Journal der Künste 16 (DE)

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JOURNAL DER KÜNSTE 16

EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN NOTHINGTOSEENESS ZWISCHEN ERINNERN UND VERGESSEN BEUYS BLEIBT DEUTSCHE AUSGABE SEPTEMBER 2021


S. 3

EDITORIAL Werner Heegewaldt

S. 4  CARTE BLANCHE

S. 28  NOTHINGTOSEENESS LEERE/WEISS/STILLE

WEISS, ZERO, NULL – MALEREI AN DER SCHWELLE ZUR UNSICHTBARKEIT IN DEN 1960ER-JAHREN

S. 44  NEUES AUS DEM ARCHIV

BEUYS BLEIBT. BEUYS – A CLOSE UP Rosa von der Schulenburg

Anke Hervol, Wulf Herzogenrath S. 50

ÜBER DIE MAUER Arila Siegert Fotos von Mila Teshaieva

S. 31

FUNDSTÜCK

WHITE ALBUM – BLACK ALBUM

EIN GEFÜHL VON GROSSER FREIHEIT UND SOUVERÄNITÄT

Max Dax

Torsten Musial

S. 32

S. 52

BREAKING THE SILENCE. ORNETTE COLEMAN, ­ PETER B ­ RÖTZMANN UND DER ­R ADIKALISMUS DES ­ EXPERIMENTELLEN JAZZ

KORRESPONDENZEN UND DIFFERENZEN. KARL SCHEFFLER UND HANS PURRMANN IM AUSTAUSCH

S. 12  EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN

DIE UNTERSCHIEDE ÜBERWINDEN. DEN ZUSAMMENHALT FEIERN Jeanine Meerapfel

S. 16

WENN DIE FREIHEIT (ZENTIMETER FÜR ZENTIMETER) STIRBT

Harald Kisiedu S. 54

Radka Denemarková

S. 34  ARBEIT AM GEDÄCHTNIS

S. 23

RÄUMLICHE UND ZEITLICHE BILDER DES ERINNERNS UND VERGESSENS

ZWISCHEN ZWEI WELTEN – ARCHIV DER ABWESENHEIT. ZU DEN FOTOGRAFIEN VON MATEI BEJENARU

VOM WERT DER SCHÖNHEIT IM KAMPF GEGEN DEN HASS Dominika Kasprowicz und Philipp Ther im Gespräch mit Matthias Krupa

NICHT ALLEIN ZUR KUNSTÜBUNG, SONDERN ZUM KUNSTVERSTAND GESTIFTET. DIE GRÜNDUNG DER BERLINER KUNSTAKADEMIE 1696 Ulrike Möhlenbeck

Aleida Assmann S. 56  FREUNDESKREIS S. 40

WEHRHAFTE KUNST UND DAS ARCHIV DER GEGENWART

DIE RESTITUTION VON RAUBKUNST IM RÜCKBLICK AUF 30-JÄHRIGE ERFAHRUNG

Max Czollek

Peter Raue

Cristina Stoenescu

S. 26

Bernhard Maaz


EDITORIAL Sind Erinnern und Vergessen ein Gegensatzpaar oder kann jedes Vergessen auch eine Form des Erinnerns sein? Der Dialektik von Erinnern und Vergessen geht nicht nur unsere Ausstellung Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives nach, die noch bis zum 19. September am Pariser Platz zu sehen ist, sie ist auch Thema ganz unterschiedlicher Beiträge im neuen Journal der Künste. Die Kulturwissenschaftlerin ALEIDA ASSMANN zeigt, wie viele Formen das Vergessen kennt und wie sie veranschaulicht werden. Sie entwickelt eine Gedächtnistheorie aus räumlichen (Magazine/Archive) und zeitlichen (Tod/Wiedergeburt, Schlafen/Erwachen, Einfrieren/ Auftauen) Bildern und setzt gegen das Vergessen auf Sicherungsformen der Dauer und Reaktivierung. Der Kunst misst sie die Funktion eines Monitors zu. „Mit ihrer Hilfe kann sich die Gesellschaft selbst beim Erinnern und Vergessen zuschauen [und] schafft einen Spiegel der Selbstreflexion“. MAX CZOLLEK s Essay „Wehrhafte Kunst“ ist ein Appell für ein Archiv der Gegenwart und gegen das Vergessen. Er fordert, die radikale Vielfalt in der Gegenwartskultur stärker in den (Kunst-)Archiven abzubilden und so dafür zu sorgen, dass eine vielfältige Sicht der Geschichte möglich ist. Sein Ansatz stimmt nachdenklich, ist er doch eine Aufforderung an die Archive, ihre Sammlungskonzepte und Auswahlkriterien immer wieder neu zu hinterfragen. Ein Archiv allein wird diese Forderung nach radikaler Vielfalt aber wohl kaum erfüllen können. An ein besonderes Ereignis der Akademiegeschichte erinnert ULRIKE MÖHLENBECK . Am 11. Juli jährte sich zum 325ten Mal die Gründung der Künstlersozietät, die 1696 von Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg „nicht allein zur Kunstausübung sondern zum Kunstverstand ge­stiftet“ wurde. Das Jubiläum ist für die Akademie der Künste Anlass zurückzublicken und gleichzeitig die gegenwärtige Situation in den Fokus zu nehmen. In online publizierten Kalenderblättern werden Ereignisse beleuchtet, die als Zäsuren die Akademie geprägt haben oder Momentaufnahmen ihrer Geschichte bieten. Dabei zeigt sich, dass die Geschichte der Akademie keineswegs geradlinig, sondern spannungsreich und wechselvoll verlief. Sie ist geprägt vom Wandel einer Ausbildungsstätte zur internationalen Künstler*innengemeinschaft, von Aufbruch und Beharrung, von staatlicher Indienstnahme und dem Anspruch auf Selbstverwaltung sowie von Kontroversen über Kunst. „Nothingtoseeness“ – mit dieser Wortschöpfung versuchte der Komponist John Cage eine Entsprechung für die Stille in den visuellen Künsten zu finden. In seinem 1952 entstandenen Stück 4’33 sitzt der Pianist vier Minuten und 33 Sekunden vor seinem Instrument, ohne die Tasten zu berühren, und lässt so das Publikum Stille sehen und fühlen. Reduktion, Stille, Leere und Immaterialität waren zeitgleich in den bildenden Künsten zentrale Mittel,

um neue, ­extreme Möglichkeiten und Bedingungen auszuloten. Weiß spielte als Farbe und Material eine besondere Rolle, wie Robert Rauschenbergs White Paintings von 1951 oder Yves Kleins Intervention Le Vide (1961) im Museum Haus Lange in Krefeld beispielhaft zeigen. Die von ANKE HERVOL und WULF HERZOGENRATH kuratierte Ausstellung NOTHINGTOSEENESS widmet sich dem Bedeutungsspektrum der Farbe Weiß, der Leere und der Stille. Anknüpfend an die aufsehenerregende Schau Weiss auf Weiss, die 1961 in der Kunsthalle Bern Künstler*innen aus Europa und den USA zum Austausch einlud, werden künstlerisch-ästhetische Praktiken von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart gezeigt. Ein zeitgenössischer Beitrag ist die Installation We Buy White Albums des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Rutherford Chang, die MAX DAX in diesem Heft vorstellt. Nach coronabedingter Abstinenz und virtueller Ermüdung können wir uns auf einen „analogen Erfahrungsraum“ mit rund 50 internationalen Künstler*innen freuen, der ab dem 15. September am Hanseatenweg zu sehen ist. Die Arbeit der Europäischen Allianz der Akademien, die am 9. Oktober 2020 ihr Gründungsmanifest Offener Kontinent publizierte, geht weiter. Ziel des transnationalen Bündnisses mit 70 Repräsentant*innen aus europäischen Kunstakademien und Kultur­institutionen ist es, sich zu vernetzen und solidarisch für die Freiheit von Kunst und Kultur einzusetzen, um nationalen und antidemokratischen Tendenzen entgegenzutreten. Ein Beispiel für das gemeinsame Engagement ist eine Beschwerde bei der UN-Sonder­berichterstatterin für Kultur, verbunden mit der Forderung, den systematischen Autonomiebeschränkungen von Kunstund Kultur­einrichtungen in Ungarn juristisch zu begegnen. Im vergangenen Jahr hatte die Übernahme der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE ) durch eine regierungsnahe Stiftung öffentliche Proteste ausgelöst. Aus dem Dialog mit unseren Partnern in Tschechien, Polen und Rumänien sind auch Beiträge für das aktuelle Heft erwachsen. „A close up“ von Joseph Beuys bietet ein Fotoband von Michael Ruetz, der an den 100. Geburtstag des Künstlers erinnert und von ROSA VON DER SCHULENBURG vorgestellt wird. Die Fotografien entstanden in den frühen 1970er Jahren, als Ruetz Beuys ohne besonderen Auftrag mit der Kamera zu Hause, an der Kunst­ akademie und bei seinen Aktionen begleitete. Sie vermitteln ein besonderes Bild des Künstlers – weniger „Heiligenbild“ als aufklärende Betrachtung. Es sind die Körpersprache von Beuys und die Präsenz, mit denen er Räume beherrscht, die sofort ins Auge springen. Ruetz’ Bilder leben vom besonderen Gespür für den richtigen Augenblick und für Situationen sowie von seinem genauen Blick auf den Menschen. Werner Heegewaldt Direktor des Archivs der Akademie der Künste

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CARTE BLANCHE

ARILA SIEGERT

„Du   musst dich immer selbst retten. In jedem System.“

EIN LABOR DER KÜNSTE

ARILA SIEGERT PROBT ÜBER DIE MAUER NACH WASSILY KANDINSKY

Die Bühnenkomposition Über die Mauer von Wassily ­Kandinsky entstand 1914. Arila Siegert, Choreografin und Regisseurin, arbeitet aktuell mit der experimentellen Künstler*innengruppe Violett an einer synästhetischen Umsetzung dieses Materials. Die Uraufführung ist in der Akademie der Künste für Anfang Oktober geplant. Es geht nicht um die Rekonstruktion einer ­historischen Produktion, vielmehr ist es der Versuch, einen Raum zu öffnen für eine bestimmte Arbeitsweise, die sich nicht in klassischen Genres definiert, sondern in einer experimentellen Situation, in der alle Medien potenziell vorhanden sind und sich die Sinneswahr­ nehmung aller Beteiligten entfalten kann. „Es geht mir um das Anstoßen oder Aufzeigen einer inneren existenziellen Kreativität. Nicht über den Weg von außen, sondern über einen inneren Weg. Das Er­lebnis dessen, was Kandisky das Seelische nennt. Oder das Erleben dessen, was uns bewegt, was uns hilft, was uns auch dieses Leben als ein Wunder erleben lässt. Der Klang, die Farben. Wie jemand etwas sagt. Welche Energie kommt uns entgegen? Was bedeutet ein Abwenden, ein Zuwenden? Das sind die Dinge, die wir täglich erleben und die wir entschlüsseln müssen. Und ich sehe da einen zukunftsweisenden Ansatz bei Kandinsky, weil er die Künste in ihren Möglichkeiten nebeneinander sieht, frei agierend. Es kommt immer darauf an, was ist jetzt das Wesentliche … Es geht um Kälte und Wärme, Helligkeit und Dunkelheit. Wo kann man die Gegenstände weglassen und wo bleiben nur die Farben?“ Den Text von Kandinsky versteht Arila Siegert dabei wie die Reagenzgläser in einem Labor. Sprache stellt

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Aufgaben, auf die die Akteur*innen mit ihren künstlerischen Möglichkeiten reagieren können. Ein Raum, in dem die Entscheidungen spontan fallen. Gleichsam kann Über die Mauer als Lehrstück verstanden werden, das wie bei Oskar Schlemmer oder Paul Klee die ästhetischen Wirkungen von Formen und Farben für die Malerei, aber eben auch für das Theater untersucht. Gret Palucca hatte durch ihren intensiven Austausch mit Kandinsky dieses abstrakte Denken mit den Materialien und Grundlagen ästhetischer Wirkungen auch an ihrer Schule in Dresden gelehrt und der jungen Schülerin Arila Siegert von Beginn an vermittelt. „Es geht mir in meiner Arbeit um einen Ursprung, um ein Zurück zu meiner inneren Motivation. Was bewegt mich? Wo bin ich bei mir selbst? Wo spüre ich Kraft und wo bin ich machtlos? Das ist mein eigener Seismograf, wenn du so willst. Ich entferne mich auch von Dingen, die mir Kraft nehmen, die mich leerlaufen lassen. Ich suche Dinge, die mir eine starke Gegenwart schenken. Es ist der Versuch, dem medialen Aussaugen zu widerstehen. Ich versuche, die physische Basis unserer Wahrnehmung und unserer Erfahrung stark zu machen. Alles liegt in uns, das Licht, die Farben, die Formen, eben alles. Es ist sinnvoll, sich daran zu erinnern, das zu spüren, zu erfahren. Es ist ein Ansatz gegen die Entfremdung, voneinander, aber auch von sich selbst. Diese innere Arbeit kann uns niemand abnehmen.“ Die Zitate stammen aus einem Gespräch zwischen Arila Siegert und Johannes Odenthal im Mai 2021 anlässlich der Proben zu Über die Mauer.

JOHANNES ODENTHAL ist Programmbeauftragter der Akademie der Künste.


Abbildungen S. 4–11: Mila Teshaieva



GEDANKENLABOR  Arila Siegert

Die Idee des Gesamtkunstwerks, aus der Opposition zu dem großen Entwurf des musikdramatischen Werks Richard Wagners entstanden, rief auch den Maler und Synästhetiker Wassily Kandinsky (1866–1944) auf den Plan. Um die Jahrhundertwende erwarteten viele Künstler den großen Umschwung vom Materiellen zum Geistigen. Im Zeitalter Albert Einsteins und Max Plancks konnte sich auch Kandinsky der Tendenz der Verwissenschaftlichung nicht entziehen. Davon zeugen der 1911 mit Franz Marc herausgegebene Almanach Der Blaue Reiter, sein im gleichen Jahr erschienenes theoretisches Hauptwerk Über das Geistige in der Kunst oder seine 1926 veröffent­ lichte Formenlehre Punkt und Linie zu Fläche. Mein Buch Über das Geistige in der Kunst und ebenso Der Blaue Reiter hatten hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zeit nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken. Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern 1952

Der Klang der Musik – der abstraktesten der Künste – steht bei Kandinsky als Chiffre für den Klang von Farbe und Licht, von Bewegung und Tanz, von Wort und Musik. Für Kandinsky konnte dieser Zusammenklang der Künste seinen Ausdruck am besten auf der Bühne, als „Bühnenkomposition“, finden. Gleichzeitig mit Arnold Schönberg, der sich als Komponist mit übergreifenden Bühnen­ konzepten befasste, untersuchte Kandinsky in seinen Bühnenkompositionen, die auch als Regieanweisungen zu verstehen sind, das Zusammenwirken der verschiedenen Kunstrichtungen, ohne eine Verschmelzung derselben. Gerade das ist die Vereinigung der Künste, wo sie alle zusammen sprechen, aber eine jede in ihrer Sprache, und es gibt, ungewollt, einen Impuls, der unseren Kompositionen zu Grunde liegt. Wir wollen, dass jedwede Kunst dann in den Vordergrund tritt, wenn sie, und gerade sie, das Notwendigste in einer Minute am stärksten sagen kann. Wassily Kandinsky, Über das Theater, Ostfildern 1998

Gret Paluccas Tänze waren abstrakter als die ihrer Lehrerin Mary Wigman. Das brachte ihr in den 1920erJahren Einladungen ans Bauhaus ein.

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Kandinsky schätzte die abstrakte Klarheit ihrer Bewegungsformen, die Detailgenauigkeit und kompositorische Stimmigkeit. So floss in den Unterricht, den ich dann an der Palucca Schule in Dresden und bei Palucca genoss, Gedankengut der Bauhäusler – vor allem von László Moholy-Nagy, Wassily Kandinsky und Paul Klee – ein. Die Beherrschung des Raums, die Arbeit von innen nach außen, das strenge Bearbeiten einer einmal gefundenen Form, vom Inhalt zur Form und nicht anders herum, sich keine Gefühlsduselei, keine Sentimentalität zu erlauben, sondern sich seinen Ideen auszuliefern, nicht zu kopieren oder nachzuahmen usw., waren die Maximen, und dass ein Künstler sich aus der Vorstellungskraft an sein Potenzial heranarbeiten muss, auch und vor allem durch die Improvisation als Vorstufe. Fachidiotie war verpönt, weiterentwickeln, verändern, nicht stehenbleiben gefordert. Musik, Farben, Literatur und Malerei, Bildhauerei und Architektur und die Natur waren wichtige Partner in der Konfrontation des Künstlers mit seinen Bewegungs­­­­­erfindungen. Wir selbst, in ihrem Tanze mitschwingend, bewegen uns aus der Kraft und Vitalität und Beherrschtheit. Palucca verdichtet den Raum, sie gliedert ihn: der Raum dreht sich, sinkt und schwebt, fluktuierend in alle Richtungen. Und sie wächst, spannt, lockert, multipliziert sich. László Moholy-Nagy, in: Edith Krull und Werner Gommlich, Palucca, Berlin 1964

Alle Kunst verlangt Beschränkung. Aber innerhalb dieser Beschränkung letzte Intensität und Ausformung. Das habe ich in meiner Arbeit erfahren, der einzigen Lehrmeisterin, die der Schaffende hat, wenn er seine eigenen Wege geht. Am Anfang steht der Instinkt, am Ende die Kunst. Es handelt sich darum, die Natur niemals der Kunst zu opfern. Gret Palucca, in: Edith Krull und Werner Gommlich, Palucca, Berlin 1964

Der Neue Künstlerische Tanz der Palucca, NKT genannt, basierte auf dem Erschließen der schöpferischen Begabung, der Originalität, dem Erkennen der eigenen Kräfte als Schöpfer und Interpret, dem Mut zu sich selbst und zum Aus-sich-Herausgehen, dem Interesse für die Umsetzung von Gedanken und Gefühlen im Tanz durch den eigenen Körper. Dabei regte sie an, dass ein Künstler sich der Kritik von geschätzten, erfahreneren Künstlern aussetzen muss. Wir sollten uns nicht mit Leuten umgeben, die uns vor allem nur loben, und – wir sollen nicht nach der Mode gehen.

So habe ich immer wieder die Nähe zu dieser mir vertrauten künstlerischen Denkart gesucht und mich u. a. mit den Bühnenkompositionen von Kandinsky auseinandergesetzt: 1993 Der Gelbe Klang, 2019 Violett. Aus der Erfahrung der Arbeit an Violett, entstanden für das 100-Jahre-Bauhaus-Jubiläum in Dessau, haben wir die Künstlergruppe Violett gebildet. Mit dieser Künstlergruppe haben wir im April 2021 Kandinskys Stück Über die Mauer erarbeitet, das am 1. Oktober 2021 in der Black Box der Akademie der Künste, Berlin, uraufgeführt werden soll. Halten Sie Ihr Ohr hin zur Musik, öffnen Sie Ihr Auge für die Malerei. Und denken Sie nicht. Prüfen Sie, wenn Sie wollen, nachdem Sie gehört haben, nachdem Sie gesehen haben. Fragen Sie sich, wenn Sie wollen, ob Sie dieses Werk ‚entführt‘ hat in eine Ihnen bisher unbekannte Welt. Wenn ja, was wollen Sie mehr? Wassily Kandinsky, Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst [1938], in: ders., Essays über Kunst und Künstler, Stuttgart 1955

Es reizt mich und ich finde es auch heute wieder wichtig, sich den Fragestellungen der Kandinsky-Texte zu stellen, ein Gedankenlabor zu initiieren. Dieses Labor fordert die beteiligten Künstler immer wieder neu heraus, sich schöpferisch auseinanderzusetzen durch Erinnerung, Vorstellungskraft, Erfindung und Improvisation. Das Gesetz der Unterordnungen der Elemente und der Konstruktion dem inneren Ziele des Werkes – Komposition. Es sollen Theaterlaboratorien veranstaltet werden, wo einzelne Elemente im Sinne und zum Zweck des Theaters geprüft werden sollen. Wassily Kandinsky, Über die abstrakte Bühnensynthese [1919–23], in: ders., Essays über Kunst und Künstler, Stuttgart 1955

ARILA SIEGERT erhielt ihre künstlerische Ausbildung bei Gret Palucca in Dresden. Erste Engagements führten

Die vollkommene Meisterschaft ist ohne Exaktheit unmöglich. Die Exaktheit ist das Resultat langer Arbeit. Die Anlage zur Exaktheit ist aber angeboren und eine überaus wichtige Bedingung der großen Begabung. Paluccas Tanz ist vielseitig und kann von verschiedenen Standpunkten beleuchtet werden. Was ich aber hier unterstreichen möchte, ist der selten genaue Aufbau nicht bloß des Tanzes in der zeitlichen Entwicklung, sondern in erster Linie der exakte Aufbau einzelner Momente, die durch Momentaufnahmen fixiert werden.

sie zu Tom Schilling ans Tanztheater der Komischen

Wassily Kandinsky, Tanzkurven. Zu den Tänzen der Palucca, in: Das Kunstblatt 10 (1926)

debüt in den USA. Arila Siegert erhielt den Tanzpreis der

Oper Berlin unter Walter Felsenstein. Als Erste Solistin wechselte sie an die Semperoper Dresden. 1987 gründete sie am dortigen Staatsschauspiel ihr erstes eigenes Tanztheater. Soloabende mit eigenen Choreografien führten sie um die ganze Welt. Abendfüllende Ballette entstanden in Berlin, Leipzig, Köln, Wien. Sie arbeitete zusammen mit Ruth Berghaus und Peter Konwitschny und leitete die Bauhausbühne Dessau. Ihre erste Opernregie war Verdis Macbeth in Ulm 1998. Seitdem entstanden über vierzig weitere Inszenierungen. 2014 gab sie mit der Zauberflöte in Florida ihr Regie­ Kritiker sowie das Bundesverdienstkreuz und ist Mitglied der Akademien der Künste in Berlin und Dresden.

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EIN KOMMENTAR DER FOTOGRAFIN MILA TESHAIEVA ZU DEN PROBEN VON ARILA SIEGERT

Die einzigartige Kraft Ihres Stücks liegt weder in der Beherrschung der Schauspieler*innen noch im emotionalen Ausdruck auf der Bühne. Es ist die Kombination und die Destruktion von allem. Es ist das gemalte Gewirr der Farben und es sind die menschlichen Körper, die in dieses Farbengewirr integriert sind, die Vermischung der Formen, eine Explosion der vielfältigen Ausdrucksformen, eine Freiheit dieses Ausdrucks – all das bewegt mich zutiefst. Und dieses Stück zu sehen, hat auch etwas in mir verändert. Gewöhnlich zweifle ich an meinem Urteil über Kunst: Eigentlich vermeide ich das Wort „Kunst“, wenn ich über Dinge spreche, mit denen ich mich emotional verbunden fühle. Es gibt einfach zu viele Dinge, die mich auf einer besonderen emotionalen Ebene berühren, die ich außerordentlich schön finde, die ich gerne als Kunst bezeichnen würde, aber wer bin ich, dass ich irgendetwas „Kunst“ nenne und was weiß ich wirklich über „Kunst“? Ihre Performance hat gewissermaßen meine Zweifel daran aus dem Weg geräumt, dass ich so hungrig nach so vielen Ausdrucksformen bin. Sie hat mir die Einsicht beschert, dass ich offen bin und nicht ungebildet, dass ich lebendig bin und nicht un­kritisch, dass ich dankbar für alle Schönheit der Welt bin. Das ist es also: Ich fühle mich freier, nachdem ich Ihr Stück gesehen habe, ich fühle mich kraftvoller, selbstbewusster, erwachsener und spüre mehr denn je die Notwendigkeit zu sehen, zu fühlen, zu schaffen. Danke Mila

MILA TESHAIEVA, 1974 in Kiew geboren, lebt in Berlin. In ihren Arbeiten konzentriert sie sich auf konstruierte soziale Identitäten und die politische Manipulation von Geschichte und Erinnerung, kombiniert einen dokumentarischen Aspekt mit künstlerischer Interpretation. Ihre Arbeit wurde weltweit in Galerien und Museen ausgestellt, die letzten Ausstellungen waren im MIT Museum Boston (USA), Museum Europäischer Kulturen (Deutschland), Haggerty Museum of Art in Milwaukee (USA), Alma Lov Museum (Schweden) und Museum Kunst der Westküste (Deutschland) zu sehen. Im Kehrer Verlag erschienen Promising Waters (2013) und InselWesen im Jahr 2016. Sie ist Mitglied von Ostkreuz – Agentur der Fotografen. Das Team der Künstlergruppe Violett Musik/Klang: Ali N. Askin Choreografie/Regie: Arila Siegert Schauspielerin: Kerstin Schweers Schauspieler: Jörg Thieme Tänzerin/Sängerin: Isabel Wamig Projektionsmalerei: Helge Leiberg Bühne, Kostüme und Requisiten: Marie-Luise Strandt Licht: Susanne Auffermann Dramaturgie: Carola Cohen-Friedländer

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EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN 12

DIE UNTERSCHIEDE ÜBERWINDEN DEN ZUSAMMENHALT FEIERN Jeanine Meerapfel

Die Europäische Allianz der Akademien wurde im Oktober 2020 während einer dreitägigen Konferenz in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin gegründet. Rund 70 Vertreter*innen europäischer Kunstakademien und Kulturinstitutionen kamen zusammen, aus fast allen Ländern der Europäischen Union, aus Norwegen und Großbritannien. Es war ein starkes Signal, das zeigte, wie notwendig ein von Solidarität getragenes transnationales Bündnis ist, insbesondere auch angesichts der Covid-19-Pandemie und ihrer politischen Folgen, nationalen Grenzziehungen und rechts­ populistischen Abschottungsfantasien. Alle Akademien erklärten sich bereit, für die Freiheit der Kunst einzustehen: nicht nur im eigenen Land, sondern europaweit über Grenzen hinweg. Das Gründungs­manifest „Offener Kontinent“ wurde auf den 9. Oktober 2020 datiert – es erinnert an den antisemitischen Anschlag auf die Jüdische Gemeinde in Halle am Jom Kippur ein Jahr zuvor, am 9. Oktober 2019. Es mahnt uns, undemokratischen und rechts­ populistischen Entwicklungen vehement zu begegnen. Solidarität und die Verteidigung der Freiheit der Kunst sind unsere klaren Ziele. Dafür müssen wir uns gegenseitig stärken. Die Europäische Allianz der Akademien beschäftigt sich in verschiedenen Arbeitsgruppen intensiv mit der Frage, wie das gelingen kann – auf kulturpolitischer und künstlerischer Ebene. Eine digitale Plattform wird entwickelt, die neue Räume für die interne und öffentliche Vernetzung bietet, künstlerische Austauschformate wollen die Institutionen in eine produktive Zusammenarbeit bringen. Eine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit dem europaweiten Erstarken des Antisemitismus und der Frage, was dagegen zu tun ist. Für bedrohte und verfolgte Kunstschaffende setzt sich die Allianz der Akademien mit Solidaritätserklärungen ein. Dabei beginnen wir auch, vorgefasste Sichtweisen auf die Situationen in den vertretenen Ländern zu überprüfen, zu präzisieren, zum Teil zu revidieren. Wir hören einander zu. Das ist ein guter erster Schritt. Für die aktuelle Ausgabe des Journals der Künste haben wir einige Beiträge über Mitglieder der Europäischen Allianz der Akademien erhalten. Radka Denemarková skizziert in ihrem Essay „Wenn die Freiheit (Zentimeter für Zentimeter) stirbt“ die Verwobenheit lokaler Besonderheiten und internationaler Spannungsverhältnisse sowie den Widerstreit zwischen Neoliberalismus und Kapitalismus einerseits und Menschenrechten, Demokratie und Meinungsfreiheit andererseits. Dafür spürt sie den historischen freiheitlichen Bewegungen in Tschechien nach (die „1989 vom Tisch gewischt“ wurden), weist auf internationale Schicksale verfolgter Autor*innen hin – die Schicksale der türkischen Autorin Aslı Erdoğan, der kurdischen Autorin und Politikerin Hevrin Khalaf, des chinesischen Schriftstellers Liu Xiaobo – und erinnert vor allem an eines: „Freiheit ist Verantwortlichkeit.“

In einem von Matthias Krupa (Die Zeit) geführten Interview setzen sich Dominika Kasprowicz (Villa Decius, Krakau) und der Historiker Philipp Ther mit der Frage auseinander, wie der Instrumentalisierung negativer Emotionen in den aktuellen politischen Debatten begegnet werden kann. Woher kommt der Hass und was können wir dagegen tun? Die Fotografien von Matei Bejenaru zeugen von den Errungenschaften und dem Zerfall wissenschaftlicher und industrieller Infrastruktur im post-kommunistischen Rumänien nach 1989. Er zeigt Räume, die ehedem für Wissenschaft und technologischen Fortschritt standen, doch auf dem gesellschaftlichen Weg zum Kapitalismus in Vergessenheit gerieten, deren Produktivität stillsteht, deren Protagonist*innen aus Wissenschaft und Technik in der Gegenwart um neue Räume kämpfen müssen. All dies sind Beispiele, mit denen wir uns unsere Lebenswirklichkeiten gegenseitig näherbringen möchten. In Zusammenarbeit mit den Anwälten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) startete das Bündnis eine Online-Petition beim Europäischen Parlament und reichte Beschwerde bei der UN-Sonderberichterstatterin Karima ­Bennoune ein. Die Europäische Allianz der Akademien fordert, den Verstößen gegen die Freiheit der Kunst in Ungarn mit dem gesamten zur Verfügung stehenden juristischen Instrumentarium zu begegnen und für den gesetzlichen Rahmen zum Schutz der Unabhängigkeit von Kultureinrichtungen und Kulturschaffenden einzutreten. Am Europatag der Europäischen Union (9. Mai 2021) diskutierten wir darüber mit Verantwortlichen aus Kultur und Politik – mit Grußworten von Bundesaußenminister Heiko Maas, der Europa­ abgeordneten Sabine Verheyen und Beiträgen von Kunst- und Kulturschaffenden aus verschiedenen europäischen Ländern. In den nächsten Monaten werden wir die initiierten Kontakte zu EUAbgeordneten intensivieren. Die Arbeit der Europäischen Allianz der Akademien wird vom Auswärtigen Amt, von der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste und auch der Bundeszentrale für politische Bildung unterstützt – ohne dass unsere Autonomie beeinflusst wird. Das ist ein Segen. Und das sollte für ganz Europa gelten. Dafür setzen wir uns gemeinsam ein.

JEANINE MEERAPFEL, Filmemacherin, Autorin von Spiel- und Dokumentarfilmen, ist Präsidentin der Akademie der Künste.


Die Abbildungen S. 13–25 stammen aus der Serie Between Two Worlds (ab 2009) von Matei Bejenaru.

Hochspannungslabor an der Technischen Universität Iași, Rumänien, 02, 2011

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ICMET – National Institute for Research, Development and Testing in Electrical Engineering, Craiova, Rumänien, 02, 2019


Sammlung pflanzengenetischer Ressourcen, Suceava, Rumänien, 01, 2019

Technisches Museum „Dimitrie Leonida“, Bukarest, 01, 2019

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EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN

Müssen wir – wie ich in Europa heute oft höre – in Zeiten eines ökonomischen Pragmatismus, der Demokratie auf „Business“ reduziert, die Menschenrechte neu definieren? Zum Glück richten sich die menschlichen Schicksale nicht nach den Kon­strukten der Politiker oder Historiker. Die Gesellschaft ist ein rätselhaftes Tier, mit vielen Gesichtern und verborgenen Potenzen. Mir ist klar, welche Sorge die Menschen umtreibt: Was soll ich mit meinem Leben anfangen, wie soll ich mit meinen existenziellen, ethischen, staatsbürgerlichen Dilemmata fertig werden und sie ertragen? Ich war fast drei Jahre in China, wo sich die schlimmsten Auswirkungen von Kapitalismus und Kommunismus „geküsst“ haben und die Wirtschaft wunderbar funktioniert – allerdings ohne Menschenrechte. In einer Zeit des Neoliberalismus ver­ gessen viele schnell Begriffe wie Menschenrechte, Demokratie, Meinungsfreiheit, es ist ihnen sogar egal, dass das Internet zensiert ist. Wo das Geld spricht, schweigt dort die Wahrheit? In China habe ich begriffen, wie w ­ ichtig Kultur und Kunst sind.

WENN DIE FREIHEIT  (ZENTIMETER FÜR ZENTIMETER) STIRBT

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Radka Denemarková

Europa schleppt die ungelösten Traumata und Stigmatisierungen der vergangenen Jahrhunderte mit sich herum. Jahrelang wurde der Kontinent nur von einem Geflecht aus den Lasten der Vergangenheit, Resten alten Unrechts, Machtverteilungen, kollektiver Schuld und kollektivem Opferdasein geprägt. Populismus ist eine politische Position, die sich den vorherrschenden Gefühlen, Vorurteilen und Ängsten der Bevölkerung anpasst und sie ausnutzt, um eine politische Agenda zu definieren, die einfache und schnelle Lösungen aller Probleme verspricht. Und die populistische Grundstimmung, die sich heute in vielen Ländern weltweit findet, ob in traditionellen oder jüngeren Demokratien, wird von Demagogen angefacht und gnadenlos ausgeschlachtet. Aber Europa hat auch andere Traditionen. Was Tschechien anbetrifft, kann ich mir heute kaum mehr vorstellen, dass es Zeiten gegeben hat, in denen die von Václav Havel gegründete Charta 77 nicht existierte. Eine solche Vorstellung ruft das Gefühl eines moralischen Vakuums und einer totalen Relativität der Werte hervor. Charta 77 war der erste bedeutende Akt der Solidarität in der kommunistischen Ära, sie war der Anfang eines staatsbürgerlichen Engagements, das eine Atmosphäre von Gleichheit, Solidarität, Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft und aufopfernder Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung mit sich brachte. Doch all dies wurde 1989 vom Tisch gewischt, als hätte es das nie gegeben. Wer als Russlands Vasall in einem sozialistischen Land und in einem okkupierten Regime gelebt hat, der scheint in keiner anderen Welt mehr leben zu können. Die einstigen „Parteifreunde“ versuchen heute, in Böhmen einen Kapitalismus „mit sozialistischem Antlitz“ zu errichten: Die Auserwählten und Oligarchen tragen ihren Sieg konkurrenzlos davon, freien Wettbewerb sowie Rechtsstaatlichkeit gibt es nicht (so wie es im Sozialismus gang und gäbe war, den Feind mittels politischer Verfolgung vom Spielbrett zu fegen). Auch die alte Mentalität hat sich in die Gegenwart gerettet: Man fördert nicht die Begabten und Geeigneten, sondern die mit weniger Fähigkeiten Ausgestatteten,


solange sie sich nur durch Loyalität und Skrupellosigkeit auszeichnen. Überhaupt könnte man sagen, dass Tschechien zwar physisch die Kerkerhaft überlebt hat – sechs Jahre nationalsozialistische und vierzig Jahre kommunistische Herrschaft –, aber psychisch als ein Wrack in die freie Welt zurückgekehrt ist, mit der Befähigung, ausschließlich die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Wir sind ein Land, das Kafka nach 1989 rehabilitieren musste! Václav Havels polemischen Streit mit Milan Kundera in den Jahren 1968 und 1969 finde ich wieder hochaktuell. Kunderas a priori skeptische Haltung gegenüber allen staatsbürgerlichen Akten, die nicht mit der Hoffnung auf einen unmittelbaren Effekt verbunden sind, teilte Havel nicht. Er spürte, dass aus Prinzip etwas getan werden muss, immer etwas getan werden muss, wenn Menschen zu Unrecht eingesperrt werden. Mit dem Journalisten Ferdinand Peroutka betonte er auch die Bedeutung der Jahre eines bienenfleißigen, unermüdlichen Kampfs gegen die Windmühlen, den diejenigen ausfochten, die nie zögern, immer wieder Petitionen zu verfassen, und die betonen, dass es hin und wieder Sinn hat, sich als Staatsbürger tapfer zu verhalten. Dass dies sogar Sinn macht, wenn der Mensch dabei lächerlich aussieht. Das gilt auch für einen rein ethischen Akt, der keine Hoffnung auf einen augenblicklichen und sichtbaren politischen Effekt hat, der erst mit der Zeit allmählich und indirekt politisch bewertet werden kann. Zu diesen Gedanken stand die Charta 77. Als die früheren Gefangenen zurückkehrten, sagten sie übereinstimmend, dass die Petition zu ihren Gunsten eine große Genugtuung für sie bedeutete. Sie wussten besser als die draußen, dass diese Petition über die Frage hinausging, ob sie entlassen wurden oder nicht. Das Bewusstsein, dass sie nicht vergessen waren, dass jemand auf ihrer Seite stand und nicht zögerte, auch in einer Zeit allgemeiner Apathie und Resignation öffentlich für sie einzutreten, hatte unschätzbaren Wert – wie dies in unserer Zeit für die türkische Autorin Aslı Erdoğan, die kurdische Autorin und Politikerin Hevrin Khalaf oder den chinesischen Schriftsteller Liu Xiaobo zutraf.

tion (ein Hauptgewinn für jeden Makler) ein Museum oder Haus für die Literatur zu errichten. Wo das Geld spricht, schweigt die Wahrheit. Russland kennt viele Instrumente, um Künstlerinnen und Künstler zu „disziplinieren“. Die Zuteilung der Hütte im Jahr 1955 aber bedeutete für Achmatowa, dass das Schlimmste hinter ihr lag. Sie hatte Publikationsverbote unter Stalin überstanden und Hetzkampagnen. Heute käme kein Kremlherrscher auf die Idee, den Schriftstellerinnen und Schriftstellern eine Grüne Hütte zur Verfügung zu stellen. Das Grazer Cerrini-Schlössl dagegen ist heute der Begegnung unterschiedlicher Kulturen gewidmet und hat vielen Autoren und Autorinnen das Leben gerettet. Der Essay Ein Zimmer für sich allein aus dem Jahr 1929 ist auch der Ruf nach einer neuen Freiheit, in ihm befreit sich Virginia Woolf mit ihrer Idee vom weiblichen Schreiben aus den Verhängnissen des Schicksals. Der Text wurde zwar zu einem der meist zitierten Texte der Frauenbewegung, beschreibt aber geschlechterübergreifend die bedrückenden Bedingungen, unter denen Autoren und Autorinnen Literatur produzieren müssen. „… und wenn jede von uns fünfhundert Pfund im Jahr hat und ein Zimmer für sich allein; wenn wir an die Freiheit gewöhnt sind und an den Mut, genau das zu schreiben, was wir denken.“

FREIHEIT IST VERANTWORTLICHKEIT

DIE VERTEIDIGER DER FREIHEIT SIND NICHT SELTEN IN IHREM EIGENEN HAUS DIE GRÖSSTEN TYRANNEN

Im Jahr 2018 war ich Grazer Stadtschreiberin und hatte vor Ort den Frühling der Schwalben erlebt, die niemand auf der Welt wahrnimmt, weil sie hier sind, und wenn sie gerade nicht hier sind, kehren sie wieder zurück. Sie wissen, wann es Zeit ist, das heimatliche Nest zu verlassen, und sie wissen, wann es Zeit ist, ins heimatliche Nest zurückzukehren. Hier läuft niemand vor sich selbst weg. Sie führen ein eigenes, im Großen und Ganzen unabhängiges Leben. Die Schwalben sprechen nur in ihren Bewegungen und sagen, dass keine Grenzen existieren. Es existieren keine Staaten und es existieren keine Nationalitäten, es existieren keine Religionen und es existieren keine übergeordneten Geschlechter. Der Ruf nach moderner Freiheit. Ein Gegenbild: Gerade zu der Zeit, in der ich in Graz war, drohte in Komarowo das Sommerhaus „Grüne Hütte“ von Anna Achmatowa, der großen russischen Dichterin, Opfer des neureichen Datscha-Booms zu werden. Niemand hatte die Absicht, in dieser Loca-

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Der künstlerische Ruf nach moderner Freiheit ist nichts Selbstverständliches. So ein Zimmer und Nest habe ich gefunden und erlebt. In Russland, Polen, Ungarn, Weißrussland, China, Myanmar stehen diese „Zimmer“ zurzeit nur den loyalen Literaten offen, nicht den unabhängigen. Der künstlerische Ruf nach moderner Freiheit endet nie, er ist nämlich nichts Selbstverständliches.

In Artikel 19 der 1948 von der UNO verkündeten Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ In einer Zeit, als der internationale Rundfunk noch in den Kinderschuhen steckte und noch nicht einmal Science-Fiction-Autoren das Internet im Blick hatten, war dieser letzte Satz bahnbrechend, „ohne Rücksicht auf Grenzen“. Das war der Ausgangspunkt. Eine wichtige Einschränkung der freien Meinungsäußerung findet sich allerdings in Artikel 20 des 1966 verabschiedeten UN-Zivilpakts, in dem es heißt: „Jede Kriegspropaganda und jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz ver-

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boten.“ Sobald das Übereinkommen ratifiziert ist, ist es für den unterzeichnenden Staat – theoretisch – rechtlich bindend. Er muss es in sein politisches System und sein Rechtssystem integrieren und die darin enthaltenen Rechte garantieren. Was aber, wenn er es nicht tut? Oder schlimmer noch, wenn die Diplomaten auf endlosen internationalen Konferenzen Lippenbekenntnisse zur Meinungsfreiheit abgeben, während sie in ihren Heimatländern von den Folterknechten erstickt wird? Wer heute nicht über Bildung, Wohlstand, Gesundheit, Zeit und Zugang zum Internet verfügt, dessen tatsächliche Freiheit der Meinungsäußerung ist stark eingeschränkt. Wo das Geld spricht, schweigt die Wahrheit. Für uns andere werden die wichtigsten Grenzen der freien Meinungsäußerung durch den Staat, in dem wir leben oder uns gerade befinden, durch die Unternehmen und Organisationen, die unsere Kommunikationsmedien beherrschen, gezogen. Die Redefreiheit, über die man verfügt, ist ein Produkt der in dem realen Staat herrschenden Bedingungen, aber auch der Bedingungen, die virtuelle Staaten wie Facebook, Google, Twitter oder andere Plattformen, Verleger, Sender, Zeitungen, Universi­ täten und so weiter schaffen und die am eigenen Wohnort relevant sind. Wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit. Im globalen Informations- und Kommunikationssystem ist der Kampf um die Wortmacht auch ein Kampf um die Weltmacht.

rechte. Dabei stützte er sich bewusst nicht nur auf westliche Traditionen. Er machte seiner Frau ein bewegendes Kompliment: „Liebste, da ich deine Liebe habe, kann ich gelassen meinem Urteil entgegensehen, muss nichts bereuen und kann dem morgigen Tag mit Optimismus begegnen“, und er freute sich auf den Tag, „an dem mein Land ein Land der freien Rede sein wird und auf diesem Boden das Wort eines jeden Bürgers gleich behandelt wird. Auf den Tag, an dem unterschiedliche Werte, Meinungen, Glaubensbekenntnisse und politische Ansichten miteinander konkurrieren und friedlich nebeneinander existieren können.“ Der Richter unterbrach ihn, bevor er fertig war, doch dem frei geborenen Xiaobo gelang es trotzdem zu sagen, was er wollte. „Ich hoffe sehr, dass ich das letzte Opfer der literarischen Inquisition in diesem Land sein werde und von nun an niemals mehr ein Mensch für seine Worte verurteilt werden wird. Die freie Meinungsäußerung ist das Fundament der Menschenrechte, die Wurzel der Menschlichkeit, die Mutter der Wahrheit. Die Redefreiheit zu beschneiden heißt, die Menschenrechte mit Füßen zu treten, der Menschlichkeit den Atem zu nehmen und die Wahrheit zu behindern.“ Xiaobo war zu diesem Zeitpunkt schon berühmt. Und durch diese Rede wurde er noch berühmter. Im Jahr 2010 erhielt er den Nobelpreis. Am 26. Juni 2017 wurde er mit Leberkrebs in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er weiter unter strenger Überwachung stand. Dem Todkranken wurde eine Behandlung außerhalb Chinas verwehrt. Er starb am 13. Juli 2017 im Alter von 61 Jahren. Die Geschichte der Freiheit ist eine Geschichte des Widerstandes.

DAS BESTE AUF DER WELT: PERSÖNLICHER MUT Wir sollten nicht nur Denkmäler, Architektur, Kunst und Ähnliches als Kulturerbe schützen. Wir müssen auch persönlichen Mut zur freien Rede und die Kraft schützen, die Wahrheit zu sagen. Sonst wird die Freiheit langsam auch „Kulturerbe“ der Vergangenheit. Es gibt heute viele Beispiele für hartnäckigen Widerstand in Polen, Ungarn, Russland, Weißrussland, China, Myanmar … Ein eindrucksvolles Beispiel ist der chinesische Dissident Liu Xiaobo. Aber noch wichtiger sind für mich sogenannte normale Menschen, die außergewöhnliche Dinge tun. Es gibt bereits Denkmäler für großen persönlichen Mut. Menschen wie der Hamburger Werftarbeiter, der sich 1936 beim Stapellauf eines Marineschulschiffs weigerte, wie alle anderen den Hitlergruß zu zeigen. Das Foto von der Zeremonie fand erst 60 Jahre später weite Verbreitung. Es zeigt ihn in einem Wald von ausgestreckten Armen, die eigenen vor der Brust verschränkt, ein lebendes Porträt von trotzigem Arbeiterstolz. Er war NSDAP-Mitglied gewesen, aber aus der Partei ausgeschlossen worden, als er sich mit einer jüdischen Frau verlobte und wegen „Rassenschande“ ins Gefängnis kam. Nach seiner Freilassung wurde er zum Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg eingezogen und kehrte nicht mehr zurück. Der erwähnte chinesische Dissident Liu Xiaobo wurde 2009 wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“ zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Sowohl seine schriftliche Reaktion auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als auch sein letztes Wort vor Gericht waren – wie schon seine früheren Schriften – klare und mutige Plädoyers für Meinungsfreiheit und Menschen-

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FREIHEIT VOM STAAT IST NOCH NICHT FREIHEIT IM STAAT Immer wieder bleibt die große Frage, die uns alle plagt: Individuum oder Masse, geschlossene Gesellschaft oder offene Demokratie, Totalitarismus oder Freiheit? Es scheint, dass diese Frage heute eine universelle ist. In unserer Welt verlaufen Grenzen nicht so sehr zwischen Volksgruppen, Nationen, Konfessionen, als vielmehr zwischen Vernunft und Fanatismus, Toleranz und Hysterie, Kreativität und Zensur. Antihumanismus ist oft das Resultat, der vorangehende Prozess heißt Entmenschlichung. Aber wenn wir in Osteuropa von den Menschen im Westen fordern, nicht nur an ihre Partikularinteressen zu denken und sich so zu verhalten, wie sich alle verhalten sollten, bzw. so, als ob sie für das Schicksal ganz Europas verantwortlich wären, warum sollten wir dasselbe dann nicht auch von den Menschen in den osteuropäischen Staaten selbst fordern? Der Haken dabei ist, dass wir in den langen Zeitspannen zwischen Explosionen der Solidarität und Hilfsbereitschaft meist in einer Welt leben, die scheinbar unwiderruflich in „wir“ und „die anderen“ gespalten ist. Was bedeutet es eigentlich, moralisch zu sein und die Hoffnung nicht zu verlieren? Im Kern heißt es, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu kennen und zu wissen, wo die Grenze verläuft. Im weiteren Sinne heißt es, selbst die Verantwortung für die Förderung des Guten und den Widerstand gegen das Böse zu erkennen und zu übernehmen. Es ist nicht zulässig, bestimmte Menschengruppen aus dem Bereich


der eigenen moralischen Verpflichtung auszuschließen. Die Entmenschlichung bereitet den Weg für den Ausschluss aus der Gemeinschaft legitimer Träger von Menschenrechten und führt zu einer Verschiebung des Problems aus dem Bereich der Ethik in den Bereich der Kriminalität. Mit solchen Menschen wie Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen, Alexander Lukaschenko in Weißrussland, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Wladimir Putin in Russland, Miloš Zeman oder dem ehemaligen Präsidenten Tschechiens, Václav Klaus, hat auch unsere Vorliebe für parteiliche Vorteile überlebt. Die Stellung des Präsidenten ist die eines Monarchen, eines Zaren, es ist der Bazillus, der in uns hängen geblieben ist, die Angst vor der Zivilgesellschaft, die angeborene Neigung, den anderen auszunutzen. So zu tun, als wären wir nicht ein Teil von Europa, als befände sich Europa irgendwo außerhalb von uns, als könnte man es ungestraft der Lächerlichkeit preisgeben. Die tschechische Abkapselung ist gefährlich, die Ichbezogenheit, die kein Interesse daran zeigt, zu erfahren, was vor der eigenen Tür passiert. Es fehlt an Demut, Neugierde und Menschlichkeit. Wo das Geld spricht, schweigt die Wahrheit. Dabei lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Böhmen und Mähren fast drei Millionen Deutsche. Wir haben drei Millionen Menschen vertrieben. Wir können jetzt drei Millionen Menschen aufnehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen undifferenzierte, gehässige antideutsche Stimmungen die Oberhand. Vom Prinzip der Kollektivschuld ausgehend, vermengten sie sich auf eine absurde Weise mit dem traditionellen tschechischen Antisemitismus und fanden ihren Höhepunkt in der Vertreibung der Deutschen. Franz Kafka konnte „froh“ sein, dass er jung gestorben ist: Er ist nicht vergast worden, er ist nicht vertrieben worden. Durch die Vertreibung der Deutschen ist eine Atmosphäre entstanden, in der es möglich wurde, den politischen Gegner ohne großen Alarm zu beseitigen, eine Atmosphäre, die ein Leben ohne Recht und außerhalb des Gesetzes möglich macht. Dies sind die moralischen Folgen der Massenvertreibung: Wenn es möglich ist, einen Menschen dafür zu bestrafen, dass er zu einer bestimmten Nation gehört, dann ist es auch möglich, ihn dafür zu bestrafen, dass er einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse oder politischen Partei angehört. Nach der kommunistischen Machtübernahme von 1948 und der sowjetischen Okkupation von 1968 wurde der geltende Rechtsstatus für weitere Hunderttausende aufgehoben. Und nicht nur die tschechische Variante des Kapitalismus bringt heute das Gesetz des Dschungels zurück: Der Stärkere herrscht über den Schwächeren. Aber das Gesetz der Demokratie lautet: Der Stärkere schützt den Schwächeren. Wir müssen etwas gegen die Angst tun, gegen den endemischen „Totalitarismus“, und nicht bloß vor ihm fliehen.

So beginnt die Ära der grauen, totalitär-konsumorientierten Alltäglichkeit. Die Gesellschaft ist atomisiert, winzige Brennpunkte des Trotzes fallen der Vernichtung anheim, die enttäuschte und ermüdete Öffentlichkeit tut so, als ob sie nichts von irgendwelchen Problemen wüsste, das unabhängige Denken und Schaffen zieht sich in die Gräben der tiefsten Privatheit zurück. Die Macht braucht genau so etwas, sie verrät darin unabsichtlich ihre ureigene Intention: das Leben total gleichförmig zu machen, alles nur ein wenig Abweichende, Eigenwillige, Unabhängige oder nicht Einzuordnende herauszuoperieren. Und im Hintergrund zeigt sich der hochmütige Anthropozentrismus des modernen Menschen, der überzeugt ist, alles erkennen und ordnen zu können. Damit die Welt sich zum Besseren wendet, muss sich vor allem etwas im menschlichen Bewusstsein ändern, im Menschsein des heutigen Menschen. Er muss sich besinnen. Er muss sich aus dieser schrecklichen Verwicklung in die offenkundigen und verborgenen Mechanismen der Totalität befreien: vom Konsum über Repression, Bürokratie und Reklame bis zur Manipulation durch Digitalisierung, neue Technologien und Medien. Er muss sich gegen die Rolle des machtlosen Rädchens einer gigantischen Maschinerie auflehnen. Er muss die tiefere Verantwortung für die Welt wieder in sich selbst finden.

Die Gesellschaft ist atomisiert, winzige Brennpunkte des Trotzes fallen der Vernichtung anheim. Als in Berlin meine Bekannte, eine ausgezeichnete Schriftstellerin, in eine neue Wohnung zog, ging sie in einen Blumenladen. „Und woher kommen Sie? Aus Frankreich?“ – „Nein, aus Rumänien.“ – „Ach so, machen Sie sich nichts daraus.“ Ich erlebe dieselben Reaktionen. „Und woher kommen Sie?“ – „Aus Tschechien, aus Osteuropa? Ach so, machen Sie sich nichts daraus.“ Ein derartiges Einsortieren der Menschen und Völker bringen die Erwachsenen den Kindern zuhause und in der Schule bei; dieser Teufelskreis kann nicht durchbrochen werden. Es liegt in der Natur des Menschen, seine Weltwahrnehmung als die einzig mögliche und richtige anzusehen. Schon unser erster Präsident Tomáš Garrigue Masaryk aber betonte sein ganzes Leben lang eine andere Perspektive: Wenn unser nationales Schicksal von etwas abhängt, dann vor allem davon, wie wir unseren menschlichen Aufgaben gerecht werden.

SPRICHT DER HUNGRIGE VON FREIHEIT, MEINT ER BROT WOHER KOMMEN SIE? Auch heute ziehen sich viele Menschen in sich selbst zurück und hören auf, sich für allgemeine Dinge zu interessieren. Aber so beginnt die Ära der Apathie und umfassenden Demoralisierung.

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Ich möchte, dass die Angehörigen meiner Generation zu den Menschen gehören, die sich von Vorurteilen und Gedankeneinheitsbrei, von der Chronik der tschechischen Kleingeistigkeit, der Angst vor allem, was nicht-tschechisch ist, von dem Gefühl, dass wir nur ein

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Puffer zwischen West und Ost sind, verabschieden. Wir sind Europäerinnen und Europäer. Wir sind Menschen. Und die Literatur soll sich jeder Erniedrigung der Menschenwürde entgegenstellen; sie vermag aufzuzeigen, dass es unzählige Wahrnehmungsmöglichkeiten gibt, dass wir die Worte, mit denen wir denken, „abwaschen“ und „anders“ verwenden können, dass wir „anders“ leben können, dass schöpferische Freiheit grenzenlos ist. Die Literatur ist in meinem Leben die Gesamtheit aller Formen der Tapferkeit, der Kunst, der Liebe, der Freundschaft und des Denkens, die dem Menschen erlauben, weniger Sklave zu sein: Die Literatur so zu leben, ist die reinste Form der Liebe. Der Kampf um Freiheit und freiheitliches kritisches Denken ist zu jeder Zeit schwierig und endet nie. Aber die Freiheit ist für die Gesellschaft, was die Gesundheit für den einzelnen ist. Die Begriffe „kollektive Schuld“ und „kollektiver Sieg“ sind monströs. Und der Nationalismus nimmt heute noch monströsere Formen an, weil er nur eine Frage ausspuckt: „Und woher kommen Sie?“ Stellen wir uns eine andere, wichtigere Frage: „Wer sind wir?“ Darum geht es. Nationalliteratur kann jetzt nicht viel aussagen: Die Zeit der Weltliteratur ist gekommen. Schließlich gibt es nur eine einzige Grenze: die zwischen einem Menschen und dem anderen. Niemand entwickelt sich im luftleeren Raum, außerhalb aller Epochen und Systeme. Die Zeit, in der der Mensch aufwächst und reift, beeinflusst sein Denken. Es geht also eher darum, auf welche Weise sich der Mensch hat beeinflussen lassen. Machen wir einfach Schluss mit dem Warten auf eine Besserung der Welt. Bekennen wir uns zu unserem Recht, einzugreifen und Stellung zu beziehen. Die Geschichte findet nicht anderswo statt. Sie ist hier. Wir alle machen sie. Das Leben steht nicht außerhalb der Geschichte, und die Geschichte steht nicht außerhalb des Lebens. Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem der Opfer. Die Illusion, dass das Unglück den Menschen vermenschlicht, zerbrach definitiv. Ein Totalitarismus, in dem die Durchschnittlichen sich verbünden und jede Andersartigkeit unter Strafe stellen, ist in höchstem Maße repressiv. Nur die Schwalben fliegen weiter, ihre Weisheit erwächst lediglich aus den tiefen Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie ihrer Art treu.

DER WERT EINES MENSCHEN BESTIMMT SICH NACH ­SEINER FREIHEIT: NACH DER, DIE ER HAT, UND NACH DER, DIE ER BEWILLIGT Die Gegenwart zeichnet eine dramatische politische Verschiebung aus: Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig. Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist bereits Realität. Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. Es ist ein Angriff, der uns allen gilt. Die Bildung ist nicht nur die einzig sichere Basis, sondern auch die notwendige Vorbedingung der Freiheit und die beste Garantie gegen die Wiederkehr der Verdummungspolitik. Bildung im 20. und 21. Jahrhundert erfordert vor allem und zunächst die instinkt­sichere Abwehr überbordender Informationen. Dank Internet weiß keiner,

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was die Wirklichkeit ist, was inszeniert ist, die Lügen werden ins Leben gekippt wie Öl ins Meer. Wir brauchen nicht nur eine tiefgreifende Bildung, wir brauchen auch Erziehung, weil schon Karl Kraus wusste: „Eine umfassende Bildung ist eine gut dotierte Hausapotheke. Aber es besteht keine Sicherheit, dass nicht für Schnupfen Zyankali gereicht wird.“ Das Maß unserer provokativen Hoffnung ist das Maß unserer Fähigkeit, uns um etwas zu bemühen, weil es moralisch ist, und nicht nur, weil es Erfolg garantiert. Die Jungen, das habe ich gelernt, haben es satt, dass über Europa nur noch die reden, die es schlechtreden. Sie wollen nicht, dass ihnen ihre Hoffnung, ihre Zukunft von Populisten geraubt wird oder durch Lethargie abhandenkommt. Das geeinigte Europa ist die gelungene Antwort auf unsere Geschichte und unsere Geografie. Wenn wir Europa nicht zum vollwertigen Mitspieler auf der Weltbühne machen, dann werden wir alle einzeln zum Spielball anderer Mächte. Wir brauchen kühle Köpfe, einen klaren Verstand, kreatives Denken. Und den Schutz der Menschenrechte. Die Lüge ist so allgemein verbreitet, dass man die verdunkelte Wahrheit nicht erkennen kann, wenn man sie nicht liebt. Kunst ist auch eine Oase des Humanismus, die an Bedeutung gewinnt in einer Zeit, in der Konsumdenken, Luxus und erhöhte Gleichgültigkeit herrschen. Ein Ort, an dem der Mensch er selbst sein kann und das Beste in sich entwickeln kann. Diese Art von authentischem, unsentimentalem Humanismus ist heute von großer Bedeutung. Ein Ort für die Menschheit ohne politische Einordnung. Und Literatur ist zeitloser Humanismus. Sie ist der Humanismus gelebter Hoffnung. Eine Oase der unabhängigen Manifestation des Daseins. Hier leben Begriffe wie Vertrauen, ­Kreativität, Mitgefühl, Barmherzigkeit. Dinge, die in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft fast mit Selbstmord gleichgesetzt werden. Eine Oase der Moral, die sich daraus ergibt, dass wir am Leben sind und diesen Planeten mit anderen teilen. Das beschränkt sich nicht auf die Tatsache, dass die Kräfte, die die Bedingungen unseres heutigen Lebens prägen, im globalen Raum wirken und dabei die Institutionen des politischen Handelns im Grunde so bleiben, wie sie vorher waren: lokal. Dass andere mit uns nicht einverstanden sind, ist kein Hindernis auf dem Weg zu einer menschlichen Gemeinschaft. Und wir alle wissen, dass die Politik der gemeinsamen Menschheit vor den schicksalhaftesten aller schicksalhaften Schritte steht.

RADKA DENEMARKOVÁ ist Prosaautorin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin, sie übersetzt deutsche Literatur und lehrt Creative Writing. Als einzige tschech­ische Autorin ist sie vierfache Preisträgerin des Magnesia-Litera-Preises. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Tschechische Literatur der tschechischen Akademie der Wissenschaften und als dramaturgische Beraterin am Theater Divadlo Na zábradlí in Prag tätig. Zu ihren wichtigsten Büchern gehören Ein herrlicher Flecken Erde (dt. 2009), Ein Beitrag zur Geschichte der Freude (dt. 2019) und Stunden aus Blei, das 2022 auf Deutsch erscheinen wird. Ihre Werke wurden in rund zwanzig Sprachen übersetzt.


ICMET Craiova, Rumänien, 03, 2019


Naturwissenschaftliches Museum, Iași, Rumänien, 01, 2015

Hochspannungslabor an der Technischen Universität Iași, Rumänien, 01, 2011

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EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN

ZWISCHEN ZWEI WELTEN

ARCHIV DER ABWESENHEIT

ZU DEN FOTOGRAFIEN VON MATEI BEJENARU  Cristina Stoenescu Matei Bejenaru dokumentiert seit über zwei Jahrzehnten Orte industrieller Produktion und technologischer Forschung in Rumänien. Mit seinem wachsenden Archiv analoger Fotografie erforscht der Künstler seit 2009 den Raum zwischen Erinnerung und Verlust, zwischen aufkeimender Utopie und Vergessen. Während der späten 1940er-Jahre verordnete das kommunistische Regime dem Land einen komplexen Prozess der Industrialisierung und Urbanisierung. Fast vier Jahrzehnte später war um alle Städte Rumäniens eine Infrastruktur aus Fabriken und Produktionsstätten, Berufsschulen, Hochschulen, naturwissenschaftlichtechnischen Museen und Forschungseinrichtungen entstanden. Diese neue industrielle Struktur schien ein neues Zeitalter eingeläutet zu haben, in dem sich die zuvor überwiegend agrarische Gesellschaft in Rumänien nachhaltig veränderte. Doch obwohl die Mehrheit der Arbeiter*innen von einem höheren sozialen Status profitierte, konnte das instabile, absurde und raue politische Klima die Versprechen des sozialistischen Traums nicht nachhaltig einlösen. Selbst die euphorische, hoffnungsvolle Stimmung der Rumänischen Revolution im Jahr 1989 war nicht von Dauer. Der zähe und langwierige Übergang zum Kapitalismus erwies sich als ein Weg, der die Alte Welt und ihre emblematischen Institutionen dem Vergessen und der Dekonstruktion anheimgab. Aufgrund fehlender Investitionen und überhasteter Privatisierungen wurden viele Fabriken und Werksanlagen Stück für Stück verkauft, stillgelegt oder gingen schlichtweg bankrott. Und das fehlende Interesse am Erhalt von Orten wissenschaftli-

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cher Forschung, die als Teil einer traumatischen und dogmatischen Vergangenheit wahrgenommen wurden, brachte das Bildungssystem zum Erliegen. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich die rumänische Wirtschaft fast vollständig auf ausgelagerte IT-Dienst­ leistungen einerseits, auf Arbeitsmigration gen Westen im landwirtschaftlichen Bereich oder der häuslichen Pflege andererseits. Matei Bejenaru treibt eine besondere Empathie für das Schicksal der Arbeiter*innen, Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen an, die im industriellen wie postindustriellen Rumänien den Halt verlieren. In den Bildern, die er auf großformatigen Fotografien festhält, verbirgt sich ein Gefühl von Nostalgie, als würde er jedes Detail der letzten Momente verlassener Erinnerungsorte erkunden. Dabei knüpft der Künstler an zentrale Konzepte der Düsseldorfer Fotoschule an, insbesondere an spätere Generationen deutscher Künstler wie Andreas Gursky oder Thomas Struth. Hinzu kommt seine unverbrüch­liche Hingabe an die visuelle Poetik der analogen Fotografie, die seinem künstlerischen Ansatz eine weitere Facette anfügt: Die Ära der Industrie- und Wissenschaftsstandorte, die Zeit ihrer Entstehung in den 1960er- und 1970erJahren, fällt mit dem Höhepunkt der analogen Bilder­ zeugung zusammen. In bewusstem Bezug zu dieser Entwicklung ist der Künstler darauf bedacht, alle Bilder aus dem Archiv selbst in seiner Dunkelkammer zu entwickeln und abzuziehen. So verbindet Bejenaru in einem konzeptionellen Transfer von der Vergangenheit zu einer Gegenwart der Abwesenheit die Geschichte der Foto­ grafie mit der Geschichte der Technologiestandorte.

MATEI BEJENARU, geboren 1963 in Rumänien, konzentriert sich auf Fotografie, Performance und Film. Seine Arbeiten wurden in jüngster Zeit im National Museum of Contemporary Art in Bukarest (2021), im Bozar – Centre for Fine Arts in Brüssel (2019–2020), in der New York Foundation for the Arts (2019) und in der Wanderausstellung Orient (2018) gezeigt. Zuvor stellte der Künstler bereits in bedeutenden Institutionen wie dem Museum Europäischer Kulturen, Berlin (2015) und der Tate Modern, London (Drawing Room, 2010 und Level 2 Gallery, 2007) aus. 2008 nahm er an der Taipei Biennale und 2001 an der 49. Biennale in Venedig teil. Matei Bejenaru wird von der Anca Poterasu Gallery in Bukarest vertreten. CRISTINA STOENESCU ist Kuratorin und Kunstautorin. Sie lebt und arbeitet in Rumänien. Ihr Studium der Politikwissenschaften an der Universität Bukarest schloss sie mit einer Arbeit über die institutionellen Veränderungen in der Union Bildender Künstler*innen in Rumänien ab. Zeitgenössische Kunst mit dem Schwerpunkt Kuratorische Studien studierte sie in Bukarest und Maastricht. Derzeit koordiniert Cristina Stoenescu das kuratorische Programm der Romanian Association of Contemporary Art und arbeitet mit der Anca Poterasu Gallery in Bukarest zusammen.

Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

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“Dimitrie Leonida” Technical Museum, Bukarest 02, 2019



EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN

Woher kommen die negativen Emotionen in der politischen D ­ ebatte? Und was kann man ihnen entgegensetzen? Die Leiterin der Villa Decius in Krakau, Dominika Kasprowicz, und der Wiener Historiker Philipp Ther im Gespräch mit Matthias Krupa.

VOM WERT DER SCHÖNHEIT IM KAMPF GEGEN DEN HASS

Frau Kasprowicz, Herr Ther, Sie unterstützen die Europäische Allianz der Akademien. Diese Allianz versteht sich als Initiative, die in Europa für die Freiheit der Kunst und gegen jede Form von gesellschaftlicher Spaltung auftritt. In vielen Ländern geht diese Spaltung einher mit einer zunehmenden Emotionalisierung der öffentlichen Debatte. Wie kommt es, dass Gefühle heute eine so große Rolle spielen? DOMINIKA KASPROWICZ   Die theoretischen Konzepte, wie politische Macht mit Hilfe von Gefühlen Einfluss ausübt, reichen zurück bis ins 16. Jahrhundert. Nicht nur populistische oder radikale rechte Regierungen versuchen heute, mit Hilfe von Gefühlen Kontrolle über die Bevölkerung zu gewinnen. Das ist ein grundsätzlicher Trend, der durch die Pandemie noch einmal verstärkt worden ist. Dabei sind extreme Emotionen wie Angst und Hass am wichtigsten. Hinzu kommt, dass sich die Kluft zwischen Politik und Ethik vertieft hat. Noble Motive, etwa Selbstlosigkeit, Respekt oder Toleranz, sind dadurch ins Hintertreffen geraten. PHILIPP THER   Ich denke, wir haben es mit einem gemischten, widersprüchlichen Bild zu tun. Auf der einen Seite gibt es eine große Nachfrage nach substanziellen, faktischen Informationen. Denken Sie nur an den wachsenden Anteil nicht-fiktionaler Literatur auf dem Buchmarkt! Auf der anderen Seite werden unsere Gesellschaften zunehmend von Emotionen getrieben, und die Politik versucht immer stärker, mit emotionalen Botschaften zu arbeiten. Das liegt auch daran, dass unsere Öffentlichkeit gespalten ist. Wir haben die alte Öffentlichkeit im

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Habermas’schen Sinne, die der Aufklärung und Rationalität verpflichtet ist, aber daneben gibt es eine neue Sphäre der Öffentlichkeit, die sich vor allem in den sozialen Medien konstituiert. Zum einen dominieren dort kapitalistische Interessen, zum anderen werden sich selbst verstärkende Teilöffentlichkeiten geschaffen, Nischen für Menschen ähnlicher Ansichten. Um Menschen in diese Nischen zu locken und sie dort zu halten, sind emotionale Botschaften wichtig. Offensichtlich sind es vor allem negative Emotionen, die geweckt und angesprochen werden. Angst und Hass wurden schon genannt. Warum ist das so? DK   Politiker nutzen dieselben Abkürzungen, die Menschen in ihrem alltäglichen Leben auch wählen. Wer negative Emotionen anspricht, gelangt häufig schneller an sein Ziel. Es ist eine Möglichkeit, spektakuläre Effekte zu erzielen, auch wenn diese oft nicht lange anhalten. Wenn wir einen Blick auf aktuelle Umfragen werfen, bekommen wir eine Vorstellung davon, in welcher psychischen Verfassung sich unsere partikularen Gesellschaften befinden. Eine Studie der Universität Warschau hat Ende 2020 herausgefunden, dass sich der allgemeine Gemütszustand bei etwa der Hälfte der erwachsenen Polinnen und Polen innerhalb der vergangenen zwei Jahre dauerhaft verschlechtert hat. Sie fühlen sich nicht nur müde und erschöpft, sondern häufig machtlos, eingeschüchtert, mitunter starr vor Angst. Zum Teil ist das eine Folge der Pandemie, und natürlich bleibt es nicht ohne Folgen für den politischen und öffentlichen Bereich.

Nun müssen negative Gefühle nicht zwangsläufig negative Folgen haben. Am Beginn der friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa standen auch Wut, Zorn und Frustration, also ganz ähnliche Gefühle, wie wir sie heute erleben. Worin besteht der Unterschied zwischen 1989 und 2021? DK   Damals mündeten Wut und Zorn in einem großen Umbruch, in Freiheit, Demokratie und Pluralismus. Aber was sind die Voraussetzungen für einen solchen Umbruch? Zunächst einmal reicht es nicht aus, wenn jemand starke Überzeugungen hat, für die er oder sie auf die Straße geht. Vielmehr müssen die Werte, die diesen Überzeugungen zugrunde liegen, von anderen Menschen geteilt werden. Außerdem muss eine bestimmte soziale Schwelle überschritten werden: Man muss bereit sein, sich von anderen drängen, mitreißen und anstecken zu lassen, um in Aktion zu treten, etwa zu protestieren und zu demonstrieren. Wenn ich nun die Situation von vor 30 Jahren mit heute vergleiche, bin ich nicht sicher, dass es einen kohärenten Kern an Werten gibt, der einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel möglich machen würde. Jedenfalls ist das die Antwort für den Moment. Aber vielleicht erleben wir eine Revolution, die erst in den Anfängen steckt. PT   Um den Unterschied zwischen den 1980er-Jahren und heute zu verstehen, müssen wir noch einmal auf die Frage zurückkommen, woher gegenwärtig die negativen Emotionen kommen. Sie sind ganz wesentlich eine Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die auf einer negativen Mobilisierung gründet. Sozialleistungen wurden


eingeschränkt, insbesondere erhöhte sich der Druck auf Arbeitslose und weniger gut ausgebildete Menschen. Die Folge ist: Selbst in reichen Ländern wie Deutschland oder Österreich fühlen sich mehr Menschen als früher von sozialem Abstieg bedroht. In ärmeren Ländern wie Polen hat die neoliberale Wirtschaftspolitik noch viel gravierendere Konsequenzen. Dort fühlen sich viele Menschen nicht nur von Armut bedroht, dort sind viele Menschen von Armut bedroht. Es mag sein, dass mit dieser neoliberalen Politik einige ökonomische Erfolge erzielt wurden, etwa das deutsche Jobwunder ab 2009. Vor allem aber wurde Angst geschürt. Noch eine andere negative Emotion ist in materialistisch orientierten Gesellschaften weit verbreitet: der Neid. Selbst wenn es mir gut geht und ich ein Auto habe und in Urlaub fahre, empfinde ich Neid darauf, dass mein Nachbar ein größeres Auto hat oder öfter in Urlaub fährt. Das bedeutet: Solange Menschen und Gesellschaften sich im Aufstieg befinden, sind sie in der Regel glücklich. Wenn sie aber einen bestimmten Lebensstandard erreicht haben, kehren sich die Vorzeichen um. Je größer der Wohlstand ist, desto stärker wachsen Neid und Verlustängste, also die negativen Emotionen. Haben wir es in allen europäischen Ländern mit denselben negativen Emotionen zu tun, oder gibt es Unterschiede im Gefühlshaushalt zwischen West- und Mittel- und Osteuropa? DK   Transformationen haben ihre eigene Dynamik. Die Entwicklungen, die Philipp Ther beschrieben hat, waren in Mittel- und Osteuropa sicherlich besonders intensiv. Trotzdem sind die Unterschiede meines Erachtens nicht so groß. Zur Politik der Emotionen gehören zwei Seiten: Den Einstellungen und Gefühlen, die in einer Gesellschaft vorherrschen, stehen das Angebot und die Qualität der jeweiligen politischen Eliten gegenüber. Der Erfolg radikal rechter, populistischer Parteien hängt ganz wesentlich davon ab, wie die anderen Parteien auf diese Herausforderung reagieren. Betrachtet man diese Seite der Medaille, gibt es natürlich Unterschiede. Die politischen Institutionen sind in Transformationsgesellschaften weniger stabil, die Qualität des politischen Personals muss sich erst herausbilden. Daher sind Transformationsgesellschaften anfälliger für destruktive Prozesse und Emotionen. So gesehen mögen die mittel- und osteuropäischen Länder anders sein. Aber es würde mich sehr überraschen, wenn die Menschen und ihre Gefühle selbst anders wären. PT   Laut Umfragen sind die Menschen in den skandinavischen Ländern glücklicher als etwa im östlichen Europa. Der gemeinsame Nenner aller sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ist, dass Menschen in relativ egalitären Gesellschaften zufriedener sind als in weniger egalitären Gesellschaften. Aber diese Erklärung hat ihre Grenzen, sonst hätten die Menschen in der früheren DDR auch besonders glücklich sein müssen, was sie nicht waren. Aber sicher ist, dass nicht alleine das materielle Wohlbefinden über das Maß an Zufriedenheit entscheidet. Ein wichtiger Indikator ist die Lebenserwartung. Und die ist nachweislich überall dort vergleichsweise gering, wo es einen großen Niedriglohnsektor und hohe Arbeitslosigkeit gibt. Diesen Zusammenhang kann man in allen westlichen Industriestaaten beobachten, auch in den USA.

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Aber vielleicht sollten wir die Gelegenheit nutzen und nicht ausschließlich über die negativen Emotionen und ihre Ursachen sprechen. Gerade im Rahmen der Allianz der Akademien sollten wir uns doch auch fragen, was wir diesen negativen Gefühlen entgegenstellen können. Woran denken Sie? PT   Auch hierfür gibt es in Mittel- und Osteuropa gute Beispiele. Denken Sie an die Entwicklung in der Slowakei nach dem schrecklichen Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Freundin vor einigen Jahren. Anschließend wurde eine bis dahin kaum bekannte, politisch wenig erfahrene Frau zur Staatspräsidentin gewählt, Zuzana Čaputová. Sie hatte ihren Wahlkampf mit einer betont positiven Botschaft bestritten: „Ja, wir können Ungleichheit und Korruption bekämpfen! Die Slowakei ist anders!“ Ihr Beispiel zeigt, dass es möglich ist, aus dem Teufelskreis der negativen Emotionen auszubrechen. DK   Ich würde die Frage etwas anders stellen. Wir sprachen schon darüber, dass negative Emotionen nicht zwangsläufig negative Prozesse auslösen müssen. Aber negative Emotionen sind der stärkste Antrieb, um Menschen zum Handeln zu bringen. Statt nun alle Kraft darauf zu verwenden, möglichst effizient positive Gefühle zu wecken, sollten wir eher nach den dahinterstehenden gemeinsamen Grundüberzeugungen suchen. In Polen arbeiten beide politischen Lager mit positiven Werten, niemand sagt: Wir wollen unser Land zerstören. Aber solange es keine gemeinsamen Überzeugungen gibt, reicht ein böses Wort, um weiter Hass zu verbreiten. Deshalb sind wir mit der Villa Decius der Europäischen Allianz der Akademien beigetreten: weil wir uns zu bestimmten Werten bekennen, die uns miteinander verbinden. Ich finde die Idee dieser Allianz besonders attraktiv, weil dahinter keine politischen Akteure stehen, sondern Kulturinstitute und Kunstakademien, die einen gemeinsamen, geschützten Raum schaffen, in dem jede Art von Emotion zum Ausdruck gebracht, hinterfragt und durchdacht werden kann.

Herr Ther, Sie haben darauf hingewiesen, dass man den radikalen, populistischen Kräften etwas entgegenstellen muss. Welche Rolle können Kunst und Kultur dabei spielen? PT   Zunächst einmal ist diese Gegenwehr eine Aufgabe für die politischen Akteure. Die Schwäche der politischen Linken und die Bereitschaft von Konservativen, mit radikalen Rechten zusammenzuarbeiten, sind ein großes Problem. Aber Kunst und Kultur können zum Wandel beitragen, und zwar, auch wenn das naiv klingt, durch Schönheit. Ich weiß, Schönheit ist ein umstrittenes Konzept und ein Stillleben mit einem Strauß Blumen ist nicht unbedingt Kunst. Aber ein Dorf oder eine kleine Stadt, die sich mit Blumen schmückt oder Straßenkünstler einlädt, setzt Fantasien frei. Wenn wir das Schwarz-WeißDenken überwinden wollen, hilft es nicht, sich für Grau zu entscheiden. Wir müssen Farben hinzufügen! Es wäre vermessen, wenn ich Künstlern oder Kultureinrichtungen etwas raten wollte. Aber ich glaube, dass es sich lohnt, den öffentlichen Raum zu besetzen, gerade in den kleineren Städten und auf dem Land. Etwa mit mobilen Ausstellungen, Kunstaktionen in Bussen oder ähnlichen Projekten. Ein anderer Raum, der viel besser genutzt werden sollte, sind die eingangs erwähnten sozialen Medien. Oft herrschen dort negative Emotionen vor, die sich selbst verstärken und zur Radikalisierung beitragen. Aber ich bin davon überzeugt, dass viele Menschen auch dort auf positive Botschaften und Bilder warten.

DOMINIKA KASPROWICZ ist promovierte Politologin, außerordentliche Professorin an der Jagiellonen-Universität und Geschäftsführende Direktorin der Villa Decius. Die Organisation richtet ihren Fokus auf den inter­­na­t ionalen Austausch von Kultur, Bildung, Forschung

Die Villa Decius ist ein Treffpunkt für kulturellen und gesellschaftlichen Austausch. Ist es für Sie schwieriger geworden, Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu erreichen und zusammenzubringen?

und Förderung von Menschenrechten und bietet einen lebendigen Raum für Experimente mit Kunst und Techno­logie sowie für die Förderung von Demokratie und zivilgesellschaftlicher Freiheit durch so unterschiedliche Programme wie die Computer Game Scriptwriting Academy und Kurse zum politischen Diskurs durch Kunst.

DK   Vielleicht sollte ich kurz erklären, unter welchen Umständen wir arbeiten. Polen ist zwar ein zentralisiertes Land, aber ein Großteil der Kultur und der kulturellen Förderung fällt unter die Verantwortung der lokalen Regierungen. Die Stadtregierung in Warschau stellt sich in vielen Fragen offen gegen die nationale Regierung, die von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) geführt wird. Wir haben es deshalb nicht so schwer wie Kultureinrichtungen in kleineren Städten oder auf dem Land, wo die PiS dominiert. Trotzdem ist es für uns als proeuropäische Institution, die sich für die Freiheit von Künstlerinnen und Künstlern, für Minderheiten und Flüchtlinge einsetzt, schwieriger geworden, Geld zu bekommen – aus einem interessanten Grund: Die Konkurrenz ist größer geworden. Das ist eine paradoxe Situation, denn eigentlich sollten wir unsere Kräfte bündeln. Auch deshalb schätze ich die Idee der Allianz der Akademien: Je mehr wir zusammenarbeiten, desto stärker werden wir.

PHILIPP THER ist Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien. Seine Arbeitsgebiete sind Europäische Zeitgeschichte, Sozialgeschichte, Migrationsgeschichte und Musikgeschichte. Seine Monografien, u. a. Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa (2017) und Das andere Ende der Geschichte: Über die Große Transfor­ mation (2019) wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt. 2019 wurde er mit dem Wittgenstein-Preis des öster- r­ eichischen Wissenschaftsfonds (FWF) ausgezeichnet. 2020 gründete er das Research Center for the History of Transformations. MATTHIAS KRUPA ist seit 2016 Europa-Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit. Zuvor war er deren Europa-­ Korrespondent mit Standort Brüssel. Demnächst wird er als Korrespondent aus Frankreich berichten.

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NOTHINGTOSEENESS LEERE / WEISS / STILLE

David Ostrowski, F (Don’t Honk), 2015, Acryl, Lack, Baumwolle auf Leinwand, Holz

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Als „nothingtoseeness“ bezeichnete John Cage die Entsprechung der Stille in den visuellen Künsten und umschreibt das Nichts durch Sehen und Fühlen, aber natürlich nicht das „Nichts-Sehen“ oder das „Nichtsehen“. Dabei nimmt Weiß als Farbe und Material eine zentrale Rolle ein, ein Aspekt, dem sich das Ausstellungsprojekt NOTHINGTOSEENESS widmen möchte: Weiß spiegelt die Im­ materialität, den Nullpunkt und die Leere wider, ist aber auch „Ruhe und Bewegung, ist Aktivität und Passivität […] grenzenloser dimensionaler Raum […] reine Energie“, so Raimund Girke.1 Diese und weitere historische und aktuelle künstlerisch-ästhetische Praktiken, die seit den 1950/60er-Jahren kontinuierlich bis zur Gegenwart

i­nternational in ausgewählten Kreisen zu einer kritischen und prozessbasierten künstlerischen Haltung führten – u. a. bei ­Raimund Girke, Otto Piene, Gotthard Graubner, Günther Uecker oder heute bei dem Maler David O ­ strowski, bei der Installation We Buy White Albums von Rutherford Chang und bei Gregor Schneiders HAUS u r –, sollen nach der pandemiebedingten Verlagerung künstlerischer und kultureller Begegnungen in den virtuellen Raum in einem analogen Erfahrungsraum erlebbar werden. Die Ausstellung findet vom 15. September bis zum 12. Dezember in der Akademie der Künste, Berlin, am Hanseatenweg statt.

ZWEI ASPEKTE EINER AUSSTELLUNG WEISS, ZERO, NULL MALEREI AN DER SCHWELLE ZUR ­UNSICHTBARKEIT IN DEN 1960ER-JAHREN Das weite Bedeutungsspektrum der Farbe Weiß, der Leere und der Stille und die damit verknüpfte Differenz zwischen Materialität und Immateriellem entwickelten spätestens ab den 1950er- und 1960er-Jahren in den USA und Europa ein gewandeltes künstlerisches Selbstverständnis, das sich in den Ausstellungen dieser frühen Jahre ablesen lässt und zu einem realen Austausch der Künstler*innen beiderseits des Atlantiks führte. Monochromie, Nouveau Réalisme, Achromie waren feste Bestandteile jener frühen internationalen Kunstausstellungen, die sich der „Avantgarde“, der „Neuen europäischen Schule“, der „Arte Programmata“, „Neuen Tendenzen“ oder der „Anti-Peinture“ widmeten und zum Teil sehr heterogene Haltungen zusammenfassend kategorisierten. Die Abwendung vom Tachismus hatten sie gemein, aber noch keinen gesicherten Platz in der Kunstgeschichtsschreibung. William E. Simmat beschrieb 1963 die Vorkriegsmoderne als Impulsgeberin dieser „neuen Tendenzen“ und konstatierte, dass „ihr Siegeszug […] in vollem Gange“ sei, aber noch ohne eine wissenschaftliche Durchdringung des Materials. 2 Curt Schweicher hingegen, Kritiker der jüngeren Moderne und damaliger Direktor des Städtischen Museums Trier, verfolgte laut Vernissage mit der Ausstellung Avantgarde ’613 das Ziel, die Besucher*innen mit den gegenwärtigen künstlerischen Formulierungen – über deren Auswahl kontrovers diskutiert wurde – zu konfrontieren und damit den Diskurs voranzubringen.4 Zwei Flügel der „neuen Richtung“ wurden gegeneinandergestellt: einerseits der stark kritisierte Rückgriff auf den Konstruktivismus und Suprematismus der 1920er-Jahre, andererseits die jüngere Generation, die sich „energisch der Farbe“ zuwendet – „Die Temperatur [der] Bilder liegt über dem Nullpunkt.“ Sie suchten nach einem „Äquivalent des Komplexen, nicht des Partikularen“ und nach einer „stato-dynamischen Raum-Flächen-Einheit“, in der die Farbe materielos sein und als Medium des „Spirituellen“ fungieren

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sollte. Die weiße Monochromie nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein, den neben den Erwähnten der Hannoveraner Galerist, Schriftsteller und Verleger Adam Seide, aber vor allem auch Udo Kultermann, der die Monochromie-Ausstellung mit internationaler Beteiligung in Leverkusen 1964 ins Leben rief,5 erkannten und beschrieben, insbesondere was die unterschiedlichen Bezugspunkte („Flügel“) anbelangte.

Girke, Holweck, LeBlanc, Peeters, Schoonhoven, Uecker) eröffnete – 1966 dann in der Addison Gallery of American Art in Andover (Massachusetts) zu sehen –, formulierte er ein wichtiges Statement gegen die ablehnende Haltung zahlreicher amerikanischer Kunst­kritiker*innen und für das Zusammenwirken amerikanischer und europäischer Positionen. Bereits 1966 lud Harald Szeemann, der als Direktor seit 1961 die Kunsthalle Bern zu einem intensiv diskutierten Ort gemacht hatte, zur Ausstellung Weiss auf Weiss zahlreiche Künstler*innen aus Europa und den USA ein und förderte den Austausch, den Erkenntnisgewinn und die ­Bildung von Netzwerken. So intensivierte die in New York lebende Yayoi Kusama ihre Kontakte zu Vertreter*innen der ZERO-Bewegung, und Otto Piene organisierte 1964 eine ZERO-Ausstellung im Institute of Contemporary Art an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Udo Kultermann, zwischen­zeitig in die USA emigriert, verfasste den fundierten Beitrag für das Ausstellungsmagazin über alle kulturgeschichtlichen, symbolischen und künstlerischen Aspekte der Farbe Weiß. Die Europäer wie Girke, Uecker, Piene, aber auch Lucio Fontana, Yves Klein oder Piero Manzoni arbeiteten im kleinen ­Format, während die Amerikaner – wie Jackson Pollock, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Mark Tobey – mit beeindruckend großen Leinwänden zwischen Dripping und ruhiger Einfarbigkeit agierten. Radikale Positionen wie Robert Rauschenbergs White Paintings, die erstmals 1951 in der Betty Parsons Gallery in New York gezeigt wurden, sind 1966 in Bern ebenso zu sehen wie Werke von Josef Albers, Sam ­Francis, ­J asper Johns, Claes Oldenburg, Robert Ryman und George Segal – damals ein einzigartiger Erkenntnis- und impulsgebender Erfahrungsgewinn für alle Beteiligten.

Ausstellungsmagazin der Kunsthalle Bern, Mai 1966 ANKE HERVOL ist Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste.

Als Frederick P. Walkey die von George Rickey mitinitiierte Ausstellung White On White6 1965 im DeCordova Museum, Lincoln (Massachusetts) mit zahlreichen internationalen Künstler*innen (aus Europa u. a. Fontana,

WULF HERZOGENRATH, Kunsthistoriker und Kurator, ist seit 2006 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Bildende Kunst und seit 2012 Direktor der Sektion.

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Gregor Schneider, Haus u r 1985–heute, Abbildungen (im Uhrzeigersinn von links oben): u 24, FLUR, Rheydt 1989 – Venedig 2001; u 28-29, FLUR, Rheydt 1989–1993; u 30, TREPPENHAUS, Rheydt, 1989–1993; u 24, FLUR, Rheydt 1989–1993

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Rutherford Chang, We Buy White Albums (fortlaufend)

WHITE ALBUM – BLACK ALBUM Das von Richard Hamilton als weiße Projektionsfläche gestaltete White Album der Beatles steht dem als Selbst­ ermächtigung zu begreifenden, als schwarzes Quadrat gestalteten Black Album von Prince gegenüber. Während das White Album millionenfach verkauft wurde und von Hamilton als Kommentar zum Massenprodukt mit einer eingeprägten fortlaufenden Nummer versehen worden war, die den Status des Unikats behauptete, verhält es sich bei Prince genau umgekehrt: Hier zog der Künstler seine Musik und den Tonträger wenige Tage vor dessen Auslieferungsdatum, dem 8. Dezember 1987, zurück. Hunderttausende Vinylalben wurden zerstört, nur etwa 100 Exemplare gelangten versehentlich als Rezensionsexemplare in Umlauf – sie sind tatsächlich Unikate im Vergleich zum White Album der Beatles. Beide Covers haben ihre ikonischen Vorbilder in der Malerei – das schwarze Quadrat von Malewitsch und die weißen Quadrate von Robert Ryman. 2007 begann der US-amerikanische Konzeptkünstler Rutherford Chang, alle Exemplare des White Albums zu kaufen, derer er auf Flohmärkten und in Second-Hand-Läden habhaft werden konnte. In immer größeren, an einen Schallplattenladen erinnernden Rauminstallationen stellt Chang seit 2012 seine bis heute auf 2.620 Exemplare angewachsene Sammlung von Kopien des White Albums aus. Aufgrund von Benutzungsspuren, aber auch Wasserschäden oder „Verzierungen“ sieht kein weißes Quadrat aus wie das andere. Sie sind alle individuell gealtert. 100 Farben Weiß: Während die verschiedenen Weißabstufungen in Rutherford Changs Installation We Buy White Albums genau einhundert Mal wie in einem Plattenladen ausgestellt sind, wird das Black Album von Prince, das in der Sammlerwelt der Musik den Status des Heiligen Grals besitzt, von einer einbruchsicheren Vitrine geschützt. Mehr noch: Die Vitrine steht auf einem Sockel, um den herum ein mattschwarzer Kubus gebaut ist, der

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an den Pilgerort Mekka erinnert, während das Innere dieses Kubus, weiß gestrichen, die ideale Präsentationsform für Kunst, die in Galerien zum Verkauf angeboten wird, der White Cube ist. In der Blickachse Eingang/ Sicherheitsvitrine hängt schließlich die Arbeit Judas! I don’t believe you / You are a liar! von Michael Schirner an der Stirnwand des White Cubes. Es handelt sich um die erste Erweiterung von Schirners Serie Pictures in Our Minds in die Dimension der Musik. Bis zu der von Max Dax kuratierten Ausstellung Black Album / White Cube im Jahr 2020 in der Kunsthal Rotterdam beschränkten sich die Motive aus Michael Schirners Pictures in Our Minds auf Bilder, die sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben haben: der Fußabdruck des ersten Menschen auf dem Mond, die brennenden Twin Towers, Willy Brandts Kniefall in Warschau etc. – in Form eines schwarzen Quadrats, auf dem in weißer Helvetica-Schrift eben das Weltereignis knapp beschrieben wird. Das Bild entsteht im Kopf des Betrachters. Bob Dylans berühmte Antwort auf die 1966 aus dem Publikum in Manchester gerufene Beleidigung „Judas!“ lautete „I don’t believe you / You are a liar!“ Mit seiner wütenden Reaktion verteidigte Dylan die eigene künstlerische Selbstermächtigung, als Musiker nicht automatisch Entertainer sein zu wollen. Kunst führt appropriativ zu neuer Kunst. Dylans spontaner Wutausbruch ging in einer neuen Arbeit von Michael Schirner auf, ein gerettetes Originalexemplar des Black Album von Prince wird als Testament schwarzer Selbst­ ermächtigung im Kontext des schwarz-weißen Kubus zum Denkmal, aber auch zum Malewitsch-Kommentar, das White Album der Beatles im Kontext von Rutherford Changs We Buy White Albums-Installation zur Meditation über die Einzigartigkeit von Massenprodukten und das Wesen von Projektionsflächen. MAX DAX, Journalist, Fotograf und Grafiker, war von 2006 bis 2010 Chefredakteur des Musikmagazins Spex. Er lebt als freier Autor in Berlin.

1 https://www.raimundgirke.com 2 Wiliam E. Simmat (Hg.), Europäische Avantgarde (Ausst.Kat. Galerie d, Schwanenhalle, Römer), Frankfurt am Main 1963. 3 Liste aller teilnehmenden Künstler*innen unter https:// www.artist-info.com/exhibition/Stadtmuseum-TrierId369150. 4 Vernissage 7/8, II (1962), o. P. 5 Udo Kultermann, Monochrome Malerei – eine neue Konzeption, in: Monochrome Malerei (Ausst.-Kat. Städtisches Museum Leverkusen, Schloss Morsbroich) ­L everkusen 1960, o. P. Siehe teilnehmende Künstler­ *innen unter ­h ttps://www.artist-info.com/exhibition/ Museum-­M orsbroich-Id362776. 6 artist-info.com hat die Ausstellung unter die „Influential Contemporary Art Exhibitions in the 20th and 21st ­C entury“ aufgenommen: „Die Ausstellung White On White wurde für diese Liste ausgewählt, weil die ­A uswahl der Künstler und Kunstwerke einen reflektierten Überblick bietet, der auf George Rickeys (Art Journal, 1964) und Barbara Roses (Art in America, 1965) Texten über konstruktivistische Künstler basiert. Die Ausstellung bietet einen Außenblick auf das, was in Europa und Amerika geschah. Sie war auch ein wichtiges Statement gegen die vielen Kunstkritiker, die gegen die ‚cool art‘, ‚idiot art‘ und ‚know-nothing-nihilism‘ polemisierten.“ Siehe https://www.artist-info.com/blog/influential-­ exhibitions-in-the-20th-and-21st-century/. Liste der teilnehmenden Künstler*innen ­u nter https://www.artistinfo.com/exhibition/­d eCordova-Museum-Id372561.

NOTHINGTOSEENESS – LEERE/WEISS/STILLE Eine Ausstellung der Akademie der Künste im Rahmen der BERLIN ART WEEK Akademie der Künste, Hanseatenweg 15.9.–12.12.2021 Kuratiert von Anke Hervol und Wulf Herzogenrath Ausstellungseröffnung: 15.9.2021

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Am 21. Dezember 1960 versammelte der afroamerikanische ­Saxofonist und Komponist Ornette Coleman acht Musiker in den New Yorker A&R Studios, um ein Album aufzunehmen: Free Jazz: A Collective Improvisation by the Ornette ­Coleman Double Quartet.1

Free Jazz: A Collective Improvisation by the Ornette Coleman Double Quartet, 1961, Innencover

BREAKING  THE SILENCE Harald Kisiedu

ORNETTE COLEMAN, PETER BRÖTZMANN UND DIE RADIKALITÄT DES EXPERIMENTELLEN JAZZ 32

Das von ihm formierte Ensemble bestand aus zwei Quartetten mit jeweils zwei Holzblasinstrumenten und einer Rhythmusgruppe aus Kontrabass und Schlagzeug, beteiligt waren führende Schwarze Experimentalisten wie Trompeter Don Cherry und Multi-Rohrblattinstrumentalist Eric Dolphy. Free Jazz ist mit seinen 37 Minuten und 3 Sekunden eine Abfolge kollektiver Improvisationen, die von komponierten Fanfaren und Themen durchsetzt sind. Ein Blasinstrument übernimmt jeweils die Führung, andere improvisieren Antworten, an die Stelle einer auf Harmonien basierenden Struktur treten motivische Assoziationen. Als das Album im September 1961 veröffentlicht wurde, zeigte das Innencover Jackson Pollocks White Light aus dem Jahr 1954. Bereits im Begleittext zu seinem Album Change of the Century (1960) erwähnte Coleman die Mobilität von Konzept und Praxis, zog Verbindungen zwischen seiner musikalischen Ästhetik und Pollocks abstraktem Expressionismus. Coleman betonte „eine Kontinuität des Ausdrucks, bestimmte kontinuierlich auftretende Gedankenstränge, die alle meine Kompositionen miteinander verbinden“, und merkte in Bezug auf seine eigene Musik an: „Vielleicht ist sie so etwas wie die Malerei von Jackson Pollock.”2 Für Robert K. McMichael waren die späten 1950erund frühen 1960er-Jahre in den USA durch „eine kritische Verschiebung des Gleichgewichts der moralischen Autorität von Weiß zu Schwarz [gekennzeichnet], die das

gesamte soziale Gefüge durchdrang“. Entscheidend befördert wurde diese Entwicklung durch die erheblichen Fortschritte, die die Bürgerrechtsbewegung in dieser Zeit erzielte.3 Gleichzeitig stellte Coleman die fortwährende, auf whiteness basierende, „besitzergreifende Investition“ 4 in die Konstruktion eines ontologisch stabilen Schwarzen Anderen grundlegend in Frage. In den Worten von McMichael: Colemans Aufnahme Free Jazz „unterstrich diese sozialen und kulturellen Veränderungen teilweise mithilfe einer Dezentrierung des Körpers in musikalischen Darstellungen der blackness, unterstützt von einer Dekonstruktion des Rhythmus und einer Rekontextualisierung der traditionellen Blues-basierten, harmonischen Strukturen des Jazz“.5 Die radikalen Klangvorstellungen, die Colemans Doppelquartett in Free Jazz umsetzte, wurden zu einem entscheidenden Bezugspunkt für spätere bahnbrechende experimentelle Jazzaufnahmen – in den USA, aber auch in Westdeutschland – wie John Coltranes Ascension (1965), Peter Brötzmanns Machine Gun (1968) und Manfred Schoofs European Echos (1969).6 Im Januar 1962 veröffentlichte das Jazzmagazin Down Beat zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Doppelrezension eines Albums, in dem beide Rezensenten Colemans Free Jazz auf der Fünf-Sterne-Skala der Zeitschrift bewerteten. Mit dem Urteil „Null Sterne“ und unter Einsatz psychopathologischer Begriffe verkündete der Mitherausgeber des Magazins, John Tynan, bissig:


„Wo endet die Neurose und wo beginnt die Psychose? Die Antwort muss irgendwo in diesem Mahlstrom liegen… ‚Kollektive Improvisation‘? Blödsinn. Der einzige Anschein von Kollektivität liegt darin, dass diese acht Nihilisten sich gleichzeitig in einem Studio befanden – mit einem gemeinsamen Ziel: die Musik zu zerstören, die sie hervorgebracht hat.”7 Das offensichtliche Entsetzen, mit dem Tynan auf Colemans radikale Umsetzung einer totalen Improvisation reagierte, lässt vermuten, dass hier etwas Größeres im Spiel war. Als Nachkomme von Menschen, die infolge der transatlantischen Versklavung endlosem physischen und psychischen Terror ausgesetzt waren, hatte Coleman mit seinem Ansatz, den der Wissenschaftler John Szwed als „maximalen Individualismus im Rahmen spontaner egalitärer Interaktionen“ bezeichnet, tiefgreifende gesellschaftspolitische Untertöne angeschlagen, die von existenzieller Bedeutung waren.8 Der Komponist, Musikwissenschaftler und Computermusik-Pionier George E. Lewis wiederum setzt den ring shout – ein religiöses Ritual, das erstmals von versklavten Afrikaner*innen in der Karibik und in den USA praktiziert wurde, bei dem Menschen einen Kreis bilden, sich gegen den Uhrzeigersinn bewegen und laut singen – und John Cages bekannte Komposition 4‘33” in Bezug zueinander und stellt fest: „Es scheint stimmig, dass Afroamerikaner*innen als Antwort auf die Versklavung, die sie physisch und sogar mental radikal zum Schweigen gebracht hatte, eine Reihe musikalischer Praktiken entwickelten, die (im Unterschied zu einer ästhetisierten Stille von etwa vier Minuten) alle zum Sprechen ermutigten.“9 Die mit der Versklavung einhergehende allumfassende Verstummung, die Lewis hier anspricht, erzeugte eine Stille, in der absichtlich keinerlei Töne und Geräusche produziert werden.10 Diese mutwillige Abwesenheit von Klängen und Geräuschen ist das Dirigat einer erzeugten Stille. Analog dazu unterscheidet die Wissenschaftlerin Gascia Ouzounian zwischen zwei grundlegend verschiedenen Konzepten von Stille: „Es gibt einen Begriff von Stille, der sie als physikalisches oder akustisches Phänomen versteht, d. h. die Abwesenheit von Geräuschen – in dem Sinne, in dem Cage den Begriff verwendet hat, als er verkündete, dass es ‚keine Stille gibt‘. Ein weiteres Verständnis des Schweigens begreift es als historisches und soziokulturelles Phänomen, im Sinne eines Schweigens einer Person oder eines Volkes.“11 Die letztgenannte Auffassung von Stille wird durch die Anwesenheit eines Dirigats hervorgerufen. Aus dieser Perspektive geht es beim Schweigen nicht um Abwesenheit, sondern um Anwesenheit, wenn auch nicht im Sinne von Cage. Stille bedeutet, eine Leerstelle zu markieren, die von einer Vielzahl von Klängen eingenommen wird. Scheinbar paradoxerweise ist es nicht wirklich Stille, sondern ein Schrei, der sich aus der dichten Polyfonie ungehörter Stimmen zusammensetzt. In den frühen 1960er-Jahren begannen sich Colemans bahnbrechende Innovationen über die erweiterten Netzwerke des Schwarzen Experimentalismus auf die musikalische Praxis in Westdeutschland auszuwirken, einem Ort, der selten mit der afrikanischen Diaspora in Verbindung gebracht wird. Unter den weißen deutschen Musiker*innen, die stark von dem beeinflusst waren, was Ouzounian als den „radikalen kollektiven Ausdruck“ afroamerikanischer Experimentalisten bezeichnet – auf den Colemans Arbeit wie ein Katalysator wirkte –, war der in dieser Hinsicht eminent wichtige Saxofonist und bildende Künstler Peter Brötzmann.12

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Brötzmanns Werk und seine Aktivitäten haben maßgeblich dazu beigetragen, das Deutschland der Nachkriegszeit als wichtigen Standort für experimentellen Jazz in Europa zu etablieren. Ausgebildet an der Wuppertaler Werkkunstschule, knüpfte Brötzmann Anfang der 1960erJahre bei Besuchen in den Niederlanden wichtige Verbindungen zu bildenden Künstler*innen und Musiker*innen wie Jan Schoonhoven und Yoko Ono. Seine prägenden Jahre überschnitten sich mit der Entstehung des internationalen und transdisziplinären Fluxus-Netzwerks, dessen experimentelle Konzepte und Praktiken den jungen Brötzmann tief berührten. Von allen mit Fluxus verbundenen Künstler*innen sollte Nam June Paik den größten Einfluss auf ihn haben. Im März 1963 erhielt er die Gelegenheit, mit Paik anlässlich der ersten Einzelausstellung des koreanischen Künstlers, Exposition of Music – Electronic Television, in der Galerie Parnass in Wuppertal zu kooperieren. Brötzmann erinnert sich: „Ich hatte das Glück, mit Nam June Paik zusammenzuarbeiten, der von der Musik kam. Ich war für ein paar Ausstellungen und Projekte eine Art Assistent und er hat mir gezeigt, dass Regeln dazu da sind, gebrochen zu werden.“13 Brötzmann gehört einer während des Krieges geborenen, „beschädigten“ Generation an, die in der Zeit der „konservativen Modernisierung“ der Nachkriegszeit erwachsen wurde und für die Bürde der jüngeren politischen Geschichte Deutschlands besonders empfänglich war. 14 In den späten 1950er-Jahren nahm eine Debatte Fahrt auf, die in den 1960er-Jahren noch an Tempo gewann: Aufs Tapet kamen Fragen nach den Kontinuitäten zwischen der NS-Zeit und den westdeutschen Nachkriegsjahren, der Zeit des „Wirtschaftswunders“, und nach der Komplizenschaft der Elterngeneration bei den Gräueltaten Nazideutschlands. Das führte zu einem wachsenden Generationenkonflikt, der in Diskussionen zur Sprache kam, die Brötzmann mit seinem Onkel, einem ehemaligen hochrangigen Wehrmachtsoffizier, führte. Forderungen der kriegsgeborenen Generation nach Antworten auf ihre Fragen nach der Mitschuld der Elterngeneration an den unsäglichen Gräueltaten des NS-Rassenstaates wurden meist mit Schweigen beantwortet. Brötzmann berichtete über die Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit afroamerikanischem Musikwissen für seinen Individuationsprozess: „Wir Deutschen befanden uns nach dem Krieg in einer ganz besonderen Situation. Wir hatten massive Probleme. Unsere Väter hatten beinahe die ganze Welt zu Fall gebracht. Und darauf mussten wir Antworten finden. Und natürlich bekamen wir keine von unseren Vätern. Also mussten wir Antworten auf die Frage finden, was das Leben ist und wie so etwas passieren kann. Ich musste woanders suchen und auch hier war Musik nicht nur eine Hilfe, sondern eine Art Buch, das ich lesen konnte, und ich konnte für mich selbst zumindest kleinere Antworten finden.“15

die von Jim-Crow-Gesetzen kodifizierte Segregation erlebt hatte, entwickelte Coleman Strategien, die sich dem Zum-Schweigen-Bringen radikaler Schwarzer Stimmen effektiv widersetzten. Durch die Auseinandersetzung mit Schwarzem musikalischen Wissen gelang es Brötzmann, ein anderes Schweigen im Westdeutschland der Nachkriegszeit zu brechen und es in seinen künstlerischen Arbeiten zur Geltung zu bringen. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

1 Ornette Coleman, Free Jazz: A Collective Improvisation by the Ornette Coleman Double Quartet [1961] (CD, Los Angeles: Atlantic Records, 2004). 2 Ornette Coleman, liner notes for Ornette Coleman, Change of the Century [1960] (CD, Los Angeles: Atlantic Records, 2002). 3 Robert K. McMichael, We Insist! Freedom Now: Black Moral Authority, Jazz, and the Changeable Shape of Whiteness, American Music 16/4 (1998), S. 375–416, hier S. 379. 4 Ich habe diesen Begriff von George Lipsitz entlehnt, The Possessive Investment in Whiteness: How White People Benefit from Identity Politics, Philadelphia 1998. 5 McMichael, „We Insist!”, S. 399. 6 John Coltrane, Ascension [1965] (CD, Santa Monica: Impulse!, 2000); Peter Brötzmann, The Complete Machine Gun Sessions [1968] (CD, Chicago: Atavistic, 2007); Manfred Schoof, European Echoes [1969] (CD, Chicago: Atavistic, 2002). 7 Pete Welding und John A. Tynan, Double View of a Double Quartet, Down Beat (18.1.1962), S. 28. Nachgedruckt in Robert Walser (Hg.) Keeping Time: Readings in Jazz History, New York 1999, S. 255. Pete Welding vergab 5 Sterne. 8 John Szwed, Josef Škvorecký and the Tradition of Jazz ­L iterature, in: ders., Crossovers: Essays on Race, Music, and American Culture, Philadelphia 2005, S. 187. 9 George E. Lewis, A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music, Chicago 2008, S. xii. 10 In diesem und dem folgenden Absatz greife ich auf aufschlussreiche Ideen ­z urück, die meine Partnerin Andrea Rothaug in einem kürzlich geführten Gespräch entwickelt hat. 11 Gascia Ouzounian, The Sonic Undercommons: Sound Art in Radical Black Arts Traditions, in: Jane Grant, John Matthias und David Prior (Hg.), The Oxford Handbook of Sound Art, New York 2021, S. 510. 12 Ebd., S. 512. 13 Harald Kisiedu, European Echoes: Jazz Experimentalism in Germany, 1950-1975, Hofheim 2020, S. 25. 14 Axel Schildt und Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte: Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 234. 15 Peter Brötzmann im Gespräch mit dem Autor, Wuppertal, 2.7.2010, siehe auch Kisiedu, European Echoes, S. 47. 16

Paul Gilroy, Foreword: Migrancy, C ­ ulture and a New Map of Europe, in: Heike Raphael-Hernandez (Hg.), Blackening Europe: The African ­American Presence, New York 2004, S. xviii.

HARALD KISIEDU ist Musikwissenschaftler und -historiker, promoviert an der Columbia University. Seine Forschungsinteressen umfassen Jazz als globales

Brötzmanns Bemerkungen zeugen ganz offensichtlich von einer Dynamik, die dazu führte, dass, in den Worten von Paul Gilroy, „in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein Appetit auf verschiedene afroamerikanische Kulturen zu einem Bestandteil der Neuordnung Europas nach dem Faschismus“ wurde.16 Als Nachkomme versklavter Menschen und jemand, der während seiner prägenden Jahre in Fort Worth, Texas,

Phänomen, afro-diasporische klassische und experimentelle Komponist*innen, Musik und Politik, Improvisation, Transnationalismus und Wagner. Kisiedu ist außerdem Saxofonist und spielte mit George Lewis, Branford Marsalis und Henry Grimes. Derzeit ist er Dozent am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück. Er ist Autor von European Echoes: Jazz Experimentalism in Germany, 1950–1975, erschienen 2020 im Wolke Verlag.

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RÄUMLICHE UND ZEITLICHE BILDER DES ERINNERNS UND VERGESSENS Aleida Assmann

Zwischen Erinnern und Vergessen liegen viele Abstufungen. Diese möchte ich hier untersuchen und dabei zeigen, wie sie durch ­Bilder versinnlicht und durch Beispiele veranschaulicht werden können.

Mauro Fiorese, Treasure Rooms of the Museo Archeologico Nazionale – Naples, Pigmentdruck auf Baumwollpapier, 2015

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GESTUFTES VERGESSEN IM MUSEUM Anders als in Bibliotheken und Archiven werden in Museen unterschiedliche Intensitätsgrade des Erinnerns und Vergessens durch ihre räumliche Anordnung akzentuiert. Wir können uns das bildlich mithilfe eines Geschäfts vorstellen, das aus verschiedenen Räumen besteht. Zur Straße gewandt befinden sich die Schaufenster, die die Käufer*innen mit attraktiven Angeboten und einer ästhetischen Anordnung ihrer Produkte anziehen. Am Schaufenster geht man vorbei, um den Laden zu betreten. Im Verkaufsraum sind die wichtigen Waren gut sortiert und griffbereit präsent. Darüber hinaus gibt es noch einen dritten Raum, und das ist das Magazin, in dem die restliche Ware ohne Ansichtsseite auf Regalen gestapelt ist und darauf wartet, als Nachschub einbezogen zu werden. Die dreistufige Raumfolge von Schaufenster, Verkaufsraum und Magazin lässt sich sehr gut auf Museen anwenden. Auch hier gibt es ein Schaufenster, das sind die Sonderausstellungen, die einem schnellen Wandel unterliegen. Oft wandern sie von Ort zu Ort, um möglichst viele Zuschauer*innen zu erreichen. Als zeitlich begrenzte Gelegenheit erzielen sie die höchste Aufmerksamkeitsstufe und stärkste Medienresonanz. Dahinter tun sich in Analogie zum Verkaufsraum die regulären Museumsräume mit ihren Dauerausstellungen auf. Hier kann man zuverlässig und langfristig den berühmtesten Werken der Kunstgeschichte immer wieder begegnen. Über Jahrzehnte hinweg präsentieren sich die viel gepriesenen Bilder dem Publikum, das sie über Generationen hinweg immer wieder aufsucht. Die Spitzenbilder des westlichen Kunstkanons bringen die Besucher*innen meist schon in ihren Köpfen mit, denn sie haben sie bereits unzählige Male auf Reproduktionen in Büchern und Zeitschriften, auf Kalendern und Postkarten gesehen. Sie sind im bürgerlichen Bildungsgedächtnis einverseelt, weshalb der Gang ins Museum nicht nur auf neue Entdeckungen, sondern gerade auch auf Wiederbegegnungen ausgerichtet ist. Mit jeder dieser Wiederbegegnungen vertieft sich der Eindruck und reichert den Zauber der Bilder an. In diesem erneuerten Austausch mit kanonischen Bildern und klassischen Kunstwerken bauen sich Bildung und Kunstverständnis auf. Die Magazinräume sind dagegen den Blicken entzogen. Der Fotograf Mauro Fiorese hat eine Foto-Serie in den Magazinen ­großer Museen gemacht und unter dem Titel Treasure Rooms (2016) veröffentlicht. Darin richtet er das Auge der Kamera auf das, was üblicherweise nicht zu sehen ist, und legt den Fokus damit auf die Nachtseite des räumlich Ausgegliederten, Weggeschlossenen, Unsichtbaren und Vergessenen.

ZEITLICHE BILDER DES ERINNERNS UND VERGESSENS Bisher hat man sich beim Thema der Metaphorik der Erinnerung besonders um räumliche Bilder wie die zweidimensionale Schreibtafel oder das dreidimensionale Magazin gekümmert. Diese räum-

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lichen Bildspender ­müssen jedoch um die vierte Dimension ergänzt werden, um die zeitliche Dynamik des Erinnerns und Vergessens in ihrer Komplexität zu erfassen, denn Erinnern ist nicht gleich Speichern. Ein interessantes zeitliches Bild ist der Zusammenhang von Tod und Wiedergeburt beziehungsweise Wiederbelebung, wie er in der Selbstbeschreibung der Renaissance eine Hauptrolle spielt. Während die Humanisten der Frühen Neuzeit sich noch der bewussten Rückholung aufgrund der Wiederherstellung antiker Bildung rühmten, interpretierte der Bildwissenschaftler Aby Warburg Anfang des 20. Jahrhunderts das Leitkonzept der Renaissance unter einem psychologischen Vorzeichen als eine unbewusste Wiederkehr des Verdrängten. Nicht weniger einschlägig als Bildspender für Erinnern und Vergessen ist der Biorhythmus von Schlafen und Erwachen. T. S. Eliot hat in seinem Versdrama The Rock für diesen Rhythmus unvergessliche Worte gefunden: „We are children quickly tired: children who are up in the night and fall asleep as the rocket is fired; and the day is long for work or play. / We tire of distraction or concentration, we sleep and are glad to sleep, / Controlled by the rhythm of blood and the day and the night and the seasons. / And we must extinguish the candle, put out the light and relight it; Forever must quench, forever relight the flame.“1 Im Mythos der Gnosis werden Schlafen und Erwachen mit Vergessen und Erinnern gleichgesetzt. Auch in Märchen wie Dornröschen und Schneewittchen fällt das Leben plötzlich oder für längere Dauer in einen unbewussten Zustand zurück. Ein Artikel über die deutsche Kolonialgeschichte ist mit „Eine Lücke in unserem Gedächtnis“ übertitelt, ein anderer mit „Dornröschenschlaf beendet“. Ein besonders sinnliches Bild für befristetes Vergessen ist das Einfrieren und Auftauen. Ruth Klüger zum Beispiel stieß bei der Niederschrift der Erinnerungen ihrer Erlebnisse in KZs und Todeslagern nach 50 Jahren an eine plötzliche Barriere. Es fiel ihr der falsche Name nicht mehr ein, den sie und ihre Mutter sich kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht zugelegt hatten. Sie greift zum Telefon und ruft ihre inzwischen 87-jährige Mutter an. Diese „ruft den gespeicherten Namen, nach kurzem Zögern, auf den Bildschirm ihres Gedächtnisses: ‚Kalisch haben wir auf den falschen Papieren geheißen.‘ Zuerst sagt mir der Name gar nichts. Kalisch. Er ist wie eine Speise, die man aus dem Gefrierfach nimmt, geruch- und geschmacklos. Beim Auftauen geht dann ein leichtes Aroma davon aus. Von ganz weit her probier ich ihn, abschmeckend. Weil er gefroren war und jetzt wieder auftaut, hat er den Geruch des Februarwinds von 1945 bewahrt, als uns alles gelang.“2 Inbegriff dieser rhythmischen Dynamik ist das kleine Präfix „re-“‚ das nicht nur im Wort Renaissance auftaucht, sondern auch in allen Varianten von Erinnern eine Hauptrolle spielt: remember, remind, recollection, recordare, bis hin zum return of the repressed. Immer

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wird etwas zurückgeholt oder es kommt aus eigener Kraft zurück, was ja nicht unbedingt dasselbe sein muss wie die Ausgangsinformation. Immer kommt mit der Idee einer Wiederkehr, Wiederholung oder Wiederherstellung die Dimension der Zeit mit ins Spiel, indem sie die Distanz in den Intervallen zwischen Erinnern, Vergessen und Wiedererinnern ausdehnt und ausfüllt. Denn das, woran wir uns erinnern, muss zeitweilig von der Bildfläche des Bewusstseins verschwinden. Erinnern vollzieht sich immer über zeitliche Intervalle des Nicht-Erinnerns oder auch Vergessens hinweg. Deshalb reichen die räumlichen Metaphern nicht aus. Erinnern gewinnt sein Gewicht und seine Bedeutung erst aus der Überwindung eines zeitlichen Abstandes und einer Phase der Abwesenheit: Man holt etwas wieder in die Gegenwart zurück oder lässt sich auf etwas ein, was vorübergehend oder längere Zeit nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit, des Wissens oder des aktiven Bewusstseins war. Friedrich Georg Jünger hat deshalb zwei Formen des Vergessens unterschieden, eine, die mit Verlust einhergeht – da gibt es nichts mehr zurück­ zuholen –, und eine, die mit Erhaltung einhergeht und somit die Möglichkeit einer Rückholung einschließt. „Das Vergessen, das die Verwahrung des Gedachten und seine Rückkehr ins Denken ermöglicht“, nennt er deshalb das „Verwahrensvergessen“.3 Verwahren setzt einen Ort voraus, an dem etwas aufgehoben wird. Um Phänomenen wie Aufschub oder Latenz gerecht zu werden, müssen wir deshalb die räumlichen Gedächtnismodelle mit den zeitlichen zusammenfügen. Latenz kommt ja von latere, verbergen, verstecken; für etwas, das vorübergehend dem Bewusstsein entzogen ist, muss es einen Ort geben, wo es sich verstecken und überdauern kann.

SICHERUNGSFORMEN DER DAUER UND DER WIEDERHOLUNG Erinnern und Vergessen haben Ablaufdaten, die von den Rahmen und Rhythmen des Gedächtnisses gesteuert werden und unser Bewusstsein organisieren. Diese Rhythmen sind biologisch, physiologisch und anthropologisch begründet und werden kulturell geformt. Im Erinnern und Vergessen sind also unbedingt die beiden Dimensionen von Raum und Zeit zu berücksichtigen. Es gibt „Sicherungsformen der Dauer“ und „Sicherungsformen der Wiederholung“. Ein Gedächtnis braucht beide: Was ausschließlich materiell gespeichert und nicht wieder reaktiviert wird, wird trotz seiner bleibenden Präsenz vergessen. Das gilt für Denkmäler ebenso wie für Bücher. Ohne Wiederholung, Relektüre und periodische Erneuerung zum Beispiel an Jahrestagen kommt keine Erinnerung zustande. Das kulturelle Gedächtnis ist wie das individuelle Gedächtnis deshalb auf externe Anstöße oder trigger angewiesen. Was in Museen, Archiven und Bibliotheken dauerhaft gespeichert ist, das muss zu bestimmten Gelegenheiten getriggert, sprich: angestoßen, aufgeführt, inszeniert und reaktiviert werden. Jahrestage und Jubiläen sind verabredete Daten, die mehrere Funktionen erfüllen: Sie schaffen Anlässe für eine Wiederbegegnung mit der eigenen Geschichte, die bei diesen Anlässen kritisch überprüft, erneuert, upgedated und mit der Gegenwart synchronisiert wird.

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In historischen Jubiläen versichert sich eine Gesellschaft dabei der zentralen Wendepunkte und dauerhaften Impulse ihrer Geschichte; diese Daten bilden einen Rahmen für Wir-Inszenierungen, sie bieten Anlässe für persönliche Teilhabe an Veranstaltungen, Debatten und Reflexionen, die das Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft aktualisieren und kritisch erneuern. Vergessen ist deshalb auch eine direkte Folge der radikalen Trennung der räumlichen und zeitlichen Dimensionen des Erinnerns. Wo eine Botschaft auf Dauer gestellt wird und eine für alle Zukunft verpflichtende monumentale Gestalt erhält, aber keine Vorsorge für die Auffrischung und Erneuerung dieser Botschaft getroffen wird, wird das Denkmal zu einem Symbol des Vergessens. Denn, wie Robert Musil bereits feststellte, werden Denkmäler schnell unsichtbar, weil man an ihnen täglich gedankenlos vorbeiläuft. Das Reiter-Denkmal auf dem Bahnhofsplatz in Hannover zum Beispiel hat die Inschrift „Dem Landesvater, sein treues Volk“. Die daran vorbeigehen, sind nicht mehr das treue Volk und wissen wohl kaum noch, welcher Landesvater hier aufs Pferd gehievt wurde. Obwohl das Monument weithin sichtbar auf einem zentralen öffentlichen Platz steht, ist sein Erinnerungsappell erloschen. Es ist zu einem Stück Folklore geworden. Das heißt aber nicht, dass dieses Denkmal überflüssig geworden ist. Wenn man sich an diesem Ort verabreden will, trifft man sich „unterm Schwanz“.

FORMEN UND TECHNIKEN DES VERGESSENS Es gibt materielle und mentale Formen und Techniken des Vergessens, und unter ihnen solche, die aktiv und bewusst eingesetzt werden, aber auch solche, die passiv erfahren werden und unbewusst wirken. Schauen wir uns vier von ihnen näher an: Verlieren, Zerstören, Verdrängen und Schweigen. Verlieren. Die Bedeutung dieses Wortes hat Christian Boltanski 1997 in einer Ausstellung im Haus der Kunst zu Bewusstsein gebracht. Sie hieß Verloren in München und stellte Gegenstände aus, die der Künstler im Münchner Fundbüro ausgesucht hatte. Es ist bis heute die einzige Kunstausstellung, bei der Besitzer*innen ihre verlorenen Dinge abholen konnten. Gleichzeitig wurden die ausgestellten Gegenstände im neuen Rahmen ganz anders wahrgenommen. Boltanski arbeitete dabei nicht mehr mit der formalästhetischen Logik des object trouvé, sondern im Rahmen der Spuren­ suche. Denn anders als bei Marcel Duchamp gehört bei Boltanski zu jedem Gegenstand eine Geschichte, und er ist immer auf der Suche nach dieser Geschichte und dem menschlichen Gesicht in jedem Ding. Das gebrauchte Objekt hält für ihn etwas fest und erhält seinen Wert daher, dass es Zeuge eines einmaligen menschlichen Lebens ist.4 Auf diese Weise kann Kunst Abwesendes vergegenwärtigen. Das Objekt wird dabei vom Gebrauchsgegenstand zum Erinnerungsstück und, wenn diese Erinnerungen verloren gegangen sind, was ja unaufhaltsam passiert, zum letzten Zeugen eines gelebten Lebens oder einer verlorenen Kindheit. Wie Fotografien sind auch die Kleider aus dem Fundbüro indexikalische Zeichen. Sie hatten einmal eine direkte Berührung mit dem Abwesenden,


Mauro Fiorese, Treasure Rooms of the Ca' Pesaro – Venice, Pigmentdruck auf Baumwollpapier, 2015

dem sie gehörten.5 Die Dinge stecken voller Geschichten, und da wir sie nicht mehr kennen, erinnert Boltanski uns am Schluss noch daran, dass sie verloren gegangen sind. Zerstören kann unterschiedliche Formen annehmen. Eine davon geschieht durch gezielte Gewalt. Beispiele dafür sind der Ikonoklasmus, der die Geschichte der Religionskämpfe in Europa begleitet hat und dem Bilder, Skulpturen, sakrale Geräte und Orgeln zum Opfer gefallen sind. Heute erleben wir die ostentative Zerstörung antiker Ruinen wie der Oasenstadt Palmyra durch den Islamischen Staat. Aber auch die moderne Kunst enthält einen ikonoklastischen Zug: Die ornamentalen Fassaden des Historismus fielen dem Purismus moderner Architekt*innen zum Opfer, die abstrakte Kunst versagte sich dem figurativen Reichtum der Tradition und die atonale Musik schaffte das Regelwerk der Harmonik ab. Zerstört wird aber nicht nur durch Gewalt und Intoleranz oder im Dienste der Entstehung neuer Kunstformen. Auch Katastrophen wie der Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar 2004

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zerstören Kulturgüter, oder der Waldbrand in Kalifornien 2018, der die Handschrift von Rilkes Gedicht Der Panther in Thomas Gottschalks Ferienhaus in Flammen aufgehen ließ. Manchmal sind die Einbrüche der Zerstörung ebenfalls abrupt, aber nicht endgültig, wie beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 9. März 2009. Im Laufe der Bergungsarbeiten kam die kleine Silbe „re-“ mitten im Chaos noch einmal zu ihrem Recht. Dank eines beeindruckenden technischen Apparats der Reinigung, Restaurierung und Dokumentation konnten an die Vor- und Nachlassgeber*innen Listen von wiedergefundenen und zugeordneten Archivalien verschickt werden, die jährlich aktualisiert wurden.6 Das Wort Verdrängen umfasst ein ganzes Bündel von bewussten Vergessens-Handlungen, die Stanley Cohen als „States of Denial“ beschrieben hat.7 Zu ihnen gehören neben Leugnen auch Zudecken, Verbergen, Schweigen, Fallenlassen, Einklammern, Übergehen, Umfunktionieren, Überschreiben, Ignorieren, Neutralisieren, Beschönigen, Verharmlosen, Ruhenlassen, Normalisieren.

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Mauro Fiorese, Treasure Rooms of the Galleria Nazionale d’Arte Moderna – Rome, Pigmentdruck auf Baumwollpapier, 2014

Wie all diese Handlungen im Rahmen des kollektiven Beschweigens in der westdeutschen Nachkriegszeit zum Zuge kamen, zeigt das Beispiel der kleinen Stadt Haigerloch im Eyachtal in Baden-Württemberg, die sich auf der Homepage als „Fliederstädtchen, Felsenstädtchen, barockes Kleinod“ und „Wiege der Atomforschung“ vorstellt.8 Die ausgeräumte und zerstörte Synagoge blieb nach 1945 als Relikt stehen und ragte als Mahnzeichen einer anderen Zeit in die neue Wirklichkeit hinein. Da es in dem kleinen Ort keine jüdische Gemeinde mehr gab, wurde sie 1951 an einen privaten Eigentümer verkauft, der sie in den 1960er-Jahren in ein Kino verwandelte. Ein Handwerker, der an den Umbauten beteiligt war, erklärte: „da hat es halt geheißen […] das wird umfunktioniert von der Synagoge zum Kino. […] Man hat sich da überhaupt keine Gedanken gemacht, warum das so ist. Heute täte man sich da viel mehr Gedanken machen. Heute ist man ja aufgeklärt über die Sachen, aber damals hat man eben gemacht, was der Meister gesagt hat.“9

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Der Handwerksmeister oder der Führer, das war in dieser Generation offenbar kein großer Unterschied. Viele Kontinuitäten waren über 1945 hinweg ungebrochen. Die Besucher*innen des Kinos erinnern sich, dass sie dort schöne Stunden ihrer Jugend verbrachten und vor allem Heimatfilme, Arztfilme und Liebesfilme sahen. Nach dem Kino diente die Synagoge bis 1981 als ein Spar-Supermarkt. Ein Einkäufer erinnert sich: „Dass es eine Synagoge war, konnte man damals gar nicht denken, weil dieser Raum im Inneren durch die Regale und die Waren, die hier angeboten wurden, bestimmt war. Irgendwann hat der Putz leichte Risse bekommen und da konnte man wenigstens eine Spur von Vergangenheit erkennen.“ Bis in die 1970er-Jahre diente die Synagoge als Supermarkt, anschließend bis Ende der 1990er-Jahre als Lagerraum. Es war der 50. Jahrestag der November-Pogromnacht, der die Bewoh­ ner*innen der Stadt aufweckte. Sie gründeten einen Gesprächs-


kreis und veranlassten, dass die Stadt die Synagoge zurückkaufte. Es wurde ein Gedenkort eingerichtet, in dem die Geschichte der vertriebenen und ermordeten Juden*Jüdinnen d­ ieser Stadt ausgestellt ist. Das Tourismusbüro der Stadt führt heute auf seiner Website fünf „sehenswerte Superlative“ auf, die Synagoge ist nicht dabei.10 Erinnert wird, was kommuniziert wird; vergessen wird das, was mit Schweigen übergangen wird. Das gilt zunächst einmal für das Trauma, für das die Worte fehlen und das erst dann zurückkommt, wenn eine neue Sprache gefunden wird. Robert Anthelme begann nach seiner Befreiung aus dem KZ seine Aufzeichnungen mit dem Satz: „Als wir endlich zu sprechen begannen, stellten wir fest, dass uns die Worte fehlten.“11 Es fehlte aber noch mehr: ein empathisches Publikum, das bereit war, diese Geschichte anzuhören, denn es gibt eine doppelte Mauer des Schweigens, wie der Psychotherapeut Dan Bar-On gezeigt hat: die Mauer, die das Sprechen zurückhält, und die Mauer, die das Hören abwehrt.12 Schweigen gilt auch als Schutz bei Schuld und Scham, die den Stolz und das Selbstwertgefühl gefährden. Ein gesellschaftliches Klima der Ehre, der Bloßstellung und Ächtung hält das Schweigen aufrecht; sich darüber hinwegzusetzen, erfordert ein Klima der Aufklärung, des Respekts und der Anteilnahme. Schließlich gilt Schweigen als Modus des Vergessens im Raum des Wissens für alles, was nicht mehr zirkuliert wird und deshalb aus der Kommunikation herausfällt. Die deutsche Kolonialgeschichte zum Beispiel war im Kaiserreich Schulstoff für die Erstklässler. „Ehe der Morgen graut, / hat der Kaiser schon an der Flotte gebaut“, schrieben sie auf ihre Schiefertafeln. Diese Geschichte ist schon lange kein Schulstoff mehr, aber ihre Relikte sind im öffentlichen Raum noch präsent, was wir merken, weil wir inzwischen auch mit den Augen der Zugewanderten auf diese Relikte schauen. Ich schließe mit einigen Sätzen zur Dynamik von Erinnern und Vergessen. Das Gedächtnis, in dem sich Erinnern und Vergessen verschränken, arbeitet zwischen den Extremen „alles speichern“ und „alles löschen“. Dafür eröffnen sich in ihm unterschiedliche Abstufungen und Räume für das, worauf später noch einmal zurückgegriffen werden kann. Erinnern ist nicht das Gegenteil von Vergessen, eher ist es ein Bruchteil des anderweitig Vergessenen, weshalb wir dieses weite Land des Nichts, des Nicht Mehr und des Noch Nicht, das es umgibt, unbedingt mitdenken müssen. Vergessen ist partiell, transitorisch, periodisch und total. Wenn wir vergessen haben, was wir vergessen haben, ist es unsichtbar. Es zeigt sich aber in Prozessen des Verschwindens oder des Wiederauftauchens. Das menschliche Gedächtnis ist selbst-reflexiv. Jeder ist in der Lage, diese Vorgänge bei sich selbst zu analysieren. Eine besondere Rolle spielt dabei die Kunst. Mit ihrer Hilfe kann sich die Gesellschaft selbst beim Erinnern und Vergessen zuschauen. Sie ist ein Monitor und schafft einen Spiegel der Selbstreflexion für Erinnern und Vergessen.

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1 T. S. Eliot, The Rock, New York 1934, S. 85. 2 Ruth Klüger, Weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1993, S. 179f. 3 Friedrich Georg Jünger, Gedächtnis und Erinnerung, Frankfurt a. M. 1957, S. 16f. Zum Begriff der „Latenz“: Hans-Ulrich Gumbrecht und Florian Klinger (Hg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011. 4 Vgl. Susanne Partsch, Moderne Kunst. Die 101 wichtigsten Fragen, München 2005, S. 57f. 5 Vgl. Bernhard Jussen (Hg.), Signal – Christian Boltanski, Göttingen 2004, S. 63–65. 6 Vgl. Oliver König, Die Verantwortung bleibt verschüttet. 10 Jahre nach Einsturz in Köln, FAZ online (1.3.2019), https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/10-jahre-­­n acheinsturz-des-koelner-stadtarchivs-verschuettete-­ verantwortung-16065422.html. 7 Vgl. Stanley Cohen, States of Denial: Knowing about ­Atrocities and Suffering, Cambridge 2001. 8 https://www.haigerloch.de/de/Home. 9 Utz Jeggle (Hg.), Erinnerungen an die Haigerlocher Juden: ein Mosaik, Tübingen 2000. 10 https://www.haigerloch.de/de/Tourismus/Touristinfo-. 11 Robert Anthelme, Das Menschengeschlecht, Frankfurt a. M. 1992. 12 Vgl. Dan Bar-On, Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern, Frankfurt 1993.

ALEIDA ASSMANN ist Anglistin, Ägyptologin und Kulturwissenschaftlerin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung. 2018 erhielt sie zusammen mit Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt sind erschienen: Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft (2018), Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte (2018), Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen (2020).

Diesen Vortrag hielt Aleida Assmann am 8. Juni 2021 im Rahmen der Gesprächsreihe zu Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives in der Akademie der Künste.

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WEHRHAFTE KUNST

UND DAS ARCHIV DER GEGENWART EINE ANSTIFTUNG ZUR DEBATTE VON MAX CZOLLEK

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DAS ARCHIV UND DIE GEGENWART RADIKALER VIELFALT Ich möchte direkt mit folgender Annahme einsteigen, auf die ich im Laufe des Beitrags immer wieder zurückkommen werde: Diese Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren eine andere geworden. Darum können wir sie anders denken. Und sie wird von der Vergangenheit bedroht, darum müssen wir sie anders denken. Das ist zum einen empirisch argumentiert: Weil die Gesellschaft faktisch eine andere, radikal vielfältige geworden ist, sind wir in der Lage, sie anders zu denken. Eine veränderte Realität geht hier der Fähigkeit zur auch intellektuellen Neufassung voraus. Und zum anderen ist es normativ: Weil die Gegenwart von den Geistern der Vergangenheit verfolgt wird, sollten wir sie neu denken. Damit möchte ich zweierlei unterstreichen: die Relevanz der immer in Geschichten wieder neu gefassten Vergangenheit für die Gegenwart. Und die Relevanz des Denkens selbst, das ebenfalls anders werden muss, damit die Dinge sich ändern. Zunächst zum Verhältnis der Begriffe Vergangenheit und Geschichte. Matthias Sauerbruch führte in der MärzAusgabe des Journals der Künste eine meiner Ansicht nach nützliche begriffliche Unterscheidung ein. Während die Vergangenheit „unwiederbringlich verloren“ sei, werde Geschichte „kontinuierlich neu produziert – indem die Vergangenheit retrospektiv interpretiert wird“.1 Brecht schreibt: „Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen.“ Und das heißt doch auch, dass das Morgen der Ankunftsort des Heute ist, welches wird, wovon es sich nährt. Und diese Nahrung heißt Geschichte. Was also ist das Futter, welches das Archiv der Gegenwart zuführt? Welche Zukunft machen wir dadurch möglich? Welche Gegenwart bilden wir ab? Und welche Geschichten von uns wollen wir eigentlich erzählen? Dieses Wollen interessiert mich sehr. Denn es verrät uns viel über das Wir, von dem man hierzulande allzu gern hoffen mag, es habe ausgedient. Und doch, scheint es, existiert das Wir weiter. Und zwar unterhalb der Schwelle der Absichtsbekundungen, die Menschen in Mikrofone sprechen oder in Leitartikeln formulieren. Offensichtlich möchten wir nicht mehr Teil eines deutschen Wir sein. Aber man denkt und fühlt weiterhin auf eine bestimmte Weise. Diese implizite Reproduktion von Zugehörigkeit habe ich ausführlicher in meinen Büchern Desintegriert Euch! und Gegenwartsbewältigung2 behandelt. Eine solche systematische Verdruckstheit wäre kurios, markierte sie nicht das Normalverfahren der Rekonstruktion deutscher Identität nach 1945, insbesondere ab den 1980er-Jahren. Die Rekonstruktion scheint besonders dann gut zu funktionieren, wenn wir uns, unseren Familien oder unseren Arbeitsplätzen nur die besten Absichten unterstellen: von „Opa war kein Nazi“ über den Wiederaufbau des Stadtschlosses bis zur Frage: „Wo kommst du her?“ Kein böser Wille, nirgendwo. Mich interessieren die auch professionellen Prozesse, die dazu führen, dass wir bestimmte Stimmen als irrelevant, nebensächlich, unprofessionell usw. ausschließen. Und zwar auf eine Weise, die am Ende zu statistischen Schieflagen in den Verlagen, bei Preisen, Stipendien, Besprechungen und eben auch in den Archiven führt, die den gesellschaftlichen Machtstrukturen entsprechen. Nehmen wir nur einmal die folgenden Befunde zum Archiv


der Akademie der Künste: Ein Fünftel der Künstler*innen in diesem Archiv ist weiblich; Aras Ören ist einer der ganz wenigen Autor*innen der Gastarbeiter*innen-Literatur, deren Nach- bzw. Vorlass in das Archiv aufgenommen worden ist; und Autorinnen wie May Ayim und mit ihr die afrodeutsche Literatur sind bis heute nicht in diesem Archiv vertreten. Obwohl wir also meinen, mit bester Absicht und nach objektiven und professionellen Kriterien zu entscheiden, scheint es so, als habe auch dieses Archiv Teil an der Reproduktion struktureller Ungleichheiten, die in dieser Gesellschaft existieren. Ich renne sicherlich offene Türen ein, wenn ich damit auch die Ernsthaftigkeit der Arbeit der Akademie der Künste unterstreiche. Kunst ist ein zentraler Bestandteil von Gesellschaften, denn sie ermöglicht ihnen einen Ort der Reflexion und eine Erkundung der Vorstellungen, die sie sich von sich selbst gemacht hat. Und der Gewalt, die diese Vorstellung produziert. Damit ist Kunst eben nicht nur Heilung, sondern auch Symptom der Krankheit, die wir Gesellschaft nennen. Eine Institution wie das Archiv der Akademie der Künste verrichtet also keine neutrale Arbeit. Denn die Auswahl der Kunstwerke, die in ein Archiv aufgenommen werden, bedeutet immer auch den Ausschluss von Arbeiten, die nicht aufgenommen werden. Das ist nicht weiter überraschend. Ein deutsches Kunstarchiv ist keine Bibliothek von Babel. Oder anders gesagt: Wäre es möglich, dass ebenjene Parameter von Wichtigkeit und Relevanz, die wir brauchen, um eine Auswahl zu treffen, bereits Teil des Problems sind? Dass Künstler*innen, Publikum, Kritik und Archiv in ihrer Überzeugung, was gute, bewahrenswerte, förderungswürdige Kunst ist, eine spezifische Form von Kompliz*innenschaft eingegangen sind, die weit mehr mit der Gegenwart und ihren Abgründen zu tun hat, als es einem lieb sein mag oder dem eigenen Selbstbild entspricht?

DAS ARCHIV DER GEGENWART Damit komme ich zur zweiten Annahme: Nicht nur die Kunst, die zu einer bestimmten Zeit entsteht, ist in eine entsprechende gesellschaftliche Gegenwart und ihre Bedürfnisstrukturen eingelassen, sondern auch die Poetiken, also jene Vorstellungen davon, was gute Kunst ist. Dieser Zusammenhang, den ich an anderer Stelle weiter ausgeführt habe, äußert sich in der eben genannten Kompliz*innenschaft.3 Dass alle beteiligten Akteur*innen dabei nur die besten Absichten haben, ist Voraussetzung dafür, dass sie funktioniert. Denn ohne die gegenseitige Versicherung, dass hier etwas Relevantes gezeigt, bewertet, beklatscht, ausgebuht oder gesammelt wird, kündigt sich bereits etwas an, das ein Blick auf Vergangenheit immer offenbart: Veränderung. Oder noch einmal eine Variation auf Brecht: Am Grunde der Spree wandern die Steine. Und vielleicht ist es das, was wir jetzt gerade erleben. Dass diejenigen, die vorgestern noch ungestört definieren konnten, was Literatur und Kunst ist und wie sie funktionieren, unter Druck gesetzt werden, ihre Kategorien und Perspektiven zu rechtfertigen. Dieser Druck kommt aus ganz unterschiedlichen Richtungen – sei es von einer feministischen Literaturkritik, sei es aus dem postmigrantischen Theater, aus einer Kritik rassistischer Praxen in Bühnensituationen,

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aus der Frage nach dem bürgerlichen Selbstverständnis der Literatur, einer radikalen Kritik am MenschNatur-Verhältnis in der Architektur wie bei der gegenwärtigen Biennale in Venedig oder aus einer Vorstellung wehrhafter Poesie, wie ich sie seit einiger Zeit gemeinsam mit Jo Frank und den Autor*innen des Verlagshauses Berlin entwickle.4 Meiner Meinung nach spricht einiges dafür, diese Situation als Ergebnis eines Prozesses zu deuten, an dem die radikale Vielfalt der Gesellschaft mehr und mehr auch an den Orten sichtbar wird, die in klassisch marxistischer Terminologie vielleicht als Überbau, bei Habermas als Sphären kultureller Reproduktion oder bei Gramsci als Räume der Metapolitik bezeichnet würden. In jedem Fall scheint es sich um eine nachholende Entwicklung zu handeln, denn die gesellschaftliche Realität ist schon weiter, und nun muss die Politik, müssen die Kulturinstitutionen, die Sporteinrichtungen, Opern, Theater, Literaturhäuser sehen, wie sie darauf reagieren. Und das gilt natürlich auch für die Archive. Oder präziser formuliert: Das gilt für die Archive dann, wenn und insofern sie sich als Orte verstehen, deren Aufgabe es ist, die Gesellschaft in ihrer Dynamik abzubilden, also darauf einzugehen, was das Adjektiv „plural“ vor dem Wort Demokratie eigentlich bedeutet. Und damit komme ich zur ersten von fünf Thesen, die ich zur Diskussion stellen möchte: Die Aufgabe einer Institution wie der Akademie der Künste ist nicht die Repräsentation eines Teils der Bevölkerung und ihrer Vorstellungen davon, was gute oder bedeutsame Kunst ist, sondern der deutschen Gesellschaft in ihrer radikalen Vielfalt. Als ich mich auf diesen Beitrag vorbereitete, schaute ich auch beim Archiv der Akademie der Künste vorbei. Das Gebäude befindet sich in direkter Nachbarschaft zur B erliner Charité, wo ich geboren wurde. So viele ­ Geschichten, überall. Vordergründig ging es mir darum, einige hard facts des Archivbestands herauszufinden: wie viele Afrodeutsche, wie viele Juden und Jüdinnen, wie viele Frauen, wie viele Queers, wie viele Gastarbeiter*innen und Postmigrant*innen usw. Aber am Ende hatten wir ein schönes, langes und nachdenkliches Gespräch über die Rolle von Kunstarchiven im Allgemeinen – und des Archivs der Akademie der Künste im Besonderen. Eines der Argumente, das mir von dem Gespräch im Gedächtnis blieb, lautete, dass ein Archiv in seiner Nutzung stets neu entstehe. Dass es also der permanenten (Neu)Interpretation bedürfe, um sich zu konkretisieren. Und ich denke mir: Sicher ist das so! In den Archiven liegen Bestände, die immer wieder neu gesichtet, immer wieder neu durchkämmt werden müssen. Zugleich bleibt die Tatsache, dass etwa Frauen insgesamt gesehen nur zu einem Fünftel im Archiv vertreten sind, dennoch ein Problem; und zwar auch dann, wenn man aus einer feministischen Perspektive die Regieassistentinnen zusammenzählt, die die Notizen erstellten, die Schneiderinnen, die die Kostüme für die Aufführungen fertigten usw. In der Diktion der Bibelforschung müsste man doch weiterhin fragen: Wie sieht es mit jenen Dingen aus, die keinen Eingang in das Archiv fanden, die apokryph blieben zu den Sammlungen?

Ich bleibe noch kurz im biblischen Bild. Die Auswahl, die sich im Judentum schließlich als Torah und im Christentum als Neues und Altes Testament verdichtet, lässt eine Reihe von Neudeutungen zu. Die vielen christlichen ­Neudeutungen und Denominationen sprechen hier eine eindeutige Sprache. Und im Judentum sagt man anerkennend: Die Schrift wendet jeder Generation ein anderes Gesicht zu. Das gilt natürlich auch für das Archiv. Insofern hatten meine Gesprächspartner*innen recht, als sie auf die Interpretation des Archivs verwiesen, einen mit jeder Lektüre sich neu ereignenden Prozess, der im Fachjargon als „Erschließung“ bezeichnet wird. Und sicherlich hat das Beschwiegene, Besiegte, Übergangene und Ausgeschlossene ebenfalls seinen Niederschlag in den Archivalien gefunden. Allein, ich würde mich nicht darauf verlassen. Denn wenn die Verdrängung erfolgreich ist, wissen wir nicht mehr, was verloren ging. Zumal, wenn man davon ausgeht, dass die Parameter von Wichtigkeit und Relevanz selbst historisch sind. Auch wir Gegenwärtige sind nicht vor den Wirkungen der Ideologie „guter“ Kunst gefeit. Und damit bin ich auf der anderen Seite der Gleichung angekommen: bei denjenigen, die das Archiv benutzen. Wenn mir mein reflexiver soziologischer Blick auf meine eigene künstlerische Praxis eine Sache klar gemacht hat, dann, dass die Rezeption von Kunstwerken ganz und gar nicht autonom ist, sondern in engen Grenzen verläuft, die mit den Sehgewohnheiten, -erwartungen und Bedürfnisstrukturen des Publikums zu tun haben. Archive sind wie beschrieben Institutionen, die entscheiden, was bewahrenswert ist. Der Prozess, der dieser Entscheidung vorausgeht, wird im Archivjargon als „Bewertung“ bezeichnet. Der sprachlich-theoretische Bezug auf die Bibelforschung passt auch an dieser Stelle. Denn aus diesem Forschungsfeld stammt auch der Kanon-Begriff, der ja ebenfalls Teil unseres Nachdenkens über Kultur geworden ist. In einem bestimmten Sinne scheinen also die Prozesse von Ein- und Ausschluss in das Archiv und die Prozesse seiner immer begrenzten (Neu)Interpretation zusammenzuhängen, sich gar nicht selten sogar gegenseitig zu bestärken. Dabei lässt sich nicht feststellen, was ursprünglicher gewesen wäre. Aber dass sie stattgefunden haben und stattfinden, ist dennoch sicher. Eine kleine Spurensuche.

THOMAS MANN UND DIE VERFÜHRUNG DER SELBSTKRITIK Anfang 2021 fiel mir eine Rede von Thomas Mann in die Hände, die der zerknirschte Literaturnobelpreisträger am 29. Mai 1945 vor Tausenden Zuhörer*innen auf Englisch in der Library of Congress in Washington, D.C. hielt. Thomas Mann selbst schaute zu diesem Zeitpunkt bereits auf einen langen und recht ungeraden politischen Werdegang zurück. 1918 hatte er mit den Betrachtungen eines Unpolitischen noch ein offen reaktionäres, anti-demokratisches und nationalistisches Epos veröffentlicht, womit er es der sehr jungen und sehr instabilen Weimarer Republik nicht leichter machte, sich als erste deutsche Demokratie zu etablieren. Diese Perspektive änderte sich erst in den Jahren danach, sodass

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Mann 1933 schließlich als entschiedener Gegner der Nationalsozialist*innen auftrat und in seinem kalifornischen Exil pro-demokratische Ansprachen aufnahm. In der Rede stellt Mann eine Reihe von Beobachtungen an, unter anderem zum Zusammenhang von Protestantismus, deutschem Idealismus und der Abwendung deutscher Künstler*innen vom politischen Tagesgeschehen. Besonders interessiert mich dabei folgende These, die Mann schließlich vorschlägt: „Wicked Germany is only merely Germany gone astray.“5 Das hässliche oder böse Deutschland, so würde ich das übersetzen, ist das gute Deutschland auf Abwegen. Mann möchte damit unterstreichen, dass die exilierten deutschen Autor*innen nicht einfach als Repräsentant*innen eines guten Deutschlands gelten könnten. Vielmehr seien auch sie mit dem verbunden, was in Nazideutschland geschehen sei, denn beides sei in der deutschen Geschichte bereits angelegt: das Hohe und das Niedere. Das klingt erst mal gut, weil Mann damit sein Publikum und sich selbst in die Pflicht nimmt bei dem Versuch, Rechenschaft darüber abzulegen, wie das, was geschehen war, geschehen konnte. Und insofern er der deutschen Kultur dabei eine enge Verwobenheit mit der Politik attestiert, ist er progressiver als viele gegenwärtige Kommentator*innen, die von einer Verbindung der Kunst mit den gewaltvollen Aspekten einer Gesellschaft, in der sie entsteht, am liebsten gar nichts hören wollen. Zugleich erreichen wir an dieser Stelle auch die Grenzen von Manns Analyse. Denn die Rede markiert nicht nur einen Entwurf zur Selbstkritik eines der wichtigsten Vertreter der deutschen Kultur 1945, sondern sie zieht auch eine Grenze – und zwar nicht nur mit dem, was er sagt, sondern auch mit den Aspekten, die er unerwähnt lässt. So scheint Mann etwa bei der Unterscheidung zwischen dem hässlichen und dem guten Deutschland ausschließlich den deutschen Kulturkanon im Blick zu haben, was auch sein Verweis auf die faustische Natur der deutschen Kultur nahelegt.6 Die These vom miteinander verbundenen guten und bösen Deutschland verdeckt damit die Anwesenheit auch ganz anderer Perspektiven in der deutschen Kulturgeschichte. Das ist gerade angesichts der Jahre 1933 bis 1945 nicht ganz irrelevant, denn jüdische, queere oder feministische Stimmen, die Stimmen von Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung usw. sind innerhalb Deutschlands zu dem Zeitpunkt, an dem Mann seine Rede hält, bereits zum Verstummen gebracht worden. Es lässt sich hier vielleicht von einem „doppelten Vergessen“ sprechen. Damit möchte ich eine Dynamik bezeichnen, in der die Kritik selbst noch die Reproduktion bestimmter Aspekte des Kritisierten bedeutet. In Manns Fall etwa meine ich, dass die Kritik am bösen Deutschland selbst noch eine Reproduktion spezifischer Vorstellungen von Deutschland ist – und davon, wer an diesem Deutschland teilhat. Noch zum Zeitpunkt der größten Krise vermag die selbstkritische Bestandsaufnahme Manns es nicht, sich einer spezifischen nationalistischen Vorstellung von deutscher Kultur zu entziehen. Das ist keine Kleinigkeit. Hätte er sich stattdessen den durch die Nazis verbrannten, vergessenen und verdrängten Stimmen zugewandt, hätte er die Gegenüberstellung vom guten und bösen Deutschland auf diese Weise gar nicht vornehmen können. Es wäre einfach mehr da gewesen, als in die Erzählung von der großen und zugleich abgründigen deutschen Kultur gepasst hätte.

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Worum es mir mit dieser Kritik geht, ist die Erweiterung des Raums dessen, was man als „Deutschland“ bzw. „deutsche Kultur“ bezeichnet. Und das ist auch eine Erweiterung der Parameter von Wichtigkeit und Relevanz. Denn selbstverständlich hat es zu jedem Zeitpunkt auch andere kulturelle Praxen in Deutschland gegeben. Perspektiven etwa, die Kunst nicht als Versuch individueller spiritueller Transzendierung verstanden, sondern als Überlebensstrategie. Und damit komme ich zu meiner zweiten These: Kunst ist lange verstanden worden als Ort, der die Zeitlichkeit und die Kontingenz des politischen Tagesgeschehens transzendiert. Das ist aber nicht die einzige Perspektive, die existierte und existiert. Gleichzeitig war und ist Kunst immer auch Ausdruck derjenigen, die um ihr soziales oder physisches Überleben fürchten mussten und für die ästhetische Praxen Teil ihrer Überlebens- und Widerstandsstrategien waren.

HIRSCH GLIK UND DIE SUGGESTIVE KRAFT DES BEKANNTEN An dieser Stelle möchte ich auch die Grundlagen meines eigenen Nachdenkens über die radikale Vielfalt der Gesellschaft und des Archivs beleuchten. Denn dieses hat sich bislang weitgehend im nationalen Rahmen abgespielt. Diese Beschränkung ist unzulässig, insofern sie der Fiktion Vorschub leistet, Kunst und ihre Archivierung würden sich tatsächlich an nationale Grenzen halten. Oder, wie mein guter Freund Daniel Kahn für das Album Lost Causes dichtete: „A border is not art / it’s just a frame.“7 Vielleicht ist das meine eigene Form doppelten Vergessens. Für einen Vortrag, den ich vor fast genau einem Jahr anlässlich der Reihe „Zwiesprachen“ des Lyrikkabinetts München hielt, befasste ich mich mit dem jiddischen Dichter Hirsch Glik und mit etwas, was ich damals als „Archiv wehrhafter Poesie“ bezeichnete.8 Hirsch Glik wurde am 24. April 1922 in Vilnius geboren, das damals in Polen lag. Dort wuchs er auf, schrieb schon früh Gedichte, war Teil der links-zionistischen Jugendvereinigung Hashomer Hatzair und jüngstes Mitglied der Künstler*innengruppe Yung Vilne. 1941 wurde er mit der jüdischen Bevölkerung von Vilnius von den Nationalsozialist*innen in das neu eingerichtete Ghetto gesperrt, das in den folgenden zwei Jahren schrittweise liquidiert wurde. Im Ghetto Wilna traf eine Reihe wichtiger osteuropäischer jüdischer Intellektueller zusammen: Avrom Sutzkever, der wohl berühmteste jiddische Dichter dieser Generation, sowie Abba Kovner und Vitka Kempner, die nach dem Krieg gemeinsam die DIN gründeten, jene berühmte Gruppe jüdischer Rächer*innen, denen der bereits erwähnte Daniel Kahn mit seinem Song Six ­Million Germans9 ein Denkmal gesetzt hat. In Wilna gründete sich 1942 auch die Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO), eine der wichtigsten und viel besungenen jüdischen Partisan*innenorganisationen im Widerstand gegen die Nazis. Zum Einschlafen hörte ich als Kind nicht selten folgende Zeilen zur Melodie Und weil der Mensch ein Mensch ist: „Hey FPO, mir sejnen do / mutige und dreiste zur Schlacht / Partisanen noch

heint, gehen schlogen den Feind / in nem Kampf hoben Arbejter Macht“ Erst mit den Recherchen zu Hirsch Glik, der einige der wichtigsten Partisan*innenlieder verfasste, bevor er von den Nazis erschossen wurde, wurde mir deutlich, dass die Wilnaer Dichter*innen die meiste Zeit über den Stift in der rechten, die Waffe in der linken Hand gehalten hatten. Und dass sich die Perspektive osteuropäischer jüdischer Künstler*innen und Intellektueller während des Holocausts damit ganz wesentlich von einer jüdischen Perspektive aus Westeuropa und Deutschland unterscheidet. Wenn Hannah Arendt etwa 1960 in ihrem Aufsatz zur Freundschaft schreibt, dass echte Freundschaft unter Bedingungen des Schtetls und Ghettos nicht möglich sei, dann spricht hier nicht nur eine jüdische Philosophin, sondern auch eine Autorin, die sich ihren normativen Individualismus leisten kann.10 Im Schtetl und im Ghetto sah die Sache anders aus. Selbstverständlich gab es dort Freundschaft. Der Unterschied zu Arendt bestand vielleicht eher darin, dass man dem kollektiven Schicksal auch kollektiv ausgeliefert war, ohne Chancen auf Flucht oder Versteck. Nicht zuletzt darum entwickelten sich hier ganz eigene Perspektiven. Das unterstreicht auch ein Flugblatt, das Abba Kovner, zu diesem Zeitpunkt Leiter der FPO, am 1. Januar 1942 unter den Bewohner*innen des Ghettos verteilen ließ: „Lassen wir uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führen! / Es ist wahr, wir sind schwach und hilflos, aber die einzige Antwort an den Feind lautet: Widerstand! / Brüder! Lieber als freie Kämpfer fallen, als von der Gnade der Mörder leben. / Widerstand leisten! Widerstand bis zum letzten Atemzug!“11 Ich gestehe, dass es mir schwerfällt, mir eine solche Situation konkret vorzustellen. Und vielleicht sind mir darum die Schriften von Hannah Arendt bis Max Horkheimer, Walter Benjamin bis Theodor W. Adorno tatsächlich näher. Das ist der Punkt, den ich mit diesem Beispiel unterstreichen möchte: dass es nicht genügt, einfach nur Juden*Jüdinnen, Frauen, Queers, Sinti*zze und Rom*nja usw. in das Archiv aufzunehmen, und schon ist man in der radikalen Vielfalt angekommen. In diesem Sinne hat das Archiv auch kein Problem mit „Diversität“. Zumindest scheint mir, die mangelnde/vorhandene Diversität ist nicht die einzige entscheidende Variable, um die es gehen sollte. Denn wenn Diversität wie gezeigt ebenfalls Machteffekte reproduzieren kann, dann sollte es nicht nur um Vielfalt an sich gehen, sondern darum, unser Verständnis von Kultur zu befragen: Was schätzen wir eigentlich als Beiträge zur Kultur, welche Geschichten wollen wir damit erzählen vom guten und bösen Deutschland, von Dissidenz und Nomenklatura, von Reaktion und Gegenkultur, von deutsch und nicht-deutsch? Welche Signatur braucht also ein Kunstwerk, um als jüdischer Beitrag gelesen zu werden? Und welche Signatur braucht ein jüdisches Kunstwerk, um nicht als Werk eines Opfers, sondern als Beitrag zur deutschen Kultur, zum Archiv der Moderne, zur Akademie der Künste verstanden zu werden? Wer oder was entscheidet, ob eine jüdische Autorin eine Messingplakette an der Häuserwand erhält oder einen Stolperstein? Das Beispiel Glik und die Partisanendichter*innen von Wilna markiert für mich einen Punkt, an dem sich einmal mehr mein Blick auf die jüdische Perspektive differenzierte. Könnte es sein, dass wir selbst noch in unserer


Aufmerksamkeit für eine jüdische Reaktion auf die Shoah einer deutschen und westeuropäischen Dominanz aufgesessen sind? Dass wir damit auch hier auf jenes doppelte Vergessen stoßen, welches ich eben schon bei Thomas Mann und in meinem eigenen Text festgestellt habe? Diese Frage betrifft nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Art und Weise, wie wir Menschen erlauben, in der Gegenwart Position zu beziehen. Oder anders gesagt: Der Blick auf Geschichte erzeugt eine bestimmte Vorstellung davon, welchen Platz Menschen, denen ein bestimmtes Adjektiv anhaftet, in der Gegenwart einnehmen können. Oder, um das nochmal in Bezug auf das Archiv zu formulieren: Wer die Gegenwart anders erzählen möchte, der muss auch die Vergangenheit neu ordnen. Und damit komme ich zur dritten These:

Was ich als „Archiv der Gegenwart“ bezeichnen möchte, lässt sich auch als Alternative zu jenen Parametern von Wichtigkeit und Relevanz formulieren, die als Leitlinien der Sammlung des Archivs der Akademie der Künste angegeben werden. Oder vielmehr: Die Parameter lassen sich nun präzisieren. Damit komme ich zur vierten These:

Kunst ist auch der Ort, an dem die Wehrlosen wehrhaft werden. Und es existiert eine Reihe verbaler und materieller Archive wehrhafter Kunst, die Eingang in ein immer wieder neu zu erstellendes Archiv der Gegenwart finden müssen.

Es gibt und gab eben nicht nur das gute und böse Deutschland, von dem Thomas Mann sprach, sondern auch ein Deutschland der Anderen, das sich über die Grenzen Deutschlands hinaus erstreckte. Das ist auch eine poetologische Frage. Denn dieses Deutschland der Anderen fasste das Verhältnis von Wunsch und Realität, Kunst und Politik vielfach anders, als die gängigen Parameter von Wichtigkeit und Relevanz moderner Kunst nahelegen. Nämlich konkret als Praxen des Widerstands, des Überlebens, des Versuchs, anders zu bleiben. Rücken wir also näher an die plurale Gesellschaft heran, in der wir heute bereits leben. Dann scheint doch das, was wir als deutsche Kultur bezeichnen, schon immer Ergebnis der Unterschiedlichkeit seiner Beiträger*innen gewesen zu sein. Und durch die Anerkennung der Wichtigkeit und Relevanz ihrer Arbeiten verstehen wir ein wenig besser, wie wir zu dem wurden, was wir heute sind. Die Tatsache, dass eine solche Perspektivverschiebung möglich ist, hat auch damit zu tun, dass wir es heute mit einer veränderten gesellschaftlichen Gegenwart zu tun haben. Plötzlich sind da nämlich postmigrantische, jüdische, schwarze Stimmen, Stimmen von Sinti*zze und Rom*nja, von behinderten Menschen, von LGBTQI+. Nicht, dass sie vorher nicht existiert hätten, aber heute sind sie nicht mehr zu überhören und zu übersehen: im Theater, in der Literatur, in der klassischen Musik, in der Neuen Musik, im Hip-Hop, im Film, in der Oper, in der Malerei, in der bildenden Kunst im Allgemeinen, in der Aktionskunst, im Schauspiel, in der Performancekunst. Sie sind das, was wir Gegenwartskultur nennen müssen. Und damit komme ich zu meiner letzten These, die zugleich die erste Annahme war, mit der dieser Text begonnen hat:

RADIKALE VIELFALT UND DAS ARCHIV DER GEGENWART Was würde es bedeuten, wenn wir Glik und Adorno zu einem gemeinsamen Gespräch an einen Tisch bäten, um sich über Utopie, Gewalt und Kunst zu unterhalten? Wie unterschieden sich die Perspektiven zwischen Wilna und Frankfurt am Main, Pacific Palisades und Osteuropa, dem Menschen Glik und dem Menschen Adorno? Ich möchte annehmen, dass es nicht nötig ist, beides gegeneinander auszuspielen. Nicht nötig zu entscheiden, wer mehr recht hat, wer jüdischer ist und wer deutscher. Und genau diesen Perspektivwechsel will ich unterstreichen: dass man eben nicht mehr von jüdischen, weiblichen, queeren Beiträgen zur deutschen Kultur spricht, sondern davon, dass all diese Arbeiten das erst erzeugten, was wir heute als Kultur bezeichnen. Noch heute wird die jüdische Geschichte in Deutschland viel zu oft als Geschichte jüdischer Deutschwerdung erzählt, die Geschichte der Frauenbewegung als Geschichte des schrittweisen Aufstiegs in die Sphären männlicher Norm, queere Geschichte als zunehmende Normalisierung vielfältiger Formen des Begehrens. Ich finde es bemerkenswert, dass all diese Beispiele im Grunde die gleiche Geschichte erzählen: dass nämlich eine diskriminierte Minderheit Teil einer Kultur wird, wenn sie ihre Differenz ablegt. Eine Erzählung, die in der Gegenwart so etabliert ist, dass einem das Integrationsdenken dahinter nicht einmal mehr auffällt, sondern man sich im Zweifelsfall damit brüstet, eine deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte erzählt zu haben. Das ist ja, wie bereits geschrieben, gerade das Vertrackte an der Wirkung von Ideologie, dass sie am besten funktioniert, wenn alle Beteiligten der Meinung sind, nur das Beste zu tun. Und so bleibt der Verweis auf die Schieflage der Statistiken, die am Ende eben doch beweisen, was man sich selbst nicht mehr eingestehen möchte: dass es auch weiterhin ein Problem mit den Verlagsprogrammen, dem Gender Pay Gap oder auch der Zusammensetzung der Archive gibt.

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Bei dem Archiv der Gegenwart geht es um die Beantwortung der Frage, wie wir zu dem wurden, was wir heute sind. Das hat Konsequenzen für die Frage, was von der Gegenwart und Vergangen­ heit bewahrenswert ist, insofern Vertrautes immer wieder neu gefasst und vormals Ausgeschlossenes auf seine gegenwärtige Relevanz hin befragt und gegebenenfalls neu aufgenommen werden muss.

geschehen sind, wie sie geschahen. Und ein Gedenken all jener, die wir auf dem Weg verloren haben durch Alter und Krankheit, Flucht oder Mord. Die nicht bei uns sein können. Und die unsere Kraft mit sich fortnahmen, die wir erst wiederfanden, als der Stift das Papier berührte. Und hier komme ich da an, wo jede transparente Argumentation enden müsste: bei mir selbst und meiner Art, die Welt wahrzunehmen. 1 Matthias Sauerbruch, Metamorphosen – Stadt zwischen Geschichte und Gewissen, Journal der Künste 15 (2021), S. 48–51, hier S. 49. 2 Max Czollek, Desintegriert Euch!, München 2018; Max Czollek, Gegenwartsbewältigung, München 2020. 3 Vgl. Max Czollek, beuys will be beuys. beuys will be deutsch. einige gedanken über kunst im postnationalsozialistischen deutschland, Düsseldorf 2021 (Podcast), https:// beuys2021.de/index.php/de/media/podcasts. 4 Z. B. Haus der Poesie, Das Lesen der Anderen. Wehrhafte Poesie, Berlin 2020 (Podcast), https://www.youtube. com/watch?v=gHhAdmFEwjE. 5 Thomas Mann, Germany and the Germans, in: Literary ­Lectures Presented at the Library of Congress, ­Washington 1973, S. 32–46, hier S. 45. 6 Vgl. ebd., S. 46. 7 Daniel Kahn & THE PAINTED BIRD, Inner Emigration (Song), Lost Causes (LP), Oriente Music 2011. 8 Vgl. Max Czollek, „Sog nit kejn mol, as du gejsst dem leztn weg.“ Zu einem Archiv wehrhafter Poesie bei Hirsch Glik, Heidelberg 2020. 9 Daniel Kahn & THE PAINTED BIRD, Six Million Germans (Song), Partisans & Parasites (LP), Oriente Music 2009. 10 Vgl. Hannah Arendt, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede über Lessing, München 1960, S. 21–22. 11 Abba Kovner, Lassen wir uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führen! (Aufruf vom 1.1.1942), zitiert nach: Gedenkorte Europa, Eintrag Abba Kovner (1918–1987), https://www.gedenkorte-europa.eu/de_de/articleabba-kovner-1918-ndash-1987.html.

MAX CZOLLEK ist Autor und lebt in Berlin. Er ist Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und Mitherausgeber des Magazins Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart. Die Gedichtbände Druckkammern (2012) und Jubeljahre (2015) sowie Grenzwerte (2019) erschienen im Verlagshaus Berlin, die Essays Des­ integriert Euch! (2018) und Gegenwartsbewältigung (2020) im Carl Hanser Verlag. Die Theaterarbeiten finden im ganzen deutschsprachigen Raum statt, zuletzt die Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur (2020).

Diese Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren eine andere geworden. Darum können wir sie anders denken. Und sie wird von der Vergangenheit bedroht, darum müssen wir sie anders denken.

Seit Juni 2021 ist er akademisch-künstlerischer Leiter der Initiative „Coalition for Pluralistic Public Discourse“ (CPPD). Kommendes Frühjahr eröffnet die von ihm kuratierte Ausstellung Rache. Geschichte und Phantasie im Jüdischen Museum Frankfurt am Main.

Kunst bedeutet für mich einen Versuch, Dinge anders zu denken, ohne zu vergessen, was geschehen ist. Kunst ist eine Möglichkeit, einen Dialog zu führen mit den Toten. Und dabei nicht zu vergessen, wie sehr uns ihre Abwesenheit schmerzt. Zum Abschluss möchte ich damit noch die sehr persönliche Überzeugung hinzufügen, dass dieser Schmerz ein wesentlicher Bestandteil eines Archivs der Gegenwart sein sollte. Die Untröstlichkeit, dass die Dinge so

Diesen Vortrag hielt Max Czollek am 20. Juli 2021 im Rahmen der Gesprächsreihe zu Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives in der Akademie der Künste.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

BEUYS BLEIBT. BEUYS – A CLOSE UP Rosa von der Schulenburg

„Ich weiß, dass es sich nicht gehört, eine Fotografie zu erzählen.“ Diesen ersten Satz aus Michel Foucaults „La pensée, l’émotion“ zitiert Hubertus v. Amelunxen1 und spricht im Weiteren von dem Verlangen, „eben dort eine Erzählung zu beginnen, wo sie in u ­ nserer Anschauung ein Ende gefunden hat – in der Fotografie, die das W ­ erden des Endes zum Bild erhoben hat“. „Aber man zögert, bezweifelt“, so Amelunxen, „die Fotografie retro­spektiv in der S ­ prache einholen zu können“, und er kommt zu dem Schluss: „Unser Begehren fällt zurück in die Sprache.“ Für Angehörige meiner Zunft (speziell für die Bilderleser*innen und Ikonolog*innen) ist und bleibt das Verlangen immer groß, sich dem per se unerreichbaren Ziel anzunähern und sich stets aufs Neue bestätigen zu lassen, dass die Erzählung der Fotografie mit Worten nicht einzuholen ist. Lesen Sie trotzdem weiter.


Abbildungen S. 44–49: Michael Ruetz, Düsseldorf, Frühjahr 1971



Film ab: Dunkler Raum. Nahsicht: Beuys entflammt mit Streichholz und konzentriertem Blick eine Zigarette. / Er hält mit der Zigarette in der Hand inne. / In Nahaufnahme sein lebensgroßes Gesicht, mit fast geschlossenen Augen und dezent tragisch-traurigem Ausdruck eines Schmerzensmannes. „Das Gesicht bietet sich an als Ort einer heldenhaften Verklärung. So wie ein Zauber, ein Naturereignis oder der sogenannte Schicksalsschlag. Man fühlt sich ihnen nicht gewachsen: Ihre Autorität hat etwas Unüberwindliches“, so Gisela von Wysocki in ihren Mitteilungen über das menschliche Gesicht, die sie als „Versuche einer Lesbarmachung“ versteht.2 Im Begleittext zu seinem Beuys-Buch schreibt der Fotograf Michael Ruetz, dass er nicht „an einem Heiligenbild, sondern einer möglichst ausführlichen Betrachtung“3 interessiert gewesen sei. Und das liefert er auch mit dramaturgischem Gespür für die Abfolge der Fotografien im Buch.

Zurück und weiter mit der nächsten Bildeinstellung: Beuys noch etwas näher im Close-up, in typischer Denkerpose: Kinn in der Hand, Augen auf Halbmast, Stirn umwölkt. Dann zieht sich die Kamera zurück und der Raum kommt mit in den Blick: Beuys erläutert oder argumentiert mit den Händen. / Er fixiert aufmerksam ein unsichtbares Gegenüber. / Close-up der ruhigen Hände mit der kürzer gewordenen Zigarette, von deren Aschenspitze sich feiner Rauch nach oben kräuselt – Zeichen konzentrierten Innehaltens. Das ist lediglich der Auftakt, das Prélude, mit dem Michael Ruetz Beuys die Bühne zur Inszenierung Beuys bleibt betreten lässt. Auf der nächsten Doppelseite links ein verlassener, schmaler Raum, darin ein schmaler, grob gezimmerter Werktisch mit Arbeitsmaterialien, Essensresten – und einem Messer. Rechts im Close-up die langgliedrigen Hände von Beuys. Die eine greift mit elegantem Gestus nach einer Espressotasse auf einem rustikalen Tisch. Daneben liegen Raucherutensilien – und eine Axt. Dann kommt die legendäre Aktion „Celtic“ in den Blick, die am 5. April 1971 in der Baustelle eines Zivilschutzraumes in Basel stattfand. Eigenwillig zitierte Beuys christliche Riten und Szenarien, wie die Fußwaschung und die Taufe. Ruetz lässt uns den Heilsbringer in der Schar seiner Jünger erkennen und zieht uns nahe an die schimmernde Hemdbrust der Lichtgestalt Beuys, die auch uns den Weg weist. Die Aktion war damals ein Medienereignis. Wir sehen bereits Bekanntes – und die Nuancen der eingehenden Betrachtung von Ruetz, der offenbar einen Logenplatz bei der Inszenierung einnehmen durfte. Bei der Taufaktion etwa, bei der Beuys in einem Metallbottich kniend den Wasserguss aus einer metallenen Gießkanne empfängt, wird der mimische Wandel in seinem Gesicht und in dem der Zuschauer*innen in einer schnellen Bildfolge erkennbar. Das Instrumentarium der Kameraleute und Pressefotograf*innen, etwa ein ins Bild hängendes Mikrofon, eine Leiter oder die Reflexe der grellen Ausleuchtung interessieren Ruetz ebenso wie der verlassene Platz nach der Aktion mit achtlos verstreuten Requisiten und anderen Überbleibseln und mit den k­ leinen, sich unterhaltenden Menschengruppen am Rande. Im Zustand des Raums, in den verbliebenen Dingen und Menschen bleibt der abwesende Beuys sichtbar.

Auf mehr als einem Dutzend Fotografien im Buch spielen Räume und Dinge die Hauptrolle. Beuys ist als Person gar nicht oder nur als agierende Hand oder als Rückenfigur zu sehen. Beuys’sche Innenräume mit ihrer spezifischen Möblierung, Ding- und Materialansammlung erzählen nicht weniger von der Eigentümlichkeit des Künstlers als seine Physiognomie und sein Habitus. Viel mehr als nur dieses ist Beuys eigen, zu ihm gehörend, ist Spiegelbild und Schatten. Neben den räumlichen und dinglichen Stellvertreterporträts sind es die Gruppenszenarien und Beobachtungen von Beuys in seinem Verhältnis zu anderen, die bestechen. Darunter eine längere Bildstrecke, die ihn beim Besprechen der studentischen Arbeiten an der Kunsthochschule zeigt. Zusammen mit Ruetz’ Beobachtungen im Arbeitszimmer von Beuys bilden sie den Nukleus des Buches. Alle Fotografien im Buch entstanden in den frühen 1970er-Jahren, als Ruetz, ohne besonderen Auftrag, Beuys mit der Kamera zu Hause besuchte und ihn an die Kunsthochschule und zu anderen Orten begleitete. „Die Fotogeste ist eine Jagdbewegung, bei der Fotograf und Apparat zu einer unteilbaren Funktion verfließen. Sie jagt nach neuen Sachverhalten, nach noch nie vorher gesehenen Situationen, nach Unwahrscheinlichkeiten, nach Informationen. Die Struktur ist quantisch; ein aus punktartigem Zögern und punktartigem Sich-Entscheiden aufgebauter Zweifel,“ resümiert Vilém Flusser in seinem Essai Für eine Philosophie der Fotografie aus dem Jahr 1983.4 Das Phänomen Beuys in seinem habituellen Erscheinen und seinem Wirken hat sich ins kollektive Bildgedächtnis eingebrannt. Jedes Bildnis porträtiert die Person, der es gewidmet ist, und zugleich die, die es gemacht hat. Ruetz’ Sicht auf Beuys liefert feine Nuancierungen – weniger Anbetung, mehr Aufklärung – für das kollektive Beuys-Bild, das bleibt. Das ist nicht wenig. 1 Vgl. Hubertus v. Amelunxen, Theorie der ­Fotografie IV. 1980–1995, München 2000, S. 15. (Amelunxen zitiert nicht aus der deutschen Werkausgabe von Foucaults Dits et Ecrits, sondern übersetzt selbst nach der französischen Erstveröffentlichung in D. Michals, Photographies de 1958 à 1982). 2 Gisela von Wysocki, Fremde Bühnen. ­Mitteilungen über das menschliche Gesicht, Hamburg 1995, S. 14 und 18. Beuys widmete sie keine Porträtstudie in diesem Buch. 3 Michael Ruetz, Serendipity, in: ders., Beuys bleibt. Beuys – A Close Up, Berlin 2021, S. 84. 4 Ein Auszug daraus findet sich in Amelunxen 2000, ­S . ­4 9–­6 4, hier S. 53.

ROSA VON DER SCHULENBURG ist Leiterin der Kunstsammlung der Akademie der Künste.

Michael Ruetz, Beuys bleibt. Beuys – A Close Up ist im Januar 2021 bei éditions facteur cheval erschienen. Der Fotograf hat sämtliche Negative seiner Beuys-Fotografien, von denen im Buch eine Auswahl abgedruckt ist, dem Akademie-­ Archiv geschenkt. Das Buch ist in der Galerie van der Grinten (art@vandergrintengalerie.com) erhältlich.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCK EIN GEFÜHL VON GROSSER FREIHEIT UND SOUVERÄNITÄT ZUR GRÜNDUNG DER DEUTSCHEN FILM AKTIENGESELLSCHAFT (DEFA) VOR 75 JAHREN

Torsten Musial

Das leicht vergilbte, vom vielen Gebrauch abgegriffene und mittlerweile sehr fragile Dokument bestätigte, dass Kurt Maetzig als Chefredakteur und Produktionsleiter der Wochenschau „Der Augenzeuge“ einer wichtigen künstlerischen Arbeit nachging. Damit konnte er sein Anrecht auf Lebensmittelmarken geltend machen und sich in allen vier Besatzungszonen Berlins frei bewegen. Doch am 3. April 1946, als der Ausweis ausgefertigt wurde, gab es die ausstellende Deutsche Film AG streng genommen noch gar nicht. Erst gut sechs Wochen später wurde sie offiziell gegründet. Den Auftrag zur Neuerrichtung einer deutschen Filmindustrie hatte die sowjetische Besatzungsmacht bereits kurz nach Kriegsende erteilt. Zu den Ersten, die sich bei der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung für diese Aufgabe meldeten, gehörte der damals 34-jährige Kurt Maetzig, der zuvor lediglich durch die Arbeit in der väterlichen Filmkopieranstalt mit dem Medium Film in Berührung gekommen war. Aus ihm und den Szenenbildnern Carl Haacker und Willy Schiller, den Schauspielern Adolf Fischer und Hans Klering sowie dem Kaufmann und Beleuchter Alfred Lindemann wurde im November 1945 eine Arbeitsgruppe gebildet, welche die Wiederaufnahme der Filmproduktion vorbereiten sollte. Dieses „Filmaktiv“ erkundete, welche Produktionsmöglichkeiten und welche Filmtechnik noch existierten, knüpfte Kontakte zu anderen Filmbeschäftigten und begann, die neue Firma aufzubauen. Bald wurde auch ein Name für die neue Firma gefunden: Deutsche Film Aktiengesellschaft, abgekürzt DEFA. Hans Klering entwarf das Logo: zwei weiß bzw. schwarz stilisierte Filmbilder nebeneinander, mit den jeweils farblich invertierten Buchstaben DEFA darauf. Nach Maßgabe der sowjetischen Besatzungsmacht sollte zuerst eine Wochenschau mit einem neuen künstlerischen und publizistischen Profil entstehen. Diese Aufgabe übernahm Kurt Maetzig, bereits Mitte Januar 1946 begann er mit den Dreharbeiten. Am 19. Februar 1946 hatte die erste deutsche Wochenschau im Nachkriegsdeutschland Premiere, zugleich die erste Produktion der neuen Filmgesellschaft überhaupt.

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Maetzig arbeitete als Regisseur, Autor und gelegentlich auch als Sprecher gemeinsam mit seiner damaligen Frau Marion Keller an der Wochenschau, die kurz darauf in „Der Augenzeuge“ umbenannt wurde. Sie prägten das Motto des Filmmagazins: „Sie sehen selbst – Sie hören selbst – urteilen Sie selbst!“ Später erinnerte sich Maetzig: „Ich fühlte mich völlig frei, und ich war in dieser Anfangsphase auch völlig frei. Es war ein Zensor da, aber der machte vom Zensurrecht kaum Gebrauch. Das gab uns das Gefühl von großer Freiheit und Souveränität …“ Auch der erste Spielfilm der DEFA wurde noch vor deren eigentlicher Gründung in Angriff genommen. In den Trümmern Berlins begann Wolfgang Staudte am 4. Mai 1946 mit den Dreharbeiten für den ersten deutschen Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns. Am 17. Mai 1946 war es dann soweit: In den Hallen der Althoff-Ateliers in Alt Nowawes, Babelsberg, wurde nun auch offiziell feierlich die neue Filmproduktionsgesellschaft gegründet. Sie sollte, wie es der sowjetische Kulturoffizier Sergej Tulpanow formulierte, dabei „helfen, in Deutschland die Demokratie zu restaurieren, die deutschen Köpfe vom Faschismus zu befreien und sie zu sozialistischen Bürgern zu erziehen“. Tulpanow überreichte die Lizenz für die „Herstellung von Filmen aller Kategorien“ an fünf Lizenznehmer, unter ihnen auch Kurt Maetzig, der zum ersten künstlerischen Direktor der DEFA ernannt wurde. Nur wenig später gelangte eine Novelle von Hans Schweikart auf seinen Tisch, die auf dem Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk und seiner jüdischen Frau basierte. Als diese 1941 in das Lager Theresienstadt deportiert werden sollte, beging Gottschalk gemeinsam mit ihr Selbstmord. Der Stoff sprach Maetzig an, auch weil er in ihm Paral­ lelen zum Schicksal seiner jüdischen Mutter sah. Seine Eltern hatten sich zwar wegen der Nürnberger Gesetze 1935 offiziell scheiden lassen, heimlich aber weiter getroffen. Als seiner Mutter 1944 die Deportation drohte, nahm auch sie sich das Leben. Maetzig beschloss daher, die Vorlage selbst zu verfilmen. Im Winter 1946/47 schrieb er das Drehbuch zu Ehe im Schatten, und am 3. Oktober 1947 hatte der Film gleichzeitig in allen vier Sektoren Berlins Premiere. Er traf auf eine große Publikumsresonanz. In kurzer Zeit sahen ihn über zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer – damit war er der erfolgreichste deutsche Film jener Jahre. 1948 gehörte er zu den ersten Preisträgern des vom Verleger Franz Burda gestifteten neuen Publikumspreises der Zeitschrift Film-Revue, der wenig später als „Bambi“ bekannt werden sollte. Die DEFA bestand über 40 Jahre und stellte in dieser Zeit mehr als 700 Spielfilme, 2.250 Dokumentarfilme und 750 Animationsfilme her. Nach dem Ende der DDR wurde das Filmstudio 1992 verkauft. Der neue Besitzer strich die Abkürzung „DEFA“ aus dem Firmennamen und benannte das Studio in Studio Babelsberg um. Seit 1998 sorgt sich die DEFA-Stiftung um das filmische Erbe der Produktionsfirma, ebenso wie die Akademie der Künste mit der Bewahrung der Archive zahlreicher Künstlerinnen und Künstler, die für die DEFA gearbeitet haben.

TORSTEN MUSIAL ist Leiter des Archivs Film- und Medienkunst der Akademie der Künste.


Mitarbeiterausweis der DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ für Kurt Maetzig, 1946


NEUES AUS DEM ARCHIV

KORRESPONDENZEN UND DIFFERENZEN KARL SCHEFFLER UND HANS PURRMANN IM AUSTAUSCH Bernhard Maaz

SCHREIBTRADITIONEN Die Schreibenden und die Malenden stehen einander gegenüber und streben doch zueinander. So ist es in der Neuzeit, namentlich seit die Kultur des Briefeschreibens im 18. Jahrhundert populär, das Papier erschwinglich und das Porto bezahlbar wurden. Aus den so entstandenen Briefkonvoluten erwuchsen ganze Bücher, man denke nur an Goethes biografisches Textarrangement zum Leben und Werk Jakob Philipp Hackerts anhand von dessen Briefschaften. Die Künstlerkorrespondenzen des 19. Jahrhunderts erreichen einen Kulminationspunkt mit Konrad Fiedler, dem Leipziger Mäzen und Kunsttheoretiker, der sich mit dem Maler Hans von Marées und vor allem dem Bildhauer Adolf von Hildebrand einen gewichtigen Austausch in Form von theoretischen, lebensfundierten Briefen gewährte: Der Theoretiker stand dem Praktiker gegenüber, sie bereicherten ihre Welt- und Kunstwahrnehmung gegenseitig und führten das Gespräch eben auf postalischem Wege. Für die Nachgeborenen ist das ein Segen, können sie doch bis in die Fundamente der Denkgebäude hineinschauen und Einsichten gewinnen, die sie anders nie erlangen würden. Und dann Max Liebermann, der Maler und Gesellschaftsmensch, der mit dem Hamburger Museumsrefor-

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mer Alfred Lichtwark wie mit dem Berliner Museumsdirektor Hugo von Tschudi korrespondierte – beide Briefwechsel sind längst ediert – und mit zahlreichen weiteren Kunstverwaltern, Schriftstellern, Kritikern. ­Liebermann suchte den Austausch, die Herausforderung, die Bestätigung wie die Kritik. Und in der Leichtigkeit des Wortes, das das Widerwort gibt und fordert, war dieser enorm produktive Briefschreiber sicher ein besonders Berufener. An jenes Verständnis von Gedankenaustausch knüpft auch der Briefwechsel zwischen Karl Scheffler und Hans Purrmann an. In den Briefen Liebermanns spiegeln sich eine ganze Epoche und eine Fülle von Themen, das Leben zwischen Gründerzeit und Nationalsozialismus sowie zwischen Impressionismus und dem Postulat der „entarteten Kunst“, aber auch die Geistesgeschichte zwischen deutschem Patriotismus der Wilhelminischen Epoche und jüdischem Verfolgungsschicksal, das gerade dieser Künstler bitter erlebte.1 Während die Korrespondenzen Purrmanns in handhabbaren Ausgaben erscheinen und die Leserschaft in Dialoge hineinsehen lässt, ist die neunbändige Gesamtausgabe der Liebermann-Briefe mehr ein Nachschlagewerk: Jede dieser Darbietungsformen hat ein Recht, doch immer gilt, dass man Licht und Schattenseiten der Menschen, der Briefschreiber sehen kann; und eben das lädt ein zu humanem Verständnis.

EIGENHEITEN Karl Scheffler war ein geradezu beunruhigend produktiver Autor von Büchern über meist bereits abgeschlossene Epochen und Phänomene der Kunstgeschichte. Er „denkt die Kunst“ nicht vom Künstler her, schon gar nicht aus der Perspektive des Kunstschriftstellers, der er selbst war, sondern vom Sammler.2 Das ist für seine Generation nicht frappierend, die wie keine zuvor erlebte, dass Privatsammler jenseits der Höfe den Ton angaben. Sein Schreiben und vor allem seine Zeitschrift Kunst und Künstler blickten auf ebendiese Klientel, auf die Käufer. Da es sich dabei meist um kunstferne, aber wohlhabende Kreise handelte, hat er viele seiner Bücher in einer eingängigen Sprache gehalten, die zugleich einladend sein sollte. Um den Graben zwischen Künstlern und Publikum zu überbrücken, lud er zudem häufig Künstler ein, durch ihre Bild- und Textbeiträge darin vertreten zu sein. Zu den Autoren, die in Kunst und Künstler ihre Gedanken wie auch ihre bildkünstlerischen Werke abdrucken durften, gehörte Hans Purrmann. Eine solche Zusammenarbeit setzt Übereinstimmung voraus, die von beiden Seiten her gewachsen sein wird. Auch Max Liebermann stand mit Scheffler spätestens seit 1904 in direktem Kontakt. Der Maler konstatierte 1906, er „schätze Herrn Scheffler als einen der gediegensten Kunstschriftsteller“.3 Verbundenheit entstand allerdings auch, indem Liebermann dem Autor 1919 – nach Krieg, Revolution und Republikgründung – schrieb: „Erst, wenn der Expressionismus ein Genie aufzuweisen hat, das der Kunst die Regel giebt, ist er Kunst, bis dahin Unsinn.“4 Die Zeitschrift Kunst und Künstler war das Sprachrohr der Sezessionskünstler, die diese Expressionisten verteufelten, aber ein solches gemeinsames Organ stiftet eben auch Gemeinschaft. Der Verleger, Bruno Cassirer, war da sicherlich ähnlich offen gestimmt wie sein Bruder Paul, der konstatiert hatte: „Meine Grundidee […] ist aber nicht etwa, daß nun eine Generation durch die

Oben: Montagsempfang bei Curt Glaser, März 1929, von links: Bruno Cassirer, Else Cassirer, Dody Scheffler, Karl Scheffler, Hans Purrmann, Rudolf Grossmann Titelblatt der Zeitschrift Kunst und Künstler, Jg. 21, 1922/23, Heft 1 (Oktober 1922), Illustration von Max Slevogt


andere abgelöst werden soll oder daß die Kluft zwischen der einen und der anderen Generation verbreitert werden soll, sondern meine Grundidee strebt gerade nach dem Umgekehrten.“5 Diese unbedingte Öffnung und dieses Bewusstsein für den Wert der kontinuierlich-organischen Entwicklung fehlte manchem anderen Zeitgenossen. Doch dazu muss man sich auch vergegenwärtigen, dass gerade die Zeit der Weimarer Republik eine Epoche radikal zugespitzter Konflikte und Kämpfe war, die im politischen Bereich mit Morden einherging, im ästhetischen eher mit Meucheln. Das sei, um das geistige Klima jener Zeit zu erhellen, hier angeführt, und darauf muss man zurückkommen, um zu verstehen, wie wertvoll und aufschlussreich die Briefe sind, die Purrmann und Scheffler wechselten.

KUNSTKÄMPFE Man schenkte sich nichts. Scheffler fraternisierte mit dem Maler Liebermann und diente dem Verleger Cassirer, beide jüdischer Herkunft; wo aber Rivalität aufkeimte, wuchsen auch Hass und Klischee. Über Emil Heilbut, mit dem er um die Leitung von Kunst und Künstler rivalisierte, schrieb Scheffler 1933/34 in seinem Lebensrückblick: Dieser „wurde mein Feind, obwohl ich mich fast ängstlich korrekt benommen hatte; er hat mir nie verziehen und mir beständig zu schaden versucht. Was ihm im kleinen gelang, da er ein Meister des Trugs und der List war. Er sah mit seinem eindeutigen Profil und dem tiefschwarzen Haarwuchs auf Kopf und Kinn aus wie ein alter Assyrer.“6 Dass Scheffler 1946, bei der Drucklegung des anderthalb Jahrzehnte zuvor entstandenen Manuskripts, diese Passage nicht strich, ist das eigentliche Indiz für eine zeittypische polarisierende Denkungsart mit ideologischen Tendenzen und persönlichen Feindseligkeiten. Auch das muss man als Historiker hinnehmen und benennen, nicht aber übergehen. Und eine solche Spitze reduziert nicht die Fülle des Verdienstes, sondern bereichert das Spektrum:

Eben auch hierfür sind Briefe wertvoll. Doch damit nicht genug; Scheffler unterstützte Max Tau, den früheren Lektor des Bruno Cassirer Verlags, auf dem Weg in die Emigration im November 1938 mit einem Empfehlungsschreiben, als derlei schon nicht mehr ohne Risiko war.7

WIDERSPRÜCHE Scheffler wie Purrmann lebten nach einem bürgerlichen ästhetischen Konzept, das sich abschirmte und sich ab 1933 auch dringlichst gegen das Diktat der Banalität abgrenzen musste. Dass Scheffler die Werke von Paul Klee als „wenig mehr als ein leichter Schaum“8 aus dem Horizont seiner Wahrnehmungsbereitschaft ausgrenzen konnte, mag aus heutiger Sicht irritieren. Schefflers am Impressionismus geschulte Position versperrte ihm die jüngere Generation. Umso wachsamer suchte er den Austausch mit Hans Purrmann und anderen; dessen künstlerische Reifung und Entwicklung sah er mit Aufmerksamkeit, seinen exilartigen Auslandsaufenthalt verfolgte er mit Wohlwollen und Geduld. Purrmann hatte nicht nur eine große Gestaltungsmacht, sondern auch eine Weisheit entwickelt, sich mit den Widerwärtigkeiten der Zeit so zu arrangieren, dass er seine Kunst gleichsam klug geschützt ausüben und verkaufen konnte. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg wollte der kritische, literarische und polemische Scheffler streiten, nun gegen die abstrakte Malerei, wie er allenthalben bekundete, sei es gegenüber Purrmann (Brief Nr. 38)9 oder Max Schwimmer:10 Aus dem Kämpfer und Schreiber der sezessionistischen Moderne war ein retardierender und retrospektiver Zeitgenosse geworden; das verband ihn mit vielen anderen Kunstschriftstellern. Cassirer hatte Vorbehalte gegen Matisse gepflegt. Und der Max Liebermann zeitweilig nahestehende Berliner Generaldirektor Wilhelm von Bode zog ebenfalls eine klare Trennlinie zur Moderne, sodass sein jüngerer Kollege in der Nationalgalerie, Hugo von Tschudi, nicht nur mit den französi-

schen Impressionisten ungeschützt in einen aussichtslosen Kampf gegen das Urteil Kaiser Wilhelms II. ging, sondern für Berlin von Erwerbungsversuchen der Bilder Vincent van Goghs absah. Sie alle waren Kunsthistoriker, Museumsmänner, Kritiker, Händler – und waren als solche an Urteil und Markt gekettet. Bode nannte den Kubismus gar eine ewige Schmach.11 Das letzte Wort behielt und behält hingegen die Kunst, so wichtig eine flankierende Briefausgabe und – generell – das Verständnis für Persönlichkeiten und Bedingtheiten ihres Denkens und Handelns auch sind. 1 Vgl. Ernst Braun (Hg.), Max Liebermann. Briefe, Bd.1–9, Baden-Baden 2011–2021. 2 Karl Scheffler, Das Phänomen der Kunst. Grundsätzliche Betrachtungen zum 19. Jahrhundert, München 1952, S. 258. 3 Ernst Braun, Max Liebermanns Briefe an Karl Scheffler, in: Jahrbuch der Berliner Museen 44 (2002), S. 223–249, hier S. 231. 4 Ebd., S. 239. 5 Eva Caspers, Paul Cassirer und die Pan-Presse. Ein Beitrag zur deutschen Buchillustration und Graphik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 21. 6 Karl Scheffler, Die fetten und die mageren Jahre, Leipzig 1946, S. 181. 7 Vgl. Ernst Braun, Max Tau und Karl Scheffler in ihren ­B riefen und Erinnerungen, in: Detlef Haberland (Hg.), „Ein symbolisches Leben“. Beiträge anlässlich des 100. Geburtstages von Max Tau (1897–1976), Heidelberg 2000, S. 137–164, hier S. 139f. 8 Ursula Feist, Günter Feist (Hg.), Kunst und Künstler. Aus 32 Jahrgängen einer deutschen Kunstzeitschrift, Berlin 1971, S. 301. 9 Abgedruckt in: Künstler und Kritiker. Hans Purrmann und Karl Scheffler in Briefen 1920–1951, im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin, und der Erbengemeinschaft nach Dr. Robert Purrmann, München, herausgegeben von Felix Billeter, Julie Kennedy und Anke Matelowski, Berlin und München, erscheint im Oktober 2021 beim Deutschen Kunstverlag. 10

Vgl. Karl Scheffler an Max Schwimmer, 31.12.1947, abgedruckt in: Ernst Braun, Briefe zwischen Karl Scheffler und Max Schwimmer. 1942–1949, in: Marginalien 122 (1991), S. 36–60, hier S. 57.

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Bernhard Maaz, Das konservative Ideal – Bodes Verhältnis zur Skulptur seiner Zeit, in: Angelika Wesenberg u. a. (Hg.), Wilhelm von Bode als Zeitgenosse der Kunst. Zum 150. Geburtstag, Berlin 1995, S. 135–146, hier S. 140. BERNHARD MAAZ ist seit 2015 Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Zuvor leitete er als Direktor die Gemäldegalerie Alte Meister und das Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunst­ sammlungen Dresden.

Der Text ist die gekürzte Fassung des Beitrags für die Brief­edition Künstler und Kritiker. Hans Purrmann und Karl Scheffler in Briefen 1920–1951. Im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin, und der Erbengemeinschaft nach Dr. Robert Purrmann, München, herausgegeben von Felix Billeter, Julie Kennedy und Anke Matelowski, Berlin, München: Deutscher Kunstverlag, 2021.

Hans Purrmann, Monte Pincio in Rom, 1926, Öl auf Leinwand, 66 x 82 cm

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Die Buchvorstellung findet am 14. Oktober 2021 in der Akademie der Künste, Berlin, Pariser Platz 4 statt.

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325 JAHRE AKADEMIE DER KÜNSTE

NICHT ALLEIN ZUR KUNSTÜBUNG

SONDERN ZUM KUNSTVERSTAND GESTIFTET

Ansicht des Marstalls, um 1696, unbekannter Künstler (Foto-AdK-O 13)

DIE GRÜNDUNG DER BERLINER KUNSTAKADEMIE 1696

Ulrike Möhlenbeck Die Academie der Mahl-, Bild- und Baukunst wurde am 11. Juli 1696 von Kurfürst Friedrich III., dem späteren König Friedrich I. in Preußen, eröffnet. Nach den Akademien in Paris und Rom war die Berliner Gründung die dritte Einrichtung dieser Art in Europa überhaupt und die erste staatliche Kunstakademie im deutschsprachigen Raum. Im Zuge des Ausbaus Berlins zur Residenzstadt betraute Friedrich III. seinen Staatsminister Eberhard von Danckelmann mit der Einrichtung der Akademie nach französischem Vorbild. Es galt dem Anspruch gerecht zu werden, eine hohe Kunstschule zu schaffen, die „nicht allein zur Kunstübung, sondern zum Kunstverstand gestiftet“ sei. „Man solle in ihr nicht ein Handwerk, sondern die Geheimnisse der Künste studieren.“ Die Akademie sollte sich drei Aufgaben widmen: Als Mitgliedersozietät vereinte sie die besten Künstler unter

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einem Dach, die sich in regelmäßigen akademischen Unterredungen über die Kunst der Malerei und Bildhauerei austauschten und kollegial die eigene künstlerische Vervollkommnung betrieben. Als Ausbildungseinrichtung unterrichtete sie den künstlerischen Nachwuchs. Die Mitglieder erteilten Unterricht in der Vorbereitungsklasse und in den weiterführenden Fächern wie Zeichnen nach Vorbildern, Architektur, Perspektive, Geometrie und Anatomie. Als Künstlerkollegium beriet die Akademie den König in Fragen der Kunst, etwa bei der Ausgestaltung des Berliner Stadtschlosses. 1696 umfasste die Akademie fünf Mitglieder, darunter der erste Direktor, der Berner Maler Joseph Werner (1637–1710), der niederländische Barockmaler Augustin Terwesten (1649–1711) und der Bildhauer und Architekt Andreas Schlüter (um 1660–1714), der bedeutendste Künstler Berlins seiner Zeit. Dem Gründungsakt am 11. Juli, dem 39. Geburtstag des Kurfürsten, war ein zweijähriger Probebetrieb vorangegangen. So lag 1696 bereits ein Entwurf für das Gründungsstatut vor, der sich noch heute im Historischen Archiv der Akademie der Künste befindet und zugleich das älteste Dokument zur Akademiegeschichte darstellt. Als Sitz wurde der Akademie der neue Marstall in der Dorotheenstadt zugewiesen. Um dort Platz zu schaffen, erhielt der Südflügel, zur Straße Unter den Linden gele-

gen, nach den Plänen des Architekten und Baumeisters Johann Arnold von Nehring ein oberes Stockwerk. Sechs Säle waren als Unterrichtsräume, Versammlungsstätte und Ausstellungsfläche für die Akademie bestimmt. Da ein Akademiefonds die finanzielle Grundausstattung sicherte, konnte sich die Akademie nachhaltig etablieren und wurde Element des künstlerischen Aufschwungs des Berliner Kunst- und Geisteslebens um 1700. Die heutige Akademie der Künste kann auf eine wechselvolle 325-jährige Geschichte zurückblicken. Damals wie heute stand und steht die gemeinsame Aufgabe im Fokus, die Künste zu fördern.

ULRIKE MÖHLENBECK ist Leiterin des Historischen Archivs der Akademie der Künste.

Anlässlich ihres 325-jährigen Jubiläums stellt die Akademie der Künste Momentaufnahmen ­ihrer Geschichte in Videoclips – den „Kalenderblättern" – vor, publiziert auf der Website der Akademie und auf ihren Social-Media-Kanälen. Mehr unter www.adk.de/kalenderblaetter


Über das Churfürstliche Absehen aufgesetztes Academie Reglement Nach welchem Ihre Churfürstliche Durchlaucht die Academie wollen eingerichtet haben. I.  Es sollen alle, die zu diser Academie Beruffen oder sich angeben, mit ihren Namen aufgezeichnet, und in eine geschriebene Tafel, ein jeder mit seinem Carakter angemerkt, solche Tafel auch in die Academie aufgehangen werden. II.  Ein jeglicher so sich bey der Academie anmeldet, soll etwas von seiner Arbeit Vorweisen, und selbiges Werk der Academie überlaßen, nach welchem man urtheilen könne, in welche Class ein solcher gehöre, und was für einem Amt er tüchtig seye.

III.  Wer Von denen Disciplen sich in die Academie begeben will, mus sich bey dem Directoren der Academie, mit einem bey sich habenden patronen der ihne der Academie recommandiret, welcher für deß discipals wohlverhalten Versicherung gibt, sich anmelden, und hierüber die Annehmungs patent, welche von dem Directoren, Rectoren im Amt und Secretario underschriben, und mit dem kleinen Academie Sigill Bestätiget sey, Zugleich soll ein jeder angenom­ mener Zu denen Academischen Gesätzen und Ordnungen sich verbin­den und darauf ein Gelübd ablegen, bey übertrettung aber die gebührende Straffe zu g ­ ewarten haben. IV.  Ein Jede wohlgeordnete Academie soll haben einen Directoren, Vorge­ setzten oder aber Aufseher, der Acade­ mischen Kunstlehren, Gesätzen und Ordnungen, welcher zugleich C ­ ensor seyn, die übertrettenden mit Straf Belegen, auch die arbeiten zu urtheilen und darüber die Belohnung oder den preiß zubenennen haben soll. Allen monatlichen Versammlungen, wan ein Rector sein Amt ab, und ein anderer das seinige a­ ntrittet, soll er darbey erscheinen und deß abtrettenden Rectoren abschied Beywohnen, von der Academie aber eingeladen und von dem Castellanen beruffen werden, die extra Lectiones die Ihrer Zuhalten beliebig, kan er nach Gelegenheit anstellen, und die Academisten und andere Kunstliebende hierzu Beruffen laßen, worbey die [Seite 2] Academie Verwanten, Verbunden Zu erscheinen.

Entwurf für ein Akademiestatut, 1. Seite, 1696 (PrAdK 1434)

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FREUNDESKREIS

DIE RESTITUTION VON RAUBKUNST IM RÜCKBLICK AUF 30-JÄHRIGE ERFAHRUNG Peter Raue

Es ist ein Phänomen – und eine der vielen betrüblichen Erkenntnisse, wie die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik mit dem Unrecht umgegangen ist, das die Nationalsozialisten insbesondere den jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen angetan haben: Jahrzehntelang haben auch erstrangige Kunsthändler und Auktionshäuser mit Kunstwerken, Bildern, Skulpturen aus jüdischem Besitz gehandelt, Museen „befangene“ Arbeiten erworben, ohne dass die Beteiligten der Frage der Provenienz nachgegangen wären. Erst 53 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Jahr 1998, tritt eine Wende ein, wird eine völkerrechtlich nicht bindende Vereinbarung getroffen, die Washington Principles (‚Washingtoner Erklärung‘), die das Fundament legen für systematische Provenienz­ forschung zur Auffindung von vor allem jüdischen Bürgerinnen und Bürgern geraubten Kulturgütern und deren Restitutionen.

DIE WASHINGTONER ERKLÄRUNG Diese völkerrechtliche Vereinbarung ist eine freiwillige Selbstverpflichtung aller Staaten, die diese Erklärung unterschrieben haben, unter ihnen selbstverständlich die Bundesrepublik Deutschland, um Werke, die während der Zeit des Nationalsozialismus „beschlagnahmt“ (!) wurden als „Raubkunst“ zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer ausfindig zu machen und mit ihnen eine „gerechte und faire Lösung“ (im Original „just and fair solution“) zu finden. Diese Selbstverpflichtung findet ihre Ausprägung in Deutschland in der Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und Zurückgabe NSverfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes insbesondere aus jüdischem Besitz, ihr folgt die Handreichung, eine Anleitung zum Umgang mit Restitutionsansprüchen (zuletzt aus dem Jahre 2019). Auch diese Handreichung ist „als rechtlich nicht verbindliche Orientierungshilfe

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Franz Marc, Füchse, 1913, Öl auf Leinwand, Kunstpalast, Düsseldorf

zur Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung gedacht“. Sie gibt ein Prüfschema vor, wonach wie folgt zu fragen ist: Wurde der Antragsteller durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen wegen „der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt? „Erfolgte [...] der Vermögensverlust durch Zwangsverkauf, Enteignung oder in sonstiger Weise?“ In diesem Falle kann die Vermutungsregelung, dass der Verlust der Kunstwerke verfolgungsbedingt ist, nur widerlegt werden, wenn der Veräußerer einen angemessenen Kaufpreis erhalten hat und darüber frei verfügen konnte. Diese Regelung wird „verschärft“ bei Veräußerungen ab dem 15. September 1935. Ab diesem Zeitpunkt – so die Handreichung – ist zu prüfen, ob „der Abschluss des Rechtsgeschäftes [...] auch ohne die Herrschaft der Nationalsozialisten stattgefunden hätte“. Ausdrücklich weist die Handreichung darauf hin, dass – der Washingtoner Erklärung folgend – bei Vorliegen eines Restitutionsanspruchs eine „gerechte und faire Lösung“ zu suchen sei, die „nur gemeinsam mit den Berechtigten zu erreichen“

sei. Statt der Rückgabe kommen danach auch in Betracht: Rückkauf, Dauerleihgabe, Tausch. Können sich die Parteien – die Anspruchssteller von Restitutionsforderungen und die Besitzer der zurückgeforderten Kunstwerke – nicht einigen, so können sie die „Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste“ anrufen, eine „Beratende Kommission für die Rückgabe N ­ S-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter“. Diese „Beratende Kommission“ kann einerseits nur angerufen werden, wenn beide Seiten dem zustimmen, und andererseits lediglich Empfehlungen aussprechen. Die „Beratende Kommission“ hat demnach keine Entschei­dungs­kompetenz. Dabei ist zu betonen, was in der Diskussion oft übersehen wird, dass sich die Washingtoner Erklärung und die dazu ergangenen innerstaatlichen Regelungswerke ausschließlich an die sogenannten öffentlichen Hände (Bund, Länder, Gemeinden) wenden. Nur sie sind nach der Washingtoner Erklärung zur Restitution beziehungsweise zur Suche nach einer gerechten und fairen Lösung verpflichtet.


DIE WASHINGTONER ERKLÄRUNG UND DAS PRIVATEIGENTUM Wenngleich die Verpflichtung aus der Washingtoner Erklärung (nur) die öffentlichen Hände bindet, liegt das eigentlich dramatische Anwendungsfeld bei Werken, die sich im privaten Besitz befinden. Wir Juristen sprechen von der „normativen Kraft des Faktischen“: Obwohl es keine Regelungen dazu gibt, schließt die Washingtoner Erklärung de facto einen Handel mit Kunstwerken aus, die sich im privaten Besitz befinden und einst jüdischen Eigentümern entzogen wurden. Kein seriöser Kunsthändler wird heute noch ein Bild zum Verkauf anbieten oder erwerben, kein solides Auktionshaus (weltweit!) eine Versteigerung durchführen, kein Museum auch nur eine Schenkung eines Werkes annehmen, bei dem der Verdacht (!) besteht, das Bild sei den einst jüdischen Eigentümern unter der Nazi-Herrschaft abhandengekommen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Kunstwerke auf den sogenannten jüdischen Versteigerungen angeboten und zugeschlagen wurden (deren Erlös die jüdischen Eigentümer in aller Regel – wenn sie ihn überhaupt erhalten haben – verwenden mussten, um die „Reichsfluchtsteuer“ zu zahlen) oder ob der Verlust dem Umstand geschuldet ist, dass die jüdischen Eigentümer das Land fluchtartig verlassen mussten (verlassen konnten) unter Zurücklassung von Hab und Gut und somit auch der Kunstwerke, oder – wie so häufig – die Kunstwerke bei den Razzien der Nazis beschlagnahmt wurden. Diese Auswirkung der Washingtoner Erklärung auf den Privatbesitz wird allerdings in kaum zu erahnender und höchst problematischer Weise verstärkt durch die „Lost Art-Datenbank“ der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste. Bei Eingabe einer Suchmeldung wird eine ernsthafte Schlüssigkeitsprüfung durch die Stiftung gar nicht erst vorgenommen (sie wäre damit überfordert). Sobald ein Kunstwerk in die Datenbank aufgenommen ist, ist das Werk vom Handel in der Regel ausgeschlossen. Oft befinden sich die dort angemeldeten Kunstwerke seit Jahrzehnten im Besitz von Käufern (und deren Erben), die bei dem Erwerb der Arbeiten nicht ahnen konnten und keinerlei Hinweise erhielten, dass diese Kunstwerke möglicherweise jüdischen Eigentümern aufgrund der Diskriminierungsmaßnahmen der Nationalsozialisten entzogen worden waren. Die Löschung einer (falschen) Eintragung aus dieser Datenbank ist in der Praxis kaum zu erreichen!

bis heute nicht wirklich entschieden. Die Antwort ist auch kompliziert: Kunstwerke, die zunächst in ein als sicher geltendes Exil (Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien) verbracht und dort veräußert wurden, sind nach vorherrschender Meinung nicht als zu restituierendes „Fluchtgut“ anzusehen. Freilich muss man im Auge behalten, dass vielfach ein zunächst als sicher geltender Ort später von den Nationalsozialisten besetzt und beherrscht wurde und die Verfolgung jüdischer Bürgerinnen und Bürger im einst gesicherten Ausland dort wie in Deutschland gang und gäbe war. Hier besteht weitgehend Einigkeit: Die Tatsache, dass eine Veräußerung außerhalb des Deutschen Reiches erfolgte, schließt nicht aus, dass das Objekt NS-verfolgungs­ bedingt entzogen wurde. So wurden nach Italien geflohene (oder dort lebende) Juden zunächst auch unter der Herrschaft von Mussolini nicht verfolgt. Dies änderte sich durch die sogenannten leggi razziali ab 1938 radikal. Aufgrund dieser Gesetze war es den Juden in Italien unter anderem verboten, Kunsthandel zu treiben. Ab 1940 – dem Kriegseintritt Italiens – wurden ausländische und italienische Juden in ca. 50 Lagern interniert und ab 1942 zur Zwangsarbeit verpflichtet. In dieser Situation kann häufig der Verlust von Kunstwerken (durch Verkauf) zur Restitutionsverpflichtung führen, obwohl es sich um „Fluchtgut“ handelt.

Bisher war es das weitgehend einvernehmliche Verständnis aller mit Restitutionsfragen Befassten, dass Kunstwerke, die von exilierten jüdischen Eigentümern im Ausland – Südamerika, Vereinigte Staaten, insbesondere New York – veräußert wurden (was in aller Regel geschah, um den Lebensunterhalt zu sichern), keine Fälle des „verfolgungsbedingten Ent­zuges“ durch die Nationalsozialisten war. Hier hat in jüngster Zeit eine Empfehlung der „Beratenden Kommission“ für Furore und erheblichen – auch öffentlich ausgetragenen – Streit gesorgt. Die hier zu betrachtende Empfehlung der „Beratenden Kommission“ stammt vom 10. Februar 2021.

DIE FÜCHSE UND DIE BERATENDE KOMMISSION Ein im Jahre 1913 entstandenes Gemälde von Franz Marc mit dem Titel Füchse befand sich seit 1962 – ein Geschenk von Helmut Horten, dem großen Kaufhausbesitzer (und schamlosen Gewinner der „arisierten Kaufhäuser“) – im Bestand des Museums Kunstpalast in Düsseldorf. Der frühere Eigentümer dieser Arbeit, Kurt Grawi, ein unbezweifelbar von den Nationalsozialisten verfolgter und enteigneter Jude, der im Zusammenhang mit der soge-

VON DER RAUBKUNST ZUM FLUCHTGUT Während wir uns bei dem Umgang mit Restitutionsansprüchen bei „Raubkunst“ auf einigermaßen gesichertem Terrain befinden, hat die Diskussion um den Umgang mit „Fluchtgut“ in den letzten Jahren geradezu dramatisch zugenommen. Unter „Raubkunstfällen“ versteht man gemeinhin den unfreiwilligen Besitzentzug im sogenannten Deutschen Reich. Unter „Fluchtgut“ versteht man dagegen Werke, die (obwohl sie nicht beschlagnahmt, nicht zwangsverkauft und nicht staatlich unmittelbar entzogen wurden) aus Deutschland vertriebene jüdische Eigentümer im Ausland verkauft haben. Ob auch „Fluchtgut“ zu Restitutionsansprüchen führen soll, ist

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Fritz Erler, Schwarzer Pierrot, 1908, Öl auf Leinwand Akademie der Künste, Kunstsammlung Erst durch eine Rückseitensichtung und Provenienzrecherchen konnte das ursprünglich auf der Leinwand befindliche Gemälde eines Fechters von Erler, das bisher als verschollen galt, wieder­ entdeckt werden. Der Pierrot wurde 1910 in der Modernen G ­ alerie des deutsch-jüdischen Kunsthändlers Heinrich Thannhauser in München g ­ ezeigt. Die Familie Thannhauser musste vor den Nationalsozialisten fliehen. Die zurückge­l assenen Kunst­b estände wurden beschlagnahmt. Wie lange der Pierrot im Besitz der Modernen Galerie war, konnte bisher nicht ermittelt werden.

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nannten Reichspogromnacht für mehrere Wochen in ein Konzentrationslager verbracht worden war, konnte Ende 1939 nach Santiago de Chile fliehen. Dort verstarb er 1944. Um seinen Lebensunterhalt in Santiago wenigstens einigermaßen zu sichern, konnte Grawi die Füchse im Jahre 1940 in New York über einen Kunsthändler verkaufen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Grawi den Kaufpreis – der dem damaligen Wert des Bildes entsprach – nicht erhalten hat. Dennoch empfiehlt die „Beratende Kommission“ der Stadt Düsseldorf die Rückgabe dieser Arbeit an die Erben von Kurt Grawi. Das ist ein Dammbruch! Die Kommission erkennt (völlig richtig), dass Grawi in Santiago nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, der Verkauf des Bildes aber dem Umstand zu verdanken sei, dass ihm die „praktisch vollständige Entwertung des Vermögens“ vorausging. Deshalb, so die Kommission, handelt es sich um einen Fall des „NS-verfolgungsbedingten Entzuges“, „obwohl der Verkauf außerhalb des NS-Bereiches seinen Abschluss gefunden hat“. Dieser Beschluss führte zu einer lebhaften öffentlichen Diskussion insbesondere in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geführt. Zunächst kritisiert Patrick Bahners (am 15. April 2021) die Entscheidung unter der Überschrift „So wird jetzt fast alles Raubkunst“ erkennt zu Recht eine „stillschweigende Änderung der Spruchpraxis“ der „Beratenden Kommission“, da es sich bei dem

Verkauf zweifelsfrei nicht um einen Zwangsverkauf (aber vielleicht einen Notverkauf) handelte. Dies sei umso erstaunlicher – so Bahners –, als die Kommission selbst zugesteht, dass ihre Entscheidung von den Vorgaben der Handreichung nicht gedeckt ist. Wenig später schreibt der ehemalige Vorsitzende Richter am Verwaltungsgerichts Berlin, Friedrich Kiechle, in der FAZ (am 22. April 2021): „Durch die Restitution der Füchse würde der Düsseldorfer Stadtrat eine Strafverfolgung riskieren“ (weil es für den millionenschweren Verlust dieser Arbeit keine Rechtsgrundlage gebe). Erstmals seit die Kommission tätig ist, also erstmals seit rund 30 Jahren rechtfertigt aufgrund dieser Angriffe der Vorsitzende der Kommission, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Hans Jürgen Papier, ebenfalls in der FAZ (am 7. Mai 2021) die Empfehlung der Kommission mit der (mich nicht überzeugenden) Behauptung, sie stünde in einer Kontinuität früherer Kommissionsempfehlungen. Im Zentrum des Rechtfertigungsversuches von Papier steht der Satz: „Der einzige Vermögensgegenstand den [Grawi] retten konnte, waren die ‚Füchse‘ von Franz Marc [...] ein Werk, das er nun verkaufte [...], weil er sich davon die nötigen Mittel für einen Neu­ anfang erhoffte.“

Papier schließt seine Rechtfertigung für den mit sechs gegen drei Stimmen ergangenen Beschluss mit dem Satz, dass nach Ansicht der Kommission dieser Verkauf keine freiwillige Entscheidung gewesen sei, sondern „ein Verkauf unter dem unmittelbaren Druck der Verfolgung“. Wenn diese Empfehlung der Kommission Richtschnur für zukünftige Restitutionsempfehlungen ist, dann ist praktisch jedes Rechtsgeschäft mit Kunstwerken jüdischer Emigranten auch im gesicherten Ausland zwischen 1935 und 1945 ein Fall, der nach den Washingtoner ­Prinzipien restituiert werden muss. Die geradezu melancholische Erkenntnis eines jüdischen Emigranten, der Bilder bei seiner Emigration aus Deutschland mitnehmen konnte, „wir haben damals von der Wand in den Mund gelebt“, wird von der „Beratenden Kommission“ nicht als eine der vielen schrecklichen Folgen der nationalsozialistischen Verfolgung der Juden angesehen, sondern als staatlicher Entzug des Eigentums (von Grawi). Von einer Beschlagnahme freilich, die nach der Washingtoner Erklärung Voraussetzung der Restitutions­ verpflichtung ist, kann hier nicht die Rede sein. Bedenkt man, dass die Entscheidung der „Beratenden Kommission“ nicht nur die öffentlichen Hände bindet, sondern genauso auf die privaten Besitzer oder Eigentümer derartiger Kunstwerke durchschlägt, ist die Empfehlung eben doch: ein Dammbruch. Der überall verbreitete Glaube, dass nach Verabschiedung der Washingtoner Erklärung alsbald die Restitutionsansprüche erledigt sein würden, ist ein Irrtum. Die Verfahren nehmen ständig zu und würden sich alsbald – bleibt die Kommission bei ihrer Notverkauf-Erkenntnis – auf alle Verkäufe (von Kunstwerken! – nicht z. B. von Schmuck) jüdischer Emigranten erstrecken. Unproblematisch ist das nicht. Die Diskussion wird weitergehen.

PETER RAUE ist Rechtsanwalt in Berlin, spezialisiert auf das Gebiet des Kunst- und Urheberrechts und vielfach mit Restitutionsfragen befasst. Er ist Honorarprofessor für Urheberrecht an der Freien Universität, Berlin, und Gründungsmitglied der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.

Provenienzforschung

Max Kaus, Havel-Ziehbrücke in der Mark, 1931, Öl auf Leinwand Akademie der Künste, Kunstsammlung Das Gemälde wurde im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München im August 1937 beschlagnahmt. Über den Nachlass von Bernhard A. Böhmer gelangte es in den Besitz von Friedrich Schult in Güstrow. Heute befindet es sich in der Kunstsammlung der Akademie der Künste.

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Die Kunstsammlung der Akademie der Künste untersuchte von 2017 bis 2021 im Rahmen eines vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Forschungsprojektes systematisch die Herkunft von im eigenen Bestand befindlichen 223 Gemälden und 170 Skulpturen, die vor 1945 entstanden sind. Ein nachweislich NS-verfolgungsbedingter Entzug eines Kunstwerkes, insbesondere aus jüdischem Besitz, wurde im Projektzeitraum nicht festgestellt. In einer von Oktober 2022 bis Januar 2023 stattfindenden Ausstellung werden neben den Projektergebnissen weitere hinter ausgewählten Kunstwerken, Kulturobjekten und Archivalien verborgene Geschichten offengelegt und die verschiedenen Bereiche der Provenienzforschung präsentiert (https://digital.adk.de/provenienzforschung/).


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 4–11 Fotos Mila Teshaieva/OSTKREUZ S. 13–25 Fotos Matej Bejenaru | S. 28 © David Ostrowski, Courtesy Sprüth ­M agers; S. 29 © Kunsthalle Bern; S. 30 © Gregor Schneider/VG Bild-Kunst, Bonn 2021; S. 31 © Rutherford Chang | S. 32 © Pollock-Krasner Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2021 | S. 34–38 © Mauro Fiorese, Courtesy: Galleria ­G aburro, ­Verona – Milano; S. 44–49 ­Fotos Michael Ruetz | S. 51 Akademie der Künste, Berlin, Kurt-Maetzig-Archiv, Nr. 1872 | S. 52 oben Foto Käte Witkower, Akademie der Künste, Berlin, KarlScheffler-Archiv, Nr. 687/31; S. 53 ­P rivatbesitz © VG Bild-Kunst, Bonn 2021 | S. 54 Akademie der Künste, Berlin, ­Foto-AdK-O, Nr. 13; S. 55 Akademie der Künste, Berlin, PrAdK, Nr. 1434 | S. 56 Kunst­p alast – ARTOTHEK; S. 57 Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr. MA 221; S. 58 Akademie der Künste, Berlin, Kunst­ sammlung, Inv.-Nr. MA 1, © VG Bild-­­ Kunst, Bonn 2021

Journal der Künste, Heft 15, deutsche Ausgabe Berlin, September 2021 Auflage: 3.000

Wir danken allen Inhaberinnen und Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Ver­ öffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Die im Journal vertretenen Auffassungen geben die Meinung der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Akademie der Künste. Den Autorinnen und Autoren ist freigestellt, in welcher Form sie Genderfragen in der Sprache Ausdruck verleihen.

Das Journal der Künste erscheint dreimal jährlich und ist an allen Standorten der Akademie erhältlich. Mitglieder der Akademie der Künste bekommen ein Exemplar zugesandt. Sollten Sie Einzelexemplare oder ein Abonnement wünschen, wenden Sie sich bitte an info@adk.de oder füllen das Bestellformular auf der Website der Akademie der Künste aus: https://www.adk.de/de/akademie/ publikationen/journal-bestellen © 2021 Akademie der Künste © für die Texte bei den Autorinnen und Autoren © für die Kunstwerke bei den Künst­l erinnen und Künstlern Verantwortlich für den Inhalt V.i.S.d.P. Johannes Odenthal Werner Heegewaldt Kathrin Röggla Redaktion Martin Hager, Lina Brion Anneka Metzger Korrektur Claudius Prößer, Nora Weinelt Gestaltung Heimann + Schwantes, Berlin www.heimannundschwantes.de Lithografie Max Color, Berlin Druck Gallery Print, Berlin Deutsche Ausgabe ISSN (Print) 2510-5221 ISSN (Online) 2512-9082 Digitale Ausgabe https://issuu.com/journalderkuenste Akademie der Künste Pariser Platz 4 10117 Berlin T 030 200 57-1000 info@adk.de, www.adk.de akademiederkuenste

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