Journal der Künste 11 (DE)

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DEUTSCHE AUSGABE NOVEMBER 2019

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EUROPA JEANINE MEERAPFEL: GEDANKEN ZU EINER EUROPÄISCHEN ALLIANZ DER AKADEMIEN MEMORIES IN MUSIC JULIA GERLACH: BRUCHKANTEN ZEITGENÖSSISCHER MUSIK CARTE BLANCHE DORIS DÖRRIE: VOM LEBEN UND SCHREIBEN HELGA PARIS HEIDI SPECKER: DIE ÄSTHETIK DER KITTEL


S. 5

S. 18

S. 44  NEUES AUS DEM ARCHIV

EDITORIAL

„EUROPÄER AUSSERHALB EUROPAS ZU ENTDECKEN, WAR KEINE GUTE ENTDECKUNG“

DURCHGÄNGE SCHAFFEN

Kathrin Röggla S. 6  SCHWERPUNKT EUROPA

Ingo Schulze

S. 46

GEDANKEN ZU EINER EUROPÄISCHEN ALLIANZ DER AKADEMIEN

S. 19

Kerstin Hensel

FUNDSTÜCK:

ZURÜCKBLEIBEN

„ABER ICH HABE EINEN HASS GEGEN DAS ALTE, DAS SICH EINBILDET, EIN EWIGES ZU SEIN“

S. 10

Ramy Al-Asheq

Helga Neumann

EUROPA ALS AGENDA

S. 20

S. 48

KOMMENTAR

PRÄZISION UND PATHOS: ZUR NEUAUSGABE DER SONATE POUR PIANO VON JEAN BARRAQUÉ

Jeanine Meerapfel

György Konrád S. 12

JUNGE AKADEMIE

ERST ASSANGE UND DANN...? Iris ter Schiphorst

SUPRA

Heribert Henrich

Tobias Kruse

S. 24

S. 14

ERINNERUNGEN, IN DIE EUROPA VERWICKELT IST

SPALTPILZ

Julia Gerlach

Kathrin Röggla S. 28 S. 15 JUNGE AKADEMIE

A HOUSE

FREIHEIT ODER NUTZEN? WER PROFITIERT, WENN STIFTUNGEN KUNST FÖRDERN? Ein Gastbeitrag von Stephan Muschick

THEATER IN POLEN: REFLEXIONEN ZUR AKTUELLEN SITUATION Artur Pełka

Cemile Sahin S. 32  CARTE BLANCHE S. 16

BAUTZEN ODER BABYLON

S. 50  FREUNDESKREIS

LEBEN, SCHREIBEN, ATMEN Doris Dörrie

Heiner Müller S. 38  HELGA PARIS – DAS FOTOGRAFISCHE WERK

„BAUTZEN ODER BABYLON“. DIE IDEE EINER EUROPÄISCHEN SOZIETÄT

KITTEL BEWUSSTSEIN

Angela Lammert

Heidi Specker S. 42

EIN ARCHIV IN SCHWARZ-WEISS Torsten Musial



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EDITORIAL

Liebe interessiert Lesende, ob der lernende Mensch wirklich das europäische Wappentier sein kann, wie GYÖRGY KONRÁD das 2007 formuliert hat, dieser Überlegung wollen wir in der 11. Ausgabe des Journals der Künste nachgehen. Zumindest verbindet sich der Gedanke an Europa mit vielen Fragen, die JEANINE MEERAPFEL in einer gemeinsamen Konferenz europäischer Akademien der Künste zu stellen vorhat: Das sind Fragen nach der möglichen Allianz der europäischen Akademien und ihrer Kunstschaffenden, nach gemeinsamer Identität und dem Interesse in politisch heiklen Zeiten. Anknüpfend an ein Projekt HEINER MÜLLERS von 1990, dem einer europäischen Akademie der Künste, an das ANGELA LAMMERT anhand einer – ja wirklich – Einladungskarte aus dem Archiv erinnert, sammeln wir die Geister, die aus der Zukunft kommen. Schließlich endet auch Müllers Text „Bautzen oder Babylon“ mit dem schönen Satz: „Wir brauchen Ihre Hilfe.“ INGO SCHULZE hat diesen Bedarf in seiner Rede für die Glänzende Demo anlässlich der Europawahlen in konkrete politische Forderungen zu übersetzen verstanden. ARTUR PEŁKA berichtet aus Polen über die verzwickte Beziehung

des Theaters zu einem romantischen Nationalbegriff und dessen Verhältnis zur gegenwärtigen rechten Hegemonie in Polen – eine besondere Geschichte, die gleichzeitig Modellcharakter haben könnte. Unser Sekretär der Sektion Musik, JULIA GERLACH , geht dem europäisch-kolonialen Erbe nach, das die Akademie der Künste auf einem Festival im Herbst 2020 anhand von drei Musiktheaterprojekten in Memories in Music überführt, während die Fotografien von TOBIAS KRUSE eine so sterile wie stilisierte Gegenwart des internationalen diplomatischen Parketts evozieren. Sie sind der Ausstellung „KONTINENT “ entnommen, die im nächsten Jahr in der Akademie am Pariser Platz zu sehen sein wird – wir gewähren

Ihnen vorab einen ersten Eindruck. Als produktiven Kontrast dazu bieten wir Porträtfotos von HELGA PARIS , deren Arbeit auch in Hinblick auf die große Ausstellung, ebenfalls am Pariser Platz, im späten Herbst dieses Jahres in Texten multiperspektivisch umwoben wird, wofür wir die Künstlerin HEIDI SPECKER und TORSTEN MUSIAL , den Leiter unseres Archivs Film- und Medienkunst, gewinnen konnten. Ja, es ist erstaunlich viel Zukunft in dieser Ausgabe des Journals, und wir sind nicht zuletzt der Komponistin IRIS TER SCHIPHORST zu Dank verpflichtet, die uns anhand des „Falls“ von Julian Assange daran erinnert, dass es die Gegenwart ist, in der die Zukunft auf dem Spiel steht. Wahre Zukünftigkeit kommt aus der Poesie, und insofern ist es uns ein Anliegen, dass wir an diesem Ort klare Einwürfe mit sehr dicht gestalteten Arbeiten verbinden können – die JUNGE AKADEMIE präsentiert sich mit einem poetischen Text von RAMY AL ASHEQ und einer collageartigen Arbeit von CEMILE SAHIN über Ortsverlust, Eigentum und Identität, ein Dreisprung, der in der Carte blanche von DORIS DÖRRIE von ganz anderer Seite aufgegriffen wird. Sie nutzt sie zu Reflexionen im Gewand einer künstlerischen Autofiktion und bildet dabei ganz nebenbei ein neues Genre aus. Unser „Fundstück“ aus der Vergangenheit (und Gegenwart des Archivs), ein Brief THEODOR FONTANES an Carl Hauptmann, gibt Auskunft über komplizierte brüderschaftliche Verhältnisse, gerade wenn es um künstlerische Anerkennung geht. Am Ende ist es daher gut, dass es auch Durchgänge gibt, der neu gestaltete im Brechthaus wird von unserer stellvertretenden Direktorin der Sektion Literatur, KERSTIN HENSEL , zur leuchtenden Passage. Die Zukunft ist schon bei uns! Ihnen insofern einen inspirierenden Freiflug durchs Journal wünschend, Kathrin Röggla  Vizepräsidentin der Akademie der Künste

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SCHWERPUNKT EUROPA

GEDANKEN ZU EINER EUROPÄISCHEN ALLIANZ DER AKADEMIEN Jeanine Meerapfel

Die Kultur muss Farbe bekennen. Und mit Kultur meine ich die Kulturschaffenden, die Künstlerinnen und Künstler, die Kulturinstitutionen. Wir reden (alle) von Europa. Wir wollen (alle) ein transnationales Europa, eine friedliche Republik, die aus vielen Nationen besteht. Wir (hier von Deutschland aus gedacht) – schließt das auch Chemnitz mit ein? Chemnitz, wo noch Ende letzten Jahres Demonstrationen geschützt wurden, bei denen zu Gewalttaten und Morden an „Ausländern“ aufgerufen wurde, bei denen der Hitlergruß gezeigt und rassistische wie nationalsozialistische Parolen gebrüllt wurden?

Meinen wir ein Europa, das sich antisemitischer Karikaturen und Gesinnungen nicht mehr schämt? Müssen wir damit leben? Ich meine, nein. Ich – und mit mir, so hoffe ich, eine große Mehrheit der Bevölkerung – will ein Europa, das nicht chauvinistisch, nicht antisemitisch, nicht ausländerfeindlich ist. Ein Europa der Toleranz und der Aufklärung. Ein offener Kontinent, der keine menschenverachtenden Grenzen errichtet, ein Kontinent, der nicht besser oder schlechter als andere ist, sondern bereit, die Menschenrechte zu verteidigen und die Beziehungen untereinander im Geist der Toleranz aufrechtzuerhalten. Und ein Kontinent, der die historisch beispiellose Situation nicht vergisst, die der Zweite Weltkrieg heraufbeschworen hat – wie Hannah Arendt schrieb: „Jählings gab es auf der Erde keinen Platz mehr, wohin Wanderer gehen konnten, ohne den schärfsten Einschränkungen unterworfen zu sein, kein Land, das sie assimilierte, kein Territorium, auf dem sie eine neue Gemeinschaft errichten konnten.“1 Europa vor 50 Jahren war eine utopische Idee. Feinde über Jahrhunderte, Staaten, die die halbe Welt kolonialisiert, Kriege gegeneinander geführt und sich gegenseitig umgebracht hatten – sie hatten die utopische Idee der Vereinigung. Einige von ihnen ließen sich von der Vision leiten, dass Europa nur dann politisch und wirtschaftlich existieren könne, wenn es vereint sei.


Es ist das komplizierteste soziale, politische und wirtschaftliche Experiment, das man sich denken kann – die Wunden der Kriege, die Jahrhunderte alten Differenzen zwischen den Ländern zu überwinden. Und doch beschlossen diese Länder, eine Koalition zu bilden. Das war einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Hinsichtlich der Wirtschaft, in einer zumindest in groben Zügen gemeinsamen Außenpolitik sind bereits viele Schritte unternommen worden. Noch immer bestehen Hemmnisse, die tiefgreifenden Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten zu akzeptieren und zu respektieren. Das ist der schwierige Teil. Die verschiedenen Pylone, von denen diese sehr komplizierte und zugleich schöne Idee – Europa – getragen wird, bestehen aus sozialen, politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten, und unser Teil als Akademie der Künste, als Künstler und Intellektuelle, ist es zu versuchen – genau wie die politischen Parteien, die Regierungen et cetera –, Allianzen zu schließen und Netzwerke unter den kulturellen Institutionen aufzubauen, in denen die Idee des Aufbaus Europas stärker ist als der Wunsch, Europa zu zerstören. Es ist wichtig sich daran zu erinnern, was der Traum bedeutete. Es ist wichtig, erneut die Sprache des politischen und kulturellen Idealismus zu verwenden, eine Sprache, die zu oft herabgewürdigt wurde. Wir sehen das Glas nicht halb leer, sondern halb voll. Kunst, Philosophie und der Intellekt kennen keine Grenzen. Und Künstler sind durchaus erfahren im mühsamen Geschäft der Überwindung von Grenzen. Wir wollen einige Ideen in dieser Richtung teilen und Toleranz zur „façon de vivre“ erklären. Als ich noch ein Kind war, in Argentinien, war Europa ein Geruch: der Geruch der Kleidung meiner Mutter, der Dinge, die sie sorgfältig in Schachteln über den Winter aufbewahrte (möglicherweise war es der Geruch von Mottenkugeln). In dem Vorort von Buenos Aires, wo ich aufwuchs, hörte ich geheimnisvolle deutsche Worte wie „Spätzle“ (vom Vater) oder weiche gesungene französische Töne wie „Au clair de la lune, mon ami Pierrot … Prête-moi ta plume, pour écrire un mot …“ (die Mutter). Ohne es zu wissen, war ich bereits Europäerin. Später, in der Pubertät, waren es die Gedichte, die Jorge Luis Borges über europäische Städte oder Sprachen schrieb. Es war eine sehr vage Vorstellung von einem Ort, zu dem wir gehörten und doch nicht gehörten. Später, noch später, als ich die Journalistenschule besuchte und schon eine überzeugte Lateinamerikanerin war, war ich gegen Europa. Europa hatte uns kolonisiert, hatte Lateinamerika mit Bibel und Schwert seine Kultur aufgedrängt. Und danach, in der schwersten Zeit der Verfolgung der Andersdenkenden durch die argentinische Militärdiktatur, wollten Europa und speziell Spanien keine „Sudacas“ (so das spanische Schimpfwort für Südamerikaner) aufnehmen. Und die Bundesrepublik Deutschland machte die Augen zu, verkaufte Waffen an die Generäle und kümmerte sich nicht einmal um die verschleppten Bürger deutscher Nationalität. Und wir (das „wir“ war ein klares Gefühl damals) – wir Argentinier hatten Spanien gefüttert, während und nach dem Zweiten

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Weltkrieg: Ohne den Weizen aus Argentinien wären die Spanier verhungert. So fühlte ich damals mit der Generation von jungen Menschen, die gegen das Unrecht kämpften. Ich war den Weg nach Europa gegangen, noch vor Beginn der argentinischen Militärdiktatur. Ich konnte nach Europa, weil ich mich für Deutschland entschieden hatte – das Land, aus dem meine Familie vertrieben worden war. Von da an hatte ich viele Heimaten, war in vielen Sprachen beheimatet. In Europa wurde Ulm für mich ein Zuhause, wo wundersamerweise ein Ort existierte, an dem Ausländer und Deutsche gemeinsam studierten: die Hochschule für Gestaltung, eine antifaschistische Gründung der Geschwister-Scholl-Stiftung. Dort wurde eine internationale Utopie des Lehrens und Lernens gelebt.

Das Missbehagen an der Kultur … war eine von den Ingredienzien, aus denen der Nazipudding gekocht wurde. Gabriele Tergit in ihrer Beschreibung der 1930er Jahre in Berlin 2

Europa schien mir zu dieser Zeit selbstverständlich. Aber gemeint war immer Westeuropa: Frankreich, Holland, Belgien, Italien, Skandinavien … Der große Schritt, den Kontinent zu umspannen, den Osten dazuzuzählen, kam viel später. Was für eine Chance! Was für ein unglaublicher Schritt nach vorne! Polen, Ungarn, Bulgarien, all die Länder, die hinter dem Eisernen Vorhang waren, wurden Teil des europäischen Einigungsprozesses, wurden Teil der EU. Europa, wo im 20. Jahrhundert die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, wo Völkermord nie gesühnt worden ist – ein Kontinent, der überzogen war von Scham und Entsetzen. Dieses Europa würde endlich die Kränkungen, Differenzen und Verbrechen in Frieden überwinden. Dieses Europa wollte eins sein und nie wieder die Unterschiede in Blut ertränken. Aber der große Traum scheint festzustecken. Wie Jo Lendle und Robert Menasse 2016 schrieben: „Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik. Eine Währungsunion ohne gemeinsame Finanz-und Fiskalpolitik. Letztlich eine politische Union, deren Mitglieder die politische Union bekämpfen und blockieren.“3 Ja, Europa ist unvollkommen, voller Fehler, noch immer keine transnationale Republik. Aber der Traum ist noch immer da: der Wunsch von Millionen Menschen, dass die Grenzen offen bleiben, dass nie wieder Krieg ausbricht … Das wurde deutlich, als die Europäer jüngst in Scharen wählen gingen – allen war klar, dass es um ein geeintes Europa ging, um die Utopie Europa, also gingen die Menschen wählen. Ein Moment der Freude, des Aufatmens. Aber siehe da: Die gewählten Politiker sollten gar nicht die gewählten Vertreter in Brüssel sein. Man hatte die Wähler nicht

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darüber aufgeklärt, wie die Wahlprozesse für das Europäische Parlament funktionierten. Es gab auch keine transnationalen Listen, sondern Vertreter der Parteien der unterschiedlichen Länder. Das weitere Geschehen ist bekannt: Als die Parteien sich im Europäischen Rat nicht einigen konnten, riefen die Regierungsvertreter neue Namen aus. Und schnell wurde aus Hoffnung und Freude tiefe Enttäuschung. Es war, als hätten Eltern ihren Kindern nicht die ganze Wahrheit gesagt. Und prompt war das Missbehagen wieder da. „Welch ein trauriges Paradox, dass die Intellektuellen heute, im vereinigten Europa, in der Europäischen Union, die zwar eine ernsthafte Krise durchmacht, aber doch nach demokratischen Prinzipien funktioniert und an den freien Markt glaubt, in einem Europa, von dem sie einst geträumt haben, und dessen Parlament sie jetzt frei wählen können, dass diese Intellektuellen hilfloser zu sein scheinen als früher, in den schlechten Zeiten“, schreibt Adam Zagajewski.4 Für mich stellt sich die Frage: Sind wir so hilflos? In einem Moment, in dem administrative und politische Träume von Europa nicht realistisch erscheinen, haben Künstler da die Kraft zusammenzufinden? Können Sie gemeinsam eine Deklaration der gegenseitigen Toleranz und Unterstützung, eine Europäische Allianz der Akademien und kulturellen Institutionen verfassen, eine Deklaration der Notwendigkeit des Zusammenhalts, der klaren Abkehr von Nationalismen? Die Deklaration einer gemeinsamen Sprache, übersetzt in all die wunderbaren europäischen Sprachen … Neben der Tatsache, dass Schengen und eine gemeinsame Währung praktisch sind: Kann es unter europäischen Künstlern eine echte Neugier auf den und die anderen geben? Kann es den ernsthaften Wunsch geben, die sozialen, psychologischen und sonstigen Grenzen zu überwinden? Göran Rosenberg schreibt, „der moderne Nationalstaat sei nur dadurch möglich geworden, daß der Mensch imstande war, seine fest gefügten Stammesbindungen zu einer sozial verfaßten Loyalität gegenüber imaginären Gemeinschaften zu erweitern. Was wir heute als Gerechtigkeit einer demokratischen Gesellschaft verstehen – die Gleichheit vor dem Gesetz –, ist vielleicht lediglich eine erweiterte Form von Loyalität.“5 Das ist nicht wenig. Die erweiterte verfasste Loyalität gegenüber einem nicht imaginären, sondern tatsächlichen Europa der vielen unterschiedlichen Heimaten ist doch schon ein großer Schritt! Welche Bedeutung kann der Zusammenhalt europäischer Kulturschaffender haben in einer Zeit, in der die Gesellschaft durch den biologischen und informationstechnologischen Wandel so un­­ gleich zu werden droht wie kaum je zuvor, wie der Historiker Yuval Noah Harari nicht müde wird zu verkünden?6 Können Künstler und Intellektuelle trotz dieser drohenden Ungleichheit – neben der bereits existierenden – die Existenz eines gemeinsamen Kontinents, den Gedanken eines Zusammenhalts aufrechterhalten? Können Künstler diesem gefährlichen „Missbehagen an der Kultur“, von dem Gabriele Tergit schrieb, mit ihrem Schaffen und Wirken, aber auch mit einer klaren Haltung trotzen? Können Künst-

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ler trotz aller Unterschiede Neugier aufeinander entwickeln, Kooperationen miteinander vereinbaren? Können Kunst und Kulturschaffende, Vertreter von Kunst- und Wissenschaftsakademien und anderen Kunstinstitutionen, eine neue Identität in einer europäischen Freundschaft finden? Sind die kulturellen Vertreter so unterschiedlicher Gesellschaften in der Lage, eine Bindung einzugehen, eine Allianz, auf die wir uns im Notfall beziehen können? Auf die wir aber auch in hoffentlich friedlichen Zeiten zählen können? Die Akademie der Künste stellt diese Fragen. Wir wollen eine Allianz, die aus dem Wunsch heraus entsteht, den Frieden unter den europäischen Ländern zu erhalten. Wir wollen die res publica Europa ernst nehmen. „Niemand weiß heute“, schreiben die unermüdlichen EuropaKämpfer Ulrike Guérot und Robert Menasse, „wie das absolut Neue, das Nie-Dagewesene, das weltgeschichtliche Avantgardeprojekt, nämlich die nachnationale europäische Demokratie am Ende konkret institutionell verfasst sein wird. Das zu diskutieren, mit aller Phantasie der Träumer, mit aller Kreativität, zu der dieser Kontinent fähig ist, ist die Aufgabe, die sich uns heute stellt.“7 Wir wollen Künstler und Intellektuelle aus den Ländern Europas zu einem Treffen einladen, das dem Erhalt des AvantgardeProjekts Europa dient und im Rahmen dessen wir eine ALLIANZ DER AKADEMIEN und anderer kultureller Institutionen Europas schmieden und propagieren. 1 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Bd. II Imperialismus, Berlin 1975 2 Gabriele Tergit, Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2018 3 J o Lendle und Robert Menasse, Vorwort, in: Europa – Akzente 3 (2016) 4 A dam Zagajewski, Die Schließung einer offenen Gesellschaft, in: Europa – Akzente 3 (2016) 5 Göran Rosenberg, Europas viele Heimaten, in: Lettre International 118 (2017) 6 Vgl. „Die Gesellschaft droht so ungleich zu werden wie nie zuvor.“ Yuval Harari an der ETH Lausanne, SRF KulturAktualität, 11.7.2019, online: https://www.srf.ch/kultur/ gesellschaft-religion/harari-an-der-eth-lausanne-diegesellschaft-droht-so-ungleich-zu-werden-wie-nie-zuvor 7 U lrike Guérot und Robert Menasse, Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik, in: Europa – Akzente 3 (2016)

JEANINE MEERAPFEL, Filmemacherin, ist Präsidentin der Akademie der Künste.


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SCHWERPUNKT EUROPA

EUROPA

ALS AGENDA Gyรถrgy Konrรกd

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„Perspektive Europa“: Unter diesem Titel stand im Juni 2007 eine von Johannes Odenthal konzipierte Konferenz an der Akademie der Künste. Teil nahmen unter anderem Mario Adorf, Assia Djebar, Carlos Fuentes, Imre Kertész, Elias Khoury, György Konrád, Wang Hui, Wole Soyinka, Klaus Staeck, Frank-Walter Steinmeier, Andrzej Stasiuk und Ilija Trojanow. „In Europa selbst“, so die zugrundeliegende These, „ist die Moderne verwoben mit einer Geschichte der menschlichen und kulturellen Katastrophen. Und doch, oder gerade deshalb, gibt es eine Perspektive Europa, die aus diesem kulturellen Gedächtnis schöpft und sich den umfassenden Veränderungen der Gegenwart stellt.“ György Konrád erinnerte in seinem Vortrag daran, dass ein vereinigtes Europa Errungenschaft und Verpflichtung zugleich ist. Ein Auszug.

Europas Wappen ist der lernende Mensch.

Wozu brauchen wir eine europäische Vereinigung? Damit wir Europäer nicht länger in Nationen und deren Bündnisse zerfallen, die jahrtausendealte Tradition blutiger Kämpfe nicht länger fortsetzen. Damit kein einziger europäischer Staat die Möglichkeit hat, mit den anderen in einen Krieg verwickelt zu werden, denn der Zusammenschluss zwingt sie alle zur Disziplin. Alle miteinander lernen wir jetzt unser neues Ich kennen. Lernen, was es bedeutet, nicht nur Staatsbürger unseres eigenen Staates zu sein, sondern zugleich auch der europäischen Gemeinschaft. Was ist neu an diesem Zustand? Vielleicht die anerkannte Pluralität der Identitäten. Der Zusammenschluss bringt wachsende Vielfalt mit sich. Da die europäische Assoziation derart verschiedene Elemente miteinander vereint, ist es verständlich, wenn sie zwischen Stärke und Verständnis, Effektivität und Würde, materiellen und geistigen Werten die Kunst des Ausgleichs praktiziert. Wir wählen, erfinden und dichten uns selbst. Die Wertegeschichte ist ein Wettstreit zwischen den miteinander debattierenden Selbstbestimmungen. Können wir sagen, dass sich die europäische Union zu einer Nation neuen Typs entwickelt? Existiert Europa als ein vielköpfiges, denkendes Subjekt, das nach seinem eigenen Gesicht und seinen bestimmenden Werten sucht? Die Frage können wir, so glaube ich, mit „ja“ beantworten. […] Der Zweite Weltkrieg hat Ungarn eine Million Menschenleben gekostet. Eine halbe Million jüdischer und eine halbe Million christlicher Landsleute. Die Revolution von 1956 hat ungefähr zehntausend Menschenleben gefordert. 1989 und was daraus hervorgegangen ist, der Prozess der demokratischen Entwicklung, hat Ungarn kein einziges Menschenleben abverlangt. Stattdessen musste gelernt werden. Hinter der stolzen Fassade nationaler Souveränität haben Hitlers und Stalins Staat mit den Menschen gemacht, was sie wollten. Es würde mich freuen, wenn die europäische Assoziation die Macht der nationalen politischen Klassen sowohl von oben als auch von unten beschnitte. Dass der Name

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der einen oder anderen Person der Geschichte meiner Heimat ihr Gütesiegel aufdrücken könnte, das möchte ich nicht. Da ich der lokalen, nationalen politischen Klasse nur begrenzt vertraue, halte ich deren Beschränkung für wünschenswert. Meist hat mir der eigene Staat mit seinem nationalsozialistischen und kommu­ nistischen Extremismus unangenehme Erfahrungen beschert. Tatsache ist, dass Derartiges erst die deutsche und dann die sowjetische Führung von ihm erwartet hat. Dessen ungeachtet ist der heimischen Administration beim Bereiten von Unannehmlichkeiten eine große Autonomie zuteil geworden. Eine allzu große Auswahl, in wessen Namen man uns unterdrücken kann, in dem der Nation, der internationalen Arbeiterklasse oder irgendeiner Religion, besteht nicht. Die durch Europa ziehenden Ideenströmungen können das eine oder andere Land verrückt machen. 27 indes nicht. […] Europas Wappen ist der lernende Mensch und, wenn man so will, die Identität. Auch Forschen heißt Lernen, kritisches Bewahren, Korrektur und Weiterentwicklung von allem Seienden. Der Lernende lernt, den anderen und auch sich als sich selbst beherrschendes Subjekt zu achten. Unsere Geschichte ist die beharrliche und mühselige Geschichte unseres Lernens. Unsere gemeinsame Biografie ein Erziehungs- oder besser gesagt Selbsterziehungsroman. Jene Länder, in denen die Menschenrechte mehr oder weniger eingehalten werden, bilden eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft, deren Grundsatz in einem weltumspannenden Bündnis der Demokratien besteht. Jemand, der statt zu lernen sich lieber streitet, dessen Ideal ist der Kampf. Heiliger Krieg im Namen der Religion, der Nation oder der Weltrevolution, wo das Tragen von Felduniformen und Maschinenpistolen Mode ist, dort ist das Lernen keine Mode. Statt Schule ist Fahnenschwenken Usus. Was ist schlecht? Auschwitz und diesem Ähnliches. Die absichtliche Vernichtung von Menschen. Was ist gut? Die Abwehr von Auschwitz und diesem Ähnlichen. Die Schaffung einer Heimat, in der dem Menschen nichts angetan wird. Europa ist die schwere Schule des Zusammenlebens. Die Verbürgerlichung können wir als das Wesen der modernen europäischen Entwicklungen betrachten, in deren Verlauf die Elite und das Volk zum gleichberechtigten Bürger werden, der Tausch und Verträge ernst nimmt. Statt religiösem Staat weltlicher Rechtsstaat, dem entspricht das europäische und nordamerikanische Modell, die Voraussetzung dafür, dass zahlreiche Konfessionen friedlich nebeneinander existieren können und religiöser Glaube weder einem Verbot noch einer Pflicht unterliegt. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. 2013 erschien im Suhrkamp Verlag der Band Europa und die Nationalstaaten, worin Konrád diese Gedanken zu einem umfassenden Essay weiterentwickelte.

GYÖRGY KONRÁD, Schriftsteller und Essayist, war ab 1991 Mitglied der Akademie der Künste und von 1993 bis 2003 deren Präsident. Er verstarb am 13. September 2019. In der kommenden Ausgabe erscheinen Texte zu seinem Gedenken.

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SUPRA Fotografien von Tobias Kruse (S. 3–13) TOBIAS KRUSE setzt sich in seiner Arbeit SUPRA mit der Europäischen Union und ihren Strukturen und Organen (Europäischer Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament) auseinander. Er besucht die Orte, an denen sich die supranationale Vereinigung materialisiert. In seinen szenischen und bühnenhaft anmutenden Aufnahmen werden die Widersprüche des Konstrukts der EU ebenso greifbar wie die langwierigen und komplexen Prozesse, die diese ausmachen. Die Serie ist Teil der Ausstellung „KONTINENT“, die vom 2. Oktober 2020 bis zum 10. Januar 2021 in Kooperation mit der Akademie der Künste im Akademie-Gebäude am Pariser Platz zu sehen sein wird. „KONTINENT“ ist die Hauptausstellung des EMOP Berlin – European Month of Photography 2020.

KONTINENT ist das aktuelle thematisch angelegte Gemeinschaftsprojekt aller Mitglieder von OSTKREUZ zum 30-jährigen Jubiläum der Agentur, die sich 1990, kurz nach dem Mauerfall, im noch nicht wiedervereinigten Deutschland in Ostberlin gründete. Diese fünfte thematische Gruppenausstellung von OSTKREUZ, bei der alle Fotograf*innen zu einem aktuellen, gemeinschaftlich gewählten Thema arbeiten, stellt als künstlerisches und politisches Statement die Gegenwart Europas in den Mittelpunkt und beleuchtet diese kritisch in 21 Positionen. Für Ausstellung und Publikation erforschen die OSTKREUZ-Fotograf*innen in freien künstlerischen Projekten verschiedene Aspekte des Miteinanders in Europa und beleuchten sowohl persönliche, gesellschaftliche und politische Phänomene als auch grundlegende Strukturen und historische Entwicklungen, die für sie als Autor*innen von Bedeutung sind. Den Zugang zu komplexen Themen finden sie dabei immer über Bilder vom Menschen und seiner Umgebung. Das Spektrum der Themen erstreckt sich von Fragen nach Identität und Sicherheit über Renationalisierung, Migration und Integration bis hin zu einem grundsätz­ lichen Verständnis von Humanismus, Demokratie und Meinungsfreiheit. „KONTINENT“ zielt darauf ab, sich klar gegen eine vermeintlich objektive oder vereinfachende Darstellung der aktuellen Gegebenheiten zu positionieren, und wird fruchtbare Impulse für einen Diskurs über Europa bieten und fragen: Wie leben wir eigentlich zusammen? Was verbindet uns? Wer ist mit „Wir“ gemeint, wenn von einem „Wir“ in Europa gesprochen wird?

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SCHWERPUNKT EUROPA

SPAL PILZ

Kathrin Röggla

Um mit einer positiven Betrachtung zu beginnen: Es ist erstaunlich, wie viel Kraft weltweit der Lyrik nach wie vor zugeschrieben wird (in Zeiten, in denen Lyrik angeblich kaum noch Publikum findet), da man sie so strikt verbieten, ihre Urheber ins Gefängnis stecken, oft ohne Anklageschrift, ihre Verleger bedrohen oder Veranstaltungsorte zerstören muss. Damit beende ich schon das vermeintlich Positive, denn der PEN-Club veröffentlicht jedes Jahr erneut die Zahlen der betroffenen Autorinnen, und diese Zahlen und Fakten sind bestürzend. In den sogenannten Fall-Listen kann man die einzelnen Verfolgungen nachlesen, von Entführungen, Ermordungen, Vergewaltigungen, Einschüchterungen ist die Rede, es sind vielfältige „Mittel“, die eingesetzt werden, um Menschen zum Schweigen zu bringen. Wenn ich mich diesbezüglich auf den deutschsprachigen Raum be­­ schränke, die Türkei des Verlegers Osman Kavala beiseiteschiebe, das Russland des Theaterregisseurs Kirill Serebrennikow oder des ukrainischen Filmregisseurs Oleh Senzow, die Slowakei des Journalisten Ján Kuciak, das Bulgarien der Journalistin Wiktorija Marinowa und das Malta der Journalistin Daphne Caruana Galizia, mit einigen ängstlichen Seitenblicken zu unseren direkten Nachbarn nach Polen und Ungarn und deren schrumpfenden zivilgesellschaftlichen Räumen, entdecke ich auch in Deutschland und Österreich zahlreiche Anknüpfungspunkte zu oben genannter Verfolgung. Künstlerische Freiheit und Meinungsfreiheit sind etwas, das stets erneut eingefordert werden muss, kein sicherer Bestand, und sie sind auch nicht durch Grenzen geschützt. Alleine die ängstliche Ahnung vieler Kolleginnen, dass bei uns bei einem Regierungswechsel Zustände wie in Polen und Ungarn vorstellbar sind, wo Theaterintendanten abgesetzt, Museumskuratoren gekündigt, wo Festivals ausgetrocknet und ganze Institutionen wie in Ungarn die Soros-Foundation kriminalisiert werden! Schließlich haben wir oft genug gesehen, wie schnell es gehen kann. Dazu kommt: Wir unterhalten nicht nur politische und wirtschaftliche Verbindungen mit den verschiedensten Ländern (nicht nur mit China, Russland, den USA,

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sondern auch mit solchen innerhalb der EU, die ja eigentlich klare Standards hat), sondern Kunst ist dem Wesen nach etwas Internationales, sie macht nicht Halt an den Grenzen, und was in Polen, Russland oder China passiert, geht uns eben auch künstlerisch etwas an. Doch unabhängig davon, ob die Bundesregierung in diplomatischen Außengesprächen oder die EU als Gemeinschaft von Ländern durchaus die Verletzung von Freiheitsrechten seitens der jeweiligen Gesprächspartner wirksam beeinflussen könnte – und es aus anderen Interessen heraus nicht tut oder erfolglos tut –, gibt es auch hierzulande eine neue Phase der Bedrohung. Wo beginnt bei uns die Zensur, was ist schon eine Zensur, was noch nicht? Das ist eine Frage, die in letzter Zeit auf den Podien vieler Kulturinstitutionen heftig diskutiert wird. Von der Internalisierung der Zensur (Selbstzensur) über die „sanften“ Mittel bis hin zur Kriminalisierung, wie das im Falle vom Zentrum für Politische Schönheit in Thüringen der Fall war, reicht der Gesprächsstoff, und von der Chemnitzer Erklärung von Bürgerrechtlern und ehemaligen DDR-Oppositionellen bis zu kulturpolitischen Stellungnahmen (gegen eine Leitung des auswärtigen Kulturausschusses durch die AfD) häufen sich die öffentlichen Stellungnahmen von PEN, Kulturrat, der Akademie der Künste oder des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller – VS. Zu Recht! Deutschland, das bislang Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst im Grundgesetz verankert wusste, den Artikel 5, der in den Gerichten immer noch häufig Anwendung findet, durchlebt zurzeit die heftige Phase eines Kulturkampfes, in dem gerade die Freiheit der Kunst zu einer merkwürdigen Verhandlungsmasse wird und damit leicht angreifbar zu sein scheint. Plötzlich erleben wir in politischen Rhetoriken die Volte, dass wir in einer Meinungsdiktatur lebten, die es zu zerstören gelte. „Gesinnungsjustiz“, „Gesinnungsdiktatur“, „Gesinnungskorridor“ sind beliebte Vokabeln der Rechtspopulisten, mit denen gerade die Garanten von Rechtsstaat und Minderheitenrechten attackiert werden. Indem man behauptet, man lebe in einem Unrechtsstaat (als wäre die BRD ein SED-Regime), also in einer eigentlichen Diktatur, die zerschlagen gehört

mitsamt ihren Propagandamitteln, kann man mit Freiheitsrhetorik gerade die Freiheit aushebeln. Daran sieht man, die Debatte ist heikel und wird gerne politisch instrumentalisiert. Es ist ein wenig verkehrte Welt, ähnlich der derzeit oftmals erlebten Umkehrung, die aus Tätern Opfer macht und aus Opfern Täter. Mein Eindruck ist, dass schon beinahe zu lange beobachtet und analysiert wird und es mittlerweile mehr darum gehen müsste, den genannten Tendenzen schärfer zu begegnen in einem Land, in dem es einige Theaterschaffende und Autorinnen gibt, die sich bedroht fühlen, die Morddrohungen und Anfeindungen erhalten, mit denen man eben nicht leben können müsste, unter dem Motto, wer austeilt, muss auch einstecken, wie das Marc Jongen zu den Anfeindungen Falk Richters um dessen Stück FEAR formuliert hat, als bestünde da eine Symmetrie. Es ist die perfide Symmetrie von Aktion und Gegenaktion, die immer wieder verkehrt herum konstruiert wird: Wo „politisch Korrekte“ sich äußern, da gibt es plötzlich folgerichtig auch Rechtsextreme, wo öffentlich „kurze Röcke“ getragen werden, da wird es auch Vergewaltiger geben. Auch der Begriff der Zensur wird an dieser Stelle gerne usurpiert. Denn es ist noch nicht notwendigerweise Zensur, wenn ein Artikel in einer Zeitung nicht erscheint, oder gar, wenn jemand eine Gegenmeinung äußert und sich die eigene Meinung nicht durchsetzt. Der entscheidende Schritt wird darin liegen, was passiert, wenn Rechtspopulisten Regierungsverantwortung erhalten, denn es gibt einen Unterschied zwischen der verdeckten Toleranz rechtsextremer Äußerung und ihrem öffentlichen Auftrag, wie man ihn in Teilen in den letzten Jahren in Österreich erlebt hat. Und wer jetzt sagen möchte, man habe unter der ÖVP-FPÖ-Regierung auch nicht das Burgtheater geschlossen, dem sei zu antworten, dass man mit der Austrocknung der Szenen begonnen hat, die gegen das identitäre und rechte Bild und für eine Vielfalt der Gesellschaft und der Künste standen. Man spaltet die Zivilgesellschaft, das heißt in dem Fall die Kulturszene, in die bildungsbürgerliche und die engagierte, in solche, die dem autonomen Kunstbegriff zuneigen, und solche, die für die soziale Plastik eintreten – und wenn das geklappt hat, wird weiter gespalten. Die erste Gefahr ist allerdings die des vorauseilenden Gehorsams, der Angst vor Drohungen und Repressalien, ein Klima, das sehr schnell sprachlich herzustellen ist. Es ist ein Gift, das äußerst wirksam ist, und jeder Kunstschaffende, das ist vielleicht die traurige Wahrheit, hat eine Ahnung, wie es wirkt.

KATHRIN RÖGGLA, Schriftstellerin, ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste. Der Beitrag entstammt einer Rede, die sie bei der Tagung „Zensiert & Verfolgt: Kultur unter Druck“ (6. – 8.9.2019) der Evangelischen Akademie Tutzing gehalten hat.


JUNGE AKADEMIE CEMILE SAHIN

JOURNAL DER KÜNSTE 11

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Skulptur, Sound und Text. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie und wo Geschichte entsteht und wie sie dargestellt wird. Ausgangspunkte sind gefundene Bilder, Archivmaterialien und Texte, die Cemile Sahin in ihren Arbeiten neu inszeniert.

CEMILE SAHIN hat Bildende Kunst am Central Saint Martins College of Art and Design in London und an der Universität der Künste Berlin in der Klasse von Mark Lammert studiert. Ihre Arbeiten bewegen sich zwischen Film, Fotografie,

tin der Akademie der Künste.

verlorenen Sohn bestimmt. Cemile Sahin ist 2019 Stipendia-

Mutter, die einen jungen Mann zum Ersatz für ihren

Im Oktober 2019 erschien ihr Debütroman TAXI über eine


SCHWERPUNKT EUROPA

BAUTZEN

ODER

BABYLON

DIE IDEE EINER EUROPÄISCHEN SOZIETÄT

„Ist Europa noch zu retten?“,1 lautet eine handschriftliche Notiz von Heiner Müller für seinen Text „Bautzen oder Babylon“, dem Aufruf zur Gründung einer Europäischen Sozietät.2 Diese Idee, nie realisiert, gehört zu einem aufregenden Kapitel der Akademiegeschichte nach 1989.

Angela Lammert

Die Gründung einer europäischen Künstlergesellschaft wird im Oktober 1990, kurz nach Müllers Wahl zum Präsidenten der (Ostberliner) Akademie der Künste zu Berlin, von dieser beschlossen. Sie war Bedingung seiner Präsidentschaftszusage. Zum einen gab es schon zu dieser Zeit prominente Unterstützung von mehreren

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korrespondierenden Mitgliedern – zu ihnen zählten unter anderem Pierre Boulez und Giorgio Strehler.3 Zum anderen gab es im Oktober 1990 kontroverse Diskussionen in der Ost- wie der West-Akademie bis hin zur ersten Reaktion von Walter Jens, dass „wohl die Volkskammer Europarat“ werden wolle.4 Gründungsakt der Europäischen Sozietät sollte ein Künstlerforum sein. Der Text „Bautzen oder Babylon“ wird im April 1991 aus diesem Anlass als Einladung an Künstler verschiedener Länder geschickt. Schriftliche Zusagen von Claudio Abbado über Jean-Luc Godard bis Daniil Granin liegen schnell vor. Heiner Müller versteht seine Initiative als Prozess einer Umwandlung bestehender Strukturen. Der Berliner Kultursenator, um mit Müllers Worten zu sprechen, „in Cowboy-Stiefeln durch die kulturelle Landschaft der (vielleicht) künftigen Metropole“5 schreitend, interpretiert sie hingegen als Neugründung und droht mit Geldentzug.6


Umbruch: „Der Verdrängung der Nazi-Vergangenheit entspricht und dient die Dämonisierung der DDRGeschichte. Vierzig Jahre Bautzen machen zehn Jahre Auschwitz vergessen.“ 11 Künstlersozietät klingt nach Versicherung – auch das steckt in dem Vorschlag eines Umbruchs. „Bautzen oder Babylon“ ist ein Thinktank für eine internationale Ausrichtung von „Akademie“. In dem Vorgang zur Europäischen Sozietät findet sich folgendes Bertolt-BrechtZitat aus dem Fatzer-Fragment von Heiner Müller, das er 1993 unter dem Titel Duell-Traktor-Fatzer 12 zusammen mit anderen Texten als Montage im Berliner Ensemble inszenierte – als Geschichte in dieser Aufführung, die Historie rückwärts spielt: „Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit / So jetzt aus Zukunft ebenso.“ 13

1 Akademie der Künste, Heiner-Müller-Archiv, Nr. 4852, o. D. 2

Heiner Müller wurde am 16.7.1990 Präsident.

3 Plenarsitzung am 24.10.1990 und Sitzung des Präsidiums am 30.10.1990, Beschluss zur Neukonstituierung der Ostberliner Akademie für das Frühjahr 1991 als europäische Künstlergesellschaft, Akademie der Künste, Historisches Archiv, ZAA 1703 4 Plenarsitzung am 24.10.1990, ebd., ZAA 1577 5 Heiner Müller im Gespräch mit Alexander Weigel: Was wird aus dem größeren Deutschland?, in: Sinn und Form 4 (1991), S. 668 6

U lrich Roloff-Momin an Heiner Müller vom 19.4.1991, Akademie der Künste, Historisches Archiv, ZAA 1748. „Die Sieger schreiben die Geschichte, aber ich fürchte, sie sind Analphabeten, was die europäische Lektion betrifft“, resümiert Müller dieses Schreiben in „Was wird aus dem größeren Deutschland?“, S. 668.

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lrich Roloff-Momin an Heiner Müller vom U 24.7.1991: „Heiner Müller kam miwt einem fertigen Vorschlag und bat die Akademie West, an diesem Künstler­f orum teilzunehmen. Walter Jens lehnte die Teilnahme wegen mangelnder Vorbereitungszeit ab, schlug aber vor, das Künstlerforum im Frühling 1992 stattfinden zu lassen.“ Privatarchiv Angela Lammert

8 Plenarsitzung vom 25.9.1991, Akademie der Künste, Historisches Archiv, ZAA 1677, S. 579 9 Ebd. 10 Was wird aus dem größeren Deutschland?, vgl. Anm. 5, S. 667 11 Ebd. 12

Damit scheint das Projekt zum Scheitern verurteilt. Trotzdem wird die Idee der Europäischen Künstlersozietät von Müller weiterverfolgt – auch, als Ende Juli 1991 die Einladung zum Künstlerforum erneut verschoben wird, diesmal auf den März 1992, wie es offiziell heißt: „aus finanziellen und organisatorischen Gründen“.7 Die Grundidee der Europäischen Sozietät ist, beide nach 1945 gegründeten Akademien aufzulösen und etwas Neues zu denken – das mehrheitlich von nichtdeutschen und jungen Mitgliedern geprägt ist. Es kommt anders. „Bautzen oder Babylon“ markiert damit nicht nur ein vitales Moment der komplizierten Vereinigungsgeschichte beider Akademien, sondern nimmt in seinem Potenzial für eine Internationalisierung der Akademie der Künste zukünftige Entwicklungen vorweg.

JOURNAL DER KÜNSTE 11

„Riss zwischen Ost und West offenhalten“ 8 Um Brücken bauen zu können, ist es notwendig, den Abgrund beziehungsweise die Differenz nicht zu ver­ wischen. In der Plenarsitzung der Akademie Ost vom 25.9.1991 heißt es bei Heiner Müller: „Aufgabe dieser neuen Akademie sollte es sein, diesen Riss zwischen Ost und West offenzuhalten, nicht zuletzt durch die Auf­ arbeitung der eigenen Geschichte, nicht nur aus der Sicht von zwei Generationen, bis er geschlossen werden kann in der Auseinandersetzung um ein kommendes Europa der Differenzen.“9 Er kleidet diese utopische Aufgabe in ein sprechendes Bild. Die Schlange habe nach vier Jahrzehnten hypnotischer Behandlung das Kaninchen verschluckt, aber es stelle sich heraus, dass das Kaninchen ein Igel war, und bekanntlich haben Igel die Fähigkeit zu einem langen Winterschlaf.10 Müller sieht dabei die innerdeutschen Differenzen eingebettet in einen globalen

uell-Traktor-Fatzer, Berliner Ensemble 1993, D Regie: Heiner Müller, Raum: Mark Lammert, ursprünglich „Germania 2“ [Bertolt Brecht, Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer (Bühnen­ fassung von Heiner Müller). Frankfurt am Main 1994, S. 73]

13 Was wird aus dem größeren Deutschland?, vgl. Anm. 5, S. 669

ANGELA LAMMERT ist Leiterin des Bereichs inter­d is­ ziplinäre Projekte an der Akademie der Künste. Ende 2019 erscheint der gemeinsam mit Carolin Schönemann herausgegebene Band Bilderkeller über Wandmalereien, die zu Fasching 1957 und 1958 von Meisterschülern der Akademie im Keller der Räumlichkeiten am Pariser Platz angebracht wurden. Der Band erscheint auf Deutsch und Englisch im Auftrag der Akademie der Künste. Ein abschließendes Kapitel widmet sich der hier beschriebenen Initiative von Heiner Müller.

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SCHWERPUNKT EUROPA

EUROPÄER AUSSERHALB EUROPAS ZU ENTDECKEN, Ingo Schulze

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, „Die Vielen“ gehören zu den Initiativen, die sich gegen Rassismus und Nationalismus engagieren, die weder Bevormundungen noch Beleidigungen oder Übergriffe hinnehmen wollen. Im Aufruf zur heutigen Demonstration heißt es: „Gemeinsam sagen wir: Die EU muss sich ändern, wenn sie eine Zukunft haben will. Wir streiten für unsere Vision eines anderen Europas.“ Beides gehört zusammen: der Widerstand gegen Natio­ nalismus und Rassismus und der Kampf für eine gerechtere Welt, in der nicht Maximalprofit und shareholder value, sondern soziale Gerechtigkeit und ökologisches Wirtschaften unser Leben und Arbeiten bestimmen. Es reicht nicht, sich als weltoffen und bunt zu gerieren und die EU-Fahne zu schwenken. Eine Glorifizierung der EU in ihrer jetzigen Struktur und Funktionsweise ist genauso borniert und falsch wie ein Zurück zum Nationalstaat. Es wäre ein folgenschwerer Fehler zu glauben, wir könnten uns damit zufrieden geben, den Status quo zu verteidigen und zu hoffen, dass sich die neuen unangenehmen Parteien und Gruppierungen in Luft auflösen. Wir haben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn wir sie auch als Symptome einer Realität begreifen, die wir grundlegend verändern müssen. Zum Beispiel in Sachen Mitbestimmung. Ich fühle mich nur dann wirklich mitverantwortlich, wenn ich auch mitbestimmen kann. (Ich lebte länger in einer Kleinstadt südlich von Leipzig. Dort gab es vor einigen Jahren eine Ausstellung mit dem Titel „Altenburg – Provinz in Europa“. Der Titel verkörpert für mich europäisches Selbstbewusstsein und Selbstverständnis. Im Alltag hat dieses Selbstverständnis aber nur dann eine Chance, wenn ich in EU-Angelegenheiten genauso mitbestimmen kann wie auf nationaler Ebene.) Das Parlament, das wir in einer Woche wählen, ist von diesem Anspruch noch weit entfernt. Die EU muss demokratisiert werden, das Parlament muss endlich sein Larvenstadium hinter sich lassen. Doch auch die EU-Verträge, die in den Rang einer Verfassung gehoben wurden, sind in einzelnen Punkten untauglich für die Zukunft. Sie sind maßgeschneidert für eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm schrieb schon vor einigen Jahren dazu: „Seit der EuGH das Verbot marktverzerrender staatlicher Beihilfen an Unternehmen auch auf öffentliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge erstreckt hat, kann kein Mitgliedstaat mehr selbst bestimmen, was er dem Markt überlassen und was er in Eigenregie übernehmen will.“

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WAR KEINE GUTE ENTDECKUNG

Am 19. Mai 2019 hielt der Schriftsteller Ingo Schulze in der Berliner Volksbühne eine Rede bei der „Glänzenden Demonstration – Unite & shine“, organisiert von „Die Vielen“. Die Akademie der Künste ist eine von über 140 Kultureinrichtungen, die die „Berliner Erklärung der Vielen“ unterzeichnet hat und damit eine klare Haltung gegenüber rechtem Populismus und völkisch-nationalistischer Propaganda einnimmt. Gerade die Frage, was das Gemeinwesen dem Markt über­ lässt und was es in Eigenregie übernimmt, wird immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt einer glaubwürdigen sozialen Politik, wie die Debatte über Enteignungen von Wohnungsgesellschaften zeigt. Es gibt Lebensbereiche, in denen marktwirtschaftliche Kriterien untauglich sind oder nur eine untergeordnete Rolle spielen dürfen: bei der Kranken- und Rentenversicherung, in der Bildung, beim Transport- und Verkehrswesen, bei der Wasser- , Energieund Gasversorgung, beim Wohnen. Wer eine ernsthafte Debatte darüber führen will, muss auch diese EU-Verträge wieder zur Diskussion stellen. Vor mehr als zweihundert Jahren schrieb Georg Christoph Lichtenberg: „Der Amerikaner, der den Kolumbus als erster entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“ Europäer außerhalb Europas zu entdecken, war tatsächlich keine gute Entdeckung. Vor wenigen Tagen sagte ein junger Mann aus Mali zu mir auf Deutsch: „Europa bringt uns die Probleme.“ Die europäischen Staaten tragen Mitverantwortung für die Folgen von Kolonialismus und Kaltem Krieg und praktizieren stillschweigend Formen des Neokolonialismus. Wenn wir heute demonstrieren, dann tun wir das womöglich in einer Kleidung und in Turnschuhen und mit Smartphones in der Tasche, von denen ein Großteil unter Bedingungen gefertigt worden ist, die gerade jene Verhältnisse reproduzieren, die wir zu Recht anprangern und die der Grund für die Flucht vieler Menschen nach Europa ist, deren Nutznießer aber wir sind. Als engagierter Bürger und bewusster Konsument lässt sich einiges tun. Aufs Ganze gesehen braucht es dazu aber politische Lösungen. Ein Anfang wären juristisch verbindliche Kontrollen von Lieferketten und sozialen Standards. Vergleichsweise einfach, weil innerhalb der EU zu lösen, sollte die Frage von EU-Agrarsubventionen sein, die sogenannten Flächenprämien, die Exporte zu Preisen ermöglichen, bei denen afrikanische Produzenten nicht mithalten können. Beispielsweise gingen 2017 42 Prozent der EU-Exporte an Geflügelfleisch in Staaten südlich der Sahara. Statt bei uns in eine ökologische Landwirtschaft zu investieren, werden bei uns Böden und Grundwasser kontaminiert und in Entwicklungsländern die einheimische Landwirtschaft erdrückt. Ich spreche jetzt nicht noch vom Klimawandel oder vom Waffenexport, aber Fluchtursachen und unser way of life sind zwei Seiten einer Medaille. Die Bekämpfung von Fluchtursachen beginnt bei uns. (Das Nationale lässt sich nicht vom Internationalen trennen.) Es gibt keinen Globus für Deutschland und es gibt auch keinen für Europa.

Keine Organisation könnte wirksamer Fluchtursachen bekämpfen als die Europäische Union. Aber nicht mal die Seenotrettung im Mittelmeer ist noch selbstverständlich. Was nützen offene Grenzen, wenn gleichzeitig Milliarden Euro aufgewendet werden, um gerade ein Erreichen der EU-Grenzen zu verhindern? Wer es doch bis hierher schafft, ist fast ausnahmslos traumatisiert. Ehrlicher wäre es, die Ausgabe humanitärer Visa zu verlangen. Das aber macht das Problem offensichtlich. Die Flucht ist eine Notlösung. Wenn wir uns nicht weiter in einer Festung Europa verschanzen wollen, müssen wir die Bekämpfung der Fluchtursachen endlich ernst nehmen. Ein hoffnungsvolles Zeichen, aber auch noch nicht mehr, geht von den Museen aus, insbesondere den französischen. Die Provenienzforschung, die wissen will, unter welchen Bedingungen Kulturgüter in die Museen gelangt sind, um sie gegebenenfalls zurückzuführen, könnte ein Vorbild für alle Bereiche der Gesellschaft abgeben: Wir müssen fragen, woher die Dinge kommen, die unser Leben angenehm machen, und unter welchen Bedingungen sie entstanden sind. Wir müssen auf Transparenz und Aufklärung bestehen. Es braucht diese Selbstaufklärung, wollen wir uns ernsthaft gegen Nationalismus, Rassismus und Neokolonialismus stellen. Statt aber Geld dafür bereitzustellen, wird nicht nur der Rüstungsetat der einzelnen Länder drastisch erhöht, die EU ihrerseits will ab 2021 fast sieben Milliarden jährlich für Rüstung ausgeben. Schon heute übersteigen die Rüstungsausgaben von Deutschland und Frankreich zusammen die von Russland um ein Drittel. Waffen lösen keine Konflikte, diese Lektion sollten wir gelernt haben. Ich breche an dieser Stelle ab, auch wenn ich noch gern sagen möchte, dass ich mir ein von der EU initiiertes öffentlich-rechtliches Facebook und Google wünsche. Wir dürfen Edward Snowden und Julian Assange nicht vergessen, ihnen gilt unsere Solidarität. Ich habe vor knapp dreißig Jahren erlebt (und dabei mitgemacht), wie sich ein System beiseiteschieben ließ, das auf jeden Ernstfall vorbereitet schien, aber dessen Sprache und Denken so verkrustet waren, dass es die Realität nicht mehr wahrnehmen und reagieren konnte. Wer einmal erfahren hat, dass sich die Welt verändern lässt, hält dies auch ein zweites Mal für möglich. In diesem Sinne: Wir sind das Volk! We are the people!

INGO SCHULZE, Schriftsteller, ist seit 2006 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Literatur.


JUNGE AKADEMIE RAMY AL-ASHEQ

Alles suggeriert, dass man sich nicht sorgen muss. Routine. Routine. Routine. Papier. Papier. Papier. Routine. Papier. Du bist jetzt hier. Du musst die Sprache lernen. Du bist jetzt hier. Du musst die Sprache lernen. Du bist jetzt hier. Unsere Steuergelder. Bei uns in Deutschland. Integration. Integration. Integration. Krise. Krise. IS. Du musst die Sprache lernen. Geht in eure Länder zurück. Du bist jetzt hier. IS. Diktator. Orient. Wüste. Krieg. IS. Bürgerkrieg. Ihr Armen. Du bist jetzt hier. Integration. Willkommenskultur. Geht in eure Länder zurück. Flüchtlinge. Alles suggeriert, dass man sich nicht sorgen muss. Routine. Integration. Papier. Ich bin hier. Ich bin dort. Ich bin hier. Ich bin dort. Ich bin hier-dort. • D u bist hier, du solltest der Katastrophe den Rücken kehren. • Ich bin Angelus Novus. • Du solltest der Katastrophe den Rücken kehren. • Wenn euch Walter Benjamin hören würde! • Du solltest nicht nach hinten schauen. • Was wisst ihr schon vom Schuldgefühl?

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Die Kälte beginnt im Kopf. Es ist, als sei das Blut, das hinter mir vergossen wurde, aus dem Leib des vor mir Liegenden gesogen worden, als sei der Krieg, der hier vorbeigekommen ist – so wie ein Krieg eben vorbeikommt –, nie gewesen.

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poetischer Prosa. Seine Texte wurden ins Bosnische, Deutsche, Englische, Französische, Kurdische und Spanische übersetzt. 2017 gründete er das deutsch-arabische Kulturmagazin FANN, 2018 war er Kurator am Literaturhaus

RAMY AL-ASHEQ ist ein syrisch-palästinensischer Dichter, veröffentlicht, im Frühjahr 2020 erscheint auf Englisch der Band Ever Since I Didn’t Die, eine Sammlung mikrofiktionaler

Wie soll ich dir in deiner Sprache „Ich liebe dich“ sagen? Es fehlt etwas, der Aussprache der Buchstaben fehlt die notwendige Tiefe, „Ich liebe dich“ mit meinem ausländischen Akzent erscheint verschwommen. Wie soll ich dir erklären, was ich mit „verschwommen“ meine? Lass mich mit Herta Müller sprechen: „Das Wort liegt nicht direkt auf dem Ding, das es bezeichnet.“ Hmm, jetzt ist es nur noch komplizierter geworden! Ich meine: Das Gedicht wird noch weniger wert als ein neuer

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Journalist und Kurator. Er hat fünf Gedichtbände auf Arabisch

Die Kälte beginnt im Kopf. Die Sprachen explodieren, dein Name wird fremd und zerbrechlich, Bezeichnungen explodieren vor dir wie Dinge, die explodieren können, und Namen ergießen sich über dich wie Dinge, die sich nicht ergießen können.

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Die Kälte beginnt im Kopf. Wenn zu den Schatten zwei tanzende Schatten hinzukommen, schläft die Zeit. Wenn ich dich küsse, schlägt mich die Kälte mit der Peitsche der Erinnerung. Ich falle, fasse dich an der Hüfte, du blutest, ich lege mich auf den Rücken und falle aus der Höhe der Erinnerung in ein unendliches Grab.

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Ich bin euer Affe, und ihr könnt beobachten, wie ich vor euch umherspringe und in meiner furchterregenden Sprache schreie. Ich habe noch nicht gelernt, wie ich euch in eurer Sprache sagen kann, dass ich genug habe. Sprechen wir doch in einer neutralen Sprache – ich erzähle euch von der Ebene, dem Meer, der Liebe und den Liedern, und ihr fragt mich nicht nach meiner Geschichte. • Erzähl uns von der Ankunft • Da bin ich noch nicht angekommen

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Als man Rucksäcke und Koffer erfand, hat man sie so entworfen, dass die Leute sie auf dem Rücken tragen oder hinter sich herziehen, und man hat sie verschlossen, damit man nicht immer sehen muss, was drinnen ist. Dort leben die Erinnerungen. Was wäre, wenn man sie in einen offenen Einkaufswagen legen und vor sich herschieben könnte?

Ich denke darüber nach, wie ich sein werde, wenn ich um die 80 bin … Ein langweiliger Mann. Haut wie die Rinde eines Olivenbaums, in die das Leben seine Erinnerungen geritzt hat. Mein Kopf ein Strohballen. Mein Mund ein Wald, bewacht von Spinnennetzen. Meine Augen ein ausgetrockneter See, in dem die Fische Selbstmord begehen und dabei dem Wasser, der Liebe und der Freude ein Lied singen Ein Buckliger im Berlin der Buckligen Ledig, nur nicht meiner alten Beziehung mit dem Rauchen Einsam, ein von den Liebenden verlassenes Dorf Eine Vielheit, mit all meinen Namen und Kriegen Jähzornig, verfolgt von Kindern, die nach mir werfen mit ihren Schuhen und meinen Erinnerungen Ich blicke in den Spiegel wie einer, der auf ein Massaker blickt, flüchte – zu den Frauen, die sich im Archiv übereinandertürmen, wische den Staub von ihren Gesichtern, lasse ein wenig davon auf ihrem Haar, damit sie mit mir alt werden Ich erzähle ihnen von der Armee meiner Kinder und meinen Streitereien mit einer leidenschaftlichen jungen Ehefrau Sie rebellieren vor Wut und Eifersucht, ich lasse sie gemeinsam sitzen und schlafe allein in einer Nacht voller Leichen

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Da bin ich also. Der Ort erscheint mir ein bisschen zu grün. Die Gesichter wirken unwirklich, die Städte wie aus Zeichentrickfilmen entsprungen, die nicht synchronisiert wurden. Ich schlafe im Bett eines Fremden, bette meinen Kopf auf meine Sorgen und meinen Körper auf meine Erinnerungen. Die Zeit vergeht, als wäre ich in einem langen Traum, dem zu entkommen ein Traum wurde.

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ZURÜCKBLEIBEN

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JUNGEN AKADEMIE der Akademie der Künste.

raturtage Berlin. 2018 war Ramy Al-Asheq Stipendiat der

Berlin. Er ist Mitgründer der Arabisch-deutschen Lite­

Übersetzung aus dem Arabischen: Kerstin Wilsch

• Alles ist Sorge. • Du musst der Katastrophe den Rücken kehren. Die Kälte beginnt im Kopf. Die Kälte beginnt im Kopf. Die Sprachen explodieren, dein Name wird fremd und zerbrechlich, die Bezeichnungen explodieren vor dir wie Dinge, die explodieren können, und die Namen ergießen sich über dich wie Dinge, die sich nicht ergießen können. Die Kälte beginnt im Kopf. Die Kälte beginnt im Kopf. … Ich ziehe die Stimme aus der Maschine: „Zurückbleiben bitte.“

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Alles suggeriert, dass man sich nicht sorgen muss. Die Kälte beginnt im Kopf. Ich hole aus dem Rucksack, was ihr sehen wollt. Mitleiderregende Tränen – das Mitleid verschwindet, wenn die Tränen verschwinden –, Erinnerungen an Unrecht und Unterdrückung, vorgefertigte Sätze über den „Kulturschock“, ich erzähle euch von dem Paradies, in dem ich mich jetzt befinde, und meinem herzlichen Dank dafür, dass ihr mir die Türen geöffnet habt, wie ihr sie sonst keinem Fremden öffnet. Ich erzähle euch, wie sehr mir die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gefällt und wie sehr ich mich freue über diese unglaubliche Fähigkeit, Waffen herzustellen, ohne diese Waffen hätten wir vielleicht nie diese große Ehre erfahren, die man „Ankunft im Paradies“ nennt.

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Schuh, die Lieder werden zu Geschrei, die Witze zu stummen Wänden, und ich werde zum Analphabeten, werde kalt und sage den Fremden, „Ich liebe in Berlin“, und sie lachen, und ich sage dir, „Ich lebe dich“, und du sagst, „Welch ein Dichter du doch bist!“


KOMMENTAR

ERST ASSANGE

Iris ter Schiphorst

UND DANN …? Information ist die Währung der Demokratie. Thomas Jefferson

Ist Information ein Allgemeingut, das in einer Demokratie jedem zusteht? Wem gehören Daten? Wann wird durch das „Leaken“ von Informationen die „nationale Sicherheit“ gefährdet, wann werden Kriege verhindert? Wer spioniert für wen und warum? Wir wissen, spätestens seit den großen Leaks von Whistleblower*innen wie Chelsea M. (damals Bradley) Manning oder Edward Snowden und Publikationen auf Plattformen wie WikiLeaks, auf welche Weise westliche Staaten (in unserem Namen) Kriege führen, wie Steuerparadiese funktionieren und welche Summen dem Staat dabei verloren gehen.1 Wir haben über Guantánamo Informationen erhalten und über Geheimentwürfe um­­ strittener Handelsabkommen. Haben zur Kenntnis nehmen müssen, wie Geheimdienste und große Unternehmen uns im Verbund mit sozialen Medien überwachen, unsere Daten missbrauchen und wie private Firmen (z. B. Cambridge Analytica) damit nicht nur Geschäfte machen, sondern Wahlen manipulieren (Trump, Brexit). Aber diese Tatsachen kümmern uns kaum. Eine merkwürdige Lethargie scheint um sich zu greifen. Dabei befinden wir uns mitten in einem Informationskrieg, in dem Daten und Informationen zu entscheidenden politischen Waffen werden, in dem Fake News und Manipulationen die politischen Agenden beherrschen, in dem Whistleblower*innen wie Verbrecher gejagt, Journalist*­ innen und Publizist*innen eingeschüchtert, verfolgt, bedroht, inhaftiert oder sogar ermordet werden. Und das nicht nur in den arabischen Ländern, China oder Russland, sondern auch in demokratischen Staaten der westlichen Welt. In diesem Krieg wird Julian Assange zum Exempel, an dem sich zeigen wird, wie sich der Umgang mit der Presse­ freiheit, dem Journalismus, mit Whisteblower­*innen und Publizist*innen weltweit entwickelt.

DER FALL ASSANGE Assange ist australischer Staatsbürger, mehrfach ausgezeichneter Journalist, Autor und Informatiker. Mit seiner Enthüllungsplattform WikiLeaks hat er den Mediensektor revolutioniert. Denn mit der Bereitstellung eines anonymen, vor Zugriffen geschützten digitalen Postfachs, wie WikiLeaks es seit ca. 2006 anbietet, wurde die Weitergabe brisanter Daten wesentlich vereinfacht

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und die Quellen der Informationen weitgehend geschützt. Das hat den Journalismus entscheidend verändert und die Bedeutung von Whistleblower*innen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. WikiLeaks ist digitales Postfach und Website in einem, denn die Plattform stellt die geleakten Informationen nach Überprüfung auf Echtheit und Relevanz zeitnah der Öffentlichkeit zur Verfügung. Erwiesenermaßen hat WikiLeaks im Laufe seiner Geschichte bis zum heutigen Tag keine einzige Falschmeldung publiziert. Die Erfolge von Wikileaks haben überall Medienaktivist*innen in­­ spiriert, ähnliche Plattformen zu kreieren, und so eine Kultur des Leak-Aktivismus ausgelöst.2 Mittlerweile stellen auch die traditionellen Medienhäuser wie New York Times, Guardian oder Al Jazeera digitale Postfächer bereit, über die Daten anonym Journalist*innen zu­­ gespielt werden können. Dass diese Tendenz vielen Regierungen zuwiderläuft, zeigt sich an den Restriktionen und harten Bestrafungen, denen sich Whistleblower*innen, Investigativ­jour­nalist*­ innen, aber auch WikiLeaks-Mitarbeiter*innen überall auf der Welt zunehmend ausgesetzt sehen. Die schärfste „offizielle“, manchmal tödliche Waffe ist die Anklage wegen „Gefährdung der Nationalen Sicherheit“ beziehungsweise „Landesverrat“. Sie kommt im Fall USA gegen Assange mit dem Espionage Act zur Anwendung, einem Relikt aus dem Ersten Weltkrieg, geschaffen, um „Landesverräter“ möglichst hart zu bestrafen.

DIE ANKLAGE Der Kernvorwurf gegen Assange lautet: Aneignung und Veröffentlichung von geheimen militärischen und diplomatischen Dokumenten zum Schaden der USA und ihrer Verbündeten. Das gesamte Ausmaß der Anklageschrift wurde im Mai 2019 veröffentlicht und umfasst 18 Anklagepunkte.3 Im Falle einer Verurteilung würden Assange 175 Jahre Haft drohen – oder sogar die Todesstrafe, sollten weitere Anklagepunkte hinzukommen. Zentraler Stützpfeiler der Anklage ist offenbar ein Chatprotokoll zwischen Manning und Assange aus dem Jahr 2010, das dem FBI wahrscheinlich noch im gleichen Jahr durch einen Informanten zugespielt worden war und Manning als Whistleblower*in enttarnt haben soll, wie der

Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein Verbrechen behandelt wird, dann werden wir von Verbrechern regiert! Edward Snowden

Investigativjournalist Erich Moechel schreibt.4 Er hat die für den Espionage Act entscheidenden Anklagepunkte gegen Assange analysiert und auf die traditionelle Me­­ dienwelt übertragen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass aus einem verschlüsselten Upload-Mechanismus für Dokumente, wie er inzwischen gängige Praxis ist, eine Anstiftung zu einer Straftat wird. Kontakte zum Informanten, eine Selbstverständlichkeit im Journalismus, werden zur „Verschwörung zur Spionage“ und zum „Verrat von Staatsgeheimnissen“. Sollte die Anklage mit diesen „Umdeutungen“ erfolgreich sein, könnten zukünftig Journalist*innen auf der ganzen Welt für gängige journalistische Praktiken verurteilt werden. Eine freie Presse, festgeschrieben im First Amendment der amerikanischen Verfassung, wäre somit ausgehebelt. Darum ist es entscheidend, wie Medien- und Kunstschaffende, wie wir alle uns jetzt positionieren. Denn es steht nichts weniger auf dem Spiel als die Zukunft des investigativen Journalismus und der Pressefreiheit. Bei einer Verurteilung von Assange nach dem Espionage Act wären Tür und Tor geöffnet, missliebige Journalist* innen anschließend auf gleiche Weise zum Schweigen zu bringen. Ein faires Verfahren für Assange ist unter diesen Vor­ zeichen in den USA nahezu auszuschließen. Allerdings


ASSANGE’S ROOM (2014) !MEDIENGRUPPE BITNIK Assange’s Room ist eine detaillierte Rekonstruktion des Arbeitsraumes von WikiLeaks-Gründer Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London. Von 2012 bis zu seiner Festnahme in der Botschaft im April 2019 war dieser Raum Assanges „Welt“. Die Arbeit schließt an die mehrtägige Onlineperformance an, in der die !Mediengruppe Bitnik am 16. Januar Julian Assange ein Paket mit versteckter Kamera geschickt hatte, die den Postweg in die ecuadorianische Botschaft in London live dokumentiert hatte. Assange’s Room ist nach mehreren Besuchen in der Botschaft entstanden und !Mediengruppe Bitnik, Assange’s Room, Ausstellungsansicht Helmhaus Zürich (2014)

ist Donald Trump nicht der erste Präsident der USA, der Assange im Visier hat. Bereits unter George W. Bush wurde WikiLeaks von der Spionageabwehr als Bedrohung eingestuft. Und auch Barack Obama hatte erwogen, Assange unter dem Espionage Act anzuklagen. Das legen Fakten nahe, von denen im Folgenden einige kurz aufgelistet seien: • B ereits am 15. März 2010, noch vor Veröffentlichung des berühmten Collateral Murder Videos, das später die Welt umtreiben würde, zeigte es doch die dunklen Seiten der amerikanischen Kriegsführung im Irak, hatte WikiLeaks ein geheimes Dossier des USGeheimdienstes aus dem Jahr 20085 publiziert. Darin werden unter anderem Vorschläge unterbreitet, wie künftig gegen Whistleblower*innen und WikiLeaksMitarbeiter*innen vorzugehen sei, um das gesellschaftliche Vertrauen in WikiLeaks zu zerstören. • Am 12. August 2010, zwei Tage vor dem mutmaßlichen sexuellen Fehlverhalten Assanges gegenüber zwei schwedischen Frauen,6 schrieb der amerikanische Investigativjournalist und langjährige Washington-Korrespondent der New York Times, Philip Shenon, dass Obama Großbritannien, Deutschland, Australien und andere Verbündete westlicher Regierungen dazu

JOURNAL DER KÜNSTE 11

gedrängt habe, die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen den WikiLeaks-­Gründer in Erwägung zu ziehen und seine Reisen über die internationalen Grenzen hinweg stark einzuschränken.7 • Im Dezember 2010 überprüfte das US-Justizministerium unter Barack Obama, ob Assange die mutmaßliche Whistleblowerin Chelsea M. (damals noch Bradley) Manning angestiftet habe, ihm die geheimen Dokumente zu übergeben und somit unter dem Espio­ nage Act angeklagt werden könne.8 Im Ergebnis steht Assange seit mehr als 10 Jahren im Fadenkreuz der USA. Und unter Trump wird nun vollzogen, was sich all die Jahre bereits angekündigt hatte. Allerdings hatte Obama noch von einer Anklage gegen Assange unter dem Espionage Act abgesehen; er fürchtete letztlich die Aufweichung des ersten Zusatzartikels und somit der Pressefreiheit. Diese Bedenken scheint Trump nicht zu haben. Damit ist er auf einer Linie mit dem ehemaligen CIA-Chef und jetzigen Außenminister Mike Pompeo, der bereits 2017 verkündet hatte, WikiLeaks sei ein „feindlicher, nicht­staatlicher Geheimdienst“9 und Assange kein Journalist, sondern „ein Narzisst“. Damit hat er das nötige Vokabular für eine Verurteilung unter dem Espionage Act bereits vorgegeben.

aus dem Gedächtnis nachgebaut.

Hätte nicht eine Meldung Ende Juli 2019 aufhorchen lassen, könnte man meinen, die Verurteilung von Assange sei – zumindest in Amerika – längst beschlossene Sache: Der US-Bezirksrichter von New York, John Koeltl, einst von Präsident Clinton ins Amt berufen, hat nach einer Klage der Demokraten Assange und WikiLeaks vom Vorwurf der Einmischung in den US-Wahlkampf 2016 freigesprochen. In seiner Begründung hieß es, die Veröffentlichung der internen Kommunikation der demokratischen Partei habe den amerikanischen Wählern im Präsidentschaftswahlkampf einen Blick hinter die Kulissen einer der beiden wichtigsten Parteien in den USA erlaubt, und diese Art von Information genieße den stärksten Schutz, den der erste Zusatzartikel zur Verfassung biete.10

DIE GERICHTSVERHANDLUNG IN ENGLAND Noch ist nicht entschieden, ob Assange in den USA der Prozess gemacht werden kann. Denn über das Aus­lie­ ferungsgesuch wird das englische Gericht erst im Februar 2020 befinden. Zwei Punkte stimmen dabei bedenklich. Zum einen wurde der Befangenheitsantrag inzwischen abgelehnt, den die Anwälte Assanges gegen die Oberste Friedensrichterin Emma Arbuthnot gestellt hatten, die über dessen Auslieferung an die USA im Februar 2020

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zu entscheiden hat, obwohl ihr Ehemann bekanntermaßen mehrfach in geleakten Publikationen von WikiLeaks auftaucht.11 Zum anderen wird in Großbritannien an einer Neu­ auflage des dortigen Espionage Acts von 1917 gearbeitet. Der bisher bekannt gewordene Gesetzesentwurf sieht vor, Whistleblower*innen und Journalist* innen mit der gleichen Härte und den gleichen verlängerten Haftstrafen zu bestrafen wie ausländische Agent*innen, wenn die „nationale Sicherheit Englands“ betroffen ist, und würde auch für Nicht-Briten gelten, unabhängig davon, wo der „Leak“ stattgefunden hat und unabhängig davon, ob er von weitreichendem öffentlichen Interesse ist. 12 Der neue Gesetzestext soll im September 2019 der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Die bisher vorgelegten Formulierungen lassen für Journalist*innen und Whistle­ blower*innen nicht Gutes erwarten. Eher steht zu befürchten, dass der Espionage Act auch in demokratischen Staaten der westlichen Welt zum Lieblingsins­tru­ ment gegen missliebige Journalist*innen und Whistle­ blower*innen avanciert. Denn in Australien hatte die neu gewählte konservative Regierung „im Namen der nationalen Sicherheit“ im Juni dieses Jahres Razzien gegen den öffentlich-rechtlichen TV-Sender ABC veranlasst, der zwei Jahre zuvor kritisch über Kriegsverbrechen der

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Australischen Streitkräfte im Afghanistankrieg berichtet hatte. Ein Aufschrei der internationalen Presse blieb aus.13

DIE VERTEIDIGUNG DER ENTSCHEIDUNGSMACHT Der Fall Assange ist komplex und scheint darum die Öffentlichkeit kaum noch zu interessieren. Auch das „Schmuddel-Image“, das Assange seit Jahren umgibt, trägt dazu bei, eher gleichgültig auf seine Situation zu reagieren. Doch wir dürfen uns davon nicht beeinflussen lassen. Zu viel steht auf dem Spiel. Assange steht mit WikiLeaks für einen faktenbasierten Journalismus und für den Glauben, „dass Transparenz bei Regierungsaktivitäten zu weniger Korruption, einer besseren Regierung und stärkeren Demokratien führt“.14 Dieser Glauben ließ Assange letztlich ins Fadenkreuz der amerikanischen Spionageabwehr geraten. Doch der Satz gilt, wir müssen ihn verteidigen. Es darf keinen Präzedenzfall Assange geben. Darum müssen wir seine Auslieferung an die USA unbedingt verhindern. Wir müssen dafür sorgen, dass er freikommt. Nicht zuletzt, damit endlich die Untersuchungen wegen sexuellen Fehlverhaltens in Schweden zum Abschluss gebracht werden können.

Für den Journalisten Milosz Matuschek verkörpert „Assange […] den Anspruch eines jeden Bürgers auf ungefilterte, echte Information, die heute zur Mangelware geworden ist“. Denn „entweder hat der Bürger Entscheidungsmacht auf Basis transparenter Informationen, oder er ist Untertan“.15

IRIS TER SCHIPHORST ist Komponistin und Professorin für Medienkomposition in Wien und seit 2013 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik. Ihre Komposition Assange – Fragmente einer Unzeit für Stimme, großes Ensemble und Sampler wird am 7.11.2019 im Muziekgebow Amsterdam vom Ensemble Modern und der Sängerin Sarah Maria Sun unter der Leitung von Enno Poppe uraufgeführt.


Ausstellungsansichten Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2016)

1 A rne Hintz, Zwischen Transparenz, Informations­ kontrolle und politischer Kampagne: WikiLeaks und die Rolle des Leaks-Journalismus, in: Schriftenreihe Medienkompetenz, Bundeszentrale für politische Bildung, 9.10.2017, https://www.bpb.de/ lernen/digitale-bildung/medienpaedagogik/ medienkompetenz-schriftenreihe/257599/ wikileaks-und-die-rolle-des-leaks-journalismus 2 Ebd. 3 United States of America v. Julian Paul Assange, U.S. District Court for the Eastern District of Virginia, Alexandria Division, Mai 2019, https://www.justice. gov/opa/press-release/file/1165556/download 4 Erich Moechel, Assange-Anklage als Auftakt zum Generalangriff auf Medien, radio FM4, ORF, 26.6.2019, https://fm4.orf.at/stories/2987460 5 U.S. Intelligence planned to destroy WikiLeaks, WikiLeaks release, 15.3.2010, https://file.wikileaks. org/file/us-intel-wikileaks.pdf 6 Helmut Scheben, Assange: Es ging um ungeschützten Verkehr, in: Infosperber, 27.5.2019, https://www.infosperber.ch/FreiheitRecht/ USA-Assange-Es-ging-um-ungeschutzten-Verkehr 7 Philip Shenon, U.S. Urges Allies To Crack Down On WikiLeaks, Countercurrents, 12.8.2010, https:// www.countercurrents.org/shenon120810.htm

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8 USA prüfen Verschwörungsvorwurf gegen Assange, in: Spiegel Online, 16.12.2010, https://www.spiegel. de/politik/ausland/wikileaks-unter-druck-usapruefen-verschwoerungsvorwurf-gegen-assangea-734943.html 9 Jannis Brühl, Die Assangesche Weltformel wirkte weiter, in: Süddeutsche Zeitung, 11.4.2019, https://www.sueddeutsche.de/digital/wikileaksassange-haft-festnahme-trump-russlandclinton-bnd-1.4406828 10

atrick Beuth, WikiLeaks durfte Mails aus DemoP kraten-Hack veröffentlichen, in: Spiegel Online, 31.7.2019, https://www.spiegel.de/netzwelt/web/ wikileaks-durfte-mails-aus-demokraten-hackveroeffentlichen-a-1279824.html

14 www.wikileaks.org/about (nicht mehr abrufbar), abgerufen am 27.11.2007 und zitiert in Michael D. Horvath, Wikileaks.org – An Online Reference to Foreign Intelligence Services, Insurgents, or Terrorist Groups?, in: Special Report, Army Counterintelligence Center, 18.3.2008, veröffentlicht in: U.S. Intelligence planned to destroy WikiLeaks, WikiLeaks release, 15.3.2010 15 Milosz Matuschek, Die Causa Julian Assange: Ist die westliche Wertegemeinschaft von allen guten Geistern verlassen?, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.7.2019, https://www.nzz.ch/meinung/ kolumnen/die-causa-julian-assange-ist-diewestliche-wertegemeinschaft-von-allen-gutengeistern-verlassen-ld.1497486

11 Thomas Scripps, Richterin Emma Arbuthnot lehnt Rücktritt wegen Befangenheit ab, in: World Socialist Web Site, 15.7.2019, https://www.wsws. org/de/articles/2019/07/15/assa-j15.html 12 Gareth Corfield, UK’s planned Espionage Act will crack down on Snowden-style Brit whistleblowers, suspected backdoored gear (cough, Huawei), The Register, 20.5.2019, online: https://www. theregister.co.uk/2019/05/20/espionage_act_ proposal 13 Urs Wälterlin, Australien: Mit Razzien den Medien Grenzen zeigen, Der Standard, 7.6.2019, online: https://www.derstandard.de/story/2000104547566/ australienmit-razzien-den-medien-grenzen-zeigen

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SCHWERPUNKT EUROPA

ERINNERUNGEN,

Musik und Klang können in besonderer Weise Träger von Erinnerungen sein – und so wirken auch Musikschaffende und Komponist*innen an Geschichtsschreibung mit. Existierende Klang- und Musikarchive wiederum bieten Ausgangspunkte für Neuinterpretationen oder Entflechtung von Geschichte. Im Zuge der weltweiten Migrationsbewegungen schließlich siedeln Erinnerungen, Musiken und Klänge in neue ästhetische und soziale Kontexte um.

IN DIE EUROPA VERWICKELT IST

Julia Gerlach

Es sind diese drei Beobachtungen, die uns an der Akademie der Künste unter dem Titel „Memories in Music“ zu einer musikalischen Befragung europäischer Grenzen und Sehnsüchte führt – sowie zu einem Blick auf den Begriff der zeitgenössischen Musik im Allgemeinen. Wo steht die europäische zeitgenössische Musik heute, wie wäre sie zu definieren im globalen Kontext? Sagt der deutsche Begriff „Neue Musik“ noch etwas aus oder ist er obsolet? Welche zeitgenössischen Musiken entwickeln sich auf anderen Kontinenten, spielt das Verhältnis zu Europa und der hier gepflegten Musik dort eine Rolle oder soll es das überhaupt? Wo sind Kontaktpunkte, Konfliktlinien, Chancen? Im Bereich Musik, anders als in der bildenden Kunst, dem Film oder der Literatur, kann man noch nicht von einer internationalen zeitgenössischen Szene sprechen, deren heterogene Positionen sich aus den jeweiligen komplexen Verflechtungsgeschichten, aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und musikalischen Habitaten speisen. Zwar hat es immer ein kompositorisches Interesse an entfernten, höchst spezialisierten Musiksprachen gegeben, waren Begegnungen mit Klangphänomenen wie Mikrotonalität oder nicht-diatonischen Tonsystemen, mit Polyrhythmik, prozesshaften Langformen oder reibungsreichen Multiphonen wichtige Impulse für westliche Avantgarden wie bei John Cage, Pauline Oliveros, La Monte Young, Claude Debussy, Éliane Radigue, Giacinto Scelsi und anderen. Auch gab es in der jüngeren (Berliner) Kulturgeschichte über das Berliner Künstlerprogramm des DAAD, das Horizonte Festival oder Komponisten wie Walter Zimmermann, Karlheinz Stockhausen oder Johannes Fritsch (Feedback Studio Köln) in den 1980er Jahren einen lebendigen und respektvollen ästhetischen Kontakt zwischen der europäischen Musiksprache und Musiksprachen anderer Weltregionen, und es entstanden unzählige individuelle Kollaborationen. Dennoch ist daraus noch keine gemeinsame Szene gewachsen, wie man sie von den großen Kunstbiennalen kennt, schwingt in den Musikdiskursen die Asymmetrie zwischen einer personifizierten (auktorialen) komponierten, notierten und interpretierten Musik und einer nicht-personifizierten (nicht-auktorialen) oral tradierten, improvisierten rituellen Musik als Bewertungsmuster noch mit.

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Doch seit einigen Jahren wird die Forderung nach einem diverseren zeitgenössischen Musikbegriff von Musikschaffenden und Kurator*innen international lauter – und damit auch die Gewissheit, der Diversität unserer Gesellschaften und den mannigfachen interkulturellen Beziehungen sowie der Aufarbeitung kolonialer Strukturen durch Musik und Festivalprogramme Rechnung tragen zu müssen. Es verwundert nicht, dass Kom­­ponist*­ innen, Ensembles und Musiker*innen sich einem interkulturellen Dialog „auf Augenhöhe“, der post-­kolonialen Aufarbeitung, der Beschäftigung mit First Nations oder indigenen Gesellschaften verschreiben und sich eingehend musikalisch mit dem Verhältnis zwischen Europa und anderen Weltregionen beschäftigen. Dadurch wird das musikalische und politische Selbstverständnis auf beiden Seiten geschärft, zumal dieses ererbte Verhältnis oft mit einer Unrechtsgeschichte verknüpft ist, an der Europa nicht selten teilhat. Zugleich stellen Philosophien und Lebensweisen indigener Gesellschaften, insbesondere die Bewahrung von Natur oder Kollektivität, in utopischem Sinne ein eklatantes Gegenmodell zu den Kapitalismusauswüchsen dar, das im übersättigten Europa Sehnsüchte zu erzeugen vermag. Wie in Wirtschaftszusammenhängen und politischen Verbänden gilt Europa schon lange nicht mehr als das Zentrum, zu dem die Musikgeschichtsschreibung die Musiken der Welt in Relation stellt, indem sie Forschungsbereiche definiert, die für die eine oder andere Musik zuständig sind (Musikethnologie beziehungsweise Musikwissenschaften). Vernetzungen, musikalische Entwicklungen finden zwischen asiatischen Ländern statt, zwischen arabischen Ländern und längst schon in Südamerika, wo indigene, afrikanische und europäische Kulturen aufeinandertreffen. In kaum einem Land sind sogenannte populäre und ernste Musik je so stark voneinander getrennt worden wie in Deutschland. Vielmehr entwickeln sich experimentelle Musikformen oft zwischen diesen sich gegenseitig beeinflussenden und belebenden Sphären. Es erstaunt daher nicht, dass an diesen Bruchkanten spannende zeitgenössische (Kunst-)Musik entsteht und das postkoloniale Denken weiter fortgeschritten ist. Der Umgang mit Erinnerungen, Fundstücken und Archiven spielt in diesen Austauschprozessen eine wesent­liche Rolle. Das Erinnern und die Erinnerungen

scheinen gegenwärtig viele Musiker*innen und Kompo­ nist*­­­­­innen zu beschäftigen – nicht nur an den hier skizzierten Bruchkanten, sondern allgemein. Erinnerungen stiften Identität und Geschichte und gewinnen vielleicht gerade dadurch an Bedeutung in heterogenen musikalischen Gesellschaften, wie wir sie derzeit insbesondere in Berlin vorfinden. Die starke internationale Anziehungskraft Berlins schafft Potenzial für zahlr­eiche Kontaktpunkte und musikalische Dialoge. Als europäischer Akademie kommt der Akademie der Künste in diesem Austauschprozess eine besondere Bedeutung zu. Das Festival „Memories in Music“ ist Rahmung für Forschungsprojekte, Hinterfragungen, europäische Diskurse zu Diversität, einen Blick ins eigene Archiv und zahlreiche interkulturelle musikalische Dialoge, die den genannten Fragestellungen und Erinnerungen Raum zur Entfaltung geben. Im Folgenden werden drei exemplarische Projekte vorgestellt, die – jedes auf seine Weise – diese Fragen stellen.

JULIA GERLACH ist Sekretär der Sektion Musik der Akademie der Künste.

Mit dem Festival zeitgenössischer Musik „Memories in Music“ widmet sich die Sektion Musik der Akademie der Künste der musikalischen Befragung europäischer Grenzen und Sehnsüchte. In Konzerten, einem zweitägigen Symposium und einer Ausstellung werden musikalische Projekte und Archivmaterialien vorgestellt, die auf längeren Rechercheprozessen basieren und das Verhältnis Europas zu Postkolonialismus, indigenen Kulturen und dem arabischen Mittelmeerraum reflektieren. Das Festival mit zahlreichen internationalen Gästen und AkademieMitgliedern findet vom 24. bis 27.9.2020 an beiden Häusern am Pariser Platz und am Hanseatenweg statt und zählt zum Europaschwerpunkt der Akademie der Künste im Herbst 2020.


Infotafel zur Höhlenmalerei eines Namarrkon/Alyurr, Garig Gunak Barlu National Park

FIELD TRIP Vom 28.7. bis 4.8.2019 begaben sich die Komponistin und Klangkünstlerin KIRSTEN REESE (Berlin), die Komponistin NATASHA ANDERSON (Melbourne) und die Künstlerin SARAH PIRRIE (Darwin) gemeinsam auf einen field trip, um die

gescheiterte Besiedlung von Port Essington (1838–1849) auf der Cobourg Halbinsel im Norden Australiens als koloniale Hinterlassenschaft im Garig Gunak Barlu National Park zu besichtigen. Sie folgten dabei einerseits dem brandenburgischen Naturwissenschaftler Ludwig Leichhardt, der als erster weißer „Entdecker“ 1845 eine über 4.000 Kilometer lange Route vom heutigen Brisbane nach Port Essington nördlich von Darwin kartografierte, und andererseits einem britischen Kolonialisierungsversuch „von der See“ unter militärischem Kommando, der das Ziel hatte, einen neuen Hafen (wie Singapur) zu errichten und die Vorherrschaft in Nordaustralien zu erlangen. Die Besiedlung scheiterte unter anderem aufgrund fehlender Anpassung an Umweltbedingungen, trug aber zu einem dramatischen

Karte von Ludwig Leichhardt

Niedergang der indigenen Bevölkerung bei. Leichhardts Aufzeichnungen wiederum wurden in jüngerer Zeit auch bei rechtlichen Land-Claim-Verfahren hinzugezogen, um die Besiedlung der betreffenden Länder vor Ankunft der Europäer zu belegen. Nach dem in Australien berühmten Naturwissenschaftler Leichhardt ist auch ein schillernder Grashüpfer benannt, der in einer der indigenen Sprachen als Alyurr bezeichnet wird und auf das mythische Blitzwesen Namarrkon verweist, das auch in 20.000 Jahre alten Höhlenmalereien erscheint. Auf dem field trip schliefen die Künstlerinnen unter freiem Himmel, sammelten Klänge und Fotos und führten zahl­ reiche Gespräche und Interviews. Zusammen mit Sammlungsgegenständen und Insektenklängen aus Archiven in Deutschland bildet dieses Material den Ausgangspunkt für die musikalische und künstlerische Auseinandersetzung mit heritage und knowledge systems aus postkolonialer Pers­ pektive in einem offenen Aufführungs- und Installationsformat.

Koloniale Überreste im Garig Gunak Barlu National Park

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INFLUENCES AND RESISTANCES CARLOS GUTIERREZ und TATIANA LOPEZ aus Bolivien

führen in der audiovisuellen Komposition Influences and resistances (2019/2020) ihre Recherche zur indigenen Musikkultur und Kolonialgeschichte im Dialog mit zeit­ genössischen Aus­d rucksformen fort. Die Grundlage bildet eine Aufnahme des Ethnologen Robert Lehmann-Nitsche (Berliner Phonogramm-Archiv, Ethnologisches Museum Berlin), der 1908 den Gesang der indigenen Chiriguano an der Grenze zwischen Argentinien und Bolivien dokumentierte. Einerseits lässt sich eine musikalische Einflussnahme seitens der Aymara-Kultur feststellen, auf die die Chiriguano im 15. Jahrhundert bei ihren Wanderungsbewegungen gestoßen waren. Die Aymara wiederum praktizieren einen Tanz, in dem sie auf diese Durchquerung der Chiriguano Bezug nehmen. Interessant auch der Niederschlag der Kolonialmacht in einem Tanz der Aymara, bei dem blau­

Ausschnitt des kolonialen Gemäldes Infierno von José López de los Ríos (1684, Kirche in La Paz), das die indigene Musik mit dem Teufel in Verbindung setzt

äugige Masken und blonde Perücken zum Einsatz kommen. Auch in zahlreichen historischen Gemälden von festlichen, musikalischen und tänzerischen Ereignissen ist das Verhältnis der Kolonialmacht zur indigenen Kultur festgehalten. Gleichzeitig hat sich die indigene Kultur der Aymara auch ihre Eigenständigkeit bewahrt, etwa in den besonderen multiphonen Flöten, die den traditionellen Tanz Paquchis begleiten und die mit den europäischen Barockflöten nichts gemein haben. Aus den Einflüssen und Widerständen entwickelt das Künstlerpaar anhand von Archivmaterial und überlieferter Instrumentalpraxis, mit Kostümen, Tanz und Videoaufnahmen eine neue audiovisuelle Komposition für das Kammerensemble des Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (zu seinem 40-jährigen Bestehen) sowie für die beiden Berliner Composer-Performerinnen Ute Wassermann und Sabine Vogel, die ihrerseits ihr stimm­l iches und Flöten-Instrumentarium erweitern.

Carneval-Darstellung des bolivianischen Künstlers Melchor María Mercado aus dem 19. Jahrhundert

Tanz der Aymara mit blauen Augen und blonden Perücken

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LISTENING In ihrer musiktheatralen Komposition listening to Vuntut Gwitchin beschäftigt sich ANNESLEY BLACK mit einer indigenen autochtonen Kultur zwischen Eigenständigkeit und Assimilation in Nord-Kanada, deren Existenz durch geplante Ölbohrungen massiv bedroht ist – gerade hat die US-­­­­­­­­­Regierung den US-amerikanischen Teil der Region für die Ausbeutung von Öl und Erdgas geöffnet – und beleuchtet über ihre eigene Nähe und Ferne zur indigenen Kultur der Vuntut Gwitchin First Nation in einer kaleidoskopisch kombi­ nierten Sammlung von Informationen, Musik, Bildern und Tanz den distanzierten und zugleich neugierigen westlichen Blick. Einen Zugang stellt die Webseite der Gemeinschaft von Old Crow (einer Siedlung von ca. 300 Personen im Norden des Yukon-Gebiets in Kanada) dar, auf der sie ihr enges Verhältnis zu den riesigen Herden der Caribous und deren großräumige Wanderung, ihre Ältesten und ihre Musiker kommunizieren. Diese Webseite wurde von Annesley Black nachgemalt und ist, wie auch Musikaufnahmen, Teil der neu entstandenen Komposition.

Nachzeichnungen der Webseite von Old Crow durch die Komponistin Annesley Black. Die Bilder sind Teil des audio-­ visuellen Materials, das die Komponistin in ihrer musik-theatralen Komposition listening to Vuntut Gwitchin von 2017 verwendet.

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↑  Szenenbild aus Der Fluch unter der Regie von Oliver Frljić am Teatr Powszechny   ↓  Rechtsnationale Protestaktionen vor dem Teatr Powszechny

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SCHWERPUNKT EUROPA

THEATER IN POLEN Artur Pełka

REFLEXIONEN ZUR AKTUELLEN SITUATION Ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich das polnische Theater nach dem Systemwechsel zwangsläufig die Frage nach seinem gesellschaftlich-politischen Status stellen: Wie sollte oder konnte es im Rahmen einer neuen, diesmal demokratischen, differenzierteren Wirklichkeit neu definiert werden? Bis 1989 resultierte dieser Status aus einer klaren politischen Frontenbildung, die dem Theater den entsprechenden Anlass bot, Zweifel am kommunistischen System zu artikulieren. Darüber hinaus blieb es auf die polnische Nationalmythologie bezogen und ist insofern als romantisch zu verstehen. Diese historisch fundierte und durch den Katholizismus bestärkte Mythologie mit ihrem Opferaspekt formte die polnische Identität fast zwei Jahrhunderte lang: Das polnische Volk, getragen von einem Sendungsbewusstsein, galt als auserwählt und musste für die Sünden der gesamten Menschheit büßen. Daraus resultierten zwei wichtige Prämissen für die polnische Kultur: zum einen eine spürbare Todesnähe, zum anderen ein homogenes, dem romantischen Paradigma verpflichtetes Kulturmodell, das eine positive Einstellung zu nationaler Identität und Einheit förderte und das gesellschaftliche Leben um geistige, katholisch geprägte Gemeinschaftswerte organisierte. Vor diesem Hintergrund erhielten die Kunst und insbesondere das Theater letztlich eine autoritäre Funktion. Das polnische Theater zwischen 1945 bis 1989 war in der Regel eines der (politischen) Anspielungen, ein Forum für antitotalitäre Parabeln und ein Tempel nationaler Freiheitsträume.

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Darin schreibt sich der sogenannte März 1968 ein, einer der vielen polnischen Aufstände, zu dem der Impuls mehr oder weniger vom Theater kam. Am 30. Januar 1968 demonstrierten Warschauer Studierende gegen die Entscheidung der Regierung, Kazimierz Dejmeks Inszenierung von Mickiewiczs Die Totenfeier nach elf Aufführungen aufgrund vermeintlicher antisowjetischer Anspielungen abzusetzen. Diese Proteste erwiesen sich als Initialzündung großer Demonstrationen in einigen polnischen Großstädten, die allerdings von der Miliz brutal zerschlagen wurden. Die Folge waren eine antiintellektuelle Repressionswelle und schließlich ein erzwungener Exodus polnischer Juden, die für den antisozialistischen Aufruhr als Sündenbock verantwortlich gemacht worden waren. Nach 1989 – einer scharfen Zäsur in der Nachkriegsgeschichte Polens und einem symbolischen Wendepunkt in der polnischen Kultur – verfiel das polnische Theater angesichts der komplett veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen zunächst in eine Identitätskrise, denn weder die einheimischen Theatertexte noch die dominierende Theaterästhetik waren der neuen Wirklichkeit gewachsen. Erst seit der Jahrtausendwende fand das Theater, nicht zuletzt dank einer jungen Generation Theaterschaffender, zu einer neuen Identität, deren Kennzeichen ein zunehmend aufklärerischkritischer politischer Gestus ist. Kritik an patriarchalen Strukturen und katholischer Scheinmoral, Einsatz für die Gleichberechtigung von Frauen und sexuellen Minderheiten sowie ein ökologisches Bewusstsein wurden immer mutiger in Szene gesetzt. Die Stücke thematisierten den Verlust des Vertrauens in alte Autoritäten, insbesondere in die katholische Kirche, die oft als überholte Institution erschien – mit sich selbst beschäftigt und unfähig, sich dem Wandel der Gesellschaft anzupassen. Auch das romantische Paradigma wurde Gegenstand dekonstruktiver Kritik, im Fokus stand aber nicht mehr ein romantisches Opfermysterium oder das Ge­­ denken an die eigenen Helden, sondern die kollektive Amnesie hinsichtlich der eigenen historischen Schuld, darunter auch der Ver-

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wicklung in den Holocaust. Der Mythos des unschuldigen Opfervolks zerbröckelte unter diesem kritischen Ansturm ebenso wie die Vorstellung der Nation als ethnischer Monolith. Diese Wandlung des polnischen Theaters, seine Öffnung für bislang tabuisierte Themen erregte von Anfang an Anstoß, und das nicht nur beim konservativen Teil des Publikums, sondern auch bei der nur bedingt theaterinteressierten Rechten. In den letzten 30 Jahren waren gegenüber kritisch-liberalen Theaterprojekten immer wieder hoch empörte Stimmen zu hören, die nicht selten versuchten, Skandale zu lancieren. Als Paradebeispiel kann der Eklat im Krakauer Nationaltheater Stary im November 2013 dienen. Eine organisierte Gruppe konservativer TheaterbesucherInnen unterbrach mit „Schande! Schande!“-Rufen Strindbergs Nach Damaskus in der Regie von Jan Klata wegen vermeintlicher Obszönität der Inszenierung. Genau zwei Jahre später – und bezeichnenderweise einen Monat nach dem Wahlsieg der PiS – protestierten betende Katholiken im sogenannten „Rosenkranz-Kreuzzug“ Seite an Seite mit jungen Rechten vor dem Breslauer Teatr Polski gegen die Premiere von Elfriede Jelineks Der Tod und das Mädchen. Als durchsickerte, dass für die Inszenierung von Ewelina Marciniak tschechische PornodarstellerInnen engagiert worden waren, versuchte der frisch gebackene PiS-Kulturminister Piotr Gliński zwar vergebens, die Uraufführung zu verhindern, aber der heftige, von der neuen Regierung geschürte Protest zeugte bereits von den Absichten der neuen rechten Macht in Sachen Kultur. Die national-konservative PiS hatte bereits in ihrer Wahlkampagne auf die Propagierung von sogenannten patriotischen und katholischen Werten gesetzt, was nach dem Wahlsieg in eine ausgeklügelte Personal- und Förderpolitik mündete. Wie in anderen Kulturinstitutionen, die direkt der Zentralmacht unterstehen, wurde auch in den aus Warschau finanzierten Theatern die Leitung ausgetauscht. Infolge politisch abgekarteter Ausschreibungen verloren unter anderem Krzysztof Mieszkowski 2016 im Breslauer Teatr Polski und ein Jahr später Jan Klata im Krakauer Teatr Stary ihre Intendanzen. Die beiden renommierten Regisseure und Direktoren wurden von zweitrangigen, kaum bekannten, aber PiS-genehmeren Künstlern ersetzt. Besonders spektakulär war die Entlassung von Mieszkowski aus dem vom Kulturministerium kofinanzierten Theater, weil zum einen mit dem neuen Direktor das Niveau des Theaters rapide sank, zum anderen viele SchauspielerInnen und RegisseurInnen, die gegen die Suspendierung protestiert hatten, entlassen wurden. Eine strukturelle Revolte löste die PiS auch in einer der wichtigsten wissenschaftlichen Theaterinstitutionen Polens, dem Warschauer Instytut Teatralny, aus, für das im April 2019 trotz heftiger Proteste im Theatermilieu eine regierungskonforme Aktivistin zur Direktorin berufen wurde. Die meisten Theater in Polen sind städtisch finanziert. Den Kommunen zugehörig, die in der Regel von der Opposition verwaltet werden, können sie sich noch gegen die restaurative Kulturpolitik der Regierung wehren. Die Warschauer Zentralregierung hat hier theoretisch wenig Einfluss, wichtige Fördergelder werden jedoch nur für PiS-konforme Projekte vergeben, was nahezu zwangsläufig für Impulse zur Selbstzensur sorgt. Besorgniserre-

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gend ist auch, dass dem rechten Kulturminister immer wieder oppositionelle Politiker beistehen – wie im Falle des Eklats in Breslau ein Landespolitiker der Bauernpartei PSL. Die ideologische Umwälzung in der Theaterlandschaft scheint also nicht nur die Folge eines Rechtsrucks der PiS zu sein, sondern wird zum Teil von oppositionellen PolitikerInnen gefördert, die sich aufgrund katholischer Werte oder aus politischem Kalkül vom vorherrschenden antiliberalen Klima beeinflussen lassen. Als Beispiel mag hier das Vorgehen gegen den Direktor des politisch progressiven Teatr Polski in Bydgoszcz, Paweł Wodziński, dienen. Nach einem Skandal um ein als „blasphemisch“ empfundenes Gastspiel des kroatischen Regisseurs Oliver Frljićs, der unter anderem durch Lokalpolitiker der liberal-konservativen PO (Platforma Obywatelska) ausgelöst wurde, verlor er seinen Posten. Im Großen und Ganzen stellt sich das polnische Theater nach wie vor mutig gegen die angestrebte Kulturrevolte. Obwohl progressive Theaterleute Verleumdungen seitens PolitikerInnen und rechter Medien ausgesetzt sind (auch hate speech inklusive Morddrohungen im Internet ist keine Seltenheit), widersetzen sie sich aktiv der neuen Kulturpolitik, indem sie an Protestmärschen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Verteidigung der Demokratie teilnehmen. Zu einem symbolischen Bollwerk der künstlerischen Freiheit hat sich das Warschauer Teatr Powszechny entwickelt. Für besonderen Anstoß bei den National-Konservativen sorgte die von Oliver Frljić 2017 inszenierte Aufführung Der Fluch, die sich kritisch mit der Rolle der Kirche und der PiS auseinandersetzt. Vor allem die Kritik der katholischen Kirche führte zu rechtsradikalen Protesten vor dem Theater, die wie üblich mit religiösen Exorzismen einhergingen. Dies war der heftigste Angriff auf die Theaterinstitution, denn das Teatr Powszechny wurde von vorwiegend jungen Rechtsradikalen buchstäblich belagert und das Theaterpersonal musste sich physisch verteidigen. Obwohl dem Intendanten Paweł Łysak mit einem Gerichtsprozess wegen Verletzung religiöser Gefühle gedroht wurde, verzichtet sein Theater nach wie vor nicht auf politisch starke Inszenierungen. Seit März 2019 wird zum Beispiel die szenische Adaption von Hitlers Mein Kampf durch Jakub Skrzywanek im Rahmen des als Bürgerinitiative gegründeten „AntifaschismusJahres“ gezeigt, die als Anklage gegen anschwellende faschistoide Tendenzen in Polen konzipiert ist. Aber auch andere Theater setzen landesweit nach wie vor antinationalistische und regierungskritische Inhalte in Szene. So wird das Theater wieder zu einer antitotalitären Bastion.

ARTUR PEŁKA, Germanist und Theaterwissenschaftler, ist Leiter der Abteilung für Deutschsprachige Medien und Österreichische Kultur am Institut für Germanistik der Universität Łódź. Seine Publikations- und Forschungsschwerpunkte sind: Drama im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Theater in Polen, österreichische Gegenwartsliteratur, Körperlichkeit und Gewalt, Gender- und Queer-Studies. Er ist Herausgeber diverser Sammelbände, zuletzt erschien bei transcript seine Monografie Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Deutschsprachige Theatertexte zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama (2016).


↑  Rechtsnationale Protestaktionen vor dem Teatr Powszechny   ↓  Szenenbild aus Der Fluch


CARTE BLANCHE

DORIS DÖRRIE

LEBEN SCHREIBEN ATMEN

CARTE BLANCHE: In jeder Ausgabe des Journals der Künste erhält ein Mitglied der Akademie der Künste die Gelegenheit, mehrere Seiten nach eigener Wahl kreativ zu gestalten.

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EINKAUFEN Dieses Buch ist eine Einladung zum Schreiben über sich selbst. Wenn man schreibt, schreibt man immer über sich selbst. Es ist abwechselnd wunderbar, schmerz­haft, narzisstisch, therapeutisch, herrlich, befreiend, tieftraurig, beflügelnd, deprimierend, lang­ weilig, belebend. Schreibend halte ich mich am Leben und überlebe. Jeden Tag wieder. Ich schreibe, um diese unglaubliche Gelegenheit, am Leben zu sein, ganz genau wahrzunehmen und zu feiern. Ich schreibe, um einen Sinn zu finden, obwohl es am Ende wahrscheinlich keinen gibt. Wir sind alle Geschichtenerzähler. Vielleicht macht uns das zu Menschen. Vielleicht haben wir auch nur keine Ahnung, welch großartige Geschichtenerzähler Katzen oder Dromedare sind. Wir können nicht auf­ hören zu erzählen. In einem endlosen inneren Monolog erzählen wir uns Geschichten über uns selbst. Manche davon sind wahr, einige nur ein bisschen, andere überhaupt nicht. Wir alle sind Fiktion, aber das glauben wir nicht, weil wir uns mitten in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman. Schreibend erforsche ich die Welt. Meine Welt. Was beeindruckt mich? Was merke ich mir? Was erschüttert mich? Was erheitert mich? Was begeistert mich? Wo­ ran erinnere ich mich? Ich habe keine Ahnung, wie man etwas schreibt, das sich verkauft. Dafür gibt es andere Bücher mit Titeln à la: Wie ich einen sauguten Roman schreibe. Wie ich ein saugutes Drehbuch schreibe. Wie ich eine saugute Serie schreibe. Ich weiß nur, dass man, wenn man Wort für Wort, Satz für Satz über die Welt schreibt, in der man sich befindet, eine Ahnung von sich selbst bekommt. Während wir Schritt für Schritt weitergehen, ist es wichtig, auf die Umgebung zu achten, auf den Boden unter den Füßen, auf den Himmel über uns und auf die anderen, die gleichzeitig mit uns einen Fuß vor den anderen setzen, bevor wir uns schon wieder von allem verabschieden müssen. Schreibend erinnere ich mich an mich selbst. Was ist in meinem Gehirn an Bildern und Tönen gespeichert, was für Erinnerungen an Menschen, Orte, Tiere, Gefühle? Jeder von uns ist einzigartig. Niemand hat genau die gleichen Erinnerungen an dieselbe Begebenheit. Das ist doch verrückt! Unglaublich! Ich möchte es aufschreiben, bevor es wieder gelöscht wird. Jedes Detail. Alles, was ich gesehen, gehört, geschmeckt, ertastet, gerochen, gefühlt habe. Die Welt in mir als Echo und Inspiration. ›Spirare‹ – atmen. Schreiben heißt, die Welt einatmen. Nicht nur die kühle Bergluft am Morgen, auch den Smog, den Rauch, die Abgase. Das Schöne wie das Hässliche. Und manchmal reicht als Inspiration eine Einkaufsliste:

Ich fahre mit dem Fahrrad zum Supermarkt, immer die gleiche Strecke, oft auf dem Fußgängerweg, fast habe ich die alte Frau B. angefahren, die stets bunte, sorgfältig ausgesuchte Kleider trägt, obwohl sie kaum noch laufen und atmen kann. Sie braucht fast eine Stunde zum Supermarkt, aber will sich nicht helfen lassen. Das ist mein Abenteuer, sagt sie jedes Mal, wenn ich ihr anbiete, die Einkäufe für sie zu erledigen. Mein tägliches Abenteuer. Und ich brauche Abenteuer. Ich kaufe immer das Gleiche. Rechts liegen die Salat­ herzen, der Sellerie, der Fenchel. Links die Äpfel, Birnen, Beeren. Jeden Tag wieder ärgere ich mich über das viele Plastik, die Plastikschalen für die Beeren, Himbeeren, Heidelbeeren. Blaubeeren hießen sie bei uns. Als ich klein war, pflückten wir sie mit meiner Mutter im Wald. Meine Schwestern und ich haben Eimer und Körbe dabei. Leise betreten wir ein fremdes, schönes und gleichzeitig unheimliches Land. Das Sonnenlicht fällt durch die Baumstämme auf das Moos und lässt es grün leuchten. Ich weiß, dass hier die Rehe leben. Sie schlafen auf dem Moos. Ich streichele es, stecke meine Nase hinein, es riecht modrig. Winzige Pilze wachsen zwischen den Tannennadeln. Wir wissen, dass wir sie nicht essen dürfen. Im Kindergarten geht ein Mädchen zu Fasching als Fliegenpilz mit rotem Rock und weißen Punkten. Ein Männlein steht im Walde, singen wir, ganz still und stumm. Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um. Sagt, wer mag das Männlein sein … Ich summe vor mich hin, noch bin ich frohgemut. Die Blaubeeren hängen an rötlichen Stielen unter grün glänzenden Blättchen,


die Beeren sind klein, manche schon verschrumpelt. Hände und Zungen färben sich lila vom Naschen. Wir zeigen uns gegenseitig unsere Zungen. Mein kleiner Eimer füllt sich kaum. Und wenn er gerade ein wenig voller geworden ist, werfe ich ihn aus Versehen um. Ständig wirft eine von uns ihren Eimer um und heult. Meine Mutter ist auf einmal weit entfernt, meine Schwestern überall verstreut. Sie könnten verschwinden, wir könnten uns für immer aus den Augen verlieren, mit einem Mal wäre ich ganz allein. Allein im Wald, allein auf der Welt. An dieses Gefühl werde ich mich immer erinnern und es mein Leben lang fürchten. Am Wegesrand liegt das Skelett eines Rehs. Nur noch die Knochen. Wie vom Donner gerührt stehe ich davor. Es war mir nicht klar, dass am Ende nur die Knochen übrig bleiben. Es war mir nicht klar, dass auch in mir diese Knochen sind und dass man am Ende so aussieht. Ein Fuchs hat das Reh gerissen, wird mir gesagt. Der Fuchs, von dem wir singen, dass er die Gans gestohlen hat, der hübsche Fuchs aus meinem Bilderbuch mit dem buschigen Schwanz. Ich kann mir den Vorgang nicht erklären, den Übergang von einem lebendigen Reh zu einem Haufen Knochen. Da fehlt etwas. Das Reh, das ich noch vor meinem inneren Auge sehe, muss doch irgendwo hin sein. Ich kann es nicht begreifen. Von niemandem bekomme ich eine einleuchtende Erklärung. Selbst von meinem Vater nicht, der doch alles immer weiß. Da ist etwas wie ein großes schwarzes Loch, in das man hineinfallen kann, wenn man nicht aufpasst. Die Eltern reden dann französisch oder auch lateinisch am Esstisch, und ich weiß, sie reden über das schwarze Loch. Meine Mutter kocht die Blaubeeren zu Marmelade ein, in einem Dampfkochtopf. Er zischt und faucht, den Deckel dreht sie mit einem festen Ruck ganz fest zu, wir dürfen nicht in seine Nähe kommen. Zum Glück sind wir weit weg, als er explodiert und eine lila Fontäne an die Decke schießt. Lange ist dort ein blauer Fleck zu sehen, wie ein Stückchen Himmel. In einem Schreibseminar in Mexiko erzähle ich davon, daraufhin berichtet ein Student von dem explodierenden Dampfkochtopf seiner Mutter, und dann erzählt eine andere Studentin und noch eine und noch eine von der „olla de presión“. Ich verstehe „Topf der Depression“, und der ganze Raum explodiert vor Gelächter. Fast jeder ist mit einem Dampfkochtopf aufgewachsen, mit einem Mal befinden sich viele explodierende Dampfkochtöpfe im Raum und Geschichten von Küchen und Müttern und Kindheit. Meine kleine deutsche Erinnerung wird eine allgemeine, internationale. Der Dampfkochtopf des Schreibens. La olla de presión.

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BLÖDSINN Ich sitze im Bett und schreibe. Am liebsten schreibe ich gleich nach dem Aufwachen, die Zähne geputzt, einen Becher Kaffee neben mir. Der noch leicht somnambule Zustand hilft, Blödsinn zu schreiben, überhaupt zu schrei­ ben. Wenn ich aufstehe, mich wasche und anziehe, ist es vorbei. Nur die Zähne müssen geputzt sein, mein einziges Zugeständnis an die Welt da draußen. Sie will, dass ich mir die Haare kämme, meine Bluse bügele, frische Socken trage, keinen Blödsinn rede, lächele und höflich bin, rücksichtsvoll, umgänglich, sozial verträglich. Wenn ich mein ordentliches Gesicht trage, kann ich nicht mehr schreiben. Vielleicht noch Einkaufslisten, aber nicht viel mehr. Ich sehe aus dem Fenster, der Herbststurm scheucht die Wolken vor sich her, der Kastanienbaum wirft bebend die letzten Kastanien ab. Jeden Herbst sammele ich Kastanien, kann ihrer Schönheit nicht widerstehen, stecke sie mir in die Tasche. Ich bin enttäuscht, wenn sie runzlig werden. Ich möchte, dass sie jung und glatt und hübsch bleiben, ihr dunkles Braun wie tief gebräunte Sommerhaut. Jetzt sind alle Leute noch braungebrannt. Sie kommen aus den Ferien zurück in die Stadt und sehen so gut aus. Sie schlendern noch und lächeln. Bald sind alle wieder blass und schlecht gelaunt, auch ich. Ich mag mein Wintergesicht nicht. Sommerfüße. Meine Füße bleiben noch lange braun. Als Kinder haben wir Kastanien in Eimern gesammelt und zur Wildfutterstelle geschleppt. Pro Eimer bekamen wir ein paar Pfennige. Der Weg war weit und die Eimer schwer. Wir fuhren mit der Straßenbahn vorbei an einem Tennisclub. Dorthin ging Gabi aus meiner Klasse. Sie war immer braungebrannt, auch im Winter, und sie wusste Dinge, die ich noch nicht wusste, das wusste ich, aber

ich wusste nicht, was sie wusste. Dafür bewunderte und hasste ich sie gleichzeitig, fühlte mich dumm und kindlich neben ihr. Unablässig strich sie sich die langen Haare glatt, inspizierte die Spitzen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Sie war eine schlechte Schülerin, zwei Mal sitzen geblieben, aber sie war uns allen überlegen, denn sie wusste so viel mehr über das Leben. Ich stellte sie mir vor in ihrem Tennisclub im weißen Röckchen, mehr konnte ich mir nicht vorstellen, denn ich hatte keine Ahnung, was in einem Tennisclub geschieht, und würde auch nie einen betreten. Ich mag besonders die Kastanien, die auf einer Seite ganz flach sind. Oder die Babykastanien. Im Kindergarten versuche ich, Streichhölzer in Kastanien zu stecken, um Igel und Kastanienmännchen zu basteln. Dafür gibt es einen kleinen Drehbohrer, aber entweder sind die Löcher zu klein, und die Streichhölzer brechen ab, oder sie sind zu groß und die Streichhölzer wackeln und halten nicht. Meine Igel und Männchen werden nichts, ich bin zu dumm, zu blöd, ich kann nichts. Aber ich rede viel und bekomme ein Pflaster über den Mund geklebt. Alle starren mich an und verstummen. Ich fühle nur noch dieses riesige Pflaster auf meinem Mund. Es wächst und wächst, ich bin nur noch Pflaster ohne Körper. Mein Freund im Kindergarten ist Deutschchinese, er macht perfekte Igel, einen nach dem anderen. Er spricht fast nie und bekommt nie ein Pflaster auf den Mund. Seine Eltern haben ein chinesisches Restaurant. Meine Eltern gehen nach dem Theaterbesuch dorthin. Die Eltern sind beim Chinesen, das klingt geheimnisvoll und großartig, als wären sie schnell mal bis nach China gefahren. Sie essen Haifischflossensuppe, die es später auch in

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Konservenbüchsen gibt. Nachts macht sich mein Vater ab und an eine Büchse Haifischflossensuppe auf. Später fahre ich wegen dieser Suppe auf einem Haifischfangboot bis zu den Galapagos-Inseln. Das Boot ist winzig und das Meer wild. Ich kenne ein solches Meer nicht und habe in jeder Minute Angst. Die gefangenen Haie werden lebend an der Schwanzflosse aufgehängt, damit sie so ersticken. Der Kapitän und sein Helfer braten jeden Tag Fisch und Bananen, etwas anderes gibt es nicht. Die meiste Zeit ist mir übel, ich liege in einer sehr schmalen Koje und weine still vor mich hin. Alles ist fremd, selbst der Mond liegt auf dem Rücken am Himmel. Eines Tages scheucht mich der Kapitän aus der Koje und ruft aufgeregt, ich solle mich sofort anseilen. Ich sehe Panik in seinem Blick. Er schlingt mir an Deck ein dickes Seil um den Bauch. Im nächsten Moment steigt aus dem Wasser gleich neben dem Boot ein schwarzer Berg empor. Ungläubig lege ich den Kopf in den Nacken und sehe dem Berg zu, wie er wächst und wächst, bis ich endlich verstehe: Es ist ein Wal! Ein Pottwal, der Wal meiner Kindheit, den ich tot und ausgestopft auf einem LKW auf dem Marktplatz von Hannover bestaunt habe. Über den ich Monate nicht hinwegkam, der mich nachts wachhielt. Aber das ist eine andere Geschichte. Blödsinn oder nicht? Marcel Proust hat nicht anders gearbeitet, er nannte es „mémoire involontaire“, unwillkürliche Erinnerung. Alles erinnert. Wohin führt es einen? Wie tief kann man tauchen? Schreiben ist Unterwassertätigkeit. Ich wusste nicht, als ich anfing zu schreiben, dass ich beim Wal enden würde. Ich wusste kaum mehr, dass ich auf einem Haifischfangboot zu den Galapagosinseln gefahren bin. Dass ich wirklich einmal in meinem Leben einem Wal so nah gewesen bin. Gerade war er wieder da, als wäre er hier, direkt neben dem Bett, in dem ich sitze und schreibe, aufgetaucht. Also Proust nacheifern? Nur zu. Warum nicht? Es geht hier nicht darum, Verwertbares zu schreiben, ein Produkt herzustellen, das sich verkauft, oder Literaturpreise zu gewinnen, sondern darum, aufmerksam und vorurteilsfrei dem eigenen Gehirn zuzuschauen und zuzuhören. Was dort wild aufflackert, aufzuschreiben. In all seiner Banalität und Komplexität, denn das gehört zusammen. Was ist in dem riesigen Labyrinth meines Gehirns gespeichert? Welche Assoziationen schlummern dort? Wie verschlungen sind die Wege von einer zur anderen Erinnerung? Wie kann ich ihnen schreibend folgen? Um das zu tun, muss ich all die Gedanken, die mich davon abbringen wollen, verbannen. Das sind viele, sie sind ziemlich langweilig und immer dieselben. Ein paar Beispiele:

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1. Ich bin zu blöd. 2. Ich bin zu uninspiriert. 3. Ich bin nicht originell genug. 4. Mein Leben ist nicht interessant genug. 5. Wen soll das schon interessieren? Ich kann einfach nicht schreiben und 6. konnte es noch nie. 7. Ich habe Angst, dass andere blöd finden, was ich schreibe. 8. Ich habe Angst, peinlich zu wirken. Ich habe Angst, anderen auf die Zehen zu 9. treten, sie zu verletzen oder zu beleidigen. 10. Mir fällt sowieso nichts ein. 11. Und was wird meine Mutter sagen, wenn sie das liest? Und so weiter, und so weiter. Die Liste ist endlos. Aber ich will gar nicht besonders toll, inspiriert oder originell sein, sondern die eigene Schatzkiste öffnen, Erinnerungen herausholen, sie ans Tageslicht bringen, abstauben und betrachten. Dafür ist es hilfreich, ohne Pause weiterzuschreiben und nicht am Stift zu kauen, sonst drängen sich andere Gedanken in den Vordergrund – und schon bin ich auf dem Weg zum Kühlschrank, zum Telefon, ins Internet. Statt etwas hervorzubringen, stopfe ich etwas in mich hinein. Konsum füllt mich ab, aber erfüllt mich nicht. Konsum und Kreativität sind natürliche Antagonisten. Gibt es kreativen Konsum? Ich bezweifle es (aber falls doch, her damit! Ich liebe Shoppen, um bei der Wahrheit zu bleiben). Um den Impuls zu konsumieren zu zügeln, hilft der Trick, den Stift in Bewegung zu halten, ihn übers Papier wandern zu lassen, dem Geräusch zu lauschen, das er macht, der eigenen Hand zuzusehen, wie sie schreibt – das allein ist schon eine sinnliche Erfahrung und ein ziemliches Wunder.


DER BODEN UNTER MEINEN FÜSSEN Tief in der Nacht wache ich auf. Mein Nachthemd ist weich und kuschelig, weiß-blau gemustert. Ich tapse über den Flur, meine Schuhe klackern über das Parkett. Ich trage Korrekturschuhe in der Nacht, kleine Holzsohlen mit Holzstegen zwischen den Zehen, um meine Zehenstellung zu korrigieren. Ich schäme mich für diese Schuhe, ich hasse sie, ich heule und will sie nicht tragen. Alles, wirklich alles versuchen meine Eltern, um uns schöner zu machen. Ich bekomme weiße Handschuhe angezogen mit einem langen Plastiknippel an jedem Finger, an dem ich in Zukunft kauen soll, statt am Daumen zu lutschen und meine Zähne für immer zu ruinieren. Meinen Schwestern werden die abstehenden Ohren mit Pflaster am Kopf festgeklebt, damit sie später nicht wegen ihrer Segelohren gehänselt werden. Mein Vater kann zu unserem Vergnügen mit seinen Ohren wackeln, sie stehen so weit ab, dass die Sonne hindurchscheint und sie orange färbt. Ich gehe über das Parkett, die Schuhe sind rutschig, ich habe Angst hinzufallen. Dort drüben schlafen meine Eltern. Ich mag es nicht, wenn sie schlafen, es ist unheimlich. Sie sind nicht mehr da, wenn sie schlafen, aber wo sind sie dann? Ich schiebe meiner Mutter die Augenlider nach oben. Wo bist du gerade? Ich höre meinen Vater schnarchen, er muss schnarchen, um die Familie vor wilden Tieren zu beschützen, sagt er gern. Sein Kinn kratzt, wenn er uns küsst. Sein Bart ist schwarz, er rasiert sich mehrmals am Tag. Er gibt uns Schmetterlingsküsse abends vor dem Einschlafen. Mit seinen Wimpern berührt er unsere Wangen. Ich kann gar nicht genug von diesen Küssen bekommen. Der Boden unseres Kinderzimmers ist grün wie Gras. Ich sitze darauf wie auf einer Wiese. Ich stehe nachts im Flur und keiner schaut mir zu. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn keiner schaut, denn sonst schaut immer jemand, weil wir eine große Familie sind. Es ist mir nicht ganz klar, wer ich bin, wenn keiner schaut. Es macht mich unruhig. Ich begegne diesem Gefühl viele Jahre später in Japan wieder, verpackt in einen Zen-Koan: Wer bist du, wenn dir keiner zuschaut? Und auch die Schuhe finde ich dort wieder, japanische Holz-Getas, sie machen ein ganz ähnliches Geräusch. Ich schäme mich mit meinen komischen Korrekturschuhen. Niemand sonst auf der ganzen Welt trägt solche Schuhe, da bin ich mir sicher. Ich bin jemand anders als bei Tag. Es ist unheimlich und aufregend, ganz allein im Flur in der Nacht, ich könnte einfach davongehen, über den Flur zur Wohnungstür und hinaus. Rechts liegt die Küche, dort wird eine Schwester im wilden Spiel auf einen Heizungshahn stürzen und so bluten, dass sich der Lino­ leumboden rot färbt. Wir sind älter, ich schlafe oben im Stockbett, meine Geschwister neben und unter mir. Sie stemmen ihre Füße gegen die Matratze und heben mich ein paar Zentimeter hoch, ich lasse meine Hand nach unten baumeln und manchmal ergreifen sie sie. Die Schwestern lutschen am Daumen und an der Bettdecke, mit der Zeit wurden alle

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Verschönerungsversuche eingestellt. Ich habe für immer krumme Zehen. Der Flur ist nicht lang, die Wohnung nicht groß. Tagsüber werden die Betten meiner Eltern zusammengeklappt und silbriggrüne Vorhänge vorgezogen. Hinter den Vorhängen verstecken wir uns, die Bettfedern im Rücken. Abends, wenn die Betten aufgeklappt werden, keuchen und quietschen die Bettfedern, man sieht ihnen nicht an, wer sie tagsüber waren. Mein Vater ist ein anderer im Pyjama, alles ist anders nachts. Im Bücherregal wohnt ein orangefarbener Dinosaurier, er lebt in dem Buch Mein erstes Wissen, links auf der Seite, er reißt sein riesiges Maul auf. Ich fürchte mich vor ihm und verstecke das Buch, aber ich kann nicht vergessen, wo ich es versteckt habe, also weiß ich auch, wo der Dinosaurier ist. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Dilemma außer zu schlafen, ganz schnell zu schlafen, aber manchmal zucken meine Beine vor Aufregung und wollen weiterlaufen, weiterrennen, weiterspringen, sie wollen sich nicht zur Ruhe legen. Ich klettere aus dem Bett und stehe allein im dunklen Flur wie das Sterntaler-­ Mädchen im düsteren Wald, dieses Alleinsein ist er­­ schreckend, aber auch ein bisschen wunderbar, ich könnte, ich könnte etwas erleben, von dem ich bisher gar keine Ahnung hatte, und da kommt plötzlich mein Vater, er nimmt meine Hand und führt mich zurück ins Bett, zurück ins Zimmer zu meinen Schwestern, wie in einen leicht stinkenden, gemütlichen Fuchsbau, und alles ist gut – und ein ganz klein bisschen langweilig.

WEITERMACHEN Wir machen weiter, und wissen doch gar nicht, wie es weitergehen soll. Wir stehen morgens auf, putzen uns die Zähne, waschen unsere müden Gesichter, spielen mit dem Kind, wir kochen Kaffee, füttern das Kind, wir frühstücken. Was frühstücken wir? Ich kann mich nicht erinnern. Bevor das Kind auf die Welt kam, haben wir in der Früh nur Kaffee getrunken und Zigaretten geraucht. Noch im Bett vor dem Aufstehen geraucht. Mir jetzt völlig unverständlich. Wie konnten wir nur? Kaum haben wir ein gesundes Leben begonnen, ist es auch schon vorbei. Er bekommt starke Medikamente, kann nichts mehr essen, alles schmeckt nur noch nach Chemie. Ich versprühe Rosenduft, weil ich gelesen habe, dass Rosenduft die Stimmung hebt. Mein ganzer Körper zittert, ich kann nichts dagegen tun. Wie Espenlaub. Nicht Birkenlaub, Buchenlaub, sondern Espenlaub. Was ist eine Espe? Ich habe Atembeschwerden, die ich für plötzliches Asthma halte, aber es ist Angst. Pure Angst. Wir spielen mit unserem Kind, es liebt seine Barbiepuppen, die ich doch eigentlich verbannt habe, den ganzen Tag suchen wir Barbies winzige rote Stöckelschuhe. In Amerika nennt man sie fuck me shoes. Ich habe ein Paar rote Stöckelschuhe, die ich nur selten getragen habe, weil ich es nicht gewohnt war, in ihnen zu laufen, und sie mir wehtaten. Mein Mann mochte diese Schuhe, er mochte mich in diesen Schuhen, aber es war ihm auch egal, wenn ich immer nur Turnschuhe trug. Oder Cowboystiefel wie bei unserer Hochzeit. Seine waren aus Schlangenleder, meine aus schwarzweiß eingefärbtem Kuhfell. Ich ging in ihnen anders, so kam es mir vor, herausfordernder, aufrechter.

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Ich war erstaunt, dass er mich heiraten wollte, ich war doch gar nicht sein Typ. Er hatte einen Ruf als ladies' man. In den ersten Wochen nach unserer Hochzeit klingelte ständig das Telefon und eine andere Frau war dran. Zu jeder sagte er freundlich: Ich bin jetzt verheiratet. Und dann legte er auf. Unablässig trägt das Kind seine Barbie zu meinem Mann, setzt sich auf sein Bett. Es spielt mit ihm, unterhält ihn, heitert ihn auf. Zusammen ziehen sie Barbie die Stöckelschuhe an und wieder aus. Ich stehe in der Küche und kann nicht atmen. Habe immerzu entsetzliches Herzklopfen. Komme kaum noch die Treppen rauf. Ich mache Sushi für ihn, weil er Sushi so liebt. SushiRestaurants sind noch sehr selten, Japan noch so weit, die Flüge dauern dreiundzwanzig Stunden. Ich habe die Zutaten mühsam zusammengetragen, den richtigen Reis, nori, die Tangblätter, wasabi, Meerettich, und gari, Ingwer. Wir haben einen niedrigen japanischen Tisch gekauft, japanische Keramik, sogar Tatamimatten, eine kleine japanische Insel mitten in unserer Wohnung. Stolz trage ich die Sushi auf, sie sind mir so gut gelungen, sie sehen perfekt aus. Wir sitzen um den Tisch am Boden, auf dem Teppich, das Kind ist glücklich, liebt es, wenn wir am Boden sitzen. Er fängt an zu weinen. Das einzige Mal, dass ich ihn weinen sehe. Er kann einfach nichts essen, so gern er auch möchte. Das Kind steckt sich im Kindergarten mit Keuchhusten an. Um meinen Mann nicht anzustecken, ziehen wir beide in ein Hotel. Es gibt dort einen Pool, das Kind plantscht fröhlich, ich habe Angst, unterzugehen, weil mich das

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Gewicht meiner Angst unter Wasser zieht. Das Kind ist gern im Hotel, es mag, dass einem das Frühstück aufs Zimmer gebracht wird und dass ich ihm erlaube, in der Früh fernzusehen. Es lacht und freut sich, und dennoch habe ich den Verdacht, dass es nur so tut, um mir eine Freude zu machen. Ohne Vorwarnung gibt eines Morgens mein Rücken nach, ich falle auf den orangeroten, fleckigen Hotelteppichboden, kann nicht mehr aufstehen. Um das Kind nicht zu beunruhigen, lache jetzt ich. Behaupte, dass ich ein Käfer bin, der in diesem Hotelzimmer unter dem Bett lebt und nun hervorgekrochen ist, um zu spielen. Dankbar nimmt das Kind die Geschichte an. Es holt Messer und Butter vom Frühstückstablett und schmiert mir Butter auf die Fußsohlen, was der Käfer unbedingt braucht, um laufen zu können, wie es sagt. Aber der Käfer kann nicht laufen, er bleibt liegen. Alles ist gut, sage ich, alles ist gut. Ja, sagt das Kind, alles ist gut, und glaubt mir kein Wort. Zu schreiben bedeutet, sich jeden Tag wieder aus dem kleinen ordentlichen Garten mit gemähtem Rasen und Blumenrabatten herauszuwagen in den Dschungel. Dorthin, wo wilde Pflanzen wachsen und gefährliche Tiere umherstreifen. Dorthin, wo die Geschichten nicht mehr hübsch und ordentlich sind, sondern schillernd, giftig, schmerzhaft und wüst. Interessant ist nie die Beschrei­ bung unseres schönsten Ferientags, sondern die des schlimmsten. Wir verbinden uns über die schlimmen Geschichten miteinander, nicht die hübschen. Über die, in denen wir nicht gut dastehen, nicht moralisch gehandelt haben, versagt haben, verletzt worden sind, gescheitert sind.

EINSAMKEIT UND FISCHE Ein wirklich einsamer Anblick ist ein Goldfisch allein in einem Glas. Das Kind wünscht sich ein Haustier. Es bekommt einen Fisch. Wie sind wir auf diese grausame Idee gekommen? Er schwimmt in einem großen runden Glas im Kreis, hellorange, sein Name ist Mr. Fish. Vielleicht liegt es an einem heiß geliebten Bilderbuch, in dem ein Kind ermahnt wird, einen Fisch im Aquarium zwar zu füttern, aber auf keinen Fall zu viel. Es kommt, wie es kommen muss, der Fisch bekommt zu viel zu fressen und wird immer größer, irgendwann passt er noch nicht einmal mehr in die Badewanne. Unser einsamer Mr. Fish wird auch zu viel gefüttert, aber er wird nicht größer, sondern stirbt. Eines Morgens schwimmt er mit bleichem Bauch nach oben, vorsichtig trage ich ihn zum Klo, und als ich ihn wegspüle, sieht er im Wasserstrudel lebendiger aus als vorher. Um Wehklagen und Herzeleid des Kindes zu vermeiden, kaufe ich heimlich einen neuen. Mr. Fish lebt ein kurzes Weilchen in seiner Reinkarnation weiter, niemand merkt etwas. Wir schauen ihm zu, wie er scheinbar fröhlich im Kreis schwimmt, und ich schäme mich ein bisschen für meinen Betrug. Nur ein sehr kleines bisschen, wenn ich ehrlich bin. Mr. Fish erinnert mich an all die Fische, die ich als Kind beim Schnorcheln und Tauchen betrachtet habe. Immer hatte ich, bevor ich untertauchte, Angst vor der Unterwasserwelt. Fürchtete mich vor meinen eigenen Atemgeräuschen, die gespenstisch klangen und mir bei jedem Atemzug sagten, dass ich nur so lange leben werde, wie ich einatme. Dass es irgendwann ein Ausatmen ohne Einatmen geben wird. Die Fische betrachten mild neugierig dieses seltsame Wesen, das zu ihnen herabschwebt, vorsichtig beknabbern sie die fremde Menschenhaut. Wie die letzte Überlebende der Welt über Wasser schwimme ich unter ihnen. Mein Körper sieht anders aus, weißer und größer als an


Land. Ich gleite dahin wie geträumt, die Reflexe der Sonne über mir, unter mir das immer dunkler werdende Blau. Das große Blau. Wie wäre es, immer weiter hinabzusinken? Eine diffuse, aber nicht unangenehme Einsamkeit umgibt mich. Kommunikation mit den Fischen ist unmöglich. Gegenseitiges Unverständnis. Wie hält man es wie sie für immer unter Wasser aus? Über Wasser denke ich oft an die Welt unter Wasser. Ich besorge mir Aufnahmen von Walgesängen, höre sie vorm Einschlafen. Sie klingen so, wie ich mich unter Wasser fühle, ein wenig melancholisch. Die Fische und ich leben gleichzeitig in diesem einen Augenblick, als Kind frage ich mich, ob es uns überhaupt unabhängig voneinander gibt? Nach einer Weile möchte ich gar nicht wieder auftauchen und zurückkehren in die Welt über Wasser, die unruhig und laut ist und in der ich mich oft als Außenseiterin fühle und nicht verstehe, was verdammt noch mal mich zur Außenseiterin macht. Mein Vater taucht für sein Leben gern, weil er als Farbenblinder unter Wasser die Farben intensiver sieht, wie er sagt. Über Wasser kann er rot und grün nicht auseinanderhalten, und oft ruft ihm meine Mutter vor einer Ampel zu: Rot! Grün! Unter Wasser ist er glücklich, wie er sagt, nicht nur wegen der Farben, sondern auch, weil seine ausnahmslos weibliche, sonst ständig schnatternde Familie stumm um ihn herumschwimmt. Er fängt an, unter Wasser zu filmen, baut komplizierte Plexiglasgehäuse für die Kamera, in die regelmäßig Wasser eindringt. Nach den Ferien werden ausgedehnte Super-8-Filmabende gegeben, eigentlich sieht man immer nur graue Fische in milchig blauem Wasser, aber meine Eltern rufen begeistert: Kannst du dich an den Fisch da erinnern und jenen dort? Nach dem Tod meines Mannes verliebe ich mich tatsächlich neu. Lange kann ich es selbst nicht glauben. Der neue Mann ist ebenfalls ein wunderbarer, aber völlig anderer Mensch, der mich in keiner Weise an meinen ersten Mann erinnert. Vielleicht geht es deshalb. Vielleicht auch, weil eine große Liebe durch den Tod zu Ende ging und nicht durch Ermüdung, Zerrüttung, Enttäuschung. Ich kenne fast niemanden in meinem Alter, der nicht getrennt ist, geschieden, und niemanden, der so jung verwitwet ist. Ich hasse dieses Wort: Witwe. Ich kreuze es auf Formularen nie an, sondern wähle alleinstehend. Ich will keinen verbalen Witwenschleier tragen. Mit dem neuen Mann fahren wir weit weg, in einen kleinen Ort auf den Philippinen. Wir gehen tauchen. Ich habe mir das nicht gewünscht. Ich will gar nicht tauchen, ich erinnere mich nur noch an den grässlichen Geschmack vom Gummischnorchel, das taube Gefühl auf den Zähnen, das röchelnde Atemgeräusch unter Wasser, die diffuse Angst vorm Untertauchen. Ich springe vom Boot ins Wasser – und schlagartig ist alles so, wie es damals war. So still, so bunt, so friedlich. Zutraulich schwimmen die Fische auf mich zu, als hätten sie mich lange nicht gesehen, sie knabbern an mir, schwimmen wieder weiter,

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ungerührt, unbewegt, gleichmütig, nichts ist gut, nichts ist schlimm, alles bewegt sich im Rhythmus der Wellen. Ich sehe meine kleine Familie unter Wasser. Sie ist da, in Reichweite. Ich höre mich atmen, ich atme immer noch. Erstaunlich. Ein und aus und aus und ein. Ich höre mir beim Atmen zu und merke, dass sich meine Taucherbrille mit Wasser füllt. Ich weine unter Wasser. Und darüber muss ich lachen. Ich verschlucke mich, muss auftauchen, keuche und huste, werde aus dem Wasser aufs Boot gezogen, besorgt beugt man sich über mich. Ich kann nicht aufhören zu lachen. Ich liege auf dem Bootsboden und winde mich vor Lachen. She crazy, sagt der Bootsbesitzer. Yes, sagt mein neuer wunderbarer Mann, she very crazy. Und er lacht. Alles ist gut. In diesem Augenblick ist alles gut. Schreiben ist Unterwassertätigkeit, ein Abtauchen in Regionen, die einem unbekannt sind, oder die man vergessen hat. Man entfernt sich von der Welt über Wasser und darf nicht in Panik geraten. Man taucht ab in das eigene Leben. In das Leben, das man wirklich hat, nicht das, das man sich vielleicht wünscht. Man ist mit einem Mal dort, wo einem niemand zuschaut. Ganz bei sich. Ruhig weiteratmen! Weiterschreiben. Weitermachen. Jeder Tag ist ein guter Tag. Ha!

DORIS DÖRRIE, Regisseurin und Schriftstellerin, ist seit 1994 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Film- und Medienkunst. Bei dem Text handelt es sich um Auszüge aus ihrem neuesten Buch Leben, schreiben, atmen, das im August 2019 erschienen ist.

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HELGA PARIS – DAS FOTOGRAFISCHE WERK Helga Paris (geb. 1938) beginnt Ende der 1960er Jahre, die Menschen in ihrer Nachbarschaft im Prenzlauer Berg zu fotografieren. Ihre Motive findet sie in Wohnungen, Kneipen, Pausenräumen und Werkhallen, auf Straßen und Bahnhöfen. Sie porträtiert Arbeiter ebenso wie Punks, in der Textilfabrik ebenso wie bei illegalen Dichterlesungen. Sie gilt damit als eine Chronistin des Prenzlauer Berg. Später jedoch weitet sich ihr Blick – auf Halle, Leipzig, Siebenbürgen, Georgien, Moskau, Wolgograd, Rom oder New York. Die besondere poetische Nahbarkeit ihrer Bildwelt verdankt sich dabei dem Verzicht auf jegliche Ideologisierung – immer ist ihr Blick zutiefst solidarisch.

KITTEL

Vom 8. November 2019 bis zum 12. Januar 2020 präsentiert die Akademie der Künste in ihren Ausstellungssälen am Pariser Platz das in den Jahren zwischen 1968 und 2011 entstandene fotografische Werk von Helga Paris. Mit rund 275 Werken, darunter zahlreiche noch nie gezeigte Einzelbilder und Serien, ist dies ihre bisher umfangreichste Ausstellung und nach 25 Jahren die erste Retrospektive der Künstlerin in ihrer Heimatstadt Berlin. Erstmals zu sehen sind u. a. Ausschnitte aus den umfangreichen Serien Leipzig, Hauptbahnhof (1981/82), Moskau (1991/92) und Mein Alex (2011).

BEWUSSTSEIN Helga Paris’ Bilder von den Frauen im Bekleidungswerk Treffmodelle gefallen mir besonders gut. Ich empfinde eine große Sympathie. Für die Fotografien und für die Modelle in den Kittelschürzen. Sie sagen mir etwas und sie erinnern mich an etwas. Ich erkenne mich als Fotografin und ich finde mich als Kind wieder. Ich schreibe diesen Text, während ich in Damme, meiner Heimatstadt im Oldenburger Münsterland, fotografiere. Ein Grund mehr, dass meine Ansichten biografisch vergrößert sind.

MUTTER

Beide Bilder: Helga Paris, ohne Titel, 1984. Aus der Serie: Frauen im Bekleidungswerk VEB Treffmodelle Berlin

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So lange ich denken kann, trug meine Mutter im Hochsommer einen Kittel. Ärmellos und mit zwei praktischen Einstecktaschen. Dort hatte sie Wäscheklammern, den Hausschlüssel und natürlich ein Taschentuch. Vorne durchgeknöpft und in den unterschiedlichsten Mustern. Geblümt, kleine und große Blumenmuster. Gepunktet, kleine und große Punkte. Fantasiert, kleine und große Abstraktionen. Nur sonntags, wenn Besuch kam, trug sie einen weißen Kittel. Aber der Alltag war ein bunter Kittel, bunt wie der Garten hinterm Haus. Wenn es heiß war, trug sie darunter nichts, fast nichts. Der Kittel war eine Art Uniform, den sie wie alle Frauen, in der Verwandtschaft oder unter den Nachbarinnen, immer trug. Die Frauen, die ich alle Tante nannte, hatten vor ihrem Namen den gleichen Rang. Tante Maria, Tante Trude, Tante Agnes, Tante Liesbeth. Sie alle trugen einen Kittel und je nach Körper und Alter darunter einen Büstenhalter oder ein Korsett.

Heidi Specker

Als Kind habe ich diesen Zwischenbereich von Kittelstoff, Unterwäsche und nackter Haut mit großer Neugier, aber auch verstohlen beobachtet. Es hatte sehr viel mit Erotik zu tun und ist gleichzeitig doch eng mit Arbeit und Alltag verbunden. Ich schaute ja nicht heimlich durchs Schlüsselloch in das Elternschlafzimmer, sondern bestaunte Achselhaare, wenn die Wäsche aufgehängt wurde, und die Stellen zwischen den Knöpfen, wo die Muster spannten und etwas doch nicht freigaben, wenn meine Mutter sich bückte. Sie hatte auf mich eine weibliche Anziehungskraft, die ich später in den neorea­ lis­­­­­­tischen Filmen mit der Italienerin als Mutter, als Frau, als Kämpferin wiederfand.

„[Sie tragen] die vestaglietta, wörtlich der ‚kleine Morgenmantel‘, die schon dem Buchstaben nach Küche und Bett verknotet. Und der Neorealismo, der den Alltag der einfachen Leute vor die Kamera bringen wollte und dabei zwangsläufig auf den Kittel traf (Luchino Viscontis Kostümbildner konnte sich für ‚Bellissima‘ mit Anna Magnani 1951 seine beschürzten Komparsinnen direkt von der Straße holen), profitierte von dessen Volkstümlichkeit ebenso wie von seinen erotischen Möglichkeiten. Leichter Stoff, nur ein paar Knöpfe und mühelos von vorn zu öffnen.” Andrea Dernbach, Der Hausfrauenreport, Der Tagesspiegel, 28.3.2009

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VATER

BEWUSSTSEIN

Ich war ungefähr so alt wie die Kinder auf den Bildern, die Helga Paris in Berlin-Hellersdorf aufnahm. Auf den Fotografien sind die Jungen und Mädchen alle 13 Jahre alt. Mein Vater arbeitete, so lange er konnte, und fing als Rentner halbtags in einer Schürzenfabrik als Hausmeister an. Bahlmann & Leiber in Damme. Wir fuhren morgens oft gemeinsam mit dem Fahrrad zur Arbeit. Bis zu einer Fußgängerampel, dann ich nach links zum Gymnasium, er nach rechts zur Kittelfabrik. Die Frauen, die bei Bahlmann & Leiber arbeiteten, habe ich mir genau so vorgestellt wie die Frauen aus dem VEB Bekleidungswerk Treffmodelle. Ich bin davon ausgegangen, dass die Näherinnen auf den Fotografien die Kittel tragen, die sie auch nähen. Also bei der Arbeit genau das anhaben, was sie produzieren. Bei Bahlmann & Leiber hat das gestimmt, aber im VEB Treffmodelle wurden schwere Stoffe für Mäntel vernäht.

Helga Paris ging es darum, die Gesichter in Ruhe zu fotografieren. Interessant, denn dieses „in Ruhe“ bedeutet weniger abseits von den ratternden Nähmaschinen, Helga Paris meinte damit: bei sich sein. Dieser Zustand schafft die unglaubliche Dichte im Bild selbst. Bei sich sein meint selbst sein, selbstständig sein, unabhängig von anderen sein. Auch von der Fotografin. Helga Paris berichtet mir von einer unglaublichen Solidarität der Frauen untereinander und dem Gemeinschaftsgefühl der Brigade. Meine Augen sind bei den Kitteln. Ich frage die Fotografin, ob ein Kleidungsbewusstsein – im Sinne dessen, was Virginia Woolf als „Frock Consciousness“ bezeichnete – eine Rolle bei den Aufnahmen gespielt hat. Nein, daran hätte sie nicht gedacht. Aber bei dem Porträt von der blonden Frau denkt Helga Paris immer, dass dieses Modell berlinert. Weeste wat?

FOTOGRAFIN

LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO

Um nicht weiter zu spekulieren, habe ich Helga Paris angerufen und in ihrer Berliner Altbauwohnung im Prenzlauer Berg getroffen. Ihre Straße ist gleich um die Ecke des ehemaligen VEB Treffmodelle. Sie empfängt mich sehr freundlich, wir kennen uns, und berichtet, dass sie damals beim Einkaufen in der Kaufhalle auf die Gesichter der Frauen aufmerksam wurde. Diese Frauen kauften dort ein, wo sie arbeiteten, und die Bekleidungsfabrik war gleich nebenan. Diesen VEB kannte Helga Paris schon, sie hatte dort während des Studiums ein Praktikum gemacht und am Band Rücken und Mittelnaht gearbeitet. Es ist eine Gruppe von Frauen, die sie fotografiert. Bemerkenswert, dass auch ältere Frauen Teil der Brigade sind. Viele tragen einen Kittel. Mein Lieblingsbild zeigt eine Frau in einem ärmellosen Kittel aus gepunktetem Stoff. Sie hat beide Hände in den Taschen, die linke Hand ist etwas in Bewegung. Sie wird gerade in die Schürzentasche gesteckt oder im Moment aus der Tasche gezogen. Um die Taille ist eine lose Schleife gebunden. An den Schultern ist der Kittel mit einer weißen Paspelnaht abgesetzt. Ein offenes Gesicht schaut mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen direkt aus dem Bild heraus, die Frau steht mir gegenüber. Es gibt ein zweites Bild, eine Frau in einem geblümten Kittel, das Muster ist aus Rosen. Ihre beiden Hände liegen auf einem Werktisch. In der rechten Hand hält sie einen umgekehrten Bleistift und schaut ebenfalls mit einem leichten Lächeln, ebenfalls der Körper leicht schräg zur Kamera und ebenfalls das Gesicht frontal, als Gegenüber. Beide Frauen tragen die gleiche Frisur. Die erste brünett, die zweite blond. Den kleinen Unterschied, die Variation, macht die individuelle Struktur ihrer Haare. Meine Frisörin bei Vokuhila in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg hat ihre Ausbildung in der PGH Neuer Weg in Weimar gemacht. Sie hat mir davon erzählt. Vielleicht hatte der VEB Treffmodelle auch eine eigene Haarschneiderin im Betrieb. Die Frisörin der beiden Frauen konnte diesen Schnitt – vorne kurz, hinten lang – entweder besonders gut, oder er war einfach modern. Etwas Unisex, denn ich kann mich als Mädchen, als Teenager an Männer erinnern, die ähnliche Frisuren … Haarunifor­ men wie die Frauen hatten.

Regisseur und Autor Elio Petri, Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, erzählt in seinem Film Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies die Geschichte eines Fabrikarbeiters, der einer anstrengenden, schlecht bezahlten Fließbandarbeit nachgeht. Seinen Körper begreift er, höheren Produktionszahlen nachjagend, als Maschine, die erst durch einen Arbeitsunfall aus dem Takt gerät. Doch auch die Streikbewegung, der er sich anschließt, führt zu Desillusion und Verzweiflung. Die Interessen, für die er eingespannt wird, ändern sich zeitweise – letztlich bleibt er aber ein Rad im Getriebe. Zumindest trennt sich seine Frau, von Beruf Frisörin, im Laufe der Handlung von ihrer Perücke. Der Film, der 1972 die Goldene Palme in Cannes gewann, kam nie in die westdeutschen Kinos, die einzige deutschsprachige Synchronisation stammt aus der DDR. Die Arbeiterklasse gibt es so nicht mehr, wir befinden uns in einer Dienstleistungsgesellschaft. Kittel wurden durch Jogginghose und T-Shirt ersetzt. Sie haben Wert und Form verloren und werden in fernen Billiglohnländern produziert. Meine Eltern teilen sich ein Grab, liegen unter der Erde. Aber als gläubige Katholiken und redliche Arbeiter sind sie ganz sicher in den Himmel gekommen. Die 13-jährigen Mädchen und Jungen sind mittlerweile 34. Die Frauen der Nähbrigade VEB Treffmodelle arbeiten heute vielleicht in einer GmbH & Co KG oder in Lebensmittelketten oder gar nicht. Wo ist der Weg ins Paradies?

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HEIDI SPECKER (* 1962 Damme) lebt in Berlin. In ihren zumeist seriellen Fotoarbeiten bewegt sich Specker vom Sujet Architektur über Objekte hin zum Menschen. Ihre Werkgruppen wurden gezeigt im Sprengel Museum Hannover („IM GARTEN“), in der Pinakothek der Moderne München („RE-PRISE“), im Mies van der Rohe Haus Berlin („SAAT SEED“), und zuletzt unter dem Titel „Heidi Specker. Fotografin“ im Kunstmuseum Bonn. Heidi Specker ist Pro­ fessorin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und war 2010 Stipendiatin der Villa Massimo in

Aus Anlass der Ausstellung wird im Verlag

Rom. Ihre Fotografien ihrer Heimatstadt Damme werden im

Spector Books, Leipzig, der Fotoband Helga Paris:

Februar 2020 beim Oldenburger Kunstverein zu sehen sein.

Leipzig Hauptbahnhof 1981/82 erscheinen.


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HELGA PARIS

EIN ARCHIV IN SCHWARZ-WEISS

Helga Paris, Selbstporträt, 1980

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Helga Paris bewahrte ihre Negative in einem alten Apothekerschrank auf, Foto: Robert Paris

Altes Kontorbuch von Helga Paris, aufgenommen von Jenny Paris

Torsten Musial

Ein dickes, schweres, in Leinen gebundenes Kontorbuch vom Beginn des vorigen Jahrhunderts. Linierte Seiten, schon leicht vergilbt, eng beschrieben. Auf der linken Seite eine Zahlenreihe, daneben Namen, Orte, Abkürzungen in einer nicht immer gut lesbaren Handschrift, teilweise ergänzt, dann wieder durchgestrichen. In dieses Journal hat die Fotografin Helga Paris Notizen zu ihrer Arbeit geschrieben, die ihr bis in die jüngste Zeit eine große Hilfe waren. Doch das Buch ist mehr als nur eine Gedankenstütze oder ein Arbeitsnachweis. Es ist der Schlüssel zu ihrem Negativarchiv, zugleich Tagebuch, vor allem aber beredter Ausdruck ihrer Arbeitsweise. Nun hat Helga Paris ihr Archiv der Akademie der Künste geschenkt. 6.300 Filme, fast 230.000 Negative, eine reichhaltige, subjektive Chronik über vier Jahrzehnte Berliner und deutscher Geschichte. Im Gegensatz zu anderen Fotoarchiven, bei denen nur die qualitativ besten oder von den Künstlerinnen beziehungsweise Künstlern ausgewählten Negative bewahrt werden, bestand Helga Paris von Anfang an darauf, sämtliche Negative zu archivieren. Das traf sich mit dem Interesse des Archivs, denn nur so wird auch ihre Arbeitsweise dokumentiert und die Entstehung der einzelnen Fotos. Änderungen von Perspektiven oder Lichtführung, Belichtung oder Bildkomposition lassen sich ebenso nachvollziehen wie die Zugehörigkeit einzelner Aufnahmen zu Bildserien. Doch alsbald zeigte sich, dass die Notizen in ihrem Journal für Außenstehende nicht einfach zu entschlüsseln und einige Angaben unzureichend waren. Längst nicht alle abgebildeten Personen waren benannt, viele

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lediglich mit Vor- oder Spitznamen. Oft fehlten auch Ortsund Datumsangaben oder der jeweilige Anlass war nicht vermerkt. Dazu kam, dass nur von zwei Dritteln der Filme Kontaktbögen existierten, die eine Ergänzung der fehlenden Angaben wesentlich erleichtert hätten. Durch großen persönlichen Einsatz gelang es Helga Paris, die Alfried Krupp von Bohlen und HalbachStiftung und die Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst von der Unterstützung eines Projekts zur Kontextualisierung der Notizen zu überzeugen. Durch die großzügige Förderung konnte das Archiv von Helga Paris nun vollständig erschlossen werden. Innerhalb von zwei Jahren packte ihr Sohn, der Fotograf Robert Paris, die Filme in archivgerechte Hüllen und Ordner um. Bis dahin lagerten sie in einfachen Pergamin-Filmtaschen in den randvollen Schubkästen eines alten Apothekerschranks. Am Lichttisch sortierte er zahlreiche lose und noch nicht bezeichnete Filme. Alle Filme wurden in die Archivdatenbank aufgenommen und fehlende Kontaktabzüge hergestellt, unvollständige wurden ergänzt. Als größte Schwierigkeit erwies sich die Rekonstruktion von Daten und Orten. Trotz eines phänomenalen Gedächtnisses vermochte dies Helga Paris nicht allein. Da ihre Kinder Jenny und Robert Paris inmitten dieses Arbeitslebens heranwuchsen und ständig mit der Entstehung und Verwendung der Fotos in Berührung kamen, bat Helga Paris sie um Unterstützung. Beide konnten ihre Erinnerungen an Personen, Daten, Orte und Zusammenhänge erfolgreich einbringen. In manchen Fällen war allerdings kriminalistischer Spürsinn gefragt, um fehlende Zeitangaben zu ermitteln.

Da wurde das Alter anwesender befreundeter Kinder geschätzt, Jahresangaben auf Plakaten, die an zufällig im Bild erscheinenden Litfaßsäulen klebten, eruiert oder anhand der Kleidermode auf die Entstehungszeit der Fotos geschlossen. Bei ihrer Recherche konnten die beiden jedoch auch auf ein ganzes Netzwerk von Freunden und Bekannten zurückgreifen. Sie fragten sogar einige der Abgebildeten nach ihren Erinnerungen zu den Aufnahmen. Durch dieses Gemeinschaftsprojekt gelang es ihnen, zahlreiche Angaben zu ergänzen. Doch die Vervollständigung ist längst noch nicht beendet und wird auch nach Abschluss des Projekts fortgeführt. Zusätzlich wurde ein Schlagwortkatalog aufgebaut, der es ermöglicht, nicht nur verschiedene Bildserien virtuell zusammenzuhalten, sondern auch nach bestimmten Themen zu recherchieren. Somit wird eines der wichtigsten und bedeutendsten zeitgenössischen Fotoarchive zugänglich. Und nicht nur das, durch die zahlreichen ermittelten Informationen ist nun eine Suche unter verschiedensten Gesichtspunkten wie beispielsweise nach Personen, Orten oder Bildserien möglich. Ein unschätzbarer Vorteil für das Archiv besteht darin, dass durch die hervorragende Vorarbeit der Bestand bereits mit einem hohen Erschließungsgrad ins Haus kommt und daher relativ schnell benutzbar sein wird.

TORSTEN MUSIAL ist Leiter des Archivs Film- und Medienkunst an der Akademie der Künste.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

DURCHGÄNGE

Im Dezember 2018 wurde der neu gestaltete Eingangsbereich des Brecht-Hauses eingeweiht, verbunden mit einer Umbenennung der früheren Brecht-Weigel-Gedenkstätte in Brecht-WeigelMuseum. Die Eröffnungsrede hielt die Schriftstellerin KERSTIN HENSEL . Ihre feinsinnigen Beobachtungen zum Ort und seiner Bedeutung im Wandel sind hier in Auszügen dokumentiert.

SCHAFFEN Kerstin Hensel

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Wahrscheinlich sind wir gerade die einzigen in Berlin, die in dieser Stunde in einem kleinen, aber feinen Tordurchgang die Erneuerung eines kulturellen Wegweisers feiern. Ich bin vorhin noch durch die Edison-Höfe gegangen und danach zu Schauspielschule, die neben dem Bundesnachrichtendienst neu gebaut wurde, alles hier um die Ecke – gigantische Gebäudekomplexe mit superteuren Repräsentations-, Handels-, Büro- und Wohnflächen, Hauptstadthybriden, die scheinbar unerschütterlich in Zeit und Raum herumstehen, als ob sie über sich selbst hinauswachsen könnten. Im Brecht-Haus dagegen ist es geradezu gemütlich, im historischen Wohngebiet von Bertolt Brecht und Helene Weigel, Chausseestraße 125 – sicher eine der meistbedichteten Adressen Berlins. „Meine Fenster gehen alle auf den Friedhofpark hinaus, er ist nicht ohne Heiterkeit“, schreibt Brecht in einem Brief an Suhrkamp aus dem Hinterzimmer seines letzten Wohnortes. „Dauerten wir unendlich / so wandelte sich alles / Da wir aber endlich sind / bleibt vieles beim alten.“ Diese Verse, die uns hier mittels moderner Technik entgegenleuchten, verfasste Brecht 1955. Wir lesen sie heute, ein Menschenalter später, im gewandelten Eingangsbereich des Brecht-Hauses und erkennen darin unser Spiegelbild. Im wahrsten wie übertragenen Sinne des Wortes. Was für eine raffinierte Dialektik, mag mancher denken


in Anbetracht der Verschränkung der Unendlichkeit mit dem Wandel, die der Dichter uns mit spielerisch-präziser Strenge zum Denken darreicht. Brecht, Materialist und Bekenner der menschlichen Endlichkeit, ruft in seinen Versen natürlich nicht zur Resignation auf, will nicht der Erwartungshaltung nachgeben, das Unveränderbare als bequeme Beständigkeit zu begrüßen. Das allzu Beständige, erinnert er uns, ist nämlich das Problematische, und die Endlichkeit darf nicht als Ausrede dienen, dass wir alles beim Alten belassen wollen. Haben wir auch nicht, und haben wir auch nicht vor. Das Brecht-Haus ist dafür ein Beispiel: Museen müssen stets geistig gut durchlüftet werden, Archive nicht nur bewahren, sondern auch Orte lebendigen Verstandes sein, Literaturhäuser in Lesungen, Lehrveranstaltungen und Gesprächen altes und junges Publikum für Neues und Außerordentliches ermuntern. Die Erfüllung dieser Aufgaben stand und steht nicht in Frage. Wir befinden uns so unerschütterlich wie veränderbar an einem Ort höchster Bedeutung, nur dass dieser im Vergleich zu vielen seiner räumlich ausladenden Nachbarn EINladend wirkt. Mit dem neuen Eingangsbereich mehr als zuvor. Nun rauscht der Besucher nicht mehr einfach an ein paar vergilbten Fotos vorbei, sondern kann sich genauer als in früheren Zeiten über die drei Institutionen, die hier untergebracht sind, informieren und durch das neue

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Leitsystem umstandslos den richtigen Weg finden: ins Brecht-Weigel-Museum, ins Bertolt-Brecht-Archiv und ins Literaturforum. Mehr als zuvor kann man das Haus als Einheit gemeinsamer Arbeit begreifen. Auch ein Schritt zur Internationalität ist getan – es gibt englische Übersetzungen. Seit langem hat sich das Brechthaus als kultureller Hauptpunkt von Berlins östlicher Mitte etabliert und bewährt. Brechts eingreifendes Denken ist hier in die Tat umgesetzt. Der Besucher sucht nicht, er findet. Vielleicht, das wage ich mit Brecht’scher Zuversicht ans Veränderbare zu wünschen, wird auch im ehemaligen Kellerrestaurant wieder mal Licht brennen. Und wo die Kulinarik keinen Platz mehr zu finden scheint, sollte eben der Geist leuchten. In diesem Sinne noch einmal Brecht: „Alles wandelt sich. Neu beginnen / kannst du mit dem letzten Atemzug.“

Im Brecht-Weigel-Museum in der Chausseestraße 125 befinden sich – geprägt vom Geist und Geschmack seiner früheren Bewohner – in den original erhaltenen Arbeitsund Wohnräumen neben dem Mobiliar und Alltagsgegenständen auch Sammelstücke und Andenken, wie u. a. zwei chinesische Rollbilder und drei Masken aus dem japanischen Nō-Theater. Das Museum enthält den größten Teil der etwa 4.000 Bände umfassenden Nachlassbibliothek des Dichters und Dramatikers, die für Forschungszwecke genutzt wird. Am selben Ort befinden sich auch das Bertolt-­B recht-Archiv der Akademie der Künste und das

KERSTIN HENSEL ist Stellvertretende Direktorin der Sek-

Lite­r atur­f orum im Brecht-Haus. Regelmäßige Führungen

tion Literatur der Akademie der Künste und Vorsitzende

ermöglichen interessierten Besucherinnen und Besuchern

der gemeinnützigen „Gesellschaft für Sinn und Form e. V.”,

Einblicke in die Wohnungen von Helene Weigel und Bertolt

dem Trägerverein des Literaturforums im Brecht-Haus.

Brecht. Eine Voranmeldung ist nicht erforderlich.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCKE „ABER ICH HABE EINEN HASS GEGEN DAS ALTE, DAS SICH EINBILDET, EIN EWIGES ZU SEIN.“ THEODOR FONTANE, DIE AKADEMIE DER KÜNSTE UND CARL HAUPTMANN Helga Neumann

Carl Hauptmann (1900)

Mit diesem Bekenntnis zum Wandel beschließt Theodor Fontane am 18. September 1894 einen Brief an seinen Freund Karl Zöllner. Er bezieht sich auf einen Artikel aus der Vossischen Zeitung über die Große Berliner Kunstausstellung, die am 16. September endete. Kritisiert wurde, dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht veröffentlicht worden war, welche Kunstwerke mit Auszeichnungen bedacht werden sollten, und dass der Kunst in Preußen „jene Freiheit der Bewegung“ fehle, die etwa in München vorhanden sei. Die politische Dimension ist es, die Fontane interessiert: „[E]s ist mehr ein politischer als ein Kunstartikel.“ Fast zwanzig Jahre früher, 1876, hatte Fontane sich selbst in eine Situation gebracht, die ihn die Strukturen preußischer Kunstpolitik deutlich spüren ließ. Er hatte sich erfolgreich um die Position des Ersten Ständigen

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Sekretärs der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin bemüht. Nun war er Beamter, hoch dotiert, aber den persönlichen Spannungen innerhalb der Akademie ausgesetzt, ihren bürokratischen Regularien verpflichtet, ohne eigenen Gestaltungsspielraum. Fontane ertrug das nur wenige Monate, zum Unwillen seiner Frau. Ihr gegenüber begründete Fontane seinen Entschluss mehrfach, so etwa am 15. August 1876: „Ich ersehne den Moment, wo ich aus dieser wichtigtuerischen Hohlheit, aus diesem Nichts, das mit Feierlichkeit bekleidet wird, wieder heraus sein werde. […] Ich passe in solch dummes Zeug nicht hinein.“ Fontanes Qualitäten als Journalist, Autor und Kritiker zählten in der Akademie dieser Zeit tatsächlich nicht viel – die Sektion für Literatur wurde erst 1926 ins Leben gerufen. Nach dem unglücklichen Intermezzo von März bis Oktober 1876 kehrte er zu seinen literarischen Arbeiten zurück und nahm seine Tätigkeit als Theaterkritiker für die liberale Vossische Zeitung wieder auf. Dort besprach er im Januar 1887 sehr interessiert die erste Berliner Aufführung von Ibsens Die Gespenster. Im Oktober 1889 reagierte er auf die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns vom Publikum größtenteils als skandalös empfundenen Stück Vor Sonnenaufgang derart positiv, dass sich der Chefredakteur zu einer Distanzierung veranlasst sah. Fontane, zu diesem Zeitpunkt schon fast 70 Jahre alt, war von Gerhart Hauptmann, dem „wirklichen Räuberhauptmann der schwarzen Realistenbande“, von den naturalistischen Stücken, in denen er einen „entphrasten Ibsen“ am Werke sah, begeistert. Er wurde zum – allerdings nicht unkritischen – Fürsprecher der „Freien Bühne“ und ihrer jungen Autoren. Gerhart Hauptmann war im Berliner Kulturbetrieb längst bekannt, da trat auch sein älterer Bruder Carl, bereits Mitte dreißig, als Autor literarischer Texte in die Öffentlichkeit. Anfang 1896 verschickte er sein im Oktober zuvor in Wien uraufgeführtes Stück Waldleute an eine Reihe von Personen, von denen er sich Austausch und Förderung versprach. Die Schriftstellerin und spätere Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé dankte per Postkarte. Carl Hauptmann hakte nach und fragte sie offenbar direkt nach ihrem Urteil über sein Stück, ein in Schlesien spielendes und vorwiegend in schlesischem Dialekt verfasstes Drama über ein Liebespaar, dessen Vereinigung im letzten Moment – möglich wird. Der Vater der jungen Frau ist Förster und hat einen Wilderer erschossen, den Vater ihres Geliebten. Als der Sohn des Wilderers aus Rache den Förster tödlich verletzt, beharrt dieser sterbend darauf, dass er sich versehentlich selbst angeschossen habe. Ein versöhnliches (wenngleich nicht allzu realistisches) Ende, das in Fontanes 1890 erschienenem, in Schlesien und den USA angesiedeltem Wildererroman

Quitt undenkbar wäre und auch von der zeitgenössischen Kritik eher skeptisch beurteilt wurde. Lou Andreas-­ Salomé antwortete am 16. April 1896 ausführlich: „Ich finde nicht, daß [die Waldleute] so ‚trübe Gäste‘ sind, wie Sie sie in Ihrem Begleitschreiben nannten, aber was sie mir anfangs fremd machte, war der Umstand, daß ich sie mir nicht in einem intimen Verhältniß zu Ihnen selbst vorstellen konnte – oder, anders ausgedrückt: Sie darin wiederzufinden, das kann einfach daran liegen, daß ich von Ihnen nur ein sehr kleines Stück kenne.“ Carl Hauptmann schickte die Waldleute auch an Theodor Fontane, dessen Kontakt zu seinem Bruder ihm sicherlich geläufig war, und er erhielt umgehend Antwort (siehe rechte Seite). Ob Fontane den eigenen Ton, den Lou AndreasSalomé in dem Stück vermisste, fand, wenn er es überhaupt las? Und mit welchen Gefühlen mag Carl Hauptmann Fontanes kurzen Brief aufgenommen haben? Zu Weihnachten 1896 schickte er noch seinen neuen Band Sonnenwanderer hinterher, wofür Fontane sich zwar auch wieder bedankte, aber eben nur das. Carl Hauptmann versuchte, sich eigenständig als Autor zu etablieren, in Abgrenzung zu seinem jüngeren, von Anfang an erfolgreicheren Bruder. Es gelang ihm zeitlebens nicht. 1896 mochte er sich noch Hoffnungen gemacht haben. Fontanes Brief vom 12. Februar, der Carl und Gerhart umstandslos zu „zwei Hauptleute[n]“ zusammenschließt und Carl dann auch noch bittet, den Bruder-Rivalen zu grüßen, leistete diesen Hoffnungen gewiss keinen Vorschub. Vielmehr gab er einen Vorgeschmack auf Weiteres: So etwa bot ein „Hauptmann-Abend“ des Vereins zur Förderung der Kunst am 8. Januar 1905 in Berlin Vortrag, Lesungen und Vertonungen von Texten beider Hauptmann-Brüder. Auch in Nachrufen auf Carl Hauptmann, der bereits 1921 starb, oder in späteren Artikeln war es ihm lange nicht vergönnt, ohne den Vergleich zu seinem Bruder dargestellt zu werden. Eines hatten sie jedoch gemeinsam: den dringenden Wunsch, neue Themen, neue Ausdrucksformen zu finden. Gerhart Hauptmann wurde als Vertreter moderner Literatur von Fontane protegiert und nicht nur als Autor geschätzt; Briefe und auch private Einladungen zeugen davon. Carls Versuch hingegen, ebenfalls die Unterstützung des einflussreichen Kritikers zu erlangen, scheiterte. Dokumentiert ist dies in dem hier abgebildeten Brief, einem der wenigen Fontane-Autografen im Archiv der Akademie der Künste, abgesehen von den Schriftstücken, die Fontane während seiner verhassten Tätigkeit als Sekretär anfertigte und die im Historischen Archiv der Akademie erhalten sind. HELGA NEUMANN arbeitet als Archivarin im Literaturarchiv der Akademie der Künste.


Berlin 12. Febr. 96. Potsdamerstr. 134.c. Hochgeehrter Herr, Ergebensten Dank für Ihre „Waldleute“, die Ihre Güte an mich gelangen ließ. Ich freue mich auf die Lektüre und schließe von heut ab zwei Hauptleute in meine Gebete ein. Wenn Sie Ihren Herrn Bruder sehn, meine besten Grüße. In vorzüglicher Ergebenheit, Th. Fontane

Theodor Fontane an Carl Hauptmann, Berlin, 12. Februar 1896. Der Nachlass Carl Hauptmanns ist über etliche deutsche und polnische Archive zerstreut. Im Carl-Hauptmann-Archiv der Akademie der Künste liegt nur der hier abgebildete Brief vor, der zweite, datiert vom 25. Dezember 1896, befindet sich in einem weiteren, kleineren Nachlassteil im Deutschen Literaturarchiv Marbach.


NEUES AUS DEM ARCHIV 1

PRÄZISION UND PATHOS

ZUR NEUAUSGABE DER SONATE POUR PIANO VON JEAN BARRAQUÉ Heribert Henrich

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„Musik ist Drama, Pathos, Tod. Sie ist volles Risiko, Erschütterung bis zum Selbstmord. Wenn sie das nicht ist, wenn sie nicht Überschreitung aller Grenzen ist, ist sie nichts.“ In diese Worte fasste Jean Barraqué (1928– 1973) gegen Ende seines kurzen Lebens die Devise seines Komponierens.

Solchermaßen zum Programm erhobene „grandiloquence“ ist bereits in Barraqués Erstlingswerk, der 1950 bis 1952 komponierten Sonate pour piano zu erspüren. Durch den Unterricht bei Olivier Messiaen und die Freundschaft zu Karel Goeyvaerts und Pierre Boulez war Barraqué frühzeitig ins Zentrum der seriellen Bewegung gelangt. Seine in diesem Kontext entstandene Sonate unterschied sich jedoch wesentlich von den Werken ihres Umfelds. Nicht um die bruchlose Umsetzung eines seriellen Kalküls in einer entsprechend überschaubaren experimentellen Studie war es Barraqué zu tun, vielmehr sollte die neue Technik es ermöglichen, der durchaus romantischen Idee vom „großen Werk“ universalen Anspruchs neues Leben einzuhauchen, ohne dabei mit Momenten des Vernutzten und Trivialen in Berührung zu kommen. Den Sonatenbegriff dachte er von Grund auf neu, nicht mehr im Sinne eines Formschemas, sondern als Kompositionsprinzip, das darauf beruht, alle aufgestellten Gegensätze – solche zwischen freier und strenger Organisation, horizontaler und vertikaler Struktur, schnellem und


1  Jean Barraqué, Sonate pour piano, rhythmisches Schema für T. 247 ff., Autograf Jean Barraqué, Sonate pour piano, Takt 526[1] 2 a  Erstausgabe / 2 b Neuausgabe Die komplexen rhythmischen Bildungen und deren Schichtungen haben in der Sonate oft extrem geringe Abstände zwischen den Tönen verschiedener Stimmen zur Folge. Angesichts solch geringer Evidenz der rhythmischen Verhältnisse waren in der Erstausgabe die Noten häufig falsch positioniert und mussten in der Neuausgabe aufgrund genauer Be­r echnungen neu platziert werden. Jean Barraqué, Sonate pour piano, Takt 563[1] 3 a  Erstausgabe / 3 b Neuausgabe

2 a

2 b

3 a

3 b

Im Bereich der Tonhöhen bestand Korrekturbedarf besonders dann, wenn Ab­ weichungen von der dodekafonen Struktur festgestellt wurden. Dabei galt es, genauestens zu prüfen, ob die Reihen­ abweichungen dem Komponisten irrtümlich unterlaufen waren, etwa als Übertra­ gungs­fehler beim Übergang von einem Arbeitsstadium zum nächsten, oder ob ihnen eine kompositorische Intention zugrunde lag, wie zum Beispiel die Vermeidung von unerwünschten Oktaven.

langsamem Tempo, Klang und Stille – im Laufe eines einzigen, riesenhaften Prozesses zu neutralisieren. Wie komplex und vielschichtig sich Barraqués Werkkonzeption ausnahm, zeigen nicht nur die unzähligen Skizzen – Tabellen zu Reihen und Oktavlagenfixierungen, rhythmische Schemata und Verlaufspläne –, sondern vor allem eine Entwurfspartitur, in der die tonsatzkonsti­ tuierenden Stimmen noch einzeln auf bis zu fünf Li­­nien­ systemen notiert sind. Von hier aus zu einer klavier­ gerechten Notation zu gelangen, erwies sich als schwierige Aufgabe. Und es verwundert nicht, dass dem Komponisten dabei immer wieder Unstimmigkeiten und Fehler unterlaufen sind. Dass zudem die Publikation des Werkes durch den Florentiner Verleger Aldo Bruzzichelli erst in einem Abstand von fast anderthalb Jahrzehnten zur Komposition erfolgte, zu einer Zeit, als Barraqué bereits zunehmend durch Krankheit und Depression beeinträchtigt war, trug nicht gerade dazu bei, die ohnehin vorhandenen Textprobleme in der Druckausgabe zu verringern. Viele Pianisten haben lange mit diesem Notentext gerungen, bevor sie das Werk aufführten; manche lehnten es sogar kategorisch ab, aus der BruzzichelliEdition zu spielen, so brennend sie an der Ausführung der Sonate auch interessiert waren. Eine kritische Neuausgabe war damit sowohl aus wissenschaftlichen wie aus praktischen Gründen ein Desiderat. Die soeben als Kooperation der Akademie der Künste und des Bärenreiter-Verlags zum Abschluss

JOURNAL DER KÜNSTE 11

gekommene Edition, die im Rahmen der Einrichtung eines Jean-Barraqué-Archivs in der Akademie der Künste realisiert wurde, trägt dazu bei, die Zugänglichkeit des Werkes zu erhöhen. Sie stellt insofern ein Pilotprojekt dar, als dabei überhaupt zum ersten Mal ein Notentext aus der Blütezeit der seriellen Musik einer quellenkritischen Edition unterzogen wurde. Entsprechend neuartig waren die Anforderungen: Angesichts der spezifischen Machart der Sonate genügte es nicht, sich im Sinne üblicher Editionspraxis ganz auf die Auswertung der zahlreich vorhandenen Quellen zu stützen; vielmehr bedurfte es auch erheblicher analytischer Anstrengung, da sich verantwortbare editorische Entscheidungen oftmals nur unter Rekurs auf die konstruktiven Grundlagen des Werkes treffen ließen. Dabei waren Schwierigkeiten zu meistern, die über jene, die im Rahmen der Edition klassischer Zwölftonmusik auftreten, noch einmal deutlich hinausgehen. Aufgrund ihrer vielfältigen Verschränkung unterliegen die verschiedenen Organisationsebenen der seriellen Musik einer geradezu hermetischen „Verschlüsselung“, die sich der musikalischen Analyse in besonderer Weise widersetzt. So hatte sich die Edition nicht nur in dem heiklen Spannungsfeld von prädeterminierter Ordnung und kompositorischer Entscheidung zu bewegen, sondern auch mit dem Phänomen der Interaktion von häufig widerstreitenden Strukturebenen auseinanderzusetzen. Dies machte es erforderlich, mit gro­­­­­­ßem argumentativem Aufwand unterschiedliche Lösungs-

modelle gegeneinander abzuwägen, um Auswege aus den zum Teil extrem verwickelten Problemkonstellationen zu finden. „Drama“ und „Pathos“ – so wird man vielleicht resümieren dürfen – kommen im musikalischen Werk nicht von alleine zur Geltung, sondern bedürfen sehr wohl einer präzisen und reflektierten Grundlegung im Notentext.

HERIBERT HENRICH ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Musikarchiv der Akademie der Künste.

Jean Barraqué: Sonate pour piano, hrsg. von Heribert Henrich; 2 Bände (Partitur, 53 Seiten / Kommentar dt. / engl., 132 Seiten, 2 Faksimiles) Akademie der Künste, Berlin / Bärenreiter-Verlag, Kassel 2019

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FREUNDESKREIS

FREIHEIT ODER NUTZEN? WER PROFITIERT, WENN STIFTUNGEN KUNST FÖRDERN? Ein Gastbeitrag von Stephan Muschick, Geschäftsführer der innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft

Sponsoring vs. Förderung Beim Kultursponsoring handelt es sich um ein Geschäft, in dem der Nutzen beider Partner nicht nur klar definiert, sondern zumeist auch quantifiziert wird. Soundso viele Eintrittskarten oder freie Konzerte für Mitarbeiter oder Kunden, kostenlose Führungen oder auch ein Shuttle Service als Gegenwert für einen festgelegten Geldbetrag. Plus Zusage einer Präsenz des Unternehmens­logos in allen möglichen Publikationen gemäß der Logik „Geld gegen Anzeigenplatz“. Kultursponsoring ist Marketingmaßnahme und bei manchen Sponsoren besonders beliebt, weil sie sich zusätzlich zu den aufgeführten Punkten auch im Glanz des Partners – sei es eine altehrwürdige Kulturinstitution oder eine berühmte Künstlerin – sonnen darf. Markentransfer sagen die einen, „symbolischer Überschuss“ die anderen. Inhaltliche Schnittmengen sind erwünscht, tiefgreifende inhaltliche Auseinandersetzungen finden eher selten statt. Die gemeinnützige Kulturförderung, wie viele Stiftungen sie betreiben, folgt anderen Zielen und Grundsätzen. Mit dem Ausdruck „Gemeinwohl“ ist beschrieben, dass nicht allein die Beziehung zwischen zwei Partnern im Mittelpunkt steht, sondern der Blick und das Versprechen eines Nutzens auf die gesamte Gesellschaft gerichtet sind. Dies sei am Beispiel der innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft, die seit 2009 Kunst und Kultur zu ihren Förderfeldern zählt, näher erläutert. Das Energiesystem der Zukunft mitgestalten Übergreifender Anspruch der innogy Stiftung ist es, das Energiesystem der Zukunft mitzugestalten. Das Energiesystem der Zukunft funktioniert anders als das gestrige. Und muss anders, besser funktionieren als das, was heute da ist – technologisch, wirtschaftlich, vor allem aber gesellschaftlich. Das Energiesystem der Zukunft ist – im Gegensatz zu den zentralen Strukturen der Vergangenheit – überwiegend dezentral und dekarbonisiert. Ob die Digitalisierung, ebenfalls ein kontrovers diskutiertes Feld, helfen wird, das Gemeinschaftswerk zu bewältigen, ist dabei keineswegs sicher. Sicher ist nur, dass die Transformation des Energieversorgungssystems nur mit der und nicht gegen die Digitalisierung erfolgreich sein kann.

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Aber wie genau sieht der Weg in ein dekarbonisiertes, digitalisiertes und dezentrales Energiesystem aus? Da­rüber streiten Politik und Gesellschaft derzeit: deutschland-, europa- und weltweit. Eines wird in den Diskussionen aber immer klarer: Erfolgreiche Energie-wenden und wirksamer Klimaschutz können nur gelingen, wenn sich die Menschen bei dieser großen gesellschaftlichen Transformation mitgenommen fühlen. Und hier kommt die Kunst ins Spiel. Die innogy Stiftung nimmt ihren Auftrag, Energie und Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer gemeinnützigen Arbeit zu stellen, sehr ernst. Auf künstlerischen Arbeiten aufbauende Diskurse helfen der Stiftung dabei: durch Positionen, die sich in ihrer Radikalität oder ihrer Mehrdeutigkeit von denen anderen Stakeholder fundamental unterscheiden; durch ein Maß an Kreativität, das Impulse in teils erstarrte andere gesellschaftliche Bereiche zu geben vermag; durch die für die Stiftung entstehende Notwendigkeit, Brücken zwischen unterschiedlichen Stakeholdergruppen zu bauen, Plattformen bereitzustellen und Reflexions- und Experimentierräume zu schaffen. Der hierin verborgene Gestaltungsanspruch ist hoch. Wenn eine Stiftung Kunst für derart wichtig hält, droht immer auch die Gefahr, die geförderten Künstler*innen oder Kulturinstitutionen zu überfordern. Der Förderer könnte gar den Eindruck erwecken, diese instrumentalisieren zu wollen. Deshalb muss es immer heißen: Freiheit der Kunst first! Freiheit den Residenzkünstlern! Das Artist-in-Residence-Programm VISIT der innogy Stiftung – Kern der Förderaktivitäten im kulturellen Bereich – folgt diesen Grundsätzen. Seit 2010 fördert die Stiftung mindestens zwei Stipendiat*innen pro Jahr mit einem Projektstipendium. Einzige Bedingung: Das eingereichte, von einer unabhängigen Jury bewertete Projekt muss sich dem Thema „Energie“ widmen. Und die Vielzahl der Jahr für Jahr eingereichten Bewerbungen zeigt: Das Thema ist relevant und vielfältig. Manchmal kontrovers. Und schier unerschöpflich. Das Spektrum reicht von Fotografie und skulpturalen Arbeiten über raumgreifende Installationen bis hin zu umfangreichen

Rechercheprojekten oder erzählerischen Videoarbeiten. Beispiel Axel Braun: Der 1983 geborene Künstler recherchierte – unter anderem im Konzernarchiv und an Standorten des RWE-Konzerns – zum Thema Wasserkraft. Um bei einer vermeintlich „sauberen“ regenerativen Stromquelle auf zahlreiche Ambivalenzen zu stoßen, die er unter die Überschrift „Die Technik muss grausam sein, wenn sie sich durchsetzen will“ stellte. Das bildete den Kern einer Ausstellung, die 2011 nicht nur im Foyer der Unternehmenszentrale ihr Publikum fand, sondern auch Anlass war für mehrere Veranstaltungen zum Verhältnis von Mensch und Technik. Dass es im Laufe des künstlerischen Prozesses zu einigen teils äußerst kontroversen Diskussionen zwischen dem Künstler und Unternehmensvertretern kam, schmälert den Wert des Programms nicht, sondern zeigt im Gegenteil, wie wertvoll es ist, freies künstlerisches Arbeiten sowie unternehmerische und gesellschaftliche Logiken miteinander in Beziehung zu setzen. Weitere Beispiele: Andreas Greiner (Stipendiat 2017) arbeitete mit seinem Photobioreaktor an der Zukunft der Energiewandlung mittels Algen, Céline Berger (Sonderpreis 2017) intervenierte direkt in den Arbeitsalltag der Mitarbeiter des Offshore Windparks Helgoland und Yvon Chabrowski (Stipendiatin 2019) fragt gerade, wie sich die alten und neuen Energien einschreiben in den Körper der Arbeit. Das sind nur drei künstlerische Ansätze von mehr als 20 in zehn Jahren VISIT-Förderung. Die Liste dieser „gefährlichen Begegnungen“ – der Terminus stammt von dem Soziologen Heinz Bude, der Kulturinstitutionen die Pflicht zum grenz- und milieuüberschreitenden Dialog auferlegt – ließe sich weiter fortsetzen. Mehr Licht! Doch nicht allein VISIT steht für diese an drängenden gesellschaftlichen Fragen wie dem Klimawandel und der Transformation des Energiesystems orientierten Kulturförderung. Auch die Fokussierung des Stiftungsengagements auf den vielfältigen Bereich der Lichtkunst folgt dieser Logik: Kunst ist immer Reflexionsraum für die Veränderungen, die in der Gesellschaft vonstatten gehen – und die Frage, was das für uns Menschen bedeutet. Die Verleihung des Internationalen Lichtkunstpreises (ILAA) – sie fand 2019 zum dritten Mal in Partnerschaft mit dem Zentrum für Internationale Lichtkunst in Unna statt – ist mehr als eine Gala und die Förderung junger Künstler*innen. Licht und Lichtkunst sind der Ausgangspunkt für einen breiten Diskurs über die Frage, welche Energien unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhalten. Peter Sloterdijk machte hierzu 2015, anlässlich der ersten ILAA-Edition im Haus der Berliner Festspiele im Internationalen Jahr des Lichts den philosophischen Auftakt. Interdisziplinäre Symposien und Gesprächs-runden in Berlin, Düsseldorf, Essen und Unna sollten folgen. Um diesen Anspruch auch künftig glaubhaft einzu­ lösen, ist die innogy Stiftung immer auf der Suche nach weiteren Gleichgesinnten, Partnern jedenfalls, die ge­­ meinsam der Kunst eine Plattform bauen und so in die Gesellschaft hineinwirken wollen. Die innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft GmbH unterstützt die Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

Text- und Bildnachweise

Journal der Künste, Heft 11, deutsche Ausgabe Berlin, November 2019 Auflage: 4.000

S. 3–13 Fotos Tobias Kruse / OSTKREUZ | S. 15 Collage Cemile Sahin | S. 16/17 Akademie der Künste, Berlin, AdK-O, Nr. 3658 | S. 21 Foto FBM Studio Zurich / Helmhaus Zurich, S. 22 + 23 Fotos Laura Fiorio | S. 25 Fotos Sarah Pirrie, S. 26 Fotos Carlos Gutierrez, S. 27 Zeichnungen Annesley Black | S. 28 oben + S. 31 unten: Fotos Magda Hueckel, S. 28 unten + S. 31 oben: Fotos Robert Kuszyński / JohnBoB & Sophie art | S. 32–37 Zeichnungen Doris Dörrie, Text aus: Doris Dörrie, Leben, schreiben, atmen © 2019 Diogenes Verlag, Zürich | S. 38 + 41 Fotos Helga Paris, Quelle: ifa (Institut für Auslandsbeziehungen), S. 42 Foto Helga Paris, S. 43 links Foto Robert Paris, rechts Jenny Paris | S. 44 + 45 Fotos P. Lutz | S. 46 Foto Max Glauer, Akademie der Künste, Berlin, Carl-Hauptmann-Archiv, Nr. 458, S. 47 Akademie der Künste, Berlin, Carl-Hauptmann-Archiv, Nr. 178 | S. 48 Akademie der Künste, Berlin, JeanBarraqué­ Archiv, Nr. 11 © Association Jean Barraqué, S. 49 © Bärenreiter-­Verlag, Kassel Wir danken allen Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Die im Journal vertretenen Auffassungen geben die Meinung der jeweiligen Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Akademie der Künste. Den Autorinnen und Autoren ist freigestellt, in welcher Form sie Genderfragen in der Sprache Ausdruck verleihen.

Das Journal der Künste erscheint dreimal jährlich und ist an allen Standorten der Akademie erhältlich. Mitglieder der Akademie der Künste bekommen ein Exemplar zugesandt. Sollten Sie Einzelexemplare oder ein Abonnement wünschen, wenden Sie sich bitte an info@adk.de. © 2019 Akademie der Künste © für die Texte bei den Autorinnen und Autoren © für die Kunstwerke bei den Künst­l erinnen und Künstlern Verantwortlich für den Inhalt Werner Heegewaldt Johannes Odenthal (V.i.S.d.P.) Kathrin Röggla Redaktion Martin Hager Marie Altenhofen Anneka Metzger Assistenz Justin Gentzer Korrektur Claudius Prößer, Uta Grundmann Gestaltung Heimann + Schwantes, Berlin www.heimannundschwantes.de Lithografie Max Color, Berlin Druck Druckerei Conrad GmbH, Berlin Deutsche Ausgabe ISSN (Print) 2510-5221 ISSN (Online) 2512-9082 Digitale Ausgabe https://issuu.com/journalderkuenste Akademie der Künste Pariser Platz 4 10117 Berlin T 030 200 57-1000 info@adk.de, www.adk.de akademiederkuenste

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