legte dem Gericht eine beglaubigte Abschrift der

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Militärpapiere von Goebbels vor, die seine Befreiung vom Dienst im Ersten Weltkrieg wegen Klumpfuß bescheinigten. Die Familie ging davon aus, dass Wilhelm Leo deshalb 1933 nach dem Reichstagsbrand ins KZ Sachsenhausen verschleppt wurde. Nach neueren Forschungen spielte wohl Leos lokalpolitisches Engagement gegen die Nationalsozialisten eine stärkere Rolle. Ohne Aussicht auf Beschäftigung im französischen Justizwesen gründete Wilhelm Leo 1934 in Paris, Rue Meslay, eine Buchhandlung. Ein Foto im Gerhard-LeoArchiv zeigt den stolzen Buchhändler mit seinem Sohn Gerhard vor dem Laden stehend. In drei Fenstern und im Türrahmen sind Bücher ausgelegt und Zeitungen aufgehängt. Das große Ladenschild offenbart, dass der Buchhandlung mit dem Namen LIFA (Librairie Française Allemande) auch eine Papierhandlung und eine Leihbücherei angeschlossen waren. Die Einrichtung und Unterhaltung finanzierte ein Cousin Wilhelm Leos, der Generaldirektor der heute noch bekannten Mineralwasserfirma Perrier war. Die fünfköpfige Familie wohnte anfangs in der Buchhandlung, in einer Kammer und im Flur, bis der Cousin bei einem Besuch die Lage kennenlernte und zusätzlich die Anmietung einer Wohnung ermöglichte. Wilhelm Leo erwies sich für das merkantile Leben als ziemlich ungeeignet. Seine Frau Frieda hatte ihre Not mit ihm; am liebsten hätte er die Bücher behalten. Dennoch wurde die Buchhandlung zu einer wichtigen Adresse für das deutschsprachige Exil, weil Wilhelm Leo für den Schutzverband Deutscher Schriftsteller ehrenamtlich als Justiziar tätig war und seinen Laden für Zusammenkünfte und Veranstaltungen zur Verfügung stellte. Die Kinder – Gerhard und seine beiden älteren Schwestern Ilse und Edith – erinnerten sich an Besuche von Heinrich Mann, Anna Seghers sowie Egon Erwin Kisch, der sie mit Zauberkünsten verblüffte und zusammen mit anderen Kindern von Emigranten in französischer Geschichte unterrichtete. Diese antifaschistische Tätigkeit half der Familie Leo wenig gegenüber den französischen Behörden. Nach Kriegsausbruch galten auch die politischen Flüchtlinge aus Deutschland als „feindliche Ausländer“. Die Staatsanwaltschaft des Départments de la Seine beschlagnahmte mit amtlichem Bescheid vom 29. November 1939

Beschlagnahmung der Buchhandlung von Wilhelm Leo, 1939

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die Buchhandlung. Die Familie wurde getrennt und bis auf den noch nicht volljährigen Sohn sowie die ihn betreuende Mutter zeitweise interniert. Der Vater und die ältere Schwester, die in den noch unbesetzten Süden Frankreichs entkommen waren, fanden später in einer kirchlichen Einrichtung Schutz. Die Mutter und die jüngere Schwester dagegen wurden von der Besatzungsmacht in Paris zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen, wo sie in Hamburg bei der Großmutter Aufnahme fanden. Gerhard Leo floh ebenfalls in den Süden und kam in einem Heim für jüdische Kinder unter. Eine Aufenthaltsgenehmigung für den „nichtarbeitenden“ Flüchtling vom 6. Februar 1941 bescheinigt Leo Gérard, dass er in Limoges, Schloss Montintin, Gemeinde Château-Chervix lebt.

Bericht über die Befreiung von Gerhard Leo, 1944

Aufenthaltsgenehmigung für den „nichtarbeitenden“ Flüchtling Leo Gérard, 1941

Dort befand sich das von der Hilfsorganisation OSE (Œuvre de secours aux enfants) betriebene jüdische Heim, in dem er die Schule besuchte und eine Schusterlehre begann. Einer Razzia im Kinderheim entging er zunächst, wurde dann doch festgesetzt und sollte nach Deutschland deportiert werden. Doch ein von der Mutter vorsorglich geschickter Auszug aus dem evangelischen Taufregister Berlin-Charlottenburg, 17. Februar 1942, half gegenüber dem französischen Beamten, für den er damit nichtjüdisch war. Der Vater Wilhelm Leo galt nach den Nürnberger Gesetzen als jüdisch, war jedoch schon als Kind getauft worden. Seine Schwester Ilse hatte inzwischen einen Partner, einen österreichischen Arzt, der im Kontakt zum kommunistischen Widerstand stand. 19-jährig suchte Gerhard Leo mit dessen Hilfe Anschluss an die Organisation Travail Allemand, die unter der Regie der Résistance arbeitete. In deren Auftrag fand er unter einer elsässischen Identität Arbeit in der Transportkommandantur Toulouse der Wehrmacht und berichtete der Résistance von dort über Militärtransporte. Als er aufzufliegen drohte, wechselte er unter anderer Identität nach Castres, wo er Flugblätter herstellen und über die Mauer in eine deutsche Kaserne werfen half und in waghalsigen Aktionen Wehrmachtsangehörige in Diskussionen für den Widerstand gewinnen sollte. Er wurde verraten, von der Abwehr verhaftet und vor Gericht gestellt. Wäh-

rend des Transports nach Paris, wo ihm in einem weiteren Prozess die Todesstrafe drohte, wurde Leo am 3. Juni 1944 auf dem Bahnhof Allassac durch einen glücklichen Zufall befreit: Eine Freischärler-Einheit hatte einen anderen Zug überfallen und war dabei auf den Waggon mit seinen Bewachern aufmerksam geworden. Eine Flugschrift der Résistance vom Oktober 1944 berichtet über das Ereignis und nennt Gerhard Leo erstmals „Le Rescapé“, den Davongekommenen – fortan sein Kampfname, der ihm in Frankreich bis zu seinem Lebensende die Türen öffnen sollte. Gerhard Leo blieb bei der Truppe, die ihn befreit hatte, und wurde damit Angehöriger der Francs-Tireurs et Partisans (Freischärler und Partisanen), zuletzt im Rang eines Leutnants. Man setzte ihn hauptsächlich als Dolmetscher ein, doch er musste auch von der Waffe Gebrauch machen. Ein im Archiv vorhandener Ausweis bescheinigt Leo am 15. September 1944, dass er Frontbeauftragter des Komitees „Freies Deutschland“ für den

Ausweis des Komitees „Freies Deutschland“ für den Westen, 1944, Ausschnitt


Gerhard Leo als Leutnant der „Francs-Tireurs et Partisans“ (Freischärler und Partisanen), ca. 1944

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Westen ist. Ein nur als Reproduktion überliefertes Foto aus dieser Zeit zeigt einen strahlenden jungen Mann in Kampfanzug mit Barett auf dem Kopf, bei dessen Betrachtung leicht übersehen werden kann, wie ernst und opferreich die Kämpfe in den letzten Monaten der Besatzungszeit waren. Gerhard Leo nahm an Partisanenaktionen teil, mit denen die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 unterstützt wurde. Die Scharmützel verzögerten die Verlegung der deutschen Truppen an die kriegsentscheidende Front im Norden. Dabei verlor Gerhard Leo einen neu gewonnenen Freund, Oberleutnant Michel, der von einer SS-Einheit festgenommen und in Tulle gehenkt wurde. In Oradour ganz in der Nähe kam es zu dem berüchtigten Massaker unter der Zivilbevölkerung. Die gesamte Familie Leo erlebte unversehrt das Kriegsende. Gerhard Leo schrieb am 10. Mai 1945 erstmals an Mutter und Schwester in Hamburg und kündigte ihnen seine Rückkehr nach Deutschland an. Auch Wilhelm Leo freute sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau und der jüngeren Tochter und hoffte in Hamburg auf eine Anstellung als Richter. Aus einem zweiten, auf Januar 1946 datierten Brief von Gerhard Leo geht hervor, was dann geschah. Wilhelm Leo hatte nahezu alle Papiere beieinander und verbrachte die Wartezeit gemeinsam mit der älteren Tochter und dem ersten Enkelkind in einem Pariser Quartier. Er war im Vorstand des Komitees „Freies Deutschland“ für den Westen tätig, wo es nach Kriegsende darum ging, die NS-Verbrechen aufzuklären, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Öffentlichkeit über die jüngste Vergangenheit aufzuklären. Es gelang ihm sogar, die Beschlagnahmung seiner Buchhandlung aufheben zu lassen und die Bestände zu verkaufen. Er hatte die 45.000 (alter) Franc gerade erhalten, als er am 11. November 1945 Karten für ein Konzert holen wollte. Doch auf dem Weg erlitt er einen Herzschlag, an dem er noch am gleichen Tag starb. Die weitere Laufbahn von Gerhard Leo ließe sich mit anderen Dokumenten detailliert belegen, beginnend mit seinem Mitgliedsausweis der KPD, ausgestellt in Düsseldorf am 12. Mai 1946. Doch hier seien nur einige Wegmarken genannt. Gerhard Leo wurde Journalist, erst bei der KPD-Zeitung Freiheit in Düsseldorf, dann nach dem Wechsel in die DDR bei ADN und Neues Deutschland, für das er in den 1970er- und 1980er-Jahren Korrespondent in Paris werden sollte. Er war 1961 Sonderkorrespondent beim Eichmann-Prozess in Jerusalem und 1979 unmittelbar nach dem Sturz der Roten Khmer in Kambodscha. 2004 wurde er von Präsident Jacques Chirac in Anerkennung seiner Verdienste in der Résistance zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.

CARSTEN WURM ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Literaturarchiv der Akademie der Künste.

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Brief von Gerhard Leo an Mutter und Schwestern in Hamburg, vom 2. Januar 1945 (recte 1946), mit dem Bericht vom Tod des Vaters kurz vor seiner Heimkehr nach Deutschland

Das Gerhard-Leo-Archiv, das 4 lfm. umfasst, beinhaltet neben Werkmanuskripten, Korrespondenz, biografischen Dokumenten und Fotos vor allem Familienpapiere, die bis in das Jahr 1831, zu einem Brief von Alexander von Humboldt, zurückreichen. Es enthält beispielsweise Dokumente zum Lebensweg von Gerhard Leos Vater, dem Rechtsanwalt Wilhelm Leo, der im Pariser Exil Buchhändler wurde, und Briefe aus dem Zuchthaus von Leos Schwiegervater, Dagobert Lubinski, einem Publizisten und führenden Mitglied der Kommunistischen Partei-Opposition, der wegen Hochverrats verurteilt und 1943 in Auschwitz ermordet wurde.


MILEIN COSMAN Anna Schultz

GEZEICHNETE SCHNAPPSCHÜSSE

Milein Cosman und Hans Keller, 1961

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Helene Weigel als Mutter Courage, 1956

Thomas Mann, 1947

Joseph Beuys, 1983

Igor Strawinsky , o. J.

Strawinskys Hinterkopf, 1960er-Jahre

Wilhelm Furtwängler, 1980er-Jahre

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Hans Keller, o. J.

Milein Cosman war geradezu besessen davon, stets und überall Stift und Zeichenblock bei sich zu tragen. Bei jeder Gelegenheit, den fast täglichen Konzert- oder Theaterbesuchen, Pressekonferenzen, aber auch bei Begegnungen mit Freund*innen oder Nachbar*innen zeichnete sie ohne Unterlass oder Scheu. Ihre Werke, vornehmlich Porträts, von denen sie der Kunstsammlung der Akademie der Künste kurz vor ihrem Tod eine so wunderbare wie umfangreiche Auswahl schenkte, dienen als beständige Zeugnisse des Erlebten, ihrer vielen Exkursionen und Begegnungen. Mit dem Nachlass von John und Gertrud Heartfield, die eine langjährige Freundschaft mit Milein Cosman verband, gelangten bereits zu DDRZeiten mehrere Zeichnungen und Druckgrafiken in die Kunstsammlung der Akademie der Künste. Es handelt sich vornehmlich um Zeichnungen der Heartfields und deren geliebter Katzen, die während des englischen Exils in den 1940er-Jahren und eines Besuchs 1968 entstanden waren. Beide Werkkonvolute formen ein eindrucksvolles Panorama der Londoner Kulturszene der Nachkriegsjahre, insbesondere des von Exilant*innen geprägten kulturellen Lebens im Londoner Stadtteil Hampstead, wo Milein Cosman eingebunden in einen großen Freundeskreis von 1946 bis zu ihrem Tod 2017 lebte. Geboren wurde sie 1921 als Emilie Cosman in Gera. Ihre Kindheit verbrachte Milein, wie sie von allen genannt wurde, zunächst in Düsseldorf und dann auf dem reformpädagogischen Internat École d’Humanité in der Schweiz. Zum Kunststudium ging sie 1939 nach England, wohin ihre jüdische Familie bereits 1938 vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geflohen war. Nach dem Studium arbeitete sie als Illustratorin für Sach- und Kinderbücher, aber auch für verschiedene Illustrierte und war bald bekannt als eine der führenden Porträtistinnen Englands. 1947 traf sie ihren zukünftigen Mann, den Musikwissenschaftler und -kritiker Hans Keller (1919– 1985), dessen markante Züge in ihr schon bei der ersten Begegnung, wie sie ihrem Freund Peter Black gestand, den Wunsch weckten, ihn zu zeichnen. Bis zu

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Aufgeschlagene Seite des Skizzenbuchs, rechts ein Selbstporträt, 1952

seinem Tod blieb er eines ihrer liebsten Modelle; hunderte Male zeichnete, malte, radierte und modellierte sie seinen Kopf. 1949 wurde sie von der Zeitschrift Heute eingeladen, nach Bonn zu reisen, um Porträts des ersten Nachkriegskabinetts von Bundeskanzler Konrad Adenauer anzufertigen. Rund 60 dieser Zeichnungen vermachte Milein Cosman der Kunstsammlung des Deutschen Bundestags. In ihren aufmerksamen und einfühlsamen Bildnissen „erkennt“ Cosman nicht nur einschlägige Charakteristika der Dargestellten, sondern bannt sie so gekonnt aufs Papier, dass sie die jeweilige Persönlichkeit in Essenz abbilden. Das besondere Interesse der Künstlerin galt bis zuletzt deutschen Kulturschaffenden. Als sie 1956 in London ein Gastspiel des Berliner Ensembles besuchte, war sie von der Darbietung Helene Weigels begeistert. Mit wenigen Strichen und ohne viele Details gelang es ihr, die Schauspielerin in ihrer Paraderolle als Mutter Courage einzufangen. Die Nervosität von Beuys, natürlich mit Hut, 1983 auf einer Pressekonferenz im Londoner Victoria and Albert Museum anlässlich einer Ausstellungseröffnung, übertrug sich in die ungewohnt zitternde Linie des Filzstiftes. Nicht nur der Beziehung zu ihrem Mann ist Mileins Faszination für Musik, genauer gesagt Musikern, geschuldet: Ihren Freund und Nachbarn, den Pianisten Alfred Brendel, zeigte sie in symbiotischem Einklang mit dessen Instrument, und die schwungvollen Posen des Cellisten Mstislaw Rostropowitsch wusste sie ebenso geschickt abzubilden wie die Eleganz von Wilhelm Furtwänglers dirigierender Hand, die den Taktstock so kontrolliert wie sanft bewegt und in Kontrast zu dessen dem Orchester entrückten, nach oben gerichteten Blick steht. Persönliche Sympathie ist hier wohl weniger auszumachen als Bewunderung für das Können des Maestros. Eine intensive Auseinandersetzung mit einer Person und Respekt für deren Arbeit zeigen sich besonders in den vielen Darstellungen Igor Strawinskys, von denen einige als Illustrationen für ein Buch genutzt wurden, für das Hans Keller den Text lieferte. Wenn Strawinsky die nicht abgebildeten

Musiker*innen wie ein Magier beschwört, wirkt das Blatt als Resonanzkörper. Aber auch Humor ist auszumachen: Selbst von hinten ist der Komponist unfehlbar an seiner Glatze zu erkennen. Auch Schriftsteller nehmen im Œuvre von Milein Cosman eine prominente Rolle ein: Erich Kästner, Friedrich Dürrenmatt, Elias Canetti – sie alle wurden von ihr auf Papier festgehalten. Thomas Mann, dessen Werk sie sehr verehrte, zeichnete sie am 25. Mai 1947 sichtlich ermattet auf seiner ersten Europareise nach dem Krieg kurz nach dem Erscheinen des Romans Doktor Faustus, als er gerade einen Konflikt mit Furtwängler über dessen Wiederzulassung zur Berufsausübung austrug. Cosmans gezeichnete Schnappschüsse spiegeln das kulturelle Leben der Nachkriegszeit. Als markante visuelle Spuren sind sie zudem wertvolle Zeitdokumente, die die Dargestellten in Zeit und Raum verorten.

ANNA SCHULTZ ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kunstsammlung der Akademie der Künste.

Eine Ausstellung, die in Kooperation mit der Kunstsammlung des Deutschen Bundestags entstand und am 31. März im Reichstagsgebäude eröffnet wurde, zeigte bis zum 20. Mai 2022 anlässlich des 101. Geburtstages der Künstlerin Porträts aus Politik und Kunst, die Cosman dem Deutschen Bundestag und der Akademie schenkte (www.kunst-im-bundestag. de). Eine Werkauswahl findet sich in einem digitalen Schaufenster (https://digital.adk.de/milein-cosman/ ) und einer Begleitbroschüre zur Ausstellung: Milein Cosman, Porträts aus Politik und Kunst – Zwischen Londoner Exil und Bonner Republik, hrsg. v. Andreas Kaernbach und Anna Schultz im Auftrag des Kunstbeirates des Deutschen Bundestages und der Akademie der Künste, Berlin

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NEUES AUS HOLLYWOOD Andrea Clos

DAS ARCHIV VON FRIEDRICH HOLLAENDER (1896–1976) Wie kaum ein anderer prägte der Komponist Friedrich Hollaender mit seinen Melodien, Texten und Revuen die „Goldenen Zwanziger“. In Max Reinhardts Kabarett Schall und Rauch begleitete er berühmte Diseusen wie Trude Hesterberg, Rosa Valetti oder Grete Mosheim am Klavier, mit Anfang 20 komponierte er für Else Lasker-Schüler die Bühnenmusik zu ihrem Stück Die Wupper, sein 1931 gegründetes Tingel-Tangel-Theater in Berlin-Charlottenburg war legendär, für Marlene Dietrich schrieb er den Welthit aus dem Blauen Engel. Werner Richard Heymann, selbst Komponist, rühmte ihn als „Fridericus Hollaender, / den Rex der Dur- und Molländer. / Der Kleinkunst größter Vollender!“.

Friedrich Hollaender vor seiner Büste, um 1931

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Seit 1994 ist das Archiv des Komponisten und Texters – nicht zuletzt eine Fundgrube herausragender Quellen zum Kabarett der 1920er- und 1930er-Jahre – an der Akademie der Künste angesiedelt. Zum 100. Geburtstag wurde er 1996 mit einer Ausstellung, einer Publikation und einer CD geehrt, seitdem ist der Nachlass auch für die wissenschaftliche Forschung im Lesesaal und online unter https://archiv.adk.de zugänglich. Das Interesse ist groß, immer wieder werden Notenmanuskripte, Drucke, handschriftliche Aufzeichnungen und Fotos von Friedrich Hollaender und seinen Zeitgenossen eingesehen, zitiert und veröffentlicht. Eine besondere Rolle nimmt in diesem Kontext Alan Lareau ein, Professor an der University of Wisconsin Oshkosh und ausgewiesener Kenner der Geschichte des Kabaretts. Über viele Jahre hat er den Nachlass genutzt und als Bindeglied zwischen Archiv und Forschung fungiert. In aufschlussreichen Gesprächen und Publikationen teilte er Wissenswertes und neue Recherchen mit, zuletzt 2014 mit einer Publikation über den ebenso berühmten Vater von Erich Hollaender, Victor Hollaender. Die Jüdische Allgemeine rezensierte das Buch Revue meines Lebens: Erinnerungen an einen Berliner Unterhaltungskomponisten um 1900 mit folgenden Worten: „Hollaenders Namen vor dem Vergessen zu bewahren, dieser noblen Aufgabe hat sich Herausgeber Alan Lareau mit großem Erfolg angenommen. […] Entstanden ist ein Blick in gleich mehrere untergegangene Welten. Jubelnder Applaus.“ Dem Kontakt zu Alan Lareau verdankt das AkademieArchiv auch eine wichtige Ergänzung des Friedrich-Hollaender-Nachlasses. Als Mittelsmann zu dessen Tochter Melodie sorgte er 2021 dafür, dass ein wichtiger Teil der im Familienbesitz verbliebenen Dokumente, Noten, Filme und Bilder nach Berlin gelangte. Er fuhr nach Los Angeles, packte die Kisten für das Archiv und beschrieb akribisch den Inhalt der einzelnen Kartons. Die Tochter aus der dritten Ehe des Musikers mit der Schauspielerin Leza Hay hatte nach der Übergabe im Jahre 1994 noch einen Teil der Materialien in ihrem Haus in Los Angeles behalten. Wie wertvoll dieser Teil war, stellte sich allerdings erst Jahre später heraus. Nicht selten geschieht es, dass bei einem Umzug der Erben Material verloren geht, wenn nicht, wie in diesem Fall, ein umsichtiger Forscher seine Kontakte geltend macht und Hinterlassenes rettet. Und von Rettung kann man hier wirklich sprechen. So sind mehrere 16mm-Filmrollen aus dem Nachlass von Friedrich Hollaender teilweise in Zersetzung begriffen. Der starke Essiggeruch aus den Verpackungen der Filme lässt darauf schließen, dass Eile geboten ist. Durch Feuchtigkeit oder Hitze lösen sich die Acetylgruppen von der Zellulosekette und verbinden sich mit Wasser zu Essigsäure. Die Filme schrumpfen und werden spröde. Derzeit werden die gefundenen acht Filme daher restauratorisch behandelt und digitalisiert. Man darf gespannt sein, was sich hinter einer Beschreibung wie „in Woodrow Wilsons house“ verbirgt, immerhin war er der 28. Präsident der Vereinigten Staaten. Alle Filme stammen aus der Zeit der Emigration Hollaenders, die 1933 begann. Mit seiner zweiten Ehefrau Hedi Schoop konnte der „nichtarische“ Künstler nach einer rechtzeitigen Warnung vor der Gestapo zunächst nach Paris fliehen. Dort blieb das Paar für etwa ein Jahr in der großen deutschen Emigrantengemeinde. 1934 zog es nach Hollywood. Die Zeit in Amerika war für Hollaenders Karriere enorm wichtig. Ein amerikanisches Tingel-Tangel entstand, in

JOURNAL DER KÜNSTE 18

Hollywood konnte er nach anfänglichen Schwierigkeiten an seine Filmkarriere anknüpfen, die bereits 1929 mit den Kompositionen zu Josef von Sternbergs Der blaue Engel begonnen hatte. Er komponierte wieder Songs für Marlene Dietrich und wurde vier Mal für den Oscar nominiert. Die über viele Jahre unbeachteten Filmdosen beinhalten vermutlich überwiegend private Sequenzen mit Friedrich Hollaender, den Geschwistern Paul, Hedi und Trudi Schoop, den Eltern Victor und Rosa Hollaender sowie Freunden wie dem Filmregisseur Ernst Lubitsch und dem Filmschauspieler Ernö Verebes, der an der Seite von

Unrestaurierte Filmrolle Aufschrift: Hedis Heads 1932–1935

Gustaf Gründgens und Lil Dagover in zahlreichen Filmen der 1930er-Jahre brillierte. Hedi Schoop und deren Schwester Trudi traten als Tänzerinnen und Kabarettistinnen schon in Hollaenders Tingel-Tangel in Berlin auf, zahlreiche Fotos der beiden sind nunmehr im Archiv zu finden. Hedi wandte sich später der Bildhauerei zu und wurde mit ihrer künstlerischen Gebrauchskeramik zu einer Pionierin der „California Pottery“ in den USA. Sie schuf 1931 auch die bisher unbekannte 26 Zentimeter hohe Gipsbüste von Friedrich Hollaender, die nun Eigentum des Archivs geworden ist. Das Paar Hollaender-Schoop trennte sich allerdings bald, 1943 heiratete Hedi Schoop Ernö Verebes. Die neu hinzugekommenen Dokumente geben auch Einblicke in die Familiengeschichte. Hollaender wurde in eine jüdische Familie von Künstlern hineingeboren. Der Vater Victor, Komponist, Kapellmeister und Theaterleiter, war einer der erfolgreichsten Unterhaltungsund Operettenkomponisten und Mitbegründer des modernen Kabaretts und Revuetheaters. Onkel Gustav war Dirigent und Onkel Felix ein erfolgreicher Schriftsteller, Kritiker, Dramaturg und Regisseur. Ebenfalls im Konvolut überlieferte Materialien belegen die Entstehung des Familiennamens. Durch das preußische Emanzipationsedikt von 1812 waren die jüdischen Großeltern Sigmund Benjamin Rachel und Renette Rachel amtlich verpflichtet, einen neuen Namen anzunehmen. Ab dem 15. Juli 1837 hießen sie Hollaender. Notizen von Melodie Hollander (der Buchstabe „e“ im Namen fiel nach der Emigration ihres Vaters nach Amerika weg) und Briefe ihrer Verwandten belegen im Fall der Tante Elise Felicitas Hollaender und ihres Mannes Siegmund Stöckel (Samuel Nuchem Steckel) deren Tod in Auschwitz 1942. Die Stolpersteine für die Familie Stöckel befinden sich heute in der Fregestraße in Ber-

lin. Zwei Kinder des Dirigenten Gustav Hollaender fanden im Getto in Litzmannstadt beziehungsweise in Auschwitz ebenfalls den Tod. Friedrich Hollaender kehrte 1954 nach Deutschland, zunächst nach München, zurück. Autografen seiner späten Kompositionen Scherzo, 1956 in Hamburg erfolglos aufgeführt, und Adam und Eva bereichern die Werkhinterlassenschaft. Textfragmente, Notizen und Orchestrierungen sind aufgearbeitet und für die Forschung bereitgestellt. Unbekannte Fotoserien von Hollaender und seinen verschiedenen Familienmitgliedern illustrieren seinen Lebensweg, Filmfotos u. a. zum Blauen Engel sein Schaffen. Interessant, wenn auch etwas mühselig zu lesen, ist die in Akten überlieferte Korrespondenz um die Rechte an Hollaenders Songs und Bühnenwerken mit den einzelnen Musikverlagen. Amüsant die Korrespondenz seines Münchner Rechtsvertreters Wolfgang Börner, der die etwas säumige Zahlungsmoral seines Klienten bei Anschaffungen aller Art freundlichst auszugleichen sucht. Nach Hollaenders Tod kämpfte seine Tochter Melodie 18 Jahre lang für die Ehrung ihres berühmten Vaters durch die Benennung einer Straße in Berlin. Die Archivverhandlungen wären in den frühen 1980er-Jahren fast an der Weigerung der Berliner Politik gescheitert, eine solche Straßenbenennung zu ermöglichen. 2012 endlich wurde unweit des Kurfürstendamms der Rankeplatz in Wilmersdorf in Friedrich-Hollaender-Platz umbenannt, eine Gedenksäule wurde enthüllt. Im Archiv der Akademie wiederum lassen sich in fast 500 Einzeldokumenten die hier geschilderten Vorgänge nachlesen und Zusammenhänge rekonstruieren.

ANDREA CLOS ist Archivarin im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste.

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FUNDSTÜCK „EINE KLEINE DISKRETE FEIERLICHKEIT“ DIE WIEDERERÖFFNUNG DER VILLA SERPENTARA IN OLEVANO

Anneka Metzger

„Wegen der angespannten finanziellen Lage der Akademie der Künste bitte ich, von dieser Einweihungsfeier Abstand zu nehmen“, heißt es in einem Schreiben von Gerhard Boeddinghaus, Senat für Volksbildung, an die Akademie der Künste am 4. September 1961. Gemeint war die geplante Wiedereröffnung der Villa Serpentara in Olevano bei Rom, die der Akademie nach einer langen Unterbrechung erneut als Künstlerresidenz zur Verfügung stehen sollte.

Villa Serpentara, Olevano, 1961, Foto von Adrian von Buttlar

Anfang des 19. Jahrhunderts war der als Ideallandschaft empfundene Landstrich zwischen Subiaco und Palestrina in den Sabiner Bergen von Künstlern aus verschiedenen europäischen Ländern entdeckt worden. Romantiker von Joseph Anton Koch über Franz Theobald Horny und Julius Schnorr von Carolsfeld bis Carl Blechen hatten dort ihre Staffeleien aufgestellt. Der Initiative von deutschen Künstlern rund um den Karlsruher Landschaftsmaler Edmund Kanoldt war es im Jahr 1873 zu verdanken, dass der Steineichenwald in Olevano, „die Serpentara“, erhalten werden konnte. Sie verhinderten die drohende Abholzung in einer spontan organisierten Rettungs- und Spendenaktion, das hügelige Gelände mit einem Baumbestand von 98 Eichen ging für 2.350 Lire an die Künstler über. Um das Grundstück langfristig zu sichern, schenkten sie es dem Kaiser, der es der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin anvertraute. Für die Überwachung vor Ort war ab den 1890er-Jahren der in Rom lebende Bildhauer Heinrich Gerhardt zuständig. Er war es, der, nachdem die Kaiserliche Botschaft in Rom eine Bebauung untersagt hatte, direkt neben dem Eichenhain ein Grundstück kaufte und darauf eine „Schutzhütte“ mit Künstler-Ateliers erbaute. Gerhardt vermachte Grundstück und Villa schließlich testamentarisch der Akademie, die nach seinem Tod 1915 das Erbe antrat. Seither konnte sie Künstler zu Arbeitsaufenthalten nach Olevano entsenden, mit Unterbrechungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Und seither war die Akademie der Künste mit einer „Liegenschaft“ betraut, die unablässige Korrespondenz zwischen Rom und Berlin und nicht enden wollende Maßnahmen erforderte: Es musste ausgebessert und saniert werden, Geldforderungen und Auslandsüberweisungen gingen hin und her, Feuer- und Haftpflichtversicherungspolicen wurden fällig, die Zisterne musste instand gesetzt und gewartet werden, Öfen mussten angeschafft, Verträge mit dem Verwalter abgeschlos-

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sen, die Oliven- und Weinernteerträge mit der Kustodenfamilie vereinbart, Brennholz beschafft und Schädlinge bekämpft werden, das Wegerecht durch den Eichenhain musste geregelt, Steinmauern mussten erneuert werden. Hausordnungen wurden aufgesetzt und über die Jahre unzählige Inventarlisten erstellt, in denen bis zur letzten Gabel alles aufgeführt wurde. 1945 wurde die Villa Serpentara von den Alliierten beschlagnahmt. In den 1950er-Jahren fanden langwierige, in den Akten des Historischen Archivs gut dokumentierte Rückgabeverhandlungen statt, da die Rechtsnachfolge der Preußischen Akademie der Künste für die Villa Serpentara und die Villa Massimo in Rom strittig war. 1956 wurde schließlich, in der Folge des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien unterzeichneten bilateralen Kulturabkommens, die Rückgabe der Villa beschlossen. In den darauffolgenden Jahren wurde das heruntergekommene Haus inspiziert und notdürftig instandgesetzt. Ab Herbst 1961 sollte, so der Wunsch der Akademie und des Senats für Volksbildung in Berlin, die Villa endlich wieder von Künstlern bewohnt werden. Dem stand die fragwürdige Statik des Gebäudes entgegen wie auch ausstehende, unbedingt notwendige „Unterhaltungsarbeiten“ und die fehlende Einrichtung. Im Frühsommer 1961 nahm sich Maria von Buttlar, die Frau des Generalsekretärs der Akademie der Künste, Herbert von Buttlar, der Villa an. Sie reiste nach Rom, wo es ihr innerhalb weniger Wochen gelang, die „vorläufige Bewohnbarkeit“ sicherzustellen: Sie beschaffte nicht nur Möbel und Geschirr und verhandelte mit den Firmen und Behörden vor Ort, sie übersiedelte sogar mit ihren drei Söhnen zum Probewohnen in die Villa. Ende August 1961 wurde in Abstimmung mit der Akademie und dem deutschen Botschafter in Rom, Manfred Klaiber, ein Termin für die offizielle Eröffnung festgelegt, „wenn die Ferien in Italien vorbei sind“. Doch nun stellte der Berli-

ner Senat, kurz vor dem geplanten Termin, alles wieder in Frage: Finanzielle Engpässe und die politische Situation kurz nach dem Mauerbau schienen nicht der geeignete Rahmen zu sein, um zu feiern. Womöglich waren jedoch die Einladungen schon verschickt, der Wunsch des Auswärtigen Amtes, „die Villa Serpentara durch eine kleine, diskrete Feierlichkeit einzuweihen“, zu gewichtig. Tatsache ist, dass die Villa, „dieses kleine Haus der Verbindung zur Welt“, wie der angereiste Generalsekretär sie in seiner Rede nannte, am 13. September 1961 um 11:30 Uhr eröffnet wurde, in Anwesenheit des deutschen Botschafters und von Vertretern der Kulturinstitutionen in Rom. Adrian, der damals 13-jährige Sohn der Buttlars, hielt das Ereignis fotografisch fest. Dank der Spesenabrechnung von Maria von Buttlar ist auch die Bewirtung überliefert: „Brot und Schinken, Wurst, u. Käse, Zigaretten, Zigarren, Streichhölzer, Zahnstocher, Spiess’chen, Mineralwasser, Orangensaft, Grapefruitsaft, Tomatensaft, 25 Fl. Wein“. Am darauffolgenden Tag erhielt der Präsident der Akademie der Künste, Hans Scharoun, ein Telegramm aus Rom.

ANNEKA METZGER ist Referentin der Archivdirektion der Akademie der Künste.

Seit 1961 vergibt die Akademie der Künste Aufenthaltsstipendien für Künstlerinnen und Künstler in Olevano: https://www.adk.de/de/akademie/jungeakademie/villa-serpentara-stipendium/. Der Geschichte des Künstlerortes Olevano und der Villa Serpentara widmet sich eine Tagung in Rom vom 25. bis 27. Mai 2022, „Olevano – Vermessung eines Mythos“ in Kooperation der Villa Massimo, der Bibliotheca Hertziana und der Akademie der Künste, Berlin.


Telegramm des Generalsekretärs Herbert von Buttlar an den Präsidenten Hans Scharoun, 14. September 1961




FREUNDESKREIS

KUNST IM KERN

In Reinhold Würths Augen lässt Kunst nicht nur neue Denkansätze zu, sondern fordert sie auch heraus. Andere Häuser haben meist einen oder auch mehrere kunstwissenschaftliche Schwerpunkte, auf deren Basis sie sammeln und Ausstellungen konzipieren. Anders bei Würth: Hier wird gesammelt, was gefällt, und zwar in erster Linie von Reinhold Würth selbst. Er lässt sich zwar von einem Gremium beraten, aber er lässt nicht sammeln. Der Begriff leitet sich schließlich aus dem althochdeutschen „samanōn“ ab, was zunächst „zusammenbringen, vereinigen“ und „anhäufen“ meint und nicht das „Sortieren“ und „Kategorisieren“. Und so bringt sein Bekenntnis – „solange für mich in den jeweiligen Werken Ausdruckswille, Tiefgang und eine gewisse Kraft erkennbar ist […], kann mich eine nach den ‚Gesetzen des Zufalls‘ geordnete Collage von Hans Arp ebenso begeistern wie ein Kreissegment von Max Bill, ein Spätwerk Picassos oder eine schöne Heilige von Cranach“ – seine gedankliche Freiheit auf den Punkt: Themen und Zeiträume dürfen wechseln, ohne einer sklavischen Chronologie zu folgen, und das nicht etwa, weil Reinhold Würth diese als beliebig erachten würde, sondern weil er früh erkannt hat, dass Kunst ohnehin ein endloses Transitgebiet unterschiedlichster Strömungen ist. Die Sammlung Würth umfasst heute Alte Meister und kunstkammerliche Kostbarkeiten, aber auch neueste Videokunst von David Hockney. Und sie bewahrt ein internationales Konvolut an Weihnachtskrippen oder süditalienischer Cantastorie-Malerei genauso sorgsam auf wie Skulpturenensembles von Elmgreen & Dragset. Dadurch lassen sich thematisch komplexe Ausstellungen wie Waldeslust, die den kulturhistorischen Aspekten des Naturund Waldbewusstseins nachging, Menagerie, die das Tiersujet in der Kunst und unser Verhältnis zu den Tieren in den Blick nahm, oder Wasser–Wolken–Wind, die den Bogen von den antiken Vorstellungen der Erscheinungsweise Gottes in einer Wolke bis hin zum allwissenden Internet und seinen Clouds schlug, im Wesentlichen aus dem eigenen Sammlungsbestand konzipieren und müssen nur durch wenige Leihgaben ergänzt werden. Als junger Mann übernahm Reinhold Würth in den 1950er-Jahren von seinem früh verstorbenen Vater eine kleine Schraubenhandlung und machte sie zum Weltkonzern. Bald entdeckte er auch seine Passion für die Kunst, die Literatur und die Musik. Und parallel zu seinem Unternehmen wuchs auch sein Bedürfnis, sich als

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In den 1980er-Jahren beschloss Reinhold Würth, ins Zentrum des neu zu errichtenden Verwaltungskomplexes seines Weltkonzerns eine Ausstellungshalle zu setzen. Ein Gastbeitrag von C. Sylvia Weber

Kunstsammler und Kulturmäzen zu bekennen sowie seine Leidenschaft mit der Belegschaft und der Öffentlichkeit zu teilen. Anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Unternehmens gab der damals 50-jährige Reinhold Würth bekannt, einen Architektenwettbewerb für ein neues, modernes Verwaltungsgebäude auszuloben. Es solle neben großzügigen Büros, einem Betriebsrestaurant und Konferenzräumen auch ein Museum für die Geschichte der Schraube und des Gewindes beherbergen sowie für die auf etliche hundert Werke angewachsene moderne Kunstsammlung, die wegen ihres Umfangs bereits teilweise in Depots aufbewahrt werden musste. Das Rennen entschied das Stuttgarter Architekturbüro Siegfried Müller und Maja Djordjevic-Müller für sich, da es dem Konzept des Unternehmers, das „inspirierende Erlebnis guter Architektur und Kunst in den (Arbeits-)Alltag von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Geschäftspartnern und interessierter Öffentlichkeit einfließen zu lassen und unterschiedliche Kunstströmungen durch aktive Vermittlung einem breiten Publikum zuzuführen“, am überzeugendsten Raum zu geben versprach. Vom Habitus weltoffen sollte sich die Kultur bei Würth gleichermaßen nach innen und außen adressieren. Dazu wurde der 800 Quadratmeter große Ausstellungsbereich ins Zentrum des Verwaltungsgebäudes hineinkomponiert. Um ein kosmopolitisches Miteinander zwischen Belegschaft und Publikum zu ermöglichen, sollten die Museen zudem nicht nur an Werktagen, sondern auch an Wochenenden zugänglich sein. Reinhold Würths Ansatz unterschied sich deutlich von dem anderer deutscher Kunst-Firmensammlungen, die damals nur auf Anmeldung oder an bestimmten Tagen für bestimmte Gruppen öffneten. Bei Würth wollte man wie bei öffentlichen Häusern grundsätzlich für alle da sein und das an sieben Tagen in der Woche bei freiem Eintritt. Am 25. Dezember 1991 war es soweit, und das zunächst regionale Publikum machte seinen ersten Feiertagsspaziergang, um im neuen Museum Würth moderne Kunst zu sehen. Seitdem sahen 2,33 Millionen Besucherinnen und Besucher mittlerweile 73 Ausstellungen. Seine wohl schönste Transformation und den internationalen Durchbruch erfuhr das junge Museum 1995. Kurz vor dem Reichstag in Berlin verhüllten und verschnürten Christo und Jeanne-Claude unsere Ausstellungs-

halle inklusive der im Raum frei gestellten Wendeltreppe, der seitlichen Decks und Verbindungsbrücken und ließen im Gegenzug die sonst für die Präsentation von Bildwerken vorgesehenen Seitenwände frei. 85.000 Menschen kamen in nur vier Monaten nach Künzelsau, um das begehbare Kunstwerk zu erleben. Das Konzept des integrierten Museums hat sich in der Würth-Gruppe europaweit durchgesetzt. An zehn weiteren Firmenstandorten sind repräsentative Ausstellungsflächen in Verwaltungsgebäuden oder in direkter Nachbarschaft entstanden. Und auch Musik und Literatur finden bei Würth Gehör: Ein Preis für Europäische Literatur, eine internationale Poetik-Dozentur und die am Carmen Würth Forum beheimateten Würth Philharmoniker intensivieren ihrerseits die Verschränkung von Kunst und Gesellschaft. „Kunst und Kultur sind nicht die sympathische Nische der Gesellschaft, sondern das Eigentliche, das sie zusammenhält“, hielt Bundestagspräsident a. D. Norbert Lammert unlängst während eines Vortrags in Künzelsau völlig zurecht fest. Denn das Engagement für Kultur ist auch bei Würth ein ebenso programmatisches Bekenntnis zu Demokratie, Politik und Gesellschaft, wie das erhebliche finanzielle Engagement im Sinne von Artikel 14 des Grundgesetzes. Und das immer wieder auch für bedrohte oder ausgegrenzte Menschen. Lassen Sie uns auch in diesem Kreis gegen Populismus aller Art und im Wortsinn für grenzenlose Freiheit, Menschlichkeit und Demokratie einstehen. Erst recht in Zeiten gestiegener weltweiter Migration (von Kriegs-, Wirtschafts- oder Klimaflüchtlingen), in denen es um nicht weniger als das Fortbestehen der funktionierenden Zivilisation in all ihren Facetten geht.

C. SYLVIA WEBER ist Geschäftsbereichsleiterin Kunst und Kultur in der Würth-Gruppe. Die Adolf Würth GmbH & Co. KG ist Mitglied der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.




BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 3, 4, 6/7, 20/21, 74 Mila Teshaieva/ OSTKREUZ | S. 30/31, 42/43, 52/53, 64/65, 70/71, 73 Johanna-Maria Fritz/ OSTKREUZ | S. 9 Foto Marcus Lieberenz, bildbuehne.de | S. 11 links © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild / Jan Woitas, rechts © picture alliance/dpa/dpaZentralbild / Hendrik Schmidt | S. 12 © Deneth Piumakshi Veda Arachchige, Foto: Priska Ketterer; S. 13 Foto: Van Bang, Courtesy Archiv der Avantgarden, Dresden | S. 23, 24, 26 © Azby Brown | S. 27+28 © Otobong Nkanga; S. 29 Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Foto Historisches Archiv | S. 32+33 Fotos Esther Kinsky | S. 35+37 © Christina Kubisch, VG Bild-Kunst, Bonn 2022; S. 38 Foto Alois Fischer; S. 41 © Trond Reinholdtsen | S. 44–51 design by fritz frenkler and f/p design, S. 44/45 foto hidetoshi yabuuchi, studio bush, inc; S. 46–49 fotos j. morita. mfg. corporation, kyoto, japan; S. 50/51 foto thomas lippmann | S. 55 links Foto Jeanine Meerapfel, Mitte Ill. Jasmin Schubert, rechts Ill. Florentine Osche; S. 56 links Ill. Jasmin Schubert, Ill. Mitte und rechts Florentine Osche | S. 57–59 Akademie der Künste, Berlin, GerhardLeo-Archiv, S. 57 oben Nr. 948, Foto unbekannt, unten Nr. 873; S. 58 links Nr. 787, Mitte Nr. 660, rechts oben Nr. 882, rechts unten Nr. 658; S. 59 Nr. 890, Foto unbekannt; S. 60 Nr. 783 © Gerhard-Leo-Erben | S. 61 Akademie der Künste, Berlin, Foto Gerti Deutsch; S. 62+63 Akademie der Künste, Kunstsammlung, S. 62 oben links KSZeichnungen HZ 5440, oben Mitte KSZeichnungen HZ 5430, oben rechts KS-Zeichnungen HZ 5420, Mitte links KS-Druckgrafik 7528, Mitte rechts KS-Druckgrafik DR 7526, unten KSDruckgrafik DR 7530; S. 63 links KSZeichnungen HZ 5387, rechts KSZeichnungen HZ 5421 © The Cosman Keller Art & Music Trust | S. 66+67 Akademie der Künste, Berlin, FriedrichHollaender-Archiv, S. 66 Nr. 227, Foto unbekannt; S. 67 Foto Kerstin Marth | S. 68 Akademie der Künste, Berlin, Foto-AdK-W 5485, Foto Adrian von Buttlar; S. 69 Akademie der Künste, Berlin, AdK-W 899/4

Journal der Künste, Heft 18, deutsche Ausgabe Berlin, Mai 2022 Auflage: 3.000

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