Journal der Künste 07 (DE)

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JULI 2018

JOURNAL DER KÜNSTE

07


EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser, Die siebte Ausgabe des Journals der Künste wirkt zunächst wie Dass die Arbeiten der Gestalterin Renate Tost an der Schulausein langer Blick in die Geschichte. Die Befunde, Marx sei nicht gangsschrift der DDR ebenfalls Teil dieses Archivs sind, gibt Anlass, „aktuell“ und Deutschland schaffe sich ab, kommen erst einmal als auf eine andere Weise über die Frage nach der Handschrift als notwendige Missverständnisse daher, ebenso wie das Hotel Ausch- Unterrichtsstoff nachzudenken, als es in den heißen Debatten witz, das leider kein Scherz ist, sondern Realität, wie uns Michael darum derzeit der Fall ist. Ruetz in seiner Erinnerung an das Pogrom 1938, die sogenannte Von „Wo kommen wir hin“ hören wir diesmal durch Karin San„Kristallnacht“, klarmacht. Wir werden eingeholt, nicht „wieder ein- der, die erstmals ihre Vorstellungen von dieser Werkstatt erläutert mal“, sondern ständig. Ein Mittel, das zu begreifen, ist die Gewahr- und uns ins Nachdenken über das Zukünftige schickt. Sie verfolgt werdung von Missverständnissen. Die Carte blanche von Francis darin die Idee der Kunst als Statthalterin der Utopie – insofern ist Kéré beschäftigt sich in diesem Sinn mit dem Operndorf, das Chris- es gut, dass wir sowohl durch Manos Tsangaris’ „Zelte“ nicht ganz toph Schlingensief gemeinsam mit dem Architekten gegründet hat verloren gehen als auch Eran Schaerf noch eine Frage stellen kann. und das im vorgefasst kritischen Blick der Öffentlichkeit wenig Und zwar zur postmedialen Kondition des Radios und der DemoChancen hatte. Das Desinteresse, das Francis Kéré entgegen- kratisierung dieses Mediums – was haben wir wirklich hinter uns schlug, ist verblüffend, aber gewissermaßen logisch in der übli- gelassen und was für ein Wahrnehmungsraum entsteht hier? Dass chen Diskursverwerfung – wer darf entscheiden, „was für Afrika wir von dem großartigen Videokunstarchiv von Wulf Herzogenrath gut ist“? Auch Helmut Draxlers Essay über die Arbeit unserer Käthe- hören dürfen, das dem Archiv zugewachsen ist, mag bei diesen Kollwitz-Preisträgerin Adrian Piper folgt dieser Spur und zeichnet Fragen helfen. Es heißt, am Ende bleiben immer Alternativen. Dies zeigt nicht deren Sichtbarmachung der Konfliktlinien zwischen Selbstbezug und Fremdwahrnehmung nach. Moshe Zimmermann indes geht den nur der Essay von Mathias Greffrath, der die wirkliche Aktualität von langen Weg des Sandkorns zurück, das Micha Ullman im April zur Marx aus dem Aktualitätsgetümmel um dessen runden Geburtstag Wiedereröffnung der Ausstellungssäle am Pariser Platz präsen- herausarbeitet. Auch der diesjährige Heinrich-Mann-Preisträger tiert hat. Schließlich hat es als Metapher nicht nur mythologische, Christian Bommarius macht uns mit seinem Sprung in die Nachsondern auch konkret politische Dienste im Friedensprozess des kriegszeit – die auch die Zeit der Geburt des Grundgesetzes war – Nahen Ostens verrichtet. In einem Gespräch mit Matthias Flügge klar, dass die Problemlagen, mit denen wir es heute zu tun haben, macht Micha Ullman uns klar, wie dieses Sandkorn allerdings auch nicht nur aus unserer Zukunft kommen, wie derzeit meist angenomeine Verbindung herstellen kann zwischen der Materie und der Luft men wird, sondern bereits in der Vergangenheit stattfanden. und insofern mitten in das Miteinanderreden führen kann, das wir „Deutschland musste sich abschaffen, damit die Bundesrepublik werden konnte, sie ist die AzD – die Alternative zu Deutschland.“ so dringend benötigen. Ein Schwerpunkt dieser Ausgabe ist Imre Kertész gewidmet. Das ist doch ein verfolgenswerter Gedanke. László Földényi schenkt uns sein Porträt des Autors und arbeitet behutsam die Funktion der „atonalen“ Sprache in der Literatur Ihre unseres ehemaligen Akademie-Mitglieds heraus, auch als Folge Kathrin Röggla der durch die Erfahrung des Konzentrationslagers ver-rückten Vizepräsidentin der Akademie der Künste, Berlin Wahrnehmung, die eine Grundbedingung unserer kollektiven Wahrnehmung geworden ist. Sabine Wolf führt uns durch die Entstehung des großen Archivs des Nobelpreisträgers in unserem Haus.

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SCHWANKEN IN DER VERTIKALEN Johannes Odenthal

Am Sonntag, dem 27. Mai, kam es am Brandenburger Tor zur Konfrontation zwischen zwei politischen und kulturellen Lagern in der Republik. Während die bundesweite Großdemonstration der AfD vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor auf den Platz des 18. März zog, führte die Glänzende Demo der „Vielen“ von der Brunnenstraße zum Pariser Platz, also auf die gegenüberliegende Seite zum Brandenburger Tor. Neben der Akademie der Künste waren fast alle Theater, die Koalition der Freien Szene und viele andere Kulturinstitutionen Partner dieses öffentlichen Protests. Zu den weiteren Gegendemonstrationen gehörte unter anderem auch die als Party angelegte Initiative der Berliner Clubszene „AfD wegbassen“, die vom Großen Stern aus mit einer Art Loveparade die Kundgebung der AfD übertönte. Queer, feministisch, antirassistisch und inklusiv – so der Tenor – sei die Szene, Vielfalt die Antwort auf die nationalistischen Töne der Rechtspopulisten.

Es ist keine Frage: Die Produktion von Angst vor den Flüchtlingen, vor dem Islam, vor den Fremden, sie spaltet die Gesellschaft. Aber: Am Ende waren es wohl maximal 8.000 Anhänger der AfD und mindestens 25.000 Gegendemonstranten, was die kulturpolitischen Kräfteverhältnisse in Berlin aufzeigt. Es war ein starkes Zeichen. Mehr als 2.000 Polizisten ordneten das Umfeld, die Stadtmitte wurde zur Festung. In dieser aufgeladenen Situation fand das zweite Symposium zum Themenschwerpunkt „Koloniales Erbe / Colonial Repercussions“ in der Akademie der Künste am Pariser Platz statt. Performances of No-thingness, so der Titel der in New York City lebenden, afrodeutschen Kuratorin Nana AduseiPoku, konfrontierte mit der tiefen Traumatisierung der afrikanischen Diaspora, die täglich der immer noch wirksamen kolonialen Matrix aus Rassismus und Macht ausgesetzt ist. Durch den Sklavenhandel – der wiederum auf Kolonisierung basiert – ist es zu einer Verdinglichung des Schwarzen Körpers gekommen, die wir als Entmenschlichung, als Diskriminierung, als Stigmatisierung bis heute kulturell fortschreiben. Erschütternd allein das Faktum, dass gegenwärtig mehr Afroamerikaner*innen in den Gefängnissen der USA sitzen, als vor dem Ende der Sklaverei 1850 im Eigentum von Weißen waren. Welche Strategien werden von Wissenschaftler*innen und Künstler*innen zur Auflösung dieser Mentalitätsgeschichte entworfen? Darum kreisten die Vorträge und Performances der internationalen Gäste.

Nur wenige Minuten bevor die Glänzende Demo auf den Pariser Platz einmündete, begann NIC Kay die Performance „pushit, an exercise in getting well soon!“ in der Mitte des Pariser Platzes. Um NICs Hals ist ein Strick gelegt, der von weißen Luftballons senkrecht gehalten wird. Es entsteht der Eindruck eines Schwankens in der Vertikalen. Zwischen „Hängen“ und „Weitergehen“ formiert sich die existenzielle Suche, das Ringen um einen Grund, um Halt, um Freiheit. Dieses Wegreißen des eigenen menschlichen Fundaments durch den Blick des Weißen auf den Schwarzen Körper, wie es Frantz Fanon beschrieben hat, wird durch NIC Kay zu einem atemberaubenden Moment der Emanzipation und des sensiblen Sich-Selbst-Behauptens. Die Assoziation der 4.000 gelynchten Afroamerikaner ist nur die brutale historische Faktizität einer alltäglichen Fremdbestimmung durch das Irrationale der weißen Gesellschaften. In Anbetracht der Deutschlandfahnen schwingenden AfD-Anhänger hinter dem Brandenburger Tor erschütterte diese Performance für einen Moment die Hoffnung auf ein Lernen aus der Geschichte. Was wir brauchen, ist ein langer Atem. JOHANNES ODENTHAL ist Programmbeauftragter der Akademie der Künste, Berlin.

Performance „pushit, an exercise in getting well soon!“ von NIC Kay bei Performances of No-thingness, 27. Mai 2018



GEGEN EINE POLITIK DER SPALTUNG AUSZÜGE AUS EINER REDE VON KATHRIN RÖGGLA ZUR GLÄNZENDEN DEMO AM 27. MAI 2018 IN BERLIN

„Die Akademie der Künste schließt sich der Demonstration der ‚Vielen‘ an. Sie nimmt mit Besorgnis wahr, wie die AfD eine Politik der Spaltung und der Hetze betreibt gegen eine offene Gesellschaft – ob rassistisch, homophob, frauenfeindlich, antisemitisch – also menschenverachtend. Die AfD stellt sich auch gegen ein Verständnis der Künste als Ort der differenzierten Aufklärung und des Dialogs. Kunst allein als Bestandteil eines identitären Kulturkampfes zu sehen und die sogenannte, um wortwörtlich aus dem Parteiprogramm zu zitieren, „Ideologie des Multikulturalismus“ oder der „importierten kulturellen Strömung“ anzuprangern, bedeutet aber nicht nur Kunst in ihrer Funktion zu reduzieren, sondern auch in ihren Wurzeln anzugreifen. Noch nie waren die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die bildenden Künstler und Künstlerinnen, die Filmschaffenden, Medien- und Theaterkünstler und Architektinnen, die Komponistinnen und Komponisten, die Performer und Interpretinnen an einer Kunst interessiert, die an Landesgrenzen haltmacht, bzw. sie entsteht noch nicht einmal in einem einzelnen Land. Das war schon zur Zeit Johann Wolfgang Goethes so, zur Zeit Miguel Cervantes und zur Zeit von Erasmus von Rotterdam. Der Akademie der Künste ist insofern seit 1696 der Auftrag des internationalen Wirkens eingeschrieben. […] Es gäbe vieles zu sagen, warum dieses von der AfD propagierte Bedürfnis nach Überhöhung der eigenen Identität existiert, warum es diesen Hass und diese Abspaltungswut gibt, und da wären auch andere Parteien zu nennen. Die Angst vor dem eigenen Abstieg, das Anwachsen der Armut, die Vergrößerung der gesellschaftlichen Ungleichheiten und das Gefühl, in dieser Situation politisch nicht mehr vertreten zu sein, sondern nur moralischen Worthülsen zu begegnen, fallen nicht vom Himmel. Die AfD hat zudem genügend Trittbrettfahrer aus den anderen Parteien, nicht nur der CSU. Mir wurde sogar gesagt, es sei so einfach, gegen die AfD zu sein, vielleicht zu einfach – was aber noch lange nicht heißt, dass dieses von ihr erzeugte Klima der Angst und des Hasses, das konkrete Verletzungen erzeugt, nicht real wäre. Insofern geht es heute darum, ein Zeichen zu setzen, dass diese Gesellschaft nicht nur aus wütenden Abspaltern besteht – sondern von einer Vielzahl aus äußerst heterogenen Mitgliedern, Teilnehmern, Bürgerinnen, Bürgern und Kunstschaffenden aus allen möglichen Sparten getragen wird, die kein Interesse an einer homogenisierten Gesellschaft haben. Wir sind Viele.“

Bilder von der Glänzenden Demo, 27. Mai 2018 Veranstalter: Die Vielen


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Christian Bommarius

DEUTSCHE

EINBÜRGERUNGEN Der Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste ging 2018 an Christian Bommarius. Seine „essayistische Energie“, so die Juroren Steffen Martus, Gustav Seibt und Gisela von Wysocki, „richtet sich gegen die Verführungskraft einfacher Diagnosen und scheinhafter Grundsatzlösungen sowie gegen jene aggressive Polemik, die den Meinungsstreit bedroht. […] Mit intellektueller Urbanität [macht er] bewusst, wie unwahrscheinlich und gefährdet die zivile Ordnung ist.“ Eine Dokumentation seiner Rede am 27. März 2018 in der Akademie der Künste. Deutschland schafft sich ab. Seit 70 Jahren, seit dem 1. Juli 1948. Damals erging an die Westdeutschen die Weisung der westlichen Siegermächte, zum zweiten Mal auf deutschem Boden eine Demokratie zu gründen. Wie gründet man eine Demokratie? Ab dem 1. September 1948 tagte in Bonn der Parlamentarische Rat, ein Gremium mit 65 Mitgliedern, die meisten von ihnen Gegner der NSDiktatur, viele deren Opfer, und hob nach neun Monaten das Grundgesetz aus der Taufe, eine provisorische Verfassung für ein provisorisches Staatsfragment. Warum Grundgesetz und warum Staatsfragment? Die Westdeutschen hofften, die deutsche Teilung in West und Ost sei nur für kurze Zeit, sie fürchteten, eine westdeutsche Staatsgründung sei das Ende der deutschen Einheit. Hoffnung und Furcht waren unbegründet. Die deutsche Teilung dauerte 40 Jahre – soweit zur Hoffnung –, die Deutschen hatten darauf weder damals noch in den folgenden Jahren Einfluss – soweit zur Furcht. Aber was waren Hoffnung und Furcht der Westdeutschen im Vergleich zu Hoffnung und Furcht der westlichen Siegermächte?

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Es war deren Hoffnung, ein demokratischer deutscher Weststaat werde Teil des „Bollwerks gegen den Bolschewismus“, seine demokratischen Institutionen könnten die Rückkehr der Westdeutschen in die westliche Zivilisation vorbereiten. Es war ihre Furcht, nach drei Jahren weitgehend erfolgloser Entnazifizierung, nach drei Jahren erfolgreichen Widerstands der meisten Westdeutschen gegen die Demokratisierung der Schulen und Hochschulen, gegen die Konfrontation mit ihrer Schuld, gegen die Abschaffung des Obrigkeitsstaats, gegen die Einführung der Demokratie als künftiger deutscher Leitkultur sei mit den Westdeutschen auch in Zukunft als Demokraten kaum zu rechnen. Über Nacht, vom 23. zum 24. Mai 1949, wurde aus Westdeutschland die Bundesrepublik, und die Westdeutschen nannten sich nunmehr Bundesbürger. Das war eine Lüge. Um wirklich Bundesbürger zu sein, hätten sie sich mit dem neuen Staat zumindest partiell identifizieren müssen. Das taten sie nicht. Der neue Staat war eine Demokratie, aber die überwältigende Mehrheit seiner Einwohner waren keine Demokraten. In einer Umfrage des Spiegels, zu dessen prominentesten Mitarbeitern alsbald ehemals führende Gestapo-Leute zählten, sagten 60 Prozent, sie lehnten den jungen Bundesstaat ab und zögen es vor, in einem Einheitsstaat zu leben. 53 Prozent outeten sich im Frühjahr 1949 als Antisemiten, 74 Prozent sprachen sich für die Todesstrafe aus, 45 Prozent zogen einen auskömmlichen Lebensstandard der Freiheit vor, 64 Prozent meinten, Homosexualität müsse auf immer und ewig strafbar bleiben. Und Adolf Hitler? Landete bei der Frage nach dem größten Staatsmann aller Zeiten immerhin erst nach Bismarck, Churchill und Stresemann auf dem vierten Platz. Die Mehrheit der Einwohner der Bundesrepublik Deutschland lebte in den Jahren 1948/49 noch immer – wie schon in der NS-Zeit, in Weimar und im Kaiserreich – in Deutschland, aber in der jungen Bundesrepublik lebten nur wenige. Das war die zweite deutsche Teilung. Sie dauerte nicht ganz so lange wie die Teilung in Ost und West, aber sehr viel länger, als die westlichen Siegermächte 1948/49 hofften. Sie dauerte so lange, bis die Deutschen anfingen, die neue Sprache zu lernen, die nicht nur die neue Amts-, sondern die Alltagssprache in der Bundesrepublik werden sollte. Die neue Sprache lernten sie durch ein dünnes Büchlein, das auch „Deutsch für Bundesbürger“ hätte heißen können, das aber als „Grundgesetz“ lieferbar war. Die Sprache war Deutsch, aber dieses Deutsch, in dem das Grundgesetz zu den Einwohnern sprach, war bis dahin in Deutschland unerhört. Wovon sprach es? Es sprach an erster Stelle von den Grundrechten, von den Bürgerrechten, die jedem Deutschen, von den Menschenrechten, die jedermann, ob Deutscher oder Ausländer, zukämen, vor allem aber sprach es in Artikel 1 von der Menschenwürde. Solange die Westdeutschen glaubten, deren Unantastbarkeit sei die Phantasmagorie eines Gutmenschen – heute wäre von rot-grünem Siff die Rede, aber Artikel 1 schrieben der Liberale Theodor Heuss, Carlo Schmid von der SPD und Hermann von Mangoldt von der CDU –, waren sie zwar Deutsche, aber Bundesbürger mussten sie erst werden. Mit anderen Worten: Deutschland musste sich abschaffen, damit die Bundesrepublik werden konnte. Sie ist die AzD – die Alternative zu Deutschland!


Das war harte Arbeit. Nach dem Krieg kamen mehr als sieben Mil- müssen für ihn Werte sein, Teil seines Grundwerteschatzes und lionen Flüchtlinge aus dem ehemaligen deutschen Osten und der seines Lebensalphabets. Ost-Zone in den drei westlichen Zonen unter, vor allem in NordWer Deutscher ist, muss keinen Einbürgerungsantrag stellen. deutschland. Sie kamen unter in Ställen und Erdhöhlen, aber auch Wer Deutscher ist, kann grölen „Ausländer raus!“, kann vor der droin Lagern wie Uelzen-Bohldamm, das eines der größten Lager war, henden „Umvolkung“ der Deutschen warnen, kann für die Rehabiaber selbst mit 8.000 Plätzen zu klein. Wenn es nicht für alle reicht, litierung des „Völkischen“ eintreten und den islamischen Teufel an dann reicht es immerhin für einige, für alle anderen reicht es nicht. die Wand malen. Deutscher sein kann also jeder Idiot. Ein BundesDer niedersächsische Flüchtlingsminister sagt, für wen es reicht: bürger aber wird an die Losung des Jahres 1948 denken: Deutschfür die Vertriebenen aus dem früheren deutschen Osten. Leer gehen land schafft sich ab. Das war damals eine Forderung der Welt an die Flüchtlinge aus der Ost-Zone aus. Warum? Der Flüchtlings­ die Deutschen nach 60 bis 80 Millionen Kriegstoten. Deutschland minister sagt, weil die Flüchtlinge faul sind und parasitär. Er selbst schafft sich ab – damit die Bundesrepublik werden kann. Das war ist Mitglied der SPD, evangelischer Pfarrer und Vertriebener aus eine Hoffnung erst einiger weniger Bundesbürger, heute ist es die dem zerbombten Breslau. Er heißt Heinrich Albertz, aber der Name Lebensbasis der jungen und der älteren Generation, zumindest sagt damals, 18 Jahre vor dem Mord an Benno Ohnesorg, kaum einer großen Mehrheit. Eine wieder wachsende Minderheit unwaneinem Deutschen was. Den Einwohnern Niedersachsens ist ohne- delbarer Deutscher mag das anders sehen, barmt um die nationale hin gleichgültig, woher die deutschen Fremden kommen, ob aus Identität und warnt: Deutschland schafft sich ab! Die BundesbürBreslau oder aus Leipzig. Es sind Fremde. Was bringen sie mit? ger wissen: Das war und ist keine Drohung, das ist unsere ZuverDeutsche Kultur. Was wollen sie haben? Unterkunft, Essen, Lebens- sicht, und es bleibt unsere Aufgabe auf Dauer. zeit. Wenn es nicht für alle reicht, dann reicht es immerhin für einige. Unter uns ist heute Abend ein bayerischer Lehrer, kein DeutFür die deutschen Flüchtlinge reicht es nicht, denn es muss für die scher, sondern ein Bundesdeutscher. Jean-Pierre Félix-Eyoum ist deutschen Einwohner reichen. Die deutschen Einwohner geben ein lieber Freund und auch deshalb heute Ehrengast, vor allem aber den deutschen Flüchtlingen immerhin eine Volksweisheit mit auf ist er der Großneffe Manga Bells. Der Kameruner König wurde 1914 den Weg: „Die drei großen Übel der Zeit – Wildschweine, Kartof- von der deutschen Kolonialbürokratie aufgehängt, weil er sich felkäfer und Flüchtlinge.“ Die Menschenwürde ist unantastbar, rechtswidrigen Enteignungen seines Volkes durch die Deutschen keine Frage, die Frage ist in den Nachkriegsjahren in Westdeutsch- auf dem Rechtsweg entgegenstellte. Warum die Enteignungen? land nur, ob Schweine, Käfer und Flüchtlinge Menschen sind. Die Deutschen wollten im Küstenort Duala, der damals größten Das war die Sprache der Westdeutschen, das Deutsch des Grund- Stadt Kameruns, einen neuen Hafen anlegen, den größten Hafen gesetzes war es nicht. Westafrikas, einen „Welthafen“. Wie sich zeigte, mussten sie dafür Von den Vorfahren dieser Zeit trennen uns 70 Jahre, aber sie den Einwohnern ihre Grundstücke rauben und sie in die naheliescheinen uns so fremd, als lägen Ewigkeiten zwischen ihnen und genden Sümpfe jagen. Habgier ist kein hinreichender Rechtsferuns. Ein Flüchtling, der in seiner Heimat für die Menschenrechte tigungsgrund. Deshalb hieß es in einigen Gutachten, die Segregakämpfte und der, um sein Leben zu retten, fliehen musste, ist tion sei unausweichlich, weil die schwarzen Einwohner zu laut seien, uns – gleich, woher er kommt – wohl näher als die Großeltern, die zu viel feierten und unangenehm röchen. Ein Gutachter immerhin an Schweine und Käfer dachten, wenn sie von deutschen Flücht- sprach die Wahrheit nüchtern aus: Das Leben der Deutschen in lingen sprachen, auch wenn er, wie man so sagt, der deutschen Nachbarschaft mit den Schwarzen sei de facto deren GleichstelSprache nicht mächtig ist. Die kann er lernen. Wenn er nach eini- lung mit den Deutschen und deshalb inakzeptabel. So war das vor gen Jahren Bundesbürger werden will, dann sollte er die Grund­ mehr als 100 Jahren. Wie ist es heute? regeln der deutschen Sprache kennen, aber wichtiger ist, dass er Vor zwei Jahren sagte der AfD-Vorsitzende Alexander Gaufließend Bundesdeutsch spricht, das heißt, dass er die Meinungs- land über den schwarzen deutschen Fußballweltmeister Jérôme freiheit respektiert, also nicht die Bundeskanzlerin als „Merkel- Boateng, die Leute schätzten ihn zwar als Fußballspieler, aber zum nutte“ diffamiert, das heißt, dass er das Erinnern an sechs Millio- Nachbarn haben wollten sie ihn nicht. Damit sprach er den Deutnen Mordopfer des deutschen Antisemitismus nicht als „Schuldkult“ schen aus dem Bauch, die sich vor der Abschaffung Deutschlands abtut, das heißt, dass er die Glaubensfreiheit – also die Freiheit zu ängstigen. Für die Bundesbürger aber sprach er nicht. Einigen glauben, was man will, und die Freiheit nicht zu glauben, wenn man mochte vielmehr ein Satz des großen afroamerikanischen Schriftnicht will – respektiert. Einer, der sagt: „Der Islam gehört nicht zu stellers und Bürgerrechtlers James Baldwin durch den Kopf gehen: Deutschland“, mag damit recht haben. Aber ein Bundesdeutscher „I am not a nigger. I am a man.“ Darum geht es. weiß, dass der Islam zur Bundesrepublik Deutschland gehört, weil mehr als vier Millionen Muslime zur Bundesrepublik gehören. CHRISTIAN BOMMARIUS, Journalist und Jurist, arbeitete bis Mit anderen Worten: Würden die Deutschen von vor 70 JahEnde 2017 als Kommentator unter anderem für die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung. Seitdem schreibt er als ren heute einen Einbürgerungsantrag stellen, hätten sie schlechte freier Autor. Sein neues Buch 1949: Das lange deutsche Jahr, Aussichten. Denn wer Bundesbürger werden will, muss nicht nur das im September erscheint, untersucht das Problem, eine wissen, wie man Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat und Demokratie ohne oder zumindest fast ohne Demokraten Freiheit schreibt, Worte, die zum Grundwortschatz gehören, es zu gründen.

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Micha Ullman, Hände (Detail), 2018


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Zur Wiedereröffnung der Ausstellungssäle der Akademie der Künste am Pariser Platz im April zeigte Micha Ullman ein Korn des Hamra-Sandes (arabisch: hamra – rot) als skulpturale Installation. Das Korn entstammt dem Boden, auf dem er unweit von Tel Aviv lebt. Der Künstler arbeitet mit diesem Material seit über 45 Jahren in Skulptur, Zeichnung und Video. Anlässlich der Eröffnung machte sich der Historiker Moshe Zimmermann Gedanken über die historische Bedeutung des Sandes. Micha Ullman sprach mit Matthias Flügge über die Referenzen und Hintergründe seiner Arbeit.

AUF SAND GEBAUT,

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… IM SANDE VERLAUFEN

Micha Ullman, Bis zum letzten Sandkorn, 2011


DER FRIEDENSPROZESS IM NAHEN OSTEN Moshe Zimmermann

In der jüdischen Überlieferung spielt Sand eine metaphorische Rolle – Sand setzt dem Meer eine Grenze. Dabei geht es nicht um die Beschreibung eines Naturphänomens per se, sondern um die Beziehung zwischen Juden und Nicht-Juden. Metaphorisch spielt das Volk Israel die Rolle des Sandes, während die Gojim, die NichtJuden, die Rolle des Meeres übernehmen, so der Midrasch Tanchuma. Eine Meereswelle nach der anderen läuft Sturm gegen die Sandgrenze und wird vom Sand zurückgedrängt. Mit dieser Metapher hat sich nicht der Geologe, sondern der Historiker auseinanderzusetzen – einer Metapher, die vom totalen Gegensatz zwischen Nicht-Juden und Juden ausgeht. Darüber hinaus wird in der biblischen Überlieferung der Sand im Zuge einer weiteren Israel-Metapher verwendet, und zwar im demografischen Zusammenhang: „Ich will es dir gut gehen lassen“, so der Bibeltext (Genesis 32,13), „und will deine Nachkommen zahlreich machen wie den Sand am Meer, den niemand zählen kann vor Menge.“ „Und wenn du abends im Sande ein Loch gräbst“, fügt der Midrasch hinzu, „ist es am nächsten Morgen von selbst wieder gefüllt.“ So, führt der Midrasch fort, wurde der Bevölkerungsschwund zur Zeit König Davids während der Ära Salomon wieder wettgemacht. Wenn die Metapher auch heute Gültigkeit haben sollte, könnte auch das Große Loch der Shoah wieder „nachgefüllt“ werden. Inschallah. Kein Wunder, dass auch ein Rivale Israels wie Anwar as-Sadat vor 45 Jahren das Thema Sand aufgriff und darauf bestand, sein Territorium, seinen Sand, der unter israelische Herrschaft geraten war, bis zum letzten Sandkorn zurückzuerobern beziehungsweise zurückzubekommen. Micha Ullmans Wahl des Sandes als Gegenstand seines künstlerischen Œuvres hat also nicht bloß mit einer künstlerischen Stilrichtung zu tun, sondern auch mit einem symbolträchtigen Topos aus der jüdischen Geschichte, der auch im Kontext des arabisch- beziehungsweise palästinensisch-israelischen Konflikts höchst relevant ist. Und doch ist Ullmans SandkornInstallation aus jüdischer Sicht betrachtet unkonventionell. Denn nirgends in der Bibel wird vom individuellen Sandkorn gesprochen, sondern nur von der unendlichen Zahl dieser Körner, so entscheidend für die Israel-Metapher (übrigens: Im heutigen israelischhebräischen Sprachgebrauch wird das Kollektiv Israel als Orga­ nismus dargestellt, als Volksgemeinschaft, nicht als Aggregat von Individuen wie die individuellen Sandkörner in der Sandmetapher). So viel zum virtuellen Sand als jüdische und israelische Metapher. Worauf mein Beitrag hinausläuft, ist die Relevanz der SandMetapher im Friedensprozess zwischen Israel und seinen Nachbarn beziehungsweise Feinden.

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Beginnen wir mit dem Stein – besser: dem Sandkorn des Anstoßes. Nach dem Sechstagekrieg schwor Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat, alle von Israel eroberten ägyptischen Territorien, sprich: die Sinai-Halbinsel, bis zum letzten Sandkorn zurückzuerobern. Doch nicht so sehr der Jom-Kippur-Krieg (1973), sondern vielmehr der sechs Jahren später zwischen Israel und Ägypten vereinbarte Friedensvertrag ließ Sadats Traum in Erfüllung gehen. Es dauerte jedoch weitere zehn Jahre, bis Israel das Gebiet Taba am Roten Meer an Ägypten zurückgab. Im Vergleich zum Gesamtgebiet Sinai ein winziges Stück Land, doch der Streit um diese Bagatelle drohte, den damaligen Friedensprozess zunichtezumachen. Nach einer internationalen Schlichtung gab Israel nach. Bis zum letzten Sandkorn? Nicht unbedingt. Zum einen spielte bei dieser Raumfrage auch die Zeit-Dimension eine Rolle: Sadat wurde von Gegnern des mit Israel abgeschlossenen Friedens ermordet und es war nun sein Nachfolger, Hosni Mubarak, der Taba übernehmen durfte. Und zum anderen führte das Schlichtungsverfahren über Taba dazu, dass etwa 250 Quadratmeter (!) des zur Debatte stehenden, ca. 750 Quadratmeter großen Landesabschnitts in israelischem Besitz blieben. Schaffte es Sadat also bis zum letzten Sandkorn oder nicht? Wichtiger aber ist meines Erachtens ein weiterer Aspekt des Kampfs um das sandige Gebiet Taba. Bis 1989 schien die TabaFrage quasi ein „Sein oder Nicht-Sein“ zu bedeuten. Der Friedensvertrag stand auf der Kippe. Und siehe da: Seit 1989, und obwohl die Taba-Frage eigentlich offen blieb, ebbte die öffentliche Debatte ab, bis sie schließlich aus der kollektiven Erinnerung verschwand. Israelis können ohne die 500 Quadratmeter Taba gut leben genauso wie die Ägypter ohne das 250 Quadratmeter große Restgebiet. Wo das letzte von Sadat heraufbeschworene Sandkorn sich tatsächlich heute befindet – in Ägypten, in Israel oder symbolisch in der Mitte Berlins –, eine eindeutige Antwort auf diese Frage bleibt aus. Mehr noch – die Antwort ist belanglos. Niemand fragt mehr danach oder zeigt die Bereitschaft, wegen Taba zur Waffe zu greifen. Dass die Hotels der Region in ägyptischem Besitz sind, interessiert übrigens die tausenden israelischen Touristen, die dorthin reisen, wenig. Praktisch belanglos, jedoch prinzipiell bedeutend: So klein auch das Gebiet Taba sein mag, ein Sandkorn im Vergleich zum Sinai, ist es für die Geschichte des späteren Friedensprozesses doch lehrreich – es geht hier um den großen Unterschied zwischen dem Stellenwert eines Streitpunkts in Friedensgesprächen a priori und a posteriori: Was sich vor den Verhandlungen und in ihrem Verlauf zum riesigen Stolperstein entwickelt, verliert oft ex post seine Bedeutung, weil das Entscheidende doch nicht im Detail steckt, sondern in der Absicht, im Willen zum oder gegen den Frieden. Ist der Frieden das wahre Ziel, verlieren manche großen Zankäpfel ihre Bedeutung. Wie viele Deutsche, dürfte man hier fragen, sind heute bereit, für Elsass-Lothringen oder für Ostpreußen in einen Irredenta-Krieg ziehen? So gesehen sind meines Erachtens auch die scheinbar unlösbaren Streitpunkte, wie der Status von Jerusalem oder des Tempelbergs/al-haram asch-scharif, doch lösbar. Die Geschichte vom letzten Sandkorn Sinais kann also als Beispiel dafür herangezogen werden, wie der Streit, nicht der Friedensprozess, im Sande verlaufen kann.

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Vier Jahre nach dem Rückzug aus Taba, also vor einem Vierteljahrhundert, wurde das überraschende Osloer Prinzipienabkommen (1993) zwischen Israel und der PLO unterzeichnet. Das vorgegebene Nahziel des Abkommens war, „für das palästinensische Volk […] eine Interimsbehörde […] einzurichten“, und zwar für fünf Jahre. Während dieser Zeit sollte über den „dauerhaften Status“ entschieden werden. Jedenfalls sollte sich am Ende dieser Fünfjahresfrist Israel aus den besetzten Gebieten (Westbank und Gaza) zurückziehen. Zunächst schien das Jahr 1993 ein annus mirabilis gewesen zu sein: Hundert Jahre nach der Entstehung der zionistischen Bewegung, die die Religionsgemeinde der Juden in eine Nation verwandeln wollte, die für diese Nation auch das Territorium Palästina / Land Israel in Anspruch nahm und somit den 100-jährigen Konflikt zu Recht den Friedensnobelpreis. Im Zuge der Oslo-Bemühungen mit den arabischen Bewohnern dieses Landes in die Wege gelei- kam es außerdem zum Friedensvertrag zwischen Israel und Jordatet hatte, war urplötzlich ein Ende des Konflikts in Sicht. Die gegen- nien. Und dann: Die drei Schüsse, die am 4. November 1995 Israseitige Anerkennung des Rechts der jeweils anderen Nation auf els Regierungschef Rabin töteten, wurden zum Todesurteil für den Selbstbestimmung und die prinzipielle Zustimmung beider Kon- gesamten Friedensprozess und für die sogenannte Zwei-Staatenfliktparteien – Israel und die PLO – zur Zwei-Nationen-Lösung Lösung. Das – also das Scheitern des Osloer Abkommens – wollte man damals noch nicht zugeben, und die, die um den Frieden bemüht hatten angeblich den gordischen Knoten durchschlagen. Aber eben nur „angeblich“ – das wissen wir heute, im Nach- waren, taten so, als wäre noch etwas zu retten. Manche tun noch hinein –, weil die Umsetzung des Prinzipienabkommens von 1993 heute so, als wäre der Friedensprozess, der Oslo-Prozess, nach in Taten und Fakten nach nahöstlichem Modus erfolgte: Entschei- wie vor am Leben. Bis das Wasser im Sande verläuft, kann es lange dende Kräfte im israelischen wie auch im palästinensischen Lager dauern. Letztendlich hängt es auch vom Auge des Betrachters ab. Während dieser Zeit gab es eine Gruppe, die nicht auf Sand stellten sich wie eine Sandgrenze gegen die Wellen des Abkombaute: die israelischen Siedler. Hartnäckig und zynisch bauten sie mens, gegen die Friedensbemühungen. Seitdem das Abkommen feierlich im Weißen Haus unterzeich- – umso intensiver nach dem Osloer Abkommen – die Siedlungen in net wurde, erhielt die Sandmetapher eine brisante politisch-aktu- der Westbank aus, meist auf den Bergen, auf festem Boden, auf elle Bedeutung: Zum Auftakt wurde der Anfang der Übergangs- Kosten der arabisch-palästinensischen Bevölkerung. Sie wussten phase um etwa ein Jahr verschoben, dann wurde um jede Einzelheit und wissen es noch immer: Dem Ziel, den Friedensbemühungen gerungen, während im Hintergrund Palästinenser, die gegen das das Wasser abzugraben oder, anders ausgedrückt, Israels SouveAbkommen waren, Terroranschläge verübten. Die Umsetzung des ränität auf das gesamte Gebiet Palästina/Land Israel auszudehpalästinensischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung in Form nen, sind die Vermehrung der Siedlungen und die Bezeichnung der Friedensbewegten als „Oslo-Verbrecher“ dienlich. Von Beginn eines Staates fand im Wortlaut der Vereinbarungen noch keine Erwähnung. Denn sogar die Regierung Rabin konnte sich nicht die an verstanden sowohl die Palästinenser als auch das sogenannte konsequente Schlussfolgerung aus der Anerkennung des palästi- nationale Lager in Israel (das sich in der kurzen Zeit um Oslo herum nensischen Volkes erlauben. So stark waren die nationalistischen in der Opposition befand), dass die andauernde Siedlungspolitik Kräfte in Israel und die Siedler-Bewegung bereits in den 1990er zum Scheitern des Osloer Prozesses führen würde, entweder direkt Jahren. Mit anderen Worten: Der Friedensprozess hatte von Beginn über die graduelle Landnahme oder indirekt über den Versuch der an wenig Erfolgschancen und begann früh im Sande zu verlaufen. Palästinenser, Widerstand zu leisten – Widerstand, der Israels MiliKein Wunder, beim Versuch, auf dem Treibsand des Landes Israel tärstärke herausfordern würde. Die Friedensbewegten bauten auf Sand, nicht so die Friedensgegner. Die am Frieden interessierten beziehungsweise Palästinas einen Frieden zu errichten. politischen Kräfte haben seit der Rückkehr der Nationalisten an Zwei Jahre lang bemühten sich die konstruktiven Kräfte um die Festigung des Bodens, auf dem der Frieden ruhen sollte, engagier- die Macht – drei Jahre nach Oslo, kurz nach dem Mord an Rabin – ten sich intensiv für die Fortsetzung des Friedensprozesses, ver- nichts mehr bewegen können und müssen bis heute zusehen, wie suchten eine Regelung im Sandboden der Region zu verankern. Bis die Friedensbemühungen am Widerstand ihrer Gegner abprallen. zum Ende des Jahrhunderts, also bis 1999, hätte nach den Bestim- Die Geschichte vom Sterben des arabisch-israelischen Friedensmungen der Vereinbarung eigentlich – obwohl das Wort im Osloer prozesses bleibt unvollständig, wenn nicht darauf geachtet wird, Abkommen nicht vorkam – der Staat der Palästinenser entstehen dass am Anfang, in der kurzen Zeit zwischen Taba 1989 und sollen. Hinter den Kulissen kam es zwei Jahre nach Oslo sogar zu Oslo 1993, das metaphorische Meer der Gojim einem radikalen einer Übereinkunft über die Endstatusregelung, inklusive der unein- Wandel unterworfen war. Gerade in Berlin steht einem der globale geschränkten Anerkennung der Zwei-Staaten-Lösung. Für ihren Kontext der Ereignisse im Nahen Osten klar vor Augen. Erst als der äußerst riskanten Balanceakt erhielten der ehemalige General Yitz- Kalte Krieg zwischen 1989 und 1991 abrupt, aber gewaltlos zu hak Rabin und sein Kontrahent, der frühere Freischärler Yassir Arafat Ende ging, boten sich neue Rahmenbedingungen für ein Ende des

Die Friedensbewegten bauten auf Sand, nicht so die Friedensgegner.

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israelisch-palästinensischen Konflikts an. Wie in den Beziehungen Nahen Osten und für den palästinensisch-israelischen Konflikt zwischen Israel und Ägypten auf einen für die arabische Seite äußerst negative Wirkung zeigten. Nicht nur sind die nationalen erfolgreichen Krieg die Bereitschaft zum Dialog mit dem Feind Trennlinien zwischen Israelis und Palästinensern schärfer geworfolgte, so auch hier im israelisch-palästinensischen Kontext: Auf den – die religiöse Komponente hat eine neue Dimension geschafdie Intifada, die 1987 ausbrach, folgte die palästinensische Bereit- fen: Der Streit um Territorien, um Boden und Sand, verwandelte schaft, endlich einen Dialog mit dem Feind zu starten. Mit ande- sich zum Heiligen Krieg, der keine Kompromisse zulässt. Der Kampf ren Worten: Vor dem Hintergrund der Rettung der verlorenen Ehre „bis zum letzten Sandkorn“ kann, anders als im Fall Taba, nur mit der Ägypter beziehungsweise der Palästinenser auf dem Schlacht- einem blutigen Entweder-oder enden. So gesehen hat der Streit feld galt die Kompromissbereitschaft nicht mehr als Schmach. um Jerusalem oder die Siedlung Bet-El eine ganz andere Qualität Auf israelischer Seite wiederum motivierte der hohe Preis des als der Streit um Sinai oder Taba. Das Projekt Oslo scheint daher bewaffneten Konflikts dazu, eine befriedende Alternative zu suchen. von Beginn an ein Luftschloss – oder eben ein Sandschloss – geweDer Fall der Mauer, zwei Jahre nach Beginn der ersten Intifada, sen zu sein. Und die Kehrseite dieser Entwicklung: Gerade weil diese beiden Stürme – religiöser Fundamentalismus und ethnozentrischer regte auch zu Friedensbemühungen in unserer Region an. Ohne Mauerfall gäbe es keine Madrider Nahost-Konferenz 1991 und Nationalismus – weltweit wüten, geraten die Bemühungen um den Frieden zwischen Palästina und Israel in den Hintergrund, wenn keinen Oslo-Prozess. Ohne Amerikas Status als Weltpolizist hätte es keine ernsthafte Bereitschaft auf israelischer oder arabischer sie nicht ganz vernachlässigt werden. Die Ange­legenheit wird zur Marginalie, ganz nach dem Wunsch der Gegner des FriedensproSeite gegeben, Gespräche über das Ende des Konflikts zu führen. Heute, im Nachhinein, ist uns klar, dass der nach dem Ende zesses, vor allem der israelischen Regierung. Vor etwa drei Jahren verdunkelte ein Sandsturm für einige des Kalten Krieges gestartete israelisch-palästinensische Friedensprozess nicht nur wegen der Fehler und Idiosynkrasien der Tage den Himmel über Israel/Palästina und führte eine Weltunterdirekten Konfliktparteien im Sande verlaufen ist, sondern auch, gangsstimmung herbei. Noch nie zuvor gab es einen Sandsturm, weil die globalen Rahmenbedingungen gewissermaßen auf einer der noch während des Sommers und aus nördlicher Richtung kam. Schicht Treibsand ruhten. Als der Prozess begann, schien das Fun- Klimaforscher boten für diesen präzedenzlosen Fall eine wissenschaftliche Erklärung an: Der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, in dament, die Nach-Kalter-Kriegs-Ära mit ihrer Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ (Fukuyama), also vom Endsieg der libera- dem bekanntlich der IS eine zentrale Rolle spielte, hat fruchtbares, beackertes Land in eine Wüste verwandelt. Die Patina wurde len Demokratie, felsenfest zu stehen. Es dauerte aber weniger als ein Vierteljahrhundert, bis sich die Gegenströmungen durchsetz- vom Winde verweht. Der Arabische Frühling hat somit der Sandten. Die USA sind seit 9/11 und dem Irak-Krieg 2003 nicht mehr metapher eine neue Dimension verliehen. Eine weitere schlechte die einzige Weltmacht. Nicht einmal seine „road map“ konnte Prä- Nachricht für den israelisch-palästinensischen Friedensprozess. sident Bush Jr. Israel oktroyieren. Geschichte entwickelt sich bekanntlich nicht geradlinig – zu Beginn der Ära Obama schien manches sich wieder geändert zu haben. Sogar Bibi Netanjahu war nicht mehr sicher, ob die Flut, also der Verzicht auf die Vision von Eretz Israel Haschlema (Groß-Israel), aufhaltbar ist. Daher seine überraschende Rede 2009 mit dem Lippenbekenntnis zur ZweiStaaten-Lösung. A posteriori erwies sich jedoch die Ära Obama nur als „Schönheitsfehler“. Die Welt hat sich im Vergleich zu 1990 dramatisch geändert. Und seitdem Donald Trump Präsident ist, sind die USA auch nicht mehr das Rückgrat des universellen politischen Liberalismus, muss sich also auch Netanjahu keine Gedanken mehr über die Zwei-Staaten-Lösung machen. Die Tendenz weg von der liberalen Demokratie und hin zum aggressiven MOSHE ZIMMERMANN, Historiker und Experte für deutsche Nationalismus erstarkte, auch in Europa, sogar in Deutschland. Die Geschichte, kam 1943 als Sohn jüdischer Flüchtlinge aus Vision von einer globalisierten Weltpolitik, von mehr Annäherung Deutschland in Jerusalem zur Welt. Ab 1982 war er Professor und Miteinander anstelle von Exklusion und Dauerkampf gegen für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. 1986–2012 leitete er dort das Koebner-Center „den Anderen“, ist rar und blass geworden. für deutsche Geschichte und war immer wieder auch als Als der Kalte Krieg zu Ende ging, schien die Globalisierung Gastprofessor an deutschen Universitäten tätig. 2006 wurde auch die Antwort auf herkömmliche Fehden zwischen Ideologien er mit dem Theodor-Lessing-Preis für Kritik ausgezeichnet. und Staaten zu sein, und das Beispiel der Europäischen Union galt Seit seiner Emeritierung lebt er in Qiriat Ono. sogar für die Nahost-Region als Vorbild. Doch es dauerte nicht lange, bis zwei unerwartete Sandstürme den Horizont verdunkelten: der ethnozentrische Nationalismus und der religiöse Fundamentalismus. Es handelt sich um weltweite Phänomene, die im

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Micha Ullman

„DENKEN IST DAS GEGENTEIL VON MACHT UND AGGRESSION“ MICHA ULLMAN IM GESPRÄCH MIT MATTHIAS FLÜGGE

MU   Bevor wir anfangen, zuerst einen großen Dank an Jeanine Meerapfel, die mich eingeladen hat, das Sandkorn hierherzubringen. So leicht war das nicht, denn ich habe das Land Israel noch etwas kleiner gemacht ohne dieses Sandkorn. Aber ich freue mich sehr über diese Möglichkeit. Und Dank an Moshe Zimmermann, durch den ich festgestellt habe: Ich bin nicht der Letzte in Israel, der so denkt. Es gibt einen Zweiten. Meine Meinung hat sich verdoppelt und das ist, denke ich, ein gutes Zeichen. Herzlichen Dank! MF   Ich erinnere mich, 2011 im Israel Museum in Jerusalem, da war die Sandkorn-Arbeit neu und stand, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, in der Ausstellung ein bisschen verloren recht bescheiden an der Wand. Daneben war ein großes Sand-Haus und in der Nähe lagen die Sand-Bücher. Man ging überall hin und ganz zum Schluss kam man dann dort an, aber auch nur angezogen durch die kleine Lampe … Und im Blick auf das Korn fiel auf einmal alles zusammen, in diesem einen Korn verdichtete sich gleichsam deine jahrelange Beschäftigung mit dem roten Sand. Hast du das auch mit einem politischen Hintergedanken gemacht oder war es die künstlerisch notwendige Konsequenz, auf alles kontextuelle Beiwerk zu verzichten? MU   In der Ausstellung – einer Retrospektive – waren etwa 60 Sandskulpturen, darunter auch sehr große. Kurz vor der Eröffnung dachte ich, da fehlt noch etwas: das einzige, einzelne Sandkorn. Der Titel der Ausstellung war Sanduhr. Und das war nun vielleicht das allerletzte Sandkorn in dieser Uhr. Wenn man sie dreht, ist es das erste. Und ich spürte, das ist unbedingt notwendig für die gesamte Installation der Ausstellung. Ich hab es in letzter Minute gemacht und dachte dann erst über den

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Titel nach. Genau kann ich mich nicht erinnern, aber der kam ganz natürlich: „Bis zum letzten Sandkorn“. Dieser Halbsatz bezieht sich auf die Rede von Anwar Sadat 1973, von der Moshe Zimmerman sprach, und passt sehr gut. So ist das entstanden. Mein ganzes Werk hat politische Elemente im Hintergrund, nicht im Vordergrund. Und diese Arbeit blieb in meinem Atelier nach der Ausstellung, bis vor ein paar Wochen. Der Wunsch der Akademie der Künste, sie hierherzubringen, hat mich sehr gefreut: dass dieses kleinste meiner Objekte einen neuen Platz und Hintergrund, vielleicht auch eine neue Bedeutung bekommt … Wir sind hier! MF   Gehen wir ein bisschen weiter zurück. In einem lan-

gen Gespräch, das wir vor einiger Zeit geführt haben, hast du erzählt, dass du eigentlich in die Landwirtschaft wolltest, was ja in Israel zur Zeit der ersten Aufbauphase gar nicht verwunderlich war. Deine Familie war auch auf diesem Gebiet tätig. Du hast dann aber doch die Kunst gewählt und Druckgrafik studiert. Damals hast du dich sehr mit Landschaft beschäftigt. Es gibt auch frühe Zeichnungen von dir, sehr formkonzentrierte, abstrahierende Landschaftszeichnungen. Und dann hast du Radierungen gemacht, deep etchings mit scharfen Säuren, so dass die Landschaftsdarstellungen auf den Platten zum Teil durchlöchert waren. Im Anschluss bist du darauf verfallen, direkt in die Landschaft zu gehen und zu graben. Das deutet darauf hin, dass du intuitiv immer einen Schritt nach dem anderen gemacht hast. Das Graben hat dich nicht mehr losgelassen. Wie kam diese Verhaftung mit dem Sand, dem Boden, der ja in deutschen Augen – ich denke nur an die Diskussion über Hans Haackes Installation Der Bevölkerung im Reichstags­ gebäude – so einen „Hautgout“ hat … In Israel ist das offenbar völlig anders. Kannst du dazu etwas sagen?

MU   Was du beschreibst, war der Anfang meiner ersten Gruben. Ich habe Landschaften radiert und es entstanden Löcher in der Platte. Ich dachte, wenn ich Löcher in der Landschaft in der Kupferplatte habe, für was brauche ich dann noch die Kupferplatte? Ich gehe mit den Löchern direkt in die Landschaft. Und so habe ich in Ramat Hasharon, wo ich wohne – das Sandkorn ist von dort –, angefangen, diese Grabungsexperimente mit dem eigenen Körper zu machen. Später kam der leere Raum hinzu, den jede Grube normalerweise eröffnet. Je größer das Loch ist oder je weniger Erde dort verbleibt, umso mehr Luft oder Himmel habe ich darüber, wenn man so will. Ich habe das im Lauf der Arbeit verstanden – zuerst war es reine Intuition, diese kritische Grenze von oben und unten zu berühren. Jede kleinste Grabung in der Erde ist oft schon auf dieser Grenze. Wir kennen die Grenze von rechts und links oder von Ost und West sehr gut, weniger die von oben und unten. Das hat mich sehr interessiert. Und so entstanden die ersten Grubenskulpturen. Ein gutes Beispiel für die Leere der Grube, die im Laufe der Zeit immer wichtiger wurde, ist die Bibliothek (1995) auf dem Bebelplatz hier in Berlin. Die Leere der Bibliothek spielt sicherlich eine wichtigere Rolle als die Erde drumherum. Ich denke, es gibt noch einen Aspekt, der für mich, kann ich sagen, fast existenziell war: Mein Vater hat vor 1933, dem Jahr der Bücherverbrennung, bei Bauern in Thüringen gearbeitet, um sich vorzubereiten auf Israel, den Kibbuz, die Erde, die Landwirtschaft. Er hat sich den Traum nicht richtig erfüllen können, aber es war diese Sehnsucht nach Erde, nach ein bisschen Erde unter den Füßen der Juden, diesem Volk, das sehr lange Zeit eben keine Erde unter seinen Füßen hatte. Und ich will das auch als eine Frage stellen: Was passiert heute aus einer solchen Perspektive mit der Erde unter unseren Füßen? MF   Erzähle doch bitte von deiner Arbeit, die auch heute noch sehr beeindruckt: dem Erdaustausch zwischen den Orten Messer und Metzer. Das war ja das erste Mal, dass ein politisch aktueller Bezug in dein Werk kam – durch diese Tätigkeit des Grabens und die Metaphorik, die damit verbunden ist. MU   Das war interessant. Wir haben von Moshe Zimmermann schon einiges über 1973 gehört: über die Rede von Sadat und die Verhandlungen nach dem JomKippur-Krieg im Oktober dieses Jahres. Das von dir angesprochene Werk entstand im Oktober 1972, ein Jahr zuvor, bei einem Bildhauer-Symposium. Dort habe ich mit jungen Leuten aus zwei Dörfern – einem arabischen und einem israelischen, zwei Kilometer voneinander entfernt – diesen Erdaustausch durchgeführt. Und das veranschaulicht vielleicht schon mein Interesse. Ich kann es so beschreiben: Austausch als eine Art der Verständigung. Diese dualistische Energie, diese Elemente tauchen später immer wieder in meinen Werken auf. MF   Das hat ja auch damit zu tun, dass du in den Gruben immer auch Bezug auf dein eigenes Körpermaß genommen hast. Der Mensch, und in diesem Falle du konkret, war immer der Ausgangspunkt der Maßstäblichkeit. Nicht nur im übertragenen, sondern auch ganz exakt im physischen Sinn. MU   Ja, das stimmt. Der Mensch war für mich immer der Maßstab. Auch dafür ist die Bibliothek ein gutes Beispiel.


Ich weiß nicht, ob man das sieht, aber für mich war es wichtig: In allen drei Dimensionen misst das Werk vier Mal meine damalige Größe – sieben Meter und sechs Zentimeter. Der Länge und Breite nach sieben mal sieben. Und nach oben fünf Meter dreißig, das ist drei Mal meine Größe. Mit dem Menschen, der auf der Glasplatte steht, dementsprechend ebenfalls vier Mal. Das sind die Dimensionen der leeren Bibliothek und vieler anderer Werke. MF   Vielleicht kommen wir jetzt doch zum Sandkorn zurück. Als die Idee auftauchte, es hier ganz alleine in den Raum zu stellen, und wir darüber sprachen, waren wir uns einig, dass es schön wäre, am Ende einige minimalistische Zeichnungen zu zeigen. Du hast also diese sechs wunderbaren Zeichnungen im hinteren Saal eigens mit Bezug auf diese nun auch schon sieben Jahre alte Arbeit gemacht. Sie greifen das Motiv des Sandkorns auf und überführen es in eine andere Dimension. Was war das Konzept dahinter, das ja nicht so unmittelbar politisch konnotiert ist wie das einzelne Korn? MU   Die Zeichnungen sind für mich Sterngruppen. In dem Großen Wagen sieht man vielleicht einen deutlichen Hinweis auf die richtige Richtung, den Norden. Und die Zeichnung mit nur zwei Sandkörnern: Das bezieht sich eigentlich nochmal auf ein Körpermaß – die Entfernung zwischen den beiden. Ich denke der Unterschied von einem und zweien ist sehr wichtig. Eins ist eins, die Unendlichkeit, die Grenze des Materials. Das Sandkorn, dieses kleinste Landstück, steht am Ende. Ein kleines Stück Erde, Land, Territorium … das Kleinste. Noch einen weiteren Schritt, dann gibt es nichts mehr, das ist die Leere. Diese Grenze interessiert mich, die Grenze zwischen dem Material, dem Stoff oder der Substanz und der Leere, dieser kritische Moment, der ästhetisch, aber auch ethisch ist. Wenn wir hören, was Anwar Sadat gesagt hat: Er wolle „bis zum letzten Sandkorn“ den Sinai zurückerobern, also die Erde durch Besatzung, Macht, Kraft zurückgewinnen – das ist eine Seite. Die andere Seite ist die Leere, vielleicht die Luft. Und was macht man mit diesem Material? Es kann sehr leicht zu Aggression und Macht führen, wenn wir an die Erde, an das Land denken. Die Leere, die Luft, das ist für mich nicht nur der Zwischenraum zwischen diesen beiden Körnern auf der Zeichnung, es ist auch der zwischen dem „Du“ und dem „Ich“ oder dem „Ich“ und dem „Du“. Es ist der Zwischenraum, der leere, freie Raum, den man braucht, um eine Lösung in Konfliktsituationen zu finden. Das ist der Raum zwischen diesen zwei Sandkörnern. Es ist aber auch die Luft, die man zum Reden braucht. So wie ich es jetzt mache: Ich bewege in einer wunderschönen bildhauerischen Aktion Luft durch den Mund – wie in jeder anderen Sprache, in jedem ihrer Klänge. Das ist die andere Seite. MF   Man braucht also das Sandkorn, um die Metapho-

rik der Luft zu verstehen? Oder ist es umgekehrt? MU   Ich habe in Kairo eine sehr interessante Erfahrung

gemacht, genauer gesagt in der Nähe von Kairo. 1984 war ich in Ägypten, und wie alle Touristen stand ich vor den Pyramiden von Gizeh. Riesenobjekte, wir kennen sie gut von all den Bildern, ich will fast sagen, Kitschbildern. Vor einer dieser Pyramiden zu stehen, das war für mich ein ganz besonderer Moment, dieses Riesenquadrat als

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Basis und darauf die Riesengranitsteine, Tonnen und noch mehr Tonnen. Aber am Ende könnte man sagen – und ich denke, physikalisch liege ich nicht ganz falsch –, am Ende ist es ein Sandkorn. Auch wenn es ein Teil von einem Stein ist, es ist diese Verbindung, die ich vorhin versucht habe zu beschreiben, zwischen dem festen Material und der Luft, auf Hebräisch Ruach: Ruach ist Wind, Atem, man kann sagen Seele. Das bringt mich in eine ganz andere Richtung: Dieses Wunder von Material und Seele kannte ich von Michelangelo. Er hat es geschafft. Und nun stehe ich vor der Pyramide und dieses Wunder passiert. Und es geht noch weiter. Wir sind mit dem Bus zurückgefahren nach Israel, und auf dem Weg befinden sich Dünen, unendliche Dünen, stundenlang nur Dünen. Und plötzlich sehe ich in der Entfernung eine perfekte Pyramide, wo es keine Pyramiden gibt – unmöglich. Für ein paar Sekunden war es eine perfekte Pyramide, dann hat sie sich ein bisschen gedreht und es war wieder eine Düne. Ich hab das nirgends gelesen oder gehört, aber ich denke, die Architekten der Pyramiden kannten das, was ich gesehen habe. Diese Erfahrung hat mich stark beeinflusst. Wie kann ein Material sich verwandeln in nichts, in einen Raum zwischen den Dingen und dann wieder zurück zum Sandkorn? MF   Atem, Seele, wie du sagst, die „bildhauerische Aktion“ der Sprache ist der offene Raum, in dem das fest Gefügte sich lösen kann? MU   Ja. Zum Beispiel die Zeichnung A, der Titel ist A. Wenn wir hinschauen, sind das fünf Sandkörner in der Form eines umgekehrten As. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Dieses Bild kenne ich von meinem Projekt für die neue Bibliothek in Jerusalem. Ich arbeite schon ein paar Jahre mit der Sprache, der hebräischen Sprache. Dieses umgekehrte A könnte der Kopf eines Tiers, eines Stiers sein – mit zwei Augen, zwei Hörnern und einem Mund. Diese Form tauchte vor etwa 3.500 Jahren im Sinai auf, in Serabit al-Chadim. Das war die erste Erfindung eines Alphabets überhaupt. Nach den früheren Bildersystemen, den Hieroglyphen und den vielen anderen Zeichen, war das der erste Buchstabe, der einer Form oder einem Symbol einen Klang gegeben hat. Diese erste Form kam von Aluf, arabisch für Ochse. Das war wahrscheinlich das wichtigste Tier in dieser Zeit. Und aus diesem Aluf wurde der erste Buchstabe Aleph – A – und das arabische Alif. Das zeigt diese Zeichnung mit einem sehr kleinen Hinweis. Man braucht dafür vielleicht ein bisschen Wissen, aber auch ohne dieses Wissen sind die Sterngruppen der Zeichnungen offen für jedes Bild oder jede Fantasie. Den Hintergrund bildet die Idee des Redens. Und das ist für mich vielleicht die wichtigste Verbindung zum Sandkorn oder vielleicht noch mehr zu dessen Titel. Ich denke, die große Inspiration von Anwar Sadat war es, in die Knesset zu kommen, was Moshe so schön beschrieben hat. Es ist bekannt aus den Geschichtsbüchern, dass er vor der Knesset geredet hat – eine wunderschöne Rede. Mit dieser Rede hat er den Frieden mit Begin erreicht, wer hätte das geahnt? Einen Frieden, der bis heute mehr oder weniger hält. Dieses „weniger“, das große Problem von Palästina, von Jerusalem – das ist noch nicht gelöst. Wenn man so will, braucht es vielleicht ein bisschen guten Willen, um all diese Hinweise schon in diesem A zu finden. Die Bedeutung des Redens – das hört man oft – ist vielleicht auch ein Klischee oder banal. Aber ich denke, das Reden ist existenziell.

Gehen wir zurück nach Ägypten: Die Haggada haben wir erst vor ein paar Tagen gelesen, dort steht alles geschrieben: Pessach, Ostern, die Verbindungen, die Befreiung der israelitischen Sklaven aus Ägypten – das ist eine bekannte, universale Geschichte. Und ich denke, die Qualität der Rede von Anwar Sadat findet darin ein Vorbild. Ich kann es auch so sagen: Seit 1967 sind 50 Jahre vergangen. Moses und sein Volk im Sinai brauchten etwa 40 Jahre – mit einer interessanten Zwischenstation auf einem Berg –, um reden zu lernen. Hier dauert es schon 50 Jahre, und das große Problem für mich ist, dass wir in Israel noch immer nicht gelernt haben zu reden. Das alles steckt in diesem umgekehrten A und vielleicht auch in anderen Zeichnungen wie dem Kopf mit den sieben Löchern und was diese verbindet. Wir haben Zahlen, wir haben Buchstaben. Was diese Gruppe von sechs Zeichnungen verbindet, ist dieser schöpferische Impuls. Nehmen wir zum Beispiel die Buchstaben: 22 hebräische, 23 lateinische oder 28 arabische Zeichen. Mit ihnen kann man in jeder Sprache die ganze Welt fassen, beschreiben und noch vieles mehr. Den ganzen Kosmos mit 22, 23, 28 Zeichen, mit Zahlen, mit den Sinnen … Das geschieht durch kreatives Denken. Und dieses Denken ist das genaue Gegenteil von Macht und Aggression. Von Macht und Aggression meinen wir, sie seien das beste Mittel, um etwas zu ändern oder zu lösen. Es hört sich logisch an: Wir machen das jetzt, wir wollen es und ziehen es durch, ohne viel nachzudenken. Das ist die eine Denkweise. Der Gegensatz dazu ist genau dieser Impuls, den die Gruppe von Zeichnungen trägt. Ich meine, das ist schöpferisch – ein ganz anderer Weg. Dieser Weg braucht erst einmal Geduld, besonders in komplizierten Konflikten und Situationen. Und dann kommen die Ideen … Oslo ist ein gutes Beispiel, Sadat ist ein gutes Beispiel. Das Mittel, um etwas zu erreichen, ist das Reden, die Luft, nicht die Materie. Und ich denke, die Geschichte zeigt, dass alle Versuche, Probleme mit Macht oder Aggression zu lösen, nicht von langer Dauer sind. Zwölf Jahre im Falle Deutschlands. Man kommt nicht auf sehr viele Jahre; es zeigt sich, dass es einfach nicht funktioniert. Der andere Weg hat viel mehr Chancen, und ich hoffe, dass all diese komplexen Überlegungen irgendwo in diesem einen Sandkorn stecken. MICHA ULLMAN, geboren 1939 in Tel Aviv, lebt und arbeitet in Ramat Hasharon, Israel. Er studierte an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem und an der Central School for Arts and Crafts in London. Zwischen 1970 und 1989 nahm er Lehrtätigkeiten an der Bezalel Academy sowie an der Kunstakademie Düsseldorf und der Universität Haifa wahr; es folgte eine Professur für Skulptur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart von 1991
bis 2005. Seit 1997 ist er Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Bildende Kunst. MATTHIAS FLÜGGE, geboren 1952 in Demmin, ist Kunsthistoriker und Kurator. Ab 1977 war er Redakteur der Zeitschrift Bildende Kunst, von 1990 bis 1991 Chefredakteur. Von 1991 bis 2000 war er Chefredakteur von neue bildende kunst. Seit 1995 ist er Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Bildende Kunst, von 1997 bis 2006 war er Vizepräsident der Akademie der Künste. Seit 2012 ist er Rektor der Hochschule für Bildende Künste Dresden.

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Sibylle Bergemann, Aus der Serie Das Denkmal, 1975–1986, in der die Fotografin die Entstehung und Montage des Marx-Engels-Denkmals von Ludwig Engelhardt dokumentierte


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DER MEHRWERT

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VON MARX


WARUM ER IMMER AKTUELLER WIRD Mathias Greffrath

Ich will es in zwei Schritten beantworten. Warum Marx nicht mehr „aktuell“ ist, wofür wir ihn gebrauchen können und wofür nicht.

Marx ist nicht „aktuell“, sondern sein Denken ist gesicherter Bestand in vielen Wissenschaften. Dass menschliches Denken durch sozia­le Strukturen geprägt ist, dass moralische Positionen von Interessen bestimmt werden, dass die geistigen Produkte der Menschen, selbst die subtilsten, aus ihrer materiellen Praxis, aus ihrer Art zu arbeiten herauswachsen, dass es Klassen gibt: solcherlei Grundannahmen des Historischen Materialismus sind heute Allgemeinwissen – bis hin zu Linguistik, zu Untersuchungen über die Genese der Mathematik oder der Philosophie. Das ist ja gemeinhin der schönste Erfolg einer Theorie, wenn ihre Kategorien zum allgemeinen Bewusstsein werden. Und wenn wir von Marx’ Aktualität sprechen, dann meinen wir auch nicht seine kategorialen Beiträge zur ökonomischen Theorie – um Professor Sinn, den liberalen Chefkommentator der deutschen Medien zu zitieren –, zur Krisentheorie, zur Wachstumstheorie, zum Theorem der schöpferischen Zerstörung, zum Begriff des Nationaleinkommens oder zur Erkenntnis „säkularer Stagnation“ von entwickelten Volkswirtschaften (wenn man ihm das nicht zuschreibt, dann wegen seines Verstoßes gegen das Dogma; Darwin hatte auch lange, und in manchen Gegenden, schlechte Karten gegen das Dogma der Schöpfungsgeschichte; bei Marx ist es das Dogma vom Privateigentum). Wenn wir also nach der Aktualität von Marx fragen, dann meinen wir im Allgemeinen das Kommunistische Manifest und Marx’ Hauptwerk, Das Kapital. Warum sind die beiden Schriften noch aktuell? Erstens, weil sie unsere Gegenwart vorausgesagt haben. Marx, das ist der Prophet, der Recht bekommt. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sind die Gesellschaften, in denen eine kapitalistische Produktionsweise herrscht, immer stärker dem Zukunftsbild ähnlich geworden, das Marx und Engels im Kommunistischen Manifest gezeichnet haben. Die Bourgeoisie (um das alte Wort zu gebrauchen) hat „durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit ist ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander getreten. Und wie in der materiellen,

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so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen sind Gemeingut geworden“ – und durch Internet und Smartphone auch die Konsumgewohnheiten und Lebensweisen sowie (das bekommen wir gerade zu spüren) die Ansprüche an ein gutes Leben. Zweitens: Das Kapital ist aktuell, weil es nicht nur die Globalisierung und die Entstehung weltumspannender Monopole antizipiert, sondern auch die Veränderung des gesellschaftlichen Gewebes. Marx nennt das Kapital einen „Vampyr“ – und das ist mehr als eine Metapher. Das Kapital frisst sich gleichsam in die Welt der Dinge und tief in die Lebenswelt der Menschen hinein. In der Welt des Kapitals sind Menschen flexible Ressourcen von Arbeitskraft, Universitäten Produktionsstätten profitabler Qualifikationen, Natio­ nen Wirtschafts-„Standorte“, Landschaften Rohstoff für Tourismus, kulturelle Traditionen content von Bewusstseinsindustrien, Pflanzen das Genreservoir neuer Industrien und Familien Aufzuchtstätten von „Humankapital“ – einst unübertroffen formuliert vom christlichen Demokraten Friedrich Merz: „Die Kinder von heute sind die Mitarbeiter von morgen und die Kunden von übermorgen.“ Kurz: Für das Kapital kommen die Welt und ihr Reichtum nur infrage, soweit sie den abstrakten Wert mehren. Only what counts, counts. Und wen das alles traurig macht, selbst der wird noch zum Wachstumsfaktor. Depression ist die zweithäufigste „Krankheit“ – und ein neues, lukratives Geschäftsfeld. In den Frühschriften und im Kapital ist vorgedacht, was die Kulturkritik und die Kritische Theo­ rie des 20. Jahrhunderts thematisieren werden. Und von Marx kann man lernen, warum diese Formen der Kritik nichts verändern. Drittens ist Marx aktuell, weil er die Grenzen, besser: die Schranken der kapitalistischen Produktion formuliert. Die Dynamik des entwickelten Kapitalismus vermehrt den Wohlstand ins vordem Unvorstellbare, aber – so schreibt er im Kapital – „zugleich untergräbt sie die Springquellen alles Reichtums: die Erde und den Arbeiter“. Die Zerstörung der Erde: Wir reden heute vom Anthropozän, einer neuen geologischen Epoche, in der die Gattung Mensch zur stärksten erdverändernden Gewalt geworden ist. Das gilt für die Atmosphäre, die wir aufheizen; für die Meere, in denen Plastikmüll und Algen neuartige Symbiosen eingehen; das gilt für die Grundwasservorräte, die Fruchtbarkeit der Böden. Am Ende des Kapitalismus steht das Wüste Land. Anthropozän? Der richtige Name wäre Kapitalozän, denn nicht die Technik als solche, sondern die unbeschränkte Mehrwertproduktion, sprich Wachstumsdynamik überfordert die Tragfähigkeit des Planeten. Wo der point of no return ist, wissen wir nicht – Marx gibt keine Grenzen vor, und die sind in der Tat flexibel. Das Kapital ist keine Theorie mit einem Datum; in diesem Buch geht es um „das Kapital im Allgemeinen“. Marx blickte weit voraus, aber seine Hilfestellung zur Lösung der Probleme, die der Kapitalismus geschaffen hat, ist begrenzt. Sein Rezept fürs Anthropozän ist ebenso richtig wie banal und allgemein: „den Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen [...], ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn“.

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Marx, das ist der Prophet, der Recht bekommt.

„Rationell regeln“: Heute kennen wir das Aufgabenbuch für das Anthropozän – es ist erschreckend umfassend. Um nichts weniger geht es als um das Management der Atmosphäre und eine Art globaler Verwaltung des natürlichen und moralischen Menschheitserbes. Das wäre nichts Geringeres als der Übergang in eine neue, postkapitalistische Produktionsweise. Wie das geschehen soll – up to us. Allerdings spricht Marx das Tabu aus, das heute allenfalls noch von Linksradikalen benannt wird und ohne dessen Brechung nichts gelingen wird – die Eigentumsfrage: „Vom Standpunkt einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privat­ eigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so unmöglich erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem anderen Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ Soviel zur Zerstörung der Erde. Und die andere Springquelle, die Marx von Zerstörung bedroht sieht, der Arbeiter? Hier sehe ich – jedenfalls in unseren Breiten – die größte Aktualität, im Sinne eines notwendigen, aber hilfreichen Wandels in der politischen Rhetorik. Die Geschichte der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie – so hatte es der junge Marx formuliert: Das Werkzeug produziert auch die Menschen und die sozialen Verhältnisse. So hat der industrielle Kapitalismus eine anthropologische Mutation erzeugt. Dampfmaschine und Elektrizität ersetzen die Muskeln, Automaten treten an die Stelle von Auge, Tastsinn und Erfahrungswissen. Der Fortschritt befreit von Körper und Seele tötender Plackerei, aber das hat seinen anthropologischen Preis: Die Welt, so Orwell, ist eine geworden, die „sicher ist für kleine dicke Menschen“. Das ginge ja noch, aber der soziale Preis lautet: Menschen, die ersetzbar sind, sind dirigierbarer, beherrschbarer, formbarer. Und nun, im 21. Jahrhundert, treiben Informationstechno­logie und Internet diesen Prozess in die nächste Runde. Nicht nur die qualifizierte Handarbeit wird ersetzbar, sondern Computer stellen medizinische Diagnosen oder organisieren komplexe logistische Abläufe. Algorithmen ersetzen das Ermessen von Verwaltungs­ angestellten, schreiben Anwaltsschriftsätze oder Sportreportagen. Der große Angstmacher von heute, die Industrie 4.0, signalisiert den Endpunkt dieser Entwicklung. Aber für Marx war die Automation ein begeisterndes Werkzeug der Befreiung, der Hebel seiner größten und stärksten Utopie. Am Ende der technischen Entwicklung werde es möglich werden – schreibt er in den Grundrissen der politischen Ökonomie –, dass

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die Arbeiter gleichsam neben den Produktionsapparat treten, zu „Wächtern und Regulatoren“ eines Produktionsapparates werden, dem sie nun nicht mehr unterworfen sind, sondern den sie – aufgrund ihrer Sozialisation und „polytechnischen“ Bildung – verstehen und beherrschen. Ich möchte die Stelle zitieren: Es ist nicht mehr „die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern […] sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort: die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint“. Und weiter: „Die freie Entwicklung der Individualitäten, […] die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht“ – eine Bildung, die wieder zurückwirkt auf die Produktion und sie humanisiert. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen ist diese Utopie freilich nicht zu verwirklichen, kommt man ihr nicht einmal näher. Aber mit Marx’ Kategorien, mit seiner Historisierung des Produktionsbegriffes – und das macht ihn auch politisch wieder interessant – kann, nein muss man den Prozess der Automatisierung als Enteignung begreifen.

Wo die Reise unter der Regie des Kapitals hingeht, ist in den Dystopien des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben worden. So wie zu Beginn des neuzeitlichen Kapitalismus die Wälder, Weiden und Wege, die als Gemeinbesitz von allen genutzt wurden, von den Grundeigentumskapitalisten eingezäunt und privatisiert wurden, zieht das informationstechnologische Kapital heute Copyright-Zäune um den Gemeinbesitz an Produktionswissen und anwendbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die ungeheuren Renditen von Microsoft, Amazon, Google und Facebook entstehen ja weniger dadurch, dass sie der Welt eine neue Dimension hinzufügen, als dass ihre Algorithmen das bestehende System von Produktion, Zirkulation und Kommunikation rationeller, schneller und billiger machen und die Unternehmen aus dieser Rationalisierung eine permanente Monopolrente beziehen. Das Internet beschleunigt den Umschlag der Waren; als universale Kommunikationsmaschine horcht es Kunden aus und stupst Bedürfnisse an; gleichzeitig ermöglicht es neue Formen der Ausbeutung wie die Crowdwork, in der isolierte Individuen an ihren Rechnern Teilarbeiten verrichten, ohne Arbeitszeitbegrenzung und Gewerkschaft. All diese Prozesse als großangelegte Enteignung begreifen zu können – darin liegt zurzeit die provokanteste politische Aktualität von Marx. Diese Erkenntnis, die den Widerstand anstachelt


und legitimiert, ist inzwischen bis in die Leitartikel der Financial fast menschenleer. Sie wollen eine Regelung der Zuwanderung. Times vorgedrungen, wo Martin Wolf schreibt: „Wer schafft Wert? […] Die Stadtlandschaften […] umgaben sich […] mit einem System Wer eignet sich Wert an? Wer zerstört Wert? Wenn wir diejenigen, von Verteidigungsanlagen.“ (Döblin datiert das auf das Jahr 2200). die das zweite und dritte tun, fälschlicherweise für die ersten halEine Eindämmung des globalen Kapitalismus heute erfordert ten – oder umgekehrt –, dann werden verarmte und unglückliche die Entwicklung von Institutionen, die von einem – und hier kommt Gesellschaften, in denen die Plünderer herrschen, das Resultat das schöne Wort aus Marx’ philosophischen Frühschriften ins sein.“ Plünderer, das seien die Finanzinvestoren, die an den Immo- Spiel – Gattungsbewusstsein getragen sind. „Wir reklamieren den bilienblasen verdienen, durch die kein Wert geschaffen wird; Plün- Inhalt der Geschichte“, hatte der junge Friedrich Engels geschriederer die Asset-Spekulanten der Shareholder-Ökonomie; Plünde- ben. Und die Marx’sche Theorie, richtiger: unsere gesellschaft­liche rer die Monopolunternehmen der Pharmabranche; Plünderer die Praxis gibt uns auf zu bestimmen, wen dieses „Wir“ einschließt Ausbeuter unserer Informationen; Plünderer die Patentierer von und wen es ausschließt. Als dieses „Wir“ die Industriearbeiterschaft öffentlich finanziertem Wissen. Europas umfasste, was das noch eine fassbare Größe. Die WeltMarx hat es also in die Redaktion der Financial Times geschafft. revolution sowjetischen Angedenkens schon weniger. Und heute Bleibt noch die Aufgabe, eine politische Form und einen Träger für ist der „globale Gesamtarbeiter“ erst recht keine handliche Katediese Einsichten zu schaffen. gorie. Und schon gar kein politisches Subjekt. Da lautet dann das alte Lamento: Es gibt keine Arbeiterklasse Marx’ Aktualität: Er formuliert eine Möglichkeit. Im Vorwort der mehr. Und das galt als Widerlegung von Marx. Aber Reihenhaus, Kritik der politischen Ökonomie steht die berühmte Formulierung: Markenkonfektion, BMW und Kinder auf dem Gymnasium sind kein „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle ProduktivMerkmal der Entproletarisierung. Proletarier ist man nicht aufgrund kräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere von kulturellen Merkmalen, sondern einzig und allein durch ein öko- Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die matenomisches Verhältnis: den Ausschluss von der Verfügungsgewalt riellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellüber Produktionsmittel. So gesehen, ist das Proletariat ins Unge- schaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die heuerliche angewachsen. In der globalisierten Ökonomie ist es glo- Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer bal geworden – aber nicht einheitlich und nicht einig. betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entDer IG-Metall-Gewerkschafter kann seinen Lohn heute noch springt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhalten, weil sein Kollege bei VW in Ungarn für einen Hungerlohn handen oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.“ arbeitet, und gleichzeitig muss er deshalb um diesen Lohn fürchDie materiellen Bedingungen sind da – und sicher nicht zuletzt ten. Migranten, das sind die Streikbrecher des Weltproletariats, die das Internet. Ob die Lösungskompetenz der „Menschheit“ ausAngehörigen der Reservearmee, die, nachdem der Norden den reicht, steht in Frage. Pierre Bourdieu pflegte zu sagen: „Sie fraWeltmarkt für Geld und Waren geschaffen hat, nun im Gegenzug gen nach dem politischen Subjekt? Nun ja, das sind diejenigen, die den Arbeitsmarkt globalisieren. es machen …“ Marx’ Aktualität heute: Sie besteht darin, dass seine Theorie die Situation, in der sich die Menschengattung befindet, illusionslos beschreibt und gleichzeitig aktiviert. Denn es gibt keinen Mechanismus, keinen Automatismus, der ein gutes Ende verspricht. Marx’ Blick auf das kapitalistische Verhängnis ist eine ceteris-paribusPrognose. Wenn ihr euch nicht organisiert, so sagte er es den Arbeitern in seinen Vorträgen, wenn ihr euch als „Faktor Arbeit“ behandeln lasst, dann werdet ihr zu einer „unterschiedslosen Masse armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft“. Wo die Reise unter der Regie des Kapitals hingeht, ist in den Dystopien des 20. Jahrhunderts beschrieben worden. Angefangen mit Alfred Döblins Berge, Meere und Giganten von 1924, an dessen Anfang die Analyse von Marx poetisch überhöht wird: „Die MATHIAS GREFFRATH, geboren 1945, hat Soziologie und Psychologie studiert. Er war Redakteur beim Rundfunk, der Zeit alten Staaten bestanden nur noch dem Namen nach. […] Dann und der Wochenpost. Seit 20 Jahren schreibt er als freier Autor zermorschten die politischen Gewalten […] Man bedurfte nicht Artikel und Hörspiele. In den letzten Jahren hat er sich neben vieler Menschen für die Apparate […] die politischen Regierungen, ökonomischen Fragen vorwiegend mit der Geschichte der die nur hemmende und dekorative Rudimente waren, [hatten] den Aufklärung, der Zukunft der Arbeit und dem Menschenbild der Gehirnforschung beschäftigt. Anlässlich des 150. Geburtstags Industriekörpern Platz gemacht. Verteidigungsanlagen gegen die des Kapitals von Karl Marx gab er 2017 den Sammelband Peripherie wurden gebaut, eine Regelung der Zuwanderung ins RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert heraus. Werk gesetzt. […] Die Beherrscher der Apparate wußten nicht mehr, Den hier abgedruckten Vortrag hielt er bei der 51. Mitgliederwie sie den Schein der Arbeit aufrechterhalten sollten. […] Die versammlung der Akademie der Künste am 5. Mai 2018, dem 200. Geburtstag von Karl Marx. Mehrzahl (der Industrieherren) kämmte ihre gewaltigen Anlagen

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POGROM

1938

Michael Ruetz

Brand der Siegener Synagoge, 10. November 1938

WEGE NACH OŚWIĘCIM.  Der Grund für das Buch Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge ist ein Ereignis des Jahres 1938 in Deutschland, ausschließlich in Deutschland. Das war das Pogrom im Herbst 1938. Es war ein gut organisierter, kontrollierter Bürgerkrieg, ein Landfriedensbruch im ganzen Land. Das Pogrom fand in etwa 2.000 Ortschaften statt, also überall in Deutschland, auch im kleinsten Kaff. Beauftragt und begangen von den staatlichen Autoritäten, die dergleichen zu verhindern hätten.

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„Pogrom“ ist russisch. In Westeuropa ist es erstmals in der London Times vom 17. März 1882 nachgewiesen. Das OED definiert es als devastation, destruction und begrenzt es geografisch: „An organized massacre in Russia for the destruction or annihilation of any body or class: orig. and esp. applied to those directed against the Jews.“ In Russland fanden Pogrome nahezu regelmäßig statt, vermutlich je nach Geldbedarf. Danach auch in der Sowjetunion: Die von Stalin verfügte Kulakenverfolgung im Jahr 1933 war das größte Pogrom der Weltgeschichte, fünf Jahre vor Hitlers Pogrom. In West- und Südeuropa waren Pogrome nicht die Regel. Die Auftraggeber des deutschen Pogroms garnierten es mit der verniedlichenden Sprachregelung „Kristallnacht“. Mit dem Wort wurde suggeriert: Es ist nicht wirklich was geschehen … nur ein paar Fenster sind zu Bruch gegangen. Eine Bagatelle also. Aber: Es ging unendlich viel mehr zu Bruch als Glas. Das deutsche Pogrom war ein Großmanöver, wenn auch nicht eins der Militärs. Zivilisten statt Soldaten. Ein Stimmungstest, ein Testlauf der Mordmaschinerie. Er gelang überraschend gut. Hätten die Deutschen sich 1938 gegen das gewehrt, was den Juden – immerhin ihren Landsleuten und Mitbürgern – angetan wurde, dann wäre es vielleicht zur Shoah nicht gekommen. Es begann mit verbrannten Synagogen. Es endete mit Öfen und verbrannten Menschen. Das Pogrom von 1938 ebnete den Weg nach Auschwitz und zum Holocaust. Für den Holocaust war das Pogrom von 1938 die Initialzündung. Von da an war das Große Grauen akzeptabel. „The holocaust was the inevitable end, the logical conclusion of the pogroms, the Mosley marches, the hatred“, schreibt Brian Glanville 1962. Mein erster Besuch in Auschwitz im Jahr 1966 dauerte zwei Wochen. Die anderen Lager hatte ich zuvor aufgesucht. Ich wohnte in einer Unterkunft der SS, einem stabilen Klinkerbau, noch immer komfortabel. Befremdlicherweise hieß der Bau nun „Hotel Auschwitz“. Für mich war alles im Lager frei zugänglich. Ich wurde nicht als „Auslandspresse“ angesehen, gegen mich hatte man keine Vorbehalte. Das nutzte ich, ich durfte Akten einsehen, alle Räume betreten, mich gänzlich frei bewegen. Das Lager lag auf freiem Feld, es verfiel zusehends. Man wollte es verkommen lassen und vergessen machen. Ein älterer Herr aus Frankreich, vormals Häftling, führte mich durchs „Kanada“ genannte Effektenlager der Nazi-Schergen: Taschen, Haare, Zähne, Brillen, Koffer, Bürsten, Kämme, Schuhe, Wäsche … bergeweise. Hätte ich es denn gewollt und es auch über mich gebracht: Ich hätte alles anfassen dürfen. Dies zu tun wäre ein Sakrileg gewesen. Die Aufkleber auf den Koffern erzählten mir besonders viel. Sie nannten damals populäre Urlaubsziele in Europa: Biarritz, Cannes, Rimini, Deauville … Die Aufkleber zeigten Strände, Sonnenschirme, ballspielende Kinder. Dort war man einst gewesen. Hier war man verendet. So ist also Auschwitz – als das 1938 noch nicht formulierte Endziel des Pogroms – auch ein Grund für dieses Buch. Das Wort Auschwitz steht als pars pro toto für eine ganze Begriffswelt sowie für die anderen Lager, für Treblinka und Majdanek, für Chelmno und Groß Rosen. Für das, was Timothy Snyder Bloodland nennt, für den nicht vorstellbaren Mord an 15 Millionen Menschen zwischen Berlin und Moskau. Für die Vernichtung des Judentums und der galizischen Kultur. Für die Mordanstalten, die wie Turbinen effizient für Durchsatz sorgten.

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Auschwitz: der Tiefpunkt der Geschichte, der Inbegriff des Bösen. Eiskalt, höllenheiß. Zuweilen ist man versucht zu sagen: Alle Wege führen nach Auschwitz. Bis 1945 waren es Eichmanns Züge. Heute sind es die Pilgerzüge des Tourismus, auf ihre Weise gnadenlos und inert. Auschwitz heute ist ein verlockendes Urlaubsziel. Auschwitz hat ja wirklich viel zu bieten. 51 Hotels und andere Unterkünfte, gepflegte Wanderwege, Swimmingpools und Mietfahrräder. War in deutschen Burgen der Besuch der Folterkammer der Höhepunkt, so ist in Oświęcim die „Folterkammer“ ein KZ. Man kann und soll rechtzeitig buchen, man erhält einen Slot, man wird geführt, man darf sich wohlig gruseln … „mein schönstes Ferienerlebnis“. Die Anzahl der Besucher übertrifft vermutlich längst die Zahl der Ermordeten. DER LANGE MARSCH NACH 1968  1955 sah ich in der Maison de France Alain Resnais’ Film Nuit et Brouillard. Er zeigt die Häftlinge von Auschwitz, wie sie englische Kriegsberichter in Bergen-Belsen vorfanden. Ein zutiefst verstörender Film. Entsetzliche Bilder. Auf mich wirkten sie geradezu vernichtend. Er überstieg meine Fassungskraft. Ich hatte mir zu viel zugemutet. Im Alter von fünfzehn kann keiner das maßstablose Grauen seelisch verarbeiten. Kenntnis des Geschehens von Auschwitz war damals kaum verbreitet, man sprach nicht davon, nicht privat und öffentlich schon gar nicht. Auschwitz war tabu. Meine Mutter allerdings sprach gar nicht selten von Auschwitz – aber so, als stünde Auschwitz uns erst noch bevor. Das Verhängnis hing über uns wie eine schwarze Wolke: Eines Tages würde sie über uns kommen und uns restlos verbrennen. Nach Resnais’ Film vermutete ich in jedem erwachsenen Deutschen einen Täter. Einen derer, die in Auschwitz an der Rampe standen, die den halb Vernichteten die letzte Habe nahmen und sie zur Entlausung führten. Jeder Deutsche konnte einer dieser unbestraften Massenmörder sein und darauf warten, erneut loszuschlagen. Letztlich führte dies zu dem Eindruck, dass ich in einem Land voll unbestrafter Schwerverbrecher aufwuchs. Was man peu à peu erfuhr, schien dies durchaus zu bestätigen. Ist man jung, genügt der Eindruck. Man fragt nicht nach Hintergründen. Mein Eindruck war, die Mörder liefen alle unbehelligt umher. Wolfgang Staudte drehte damals seinen Film Die Mörder sind unter uns. Das Leben der Mörder, die er meinte: es war ausgesprochen komfortabel. Gutes Leben, gute Versorgung, hohe Ämter und Pensionen. Ungeniert trugen sie ihr völlig ungetrübtes Gewissen zur Schau. Sie redeten sich stets heraus. Bei der Justiz stießen sie auf ungemein viel Verständnis und Entgegenkommen. Man bot ihnen die Ausrede des „Befehlsnotstands“. Demzufolge waren die Täter in einer Notlage, nicht etwa ihre Opfer. Für die Opfer hatten deutsche Richter kein Verständnis. Was sie berichteten, galt als übertrieben, unbeweisbar oder erfunden. Das überraschte nicht: Die deutsche Nachkriegsjustiz bestand aus den Rechtsbrechern des „Dritten Reichs“. Die Täter wurden fast nie verurteilt. Wollte man die Gesamtdauer der dann doch verhängten Haftstrafen durch die Zahl der Angeklagten teilen: Es wären allenfalls Minuten. Pro Mord zwei Minuten Haft. Die ohnehin halbherzigen Versuche zur Bestrafung gingen in zu vielen Fällen fehl. Meine Generation erfüllte dies mit tiefer Bitterkeit und Wut. Es belegte, dass man

im Westen – nicht aber in der DDR – Gnade vor Recht ergehen ließ. Oder anders: dass man klammheimlich einverstanden war. In den Sechzigern brachen endgültig die Dämme, die die Tätergeneration zu ihrem Schutz errichtet hatte. Dies und nichts anderes initiierte die Ereignisse der Sechziger, die man als „68“ etikettiert. Ihr Auslöser war der Zorn der frühen Nachkriegsjahre. Der Höhepunkt von 1968 war die bravouröse Mannes­ tat von Beate Klarsfeld. Die mutige Beate tat schlicht und einfach das, wozu den Kindern der Täter immer noch der Mut fehlte: dem Repräsentanten der Deutschen (nicht dem Herrn K.) in effigie eine reinzuhauen. Ganz einfach, und doch so schwierig. Und so wirksam … ERINNERUNG: AN WAS, WOZU  Mein Anlass für dieses Buch liegt in der aktuellen Gegenwart, in Beobachtungen auf der Jubelfeier zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer. Feierlichst am Brandenburger Tor begangen, unter Lichtdomen à la Speer. Die Eventmanager ließen sich was einfallen. Sie soufflierten einen Jubelschrei: „Wir sind das glücklichste Volk der Erde!“ Alle brüllten. Ich war vermutlich nicht der einzige, dem die reziproke Analogie zu denken gab. Überglücklich? Jetzt vielleicht. Doch hat eben dieses Volk nicht ein anderes zum allerunglücklichsten Volk der Erde gemacht? … Wie anders war das alles an dem Tag in Charlottenburg: Auf allen Stolpersteinen brannten still die Kerzen. Man hielt betreten inne, man verstummte. Das war die Macht der leisen Töne. Schweigen taten auch die deutschen Massenmedien. Aber anders: Sie verschwiegen, dass der Tag des Mauerfalls auch der Tag des Pogroms von 1938 war. Wieso muss man sich, bald ein Jahrhundert später, noch immer mit jenen scheußlichen Verbrechen befassen? Es gibt viele Antworten, ich gebe eine: Ich wohne in Charlottenburg, dort bin ich geboren. In der Pestalozzistraße, acht Minuten von uns entfernt, befindet sich die Synagoge. Man entdeckt sie, wenn man mit den Blicken nach ihr sucht. 1938 wurde auch sie angezündet. Die Feuerwehr, beim Pogrom nur allzu oft der fachmännische Brandstifter: Hier tat sie einmal, was sie zu tun hat – sie löschte dieses Feuer. Nicht etwa, um die Synagoge, sondern umliegende Häuser zu schützen. 1947 wieder eingeweiht, wird die Synagoge heute von Polizei, von Stacheldraht und einer Mauer geschützt. Hier ist die Mauer nicht gefallen. Dieser Anblick lässt mich daran denken, dass in Deutschland etwas immer noch nicht stimmt. Leider kann man immer noch nicht damit rechnen, dass sich die Gründe für das Gedenken mit dem wachsenden Zeitabstand vermindern oder gar verschwinden. Nein: Sie vermehren sich derzeit. Trotz überzeugender Beweise gibt es weiter die Behauptung einer „Auschwitzlüge“. Eine „Pogromlüge“ wird nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr möglich sein. Die schwarze Wolke schwebt noch heute über uns. MICHAEL RUETZ, Fotograf, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Film- und Medienkunst. Der Band Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge, aus dem dieser Vorabdruck stammt, erscheint im Herbst im Nimbus Verlag in Kooperation mit der Akademie der Künste, herausgegeben von Michael Ruetz und Astrid Köppe. Er wird am 9. November 2018 in einer Veranstaltung zum Gedenken an das Pogrom öffentlich vorgestellt. Mit freundlicher Unterstützung der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.

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CARTE BLANCHE

FRANCIS KÉRÉ

DAS OPERNDORF

BEYOND THE VILLAGE OPÉRA FRANCIS KÉRÉ ERZÄHLT Wenn ich über das Operndorf nachdenke, dann fallen mir folgende Stimmen ein:

„Francis, was du in Gando aufbaust, ist, was Joseph Beuys als soziale Plastik bezeichnet hat! Du musst für mich was Einmaliges schaffen! Fast wie in deinem Dorf Gando soll es von den Menschen selbst aufgebaut werden! Es soll begeistern, inspirieren und die Sinne stimulieren!“

„Lieber Francis, es ist absolut dringend, du musst morgen früh nach Hannover fahren und klären, wie das mit der Installation des Operndorf-Modells in den Herrenhäuser Gärten läuft!“

Christoph Schlingensief

„Mein Lieber, ich bin gerade am Flughafen in Niamey zwischengelandet auf der Strecke nach Ouagadougou, um dort die Ankunft von Köhler vorzubereiten. Also, es ist für mich unmöglich, morgen früh in Hannover zu sein. Der Botschafter ist wegen des Besuchs seit Tagen sehr panisch und möchte mit mir morgen das ganze Protokoll durchgehen!“  Francis Kéré

„Lieber Herr Architekt, ich bin Künstler und habe entdeckt, dass Sie für Christoph Schlingensiefs Projekt eine Spirale als Form gezeichnet haben. Ich warne Sie: Wenn Sie die Spirale in die falsche Richtung zeichnen, wird sie die ganze Energie der Welt aufsaugen! Es wäre das Ende!“  Brief eines besorgten Künstlers

„Herr Kéré, Sie müssen sofort die Zusammenarbeit beenden, Herr Schlingensief ist schwer krank und wird sterben, und er nimmt Sie mit, wenn Sie nicht aufhören!“

„Francis, mein Lieber, vor dieser Person musst du dich in Acht nehmen! Das ist eine Frau, die Künstler nur ausnimmt und danach wie ein Wrack wegwirft!“

„Nein, nein, ich bin kein Entwicklungshelfer!“

Diese Person suchte mich im Büro auf und gab an,

Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief

zum betreuenden Ärzteteam zu gehören.

„Schlingensief baut Oper im Busch!“ „Schlingensiefs Architekt kommt aus Afrika! Gemeinsam wollen sie in der Savanne eine Oper bauen!“ „Was Afrika braucht, sind Schulen und nicht solche Spinnereien!“

„Herr Kéré, Sie mit Ihrer Bescheidenheit! Warum arbeiten Sie mit diesem Monster? Er will nur Schande über Deutschland bringen!“ „Lieber Francis, es ist sehr wichtig! Du musst unbedingt mit diesem Filmemacher sprechen! Er ist sehr, sehr hell im Kopf!“  Christoph Schlingensief

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Christoph Schlingensief

„Guten Morgen, ich bin ein Nachbar und Kollege. Ich bin seit über 50 Jahren Architekt und wollte einfach reinschauen und sehen, ob es den Herrn Kéré wirklich gibt oder doch nur eine weitere Inszenierung von Herrn Schlingensief ist.“  Älterer Herr, der plötzlich in meinem Büro stand

„Ihr Freund interessiert sich gar nicht für andere Menschen! Er will nur sich selbst darstellen! Er möchte ein zweites Bayreuth bauen und sucht einen Grünen Hügel in der Savanne! Und Sie helfen ihm, diesen Schwachsinn zu verwirklichen! Und darauf sind Sie stolz?!“

„Immer wieder, wenn Naseweise sich einmischen, verstören sie mein gutes Verhältnis zu Francis. Das will ich nicht mehr!“  Christoph Schlingensief

Entwicklungshelfer und andere

oben: Skizze des Dorfes rechts: Konzept-Modell von Christoph Schlingensief und Thomas Goerge


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links oben: Außenansicht der Schule links unten: Klassenzimmer oben: Masterplan rechts oben: Modell des Operndorfs, rechts unten: 3D-Visualisierung

DAS OPERNDORF Christoph erzählt mir sein Schlüsselerlebnis: „Bei meinem letzten Besuch in Kamerun ging es mir sehr schlecht. Ich konnte kaum schlafen. Da wurde ich von jemandem abgeholt und zu einem Ort geführt! Es war ein Restaurant. Wir liefen über Umwege in die schwarze Nacht! Es war extrem dunkel, nichts zu sehen! Wir gingen hoch und runter, links und rechts, bis wir plötzlich ankamen. Das Restaurant selbst war ein sehr einfacher Ort, aber die Wegführung, die Dunkelheit verliehen dem Ganzen eine unglaubliche Dramaturgie! Es fühlte sich an wie eine Belohnung! Ich vergaß meinen Zustand. Total beeindruckt, wollte ich diesen magischen Ort gleich am nächsten Tag wieder besuchen. Aber was fand ich vor? Einen ganz banalen Ort, eisern und überhaupt nicht einladend! Genauso wie die Wirkung dieses Ortes in der Nacht sollst Du das Operndorf planen. Einfach, aber so bewegend und inspirierend, und das nicht nur in der Nacht, sondern zu jeder Tageszeit.“ Das mit dem verstorbenen Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief entwickelte „Operndorf“ stellt weitaus mehr dar als ein Architektur- oder ein Entwicklungshilfe-Projekt. Es hat die Tür zu einer Debatte über die Entwicklungszusammenarbeit geöffnet sowie über den kulturellen Austausch zwischen Deutschland mit seiner NS-Vergangenheit und dem schwarzen Kontinent, und nicht zuletzt auch über die Dramaturgie in der Architektur.

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Darüber hinaus löste es eine heftige Kontroverse über die Arbeit des umtriebigen Künstlers Christoph Schlingensief aus, der in seinem Schaffen keine Grenzen kannte. Dieses Projekt lässt uns fragen, auf welche Weise Theater eingesetzt werden kann, um die Sinne zu berühren und zu erwecken. Die Anfangsidee dieses Projekts war es, Theater als soziales Ereignis für alle Schichten einer Gesellschaft zu betrachten und entsprechend in Afrika aufleben zu lassen. Das in Burkina Faso geplante Theater sollte das kulturell vorhandene Potenzial zur Entfaltung bringen und in die Welt tragen. Kinder sollten im Operndorf losgelöst von jeglicher Entfremdung ihre Welt in Fotos und Filmen festhalten. In der Vorstellung von Christoph ist bereits das Geschrei eines Neugeborenen „Theater“. Sein Ziel war es, interessierte Menschen und Künstler aus ganz Afrika und dem Rest der Welt an diesem isolierten Ort in der Savanne, fernab jeglichen Komforts, zu innerer Umkehr und höchster Kreativität zu bewegen. Insbesondere Künstler aus dem Westen müssten ihre Vorurteile über Afrika überwinden und bereit sein, sich auf den Kontinent und seine Menschen einzulassen. Nur so wird es ihnen möglich sein, etwas völlig Neues zu entdecken und die Welt der Kunst, insbesondere des Theaters, in der westlichen Kultur zu erneuern. Er wollte, dass wir alle über uns selbst hinausschauen.

Die Institution, die mich mit Christoph Schlingensief zusammenbrachte, war das Goethe-Institut. Ich vermute, dass eine Debatte angeregt werden sollte, welche Haltung Deutschland bezüglich seiner Kulturpolitik in Afrika einnehmen sollte, insbesondere im Hinblick auf die eigene Nazi-Vergangenheit. Dieses Vorhaben, das viel Kritik auf sich gezogen hat, zeigt uns das Ausmaß der Schwierigkeit, den Diskurs europäischer Mächte gegenüber Afrika zu verändern. Für viele Entwicklungshelfer benötigt Afrika in erster Linie Schulen und nicht Theater oder sonstige kulturelle Einrichtungen. Leider beeinträchtigt dieses Verständnis von Entwicklung den Blick auf Afrika als ein bedeutendes kulturelles Zentrum in der Welt. So gilt Burkina Faso seit Jahrzehnten als Zentrum des afrikanischen Films (FESPACO) und Theaters (Festival du Théâtre), was vielen unbekannt ist. Die Oper, wie sie Christoph vorschwebte, bietet daher eine sinnvolle Ergänzung zum existierenden Kulturangebot von Burkina Faso. Trotzdem wurden Christoph und ich als naive Träumer bezeichnet, die nicht wüssten, was für Afrika gut oder nicht gut sei. Sie gingen sogar so weit zu denken, Christoph wolle ein zweites Bayreuther Festspielhaus im burkinischen Busch errichten. Ständig musste ich ihn und das Projekt verteidigen und gegen diese Negativität ankämpfen.

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FASZINATION Was unglaublich bizarr scheint, aber für Menschen sehr faszinierend sein kann, habe ich bereits bei der Grundsteinlegung erlebt. Viele Teilnehmer haben sich für dieses Ereignis angekündigt. In Bussen sind sie blindlings von Ouagadougou Richtung Operndorf losgefahren. Ein paar der Busse kamen über die normale Straße an. Als ich das sah, erinnerte ich mich an eine Idee, die Christoph einige Wochen zuvor hatte. Er bat mich, die Besucher zukünftig über das freie Gelände, also nicht über die befestigte Straße, zum Operndorf zu führen. Sie sollten durch die Savanne fahren und plötzlich vor dem Dorf stehen. Das würde eine gewaltige Wirkung haben. Die Menschen sollten den Ort so entdecken, wie er ihn persönlich gefesselt hat. So beschloss ich, den Fahrer des letzten Busses, der sich noch in einiger Entfernung vom Dorf befand, zu bewegen, den Weg nach Christophs Beschreibung zu nehmen. Der Fahrer protestierte, aber ich blieb beharrlich. Und so fuhr er, unbemerkt von seinen Insassen, von der Hauptstraße ab. Die Fahrt endete vor einer riesigen Felsformation. Die erstaunten Insassen mussten aussteigen und den restlichen Weg über den Felsen zu Fuß bewältigen. Ich konnte beobachten, wie Menschen aus den umliegenden Ortschaften die Köpfe ungläubig schüttelten angesichts dieser Kletterei mit wund gerissenen Füßen und Beinen. Weshalb hatte niemand diesen Menschen aus Deutschland den richtigen Weg gezeigt? Die Verwunderung währte nur einen kurzen Augenblick und wich großem Erstaunen, als diese Menschen, denen gerade noch das Mitgefühl wegen der erlittenen Ver­ letzungen galt, plötzlich vom Glück betäubt mit offenen Mündern erstarrt dastanden. Meine Freunde und der Fahrer schauten auf mich und lächelten. Sie erlebten einen magischen Moment. Da verstand ich, was Christoph meinte. Er war ein wahrer Meister der Inszenierung.

DIE AKTUELLE SITUATION

oben: Außenansicht der Schule, unten: Street Art von MARTO

FINANZIERUNG Das Projekt, das von öffentlichen Institutionen und Privatspenden unterstützt wurde, durchlief Perioden wachsenden Geldmangels. Staatliche Fördergelder, die bereits zugesagt waren, wurden plötzlich aus uner­ findlichen parteipolitischen Gründen blockiert. Für mich als Architekt und Bürger war es sehr erstaunlich, diese Vorgänge zu beobachten. Diese Situation wirkte sich auch auf die Arbeit meines Vereins „Schulbausteine für Gando“ aus. Ich musste erleben, dass mir plötzlich Gelder von Personen und Institutionen aufgrund meiner Teilnahme an dem „Operndorf“-Projekt verweigert wurden, obwohl diese meine Arbeit in Gando kannten und schätzten.

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Das zeigt uns, in welchem Ausmaß die westliche Welt in festen Vorstellungen darüber verharrt, was für die Entwicklung Afrikas gut ist und was nicht. Sobald man ausgetretene Pfade verlässt, erhebt sich von allen Seiten Kritik. Glücklicherweise hat es auch sehr viele Personen gegeben, die das Potenzial und die Vision hinter dem Projekt verstanden haben und dass die Kunst auch als Katalysator für die Entwicklung in der Region wirken kann. Ein starker Verfechter war Bundespräsident a. D. Horst Köhler, der von Anfang an nicht gezögert hat, das Projekt in seinem Amt und später auch persönlich zu unterstützen.

Heute besuchen rund 200 Kinder die Schule im Operndorf. Auf der Krankenstation werden die Menschen aus den umliegenden Dörfern versorgt. Das Lehrpersonal der Schule sowie das medizinische Team der Krankenstation leben und wohnen gemeinsam mit Künstlern aus Europa und Afrika in den Wohnhäusern des Dorfes. In Kooperation mit dem Goethe-Institut und dem burkinischen Kulturministerium werden zahlreiche kulturelle und künstlerische Workshops, Seminare und Veranstaltungen abgehalten. Im Zentrum der Anlage befindet sich heute immer noch die große Baugrube für das Theater. Aber es ist trotzdem keine Seltenheit, dass die Besucher des Dorfes vom Geschrei eines Neugeborenen aufgeschreckt werden. Also, das Operndorf lebt!

FRANCIS KÉRÉ, Architekt, ist seit 2016 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Baukunst.

rechts oben: Privatwohnungen, unten: Gesundheits- und Sozialzentrum (Krankenhaus des Dorfes)



WO KOMMEN WIR HIN Vorbereitende Beiträge zu einem Projekt von Manos Tsangaris, Sektion Musik, Kathrin Röggla, Sektion Literatur, und Karin Sander, Sektion Bildende Kunst

STATTHALTERIN DES UTOPISCHEN. EINE AUSSTELLUNG, EIN ORT UND EIN ZEITRAUM: KARIN SANDER

Karin Sander, Transzendenzaufzug, Kunstuniversität Linz, permanente Installation, 2017

„Die Kunst ist der Statthalter der Utopie“, hat Max Frisch einmal im Gespräch formuliert. Dieser Satz gilt umso mehr in utopiefernen Zeiten wie unserer, in denen die Moderne ihren Zukunftshorizont zu verlieren scheint. Ablesbar jedenfalls wäre das an Zeitphänomenen wie dem Schlösser- und Altstadtnachbau, wie er in Berlin, Potsdam, Hannover, Frankfurt stattfindet, an der extrem kurzfristig orientierten Wirtschaft und Politik und an dem um die reine Gegenwart zentrierten Konsumismus. Wo der modernen Gesellschaft die Zukunft abhanden gekommen ist, sie darauf verzichtet, sich vorauszuentwerfen und die Gegenwart zu transzendieren, kommt der Kunst das umso mehr zu. In der Frage „Wo kommen wir hin“ oder in ihrer Rolle als „Statthalterin der Zukunft“ soll sie im Rahmen einer Ausstellung, eines gemeinsamen Arbeitszeitraums, einer Veranstaltungsreihe untersucht werden, in der nicht nur genuin künstlerische Strategien, sondern auch Wünsche, Träume und Hoffnungen als Produktivkräfte des Zukünftigen zusammengebracht

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werden. Es geht dabei nicht darum, triviale Zukunftsbilder zu entwerfen, sondern darum, Anknüpfungspunkte in den Wünschen und Träumen unterschiedlicher Akteure aufzusuchen, um zu ventilieren, was die Wunschinhalte der Gegenwart sind, worauf sie sich richten und wie sie sich formulieren – und wie diese mit der Kunst als Utopie in produktive Verbindung zu bringen sind. Das Medium dafür ist eine Ausstellung, die genuin künstlerische Potenziale von Zukünftigkeit mit den Sektionen der Akademie, mit Design und Werbung, genauso zusammenbringt wie mit den alltäglichen Träumen. Und genau da wollen wir hin. Das zugrundeliegende Material zu diesen Aspekten bezieht sich zum Beispiel auf ein Forschungsprojekt von Harald Welzer und Futurzwei, in dem eine Reihe von Gesprächen mit unterschiedlichen Gruppen junger Menschen – vom Schützenverein bis zu Queer-Akti­ vistinnen – zu der Frage durchgeführt werden, wovon sie träumen und wie sie sich die Zukunft vorstellen und

wünschen. Die Ergebnisse dieser Gespräche bilden den Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, welchen Stellenwert das Utopische hat, wie es zum Ausdruck gebracht werden kann und welche künstlerische Formulierung ihm Gestalt geben könnte. Damit knüpft das Ausstellungsprojekt einerseits an eine lange Tradition künstlerischer Strategien an und bringt diese andererseits in Verbindung mit dem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen des Verschwindens der Utopie, ja, der Zukunft. Die Fragestellung richtet sich auf die Potenziale des Utopischen in der Kunst und im Alltag und damit auf die mögliche Wiederentdeckung eines vergessenen Zusammenhangs. Besonders interessant wird diese Frage darüber hinaus, wenn man sie auf die Entstehungsgeschichte und Funktion der Akademie der Künste als Ort des Zusammentreffens bezieht, der installiert wurde, um Kunstschaffenden die Gelegenheit zu geben, „sich miteinander über ihre Kunst freundschaftlich zu besprechen, sich ihre Versuche, Einsichten und Erfahrungen mitteilen, und einer von dem andern zu lernen, sich mit einander der Vollkommenheit zu nähern suchen“ (Daniel Chodowiecki, 1783). Heute, in Zeiten von Filterblasen und verengten Zukunftshorizonten, ist die Schaffung analoger Gelegenheiten des Austauschs von „Versuchen, Einsichten und Erfahrungen“ aus unterschiedlicher Perspektive vielleicht nötiger denn je. Insofern bietet der Ansatz der Veranstaltungen/Ausstellungen Statthalterin des Utopischen im gemeinsamen Übertitel Wo kommen wir hin auch einen Anlass zur Aktualisierung des Selbstverständnisses und der Praxis der Akademie, wobei es immer wieder herauszuarbeiten gilt, wo sie als Institution für Zukünftigkeit mehr gesellschaftliche Bedeutsamkeit beanspruchen kann. In diesem Sinn ist der Titel Statthalterin des Utopischen doppelt verstanden – nämlich bezogen auf die Potenziale der Wiedergewinnung des Utopischen in der Kunst und auf die Akademie als prädestinierten Ort dafür. KARIN SANDER, Bildende Künstlerin, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Bildende Kunst. Die Ausstellung findet 2019 in Kooperation mit Harald Welzer, Marius Babias, Ayşe Erkmen u. a. statt.


EINE FRAGE NOCH Das Radio befindet sich, mit Rosalind Krauss gesprochen, in einer Post-Medium-Condition, sagte Bernhard Siegert an dem Roundtable zum Ende der Konferenz Radiophonic Cultures – Sonic Environments and Archives in Hybrid Media Systems in Basel. Daraufhin fragte Colin Lang: Wenn das Radio sich in seiner Post-Medium Condition befände, was war es davor, also bevor es in diesen Post-Zustand geraten ist? Mir gefiel die Frage. Nicht weil sie die Vorstellung von Radio als isoliertem Medium ins Spiel brachte. Vielmehr stellte sie „The Futures of Radio?“, die über dem Roundtable schwebten, in den Kontext seiner zukünftigen Vergangenheiten – seiner nicht realisierten Potenziale. Im Ohr, zurück in Berlin, habe ich noch Ute Holls Einwurf auf dem Panel „Radiophonic Realities: Fieldwork and Sonic Fictions“, das Switchen als charakteristisch für den radiophonen Raum zu denken. Was ist Switchen in der Post-MediumCondition, was war es davor? Davor war das Radio – anders als die Künste – national institutionalisiert und hierzulande wie anderswo als einzige legale Stimme über den Äther zu hören. Die ebenso unausgesprochene wie hörbare Autorität dieser Stimme suggerierte einen scheinbar öffentlichen Raum. Im national institutionalisierten Radio ist Switchen weiterhin das dramaturgische Konzept des Programms – an die Nachricht über vom israelischen Militär erschossene Demonstranten in Gaza schließt ein Popsong an, dann wird in einer Anrufer-Sendung eine Oma in Hoyerswerda gegrüßt, gefolgt von einem Science-Fiction-Hörspiel (natürlich nicht so, sondern verbal abgefedert durch eine Moderation). Dieses In-80-Sekunden-um-die-Erde-Drama lässt die Zuhörer die nationale Grenze in Gedanken überschreiten und eben dadurch auch immer wieder bestätigen. In seiner Post-Medium-Condition wurde das Radio zunächst durch Community-Radio-Projekte, CyberRadios und den mit ihnen aufkommenden Bürgerjournalismus vielstimmiger. Diese Vielstimmigkeit hat sicher mit der Demokratisierung des Mediums zu tun, doch verfügt diese Demokratie nicht mehr über den gemeinsamen Ort, an dem die vielen Stimmen ins Gespräch kommen oder auch nur gegenseitig gehört werden können. Vielmehr wird dabei das Modell des national institutionalisierten Radios samt seiner Dramaturgie in eine Vielzahl paralleler Gesellschaftsvorstellungen multipliziert, die für ihr jeweiliges, durch Datenerhebung identifiziertes Zielpublikum den Tag akustisch komponieren. Am anderen Ende dieses Sender-Empfänger-Modells liegt das Switchen in den Händen der Zuhörer. Der Suchknopf – jene Handlungsrequisite, die Hörern ihrerseits das Switchen ermöglichte – ist aber nicht mehr da. Mit dem Suchknopf wurde auch der Zufall, wodurch man auf nicht gezielt gesuchte, fremdsprachige, unbekannte Stimmen stieß, wegtechnologisiert. Denn das Suchen mit dem Druckknopf ist kein Suchen mehr, sondern ein vorprogrammiertes Finden. Genauer: ein Wiederfinden dessen, was man bereits als seine Wahl identifiziert und gespeichert hatte. Als eine Suche mit einem offenen Ausgang muss also das Switchen wiedererlangt werden. Fängt man damit an, kann das Sender-Empfänger-Modell samt seiner unausgesprochenen Autorität, die nur scheinbar einen öffentlichen Raum herstellt, nicht intakt bleiben. Das

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zeigte Ole Frahms Beitrag „Zerstreute Handlungsfähigkeit“, zu den von der Gruppe LIGNA geschaffenen Hörsituationen. Zerstreut im urbanen Raum führen Mitspieler gleichzeitig Handlungsanweisungen aus, die sie per Funk erhalten. In der Doppelrolle von Empfänger und Sender sind diese Mitspieler im urbanen Raum einem Publikum ausgesetzt, das ihrer Aufführung begegnet, ohne sie vorprogrammiert zu haben. Publikum ist nicht unbedingt Öffentlichkeit. Es sind unvorhersehbare Handlungen, die Öffentlichkeit herstellen. In einer voll programmierten Welt sind solche Handlungen auf einen Switch des eigenen Wahrnehmungsmodus angewiesen. Ich stelle mir vor, wie ich als Passant zielgerichtet gehe, nur Zeichen, die mir zum Ziel helfen, wahrnehme, und auf einmal einen Switch in meinem Wahrnehmungsmodus erfahre, der es zulässt, Unvorhersehbares zu empfangen. Das Switchen in einer Post-Medium-Condition würde insofern einen radiophonen Raum aufmachen, der sich intermedial ereignet. Es ist nicht mehr eine Suchknopfhandlung, sondern eine kulturelle Technik der Wahrnehmung. Mit ihr wird ein öffentlicher Raum vorstellbar, der das, was nicht national institutionalisiert werden kann, unvorhersehbar einschließt. Dieser Raum ist nicht mit einem bestimmten Ort zu verwechseln. Er kann sich auch über Entfernungen, aber nur auf Zeit herstellen. Er lässt sich nicht bauen, nur aufführen – in eine sich endlos wiederholende Probe für den Einschluss des Unvorhersehbaren. Die Grenzen dieses Raumes verschieben sich während der Probe, das erschwert die Kommunikation. Man kann nicht von innen und außen sprechen. Das, was aus dem Raum ausgeschlossen wurde, kann durchaus wie der Elefant im Raum stehen, der nicht im Raum steht und ohne im Raum zu stehen, im Raum ist. Unvorhersehbar und unsichtbar. Wie eine Eidechse, die sich den Farben ihrer Umgebung anpasst, passt sich der Elefant wechselnden Inhalten an, die auf ihn projiziert werden, um verschwiegen zu werden, auf ihren Einschluss wartend. ERAN SCHAERF, Bildender Künstler, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Bildende Kunst und Teilnehmer am Projekt „Wo kommen wir hin“.

ZELTE (AUSZUG) dem ist jetzt langweilig. die haben ein kind. er sitzt etwas entfernt und raucht. das kind liegt im kinderwagen. sie hatten sich das anders vorgestellt. das kind hat sich nichts vorgestellt. sie ist jetzt etwas nachlässiger als früher. er hat einen kopf auf die wade tätowieren lassen. vielleicht lacht er, wenn er die wade anspannt. es ist warm, er hat kurze hosen an. sie hält eine hand in den kinderwagen. zeit. wir warten auf die s-bahn. er lehnt sich zurück. sie beugt sich in den wagen. das kind schläft. die jugend hat noch nicht angefangen. sie ist zu ende. pappeln stehen am bahnhofsrand und zittern im wind. der bahnsteig füllt sich mit menschen.

MANOS TSANGARIS, Komponist, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Musik. Seit 2012 ist er Direktor der Sektion

Die Konferenz fand vom 7. bis 9. Mai 2018 am Museum Tinguely in Basel statt. Mehr zum Thema unter www.radiophonic-cultures.ch.

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Anlässlich der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises 2018 an die in Berlin lebende US-amerikanische Künstlerin Adrian Piper am 31. August 2018 erscheint in der Publikation, die die Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz begleitet, der Essay „Strukturen und Reaktionen. Adrian Pipers Transformation des Minimalismus“ des Kunsthistorikers und Kurators Helmut Draxler. Wir veröffentlichen vorab mit freundlicher Genehmigung des Autors einen Textauszug über den künstlerischen Ansatz von Adrian Piper, der sich in bild- und identitätskritischen Arbeiten der 1970er Jahre in Performances, Bildserien und Installationen manifestierte und im Minimalismus und Konzeptualismus der späten 1960er Jahre begründet liegt.

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STRUKTUREN

UND REAKTIONEN

Abb. 1 + 2

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Der „klassische“ Minimalismus (bleibt) wichtig, nicht weil Piper ihn verkörpert hätte, so doch als Hintergrund einer Absatzbewegung, insbesondere im Hinblick auf die erste deutliche Wende ihres Œuvres hin zur Performance im Jahr 1970.1 Die Wahl der Performance stellte per se noch keinen Bruch mit der avantgardistischen Logik von Minimalismus und Konzeptualismus dar. Sie steht bloß für eine andere Avantgarde, die des körperbetonten Aktivismus. Auch bleiben trotz dieser grundlegenden Veränderung der künstlerischen Mittel entscheidende Momente des Konzeptuellen erhalten: In den frühen Performances geht es meiner Meinung nach immer noch um Verortung und zeitliche Konkretisierung.2 Was fehlt, ist der gerasterte oder zeitlich strukturierte Rahmen des Allgemeinen. Dieses Allgemeine wird ersetzt durch die Konfrontation der Person der Künstlerin mit der konkreten physischen und sozialen Umwelt. Die Konfrontation geschieht in alltäglichen Situationen – beispielsweise in der Serie Catalysis (1970), in der Piper mit einem „wet paint“-Schild durch überfüllte Straßen läuft oder eine Kaugummiblase macht – und an bestimmten Orten der Kunstwelt, zum Beispiel in der Untitled Performance for Max’s Kansas City (1970), für die Piper mit einer Augenmaske unter bekannten Figuren der Kunstszene herumschlendert. Verglichen mit dem hier klassisch genannten Minimalismus und seiner Behauptung, dass der rezeptive Akt des Sehens auf einer körperlichen Erfahrung innerhalb einer „theatralischen“ Anordnung von „spezifischen Objekten“ beruhe, ist es in Pipers Performances der Körper der Künstlerin selbst, der zum Auslöser eines

Abb. 3

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situativen Ereignisses wird. Wenn es im Minimalismus um die reflektierende Rezeption der eigenen phänomenal-existenziellen Situation im Zustand der Betrachtung ging, dann steht in Pipers Arbeiten der frühen 1970er Jahre die unmittelbare Reaktion auf die oft kaum wahrnehmbare Performance der Künstlerin zur Diskussion. Es sind nun eher die minimalistischen Performances der 1960er Jahre, wie sie von Künstlerinnen wie Yvonne Rainer, Deborah Hay, Simone Forti, Lucinda Childs und anderen hervorgebracht wurden, die anregend auf Pipers Arbeit gewirkt haben. Dieses Bestehen auf der unmittelbaren Response3, dem, was Piper indexical present4 nennen wird, ist für die weitere Entfaltung des Werks entscheidend. An die Stelle der extremen Vermitteltheit der konzeptuellen Arbeiten tritt die Unmittelbarkeit einer Art von behavioristischem Reiz-Reaktions-Schema, das wiederum zum Ausgangspunkt einer reflexiven Rezeption werden kann, meist allerdings erst anhand der fotografischen Dokumentation der jeweiligen Performance. Dementsprechend werden die fotografische Dokumentation bzw. deren zeichnerische und erzählerische Bearbeitung in den folgenden Jahren immer wichtiger. In der Serie The Mythic Being (1973–1976) wird die Performance gänzlich zu einer grafischen Bildgeschichte umgestaltet und erzeugt damit nicht nur eine zunehmend politische Akzentuierung des Konfliktfeldes, sondern auch eine weitere Verschiebung in der Art und Weise, wie das Publikum angesprochen wird. Piper mimt hier eine männliche Dritte-Welt-Persona, die in einer Episode einen weißen Mann in einen Park begleitet und ihn dort am helllichten Tag ausraubt.5 Dies ist keine stumme

Konfrontation mit dem Publikum wie in den früheren Performances, sondern ein sehr direktes Involvieren der Zuschauer, die als potenzielle Opfer des „Raubs“ gedacht und somit in ihren Ängsten angesprochen werden: „Ich verkörpere alles, was du am meisten hasst und fürchtest“, heißt es etwa auf einem Blatt. In dieser narrativen Erweiterung der Performance werden die seriellen Prinzipien des Minimalismus zunehmend in die narrative Struktur sequentieller Bilder transformiert, wobei diese Narrationen keine „heile“ und geschlossene Welt schaffen, sondern eine, die die Interaktion zwischen Bild und Betrachterin oder Betrachter als immer schon auf bestimmten ästhetischen und sozialen Erwartungen beruhend thematisiert. Eine Bildfolge von manipulierten Polaroids zeigt etwa die Verwandlung vom „netten Mädchen“ in das bedrohliche Mythic Being (The Mythic Being: I/You(Her), 1974), wobei das Publikum in großen Sprechblasen wie ein verflossener Liebhaber angesprochen wird. Diese doppelte „Beziehungskrise“ navigiert zwischen intimen Gefühlskategorien und normierenden, vor allem geschlechtsspezifischen sozialen Erwartungen ebenso wie zwischen der anfänglichen Selbstentwertung und einer im Fortgang der Verwandlung zunehmenden Selbstbehauptung der Künstlerin. Das BildBetrachter-Verhältnis erscheint dabei weniger als grandioses Möglichkeitsfeld interaktiver Erfahrungen, denn als vielfältig durch soziale wie psychische Faktoren bestimmtes Beziehungsgeflecht. Indem sie die zu erwartende ästhetische Distanz aufhebt, erzeugt die direkte Ansprache sogar ein spezifisches Unbehagen. Die sichere Position der Betrachtung geht verloren, Piper


setzt sie dynamischen Interaktionsmustern zwischen Selbstbezug und Fremdwahrnehmung, zwischen Projektion und Introjektion, zwischen Angst und Diskriminierung aus. Das Allgemeine und Universelle scheint in diesen Arbeiten erst einmal zugunsten des Konkreten, Unmittelbaren und Direkten in den Hintergrund zu treten. Das heißt jedoch keineswegs, dass es damit vollkommen verschwunden wäre, motiviert es doch weiterhin als Hintergrundfolie die konkreten ästhetischen Einsätze. Bedeutsam sind in dieser Hinsicht zweifellos die Kant-Lektüren und das um dieselbe Zeit beginnende PhilosophieStudium, aus dem später die eigene Philosophie hervorgehen wird. Im Gegensatz zu den typischen KünstlerPhilosophen, die der Konzeptualismus hervorgebracht hat – wie etwa Joseph Kosuths Anspruch seiner „Kunst als Philosophie“ –, trennt Piper ihr philosophisches von ihrem künstlerischen Werk und vermag so, die Spannung zwischen den beiden Bereichen aufrechtzuerhalten. Mit Kant werden vor allem die motivationalen Aspekte gesellschaftlicher Werthorizonte gegen die individualistische und tendenziell utilitaristische „Triebtheorie“ Humes herausgearbeitet. Aus dieser Sicht erscheint die gleichzeitig soziale und autonome Konzeption des Selbst bei Kant gerade in seinem universellen Rationalismus als unverzichtbar für jedes moralische Handeln und das Verständnis von Xenophobie und Rassismus.6 Denn erst von einem solchen universellen Horizont ausgehend, werden überhaupt Kriterien unterscheidbar, warum etwa abweichendes Aussehen oder Verhalten nicht umstandslos abgewiesen oder sanktioniert werden sollte, und das Selbst als dem Anderen gegenüber prinzipiell offen und erfahrungsinteressiert verstanden werden kann. Gleichzeitig wird diese Argumentation auch gegen die radikale Dekonstruktion aller Universalismen in Stellung gebracht. Das dezentrierte Subjekt der Postmoderne erscheint Piper7 als Privileg einer dominanten Kultur, die spielerisch auch einmal auf ihren ohnehin allzu sicheren Status verzichten mag. Aus einer marginalisierten Position heraus erscheint hingegen der Anspruch an Kriterien des Universellen als unverzichtbar, um eine Subjektposition und damit gesellschaftliche Sichtbarkeit und Anerkennung überhaupt erst beanspruchen zu können. Gleichwohl lässt sich eine gewisse Spannung zwischen dem künstlerischen Partikularismus auf der einen Seite und dem philosophischen Universalismus auf der anderen festhalten. Gelegentlich wird der Universalismus zwar durchaus konkret in einzelnen Arbeiten ablesbar: In einer Episode der Mythic Being-Serie gibt die Figur, an einer Schreibmaschine sitzend, Kantische Sätze von sich. (A 108 (Kant), 1975). Wichtiger bleibt jedoch, dass der Universalismus als „motivationaler“ Hintergrund für alle Arbeiten wirkt. Er richtet gewissermaßen die singulären Ansätze, die spezifischen Situationen, die konfrontativen Ansprachen und die insistierende Präsenz auf einen gemeinsamen Horizont möglicher Verständigung und Veränderung hin aus.

Abb. 4

4  Zum Begriff indexical present siehe Maurice Berger, „Styles of Radical Will: Adrian Piper and the Indexical Present“, in: Adrian Piper. A Retrospective. Baltimore 1999, S. 12–32. 5  Siehe „The Mythic Being: Getting Back. # 1–5“, 1975, Abb., in: Adrian Piper. A Retrospective, ebd., S. 143 6  Siehe Adrian Piper, „Xenophobia and Kantian Rationalism“ [1991], in: Philosophical Forum XXIV, 1–3 (1992–93), S. 188– 232, http://www.adrianpiper.com/docs/WebsiteXen&KantRat (1991).pdf 7  Siehe Maurice Berger, „The Critique of Pure Racism. An Interview with Adrian Piper“, in: Adrian Piper. A Retrospective, S. 76–98. Vorabdruck aus: Adrian Piper – Käthe-Kollwitz-Preis 2018. Berlin: Akademie der Künste, 2018. Zuerst veröffentlicht in englischer Sprache: Helmut Draxler, Structures of Response. Adrian Piper’s Transformation of Minimalism. Berlin: S*I*G, 2018. Mit freundlicher Genehmigung des Autors

Abb. 1+2  Adrian Piper, Utah-Manhattan Transfer, 1968. Bleistift und Kugelschreiber auf Landkartenkollage, befestigt auf zwei Schaumkarton-Bögen. Erstes Panel: 13.25" × 14.18" (33,7 cm × 36 cm); zweites Panel: 12" × 12”" (30,5 cm × 30,5 cm) Abb. 3  Adrian Piper, What It’s Like, What It Is #3, 1991. Videoinstallation: Holzkonstruktion, Spiegel, Beleuchtung, vier Monitore, vier Videos. Format variabel. Installationsansicht: Adrian Piper – since 1965, MACBA, Barcelona Abb. 4  Adrian Piper, Aspects of the Liberal Dilemma, 1978. Mixed-MediaInstallation. Schwarz-Weiß-Fotografie hinter Plexiglas gerahmt, Audioband, Beleuchtung. 18" × 18" (45,7 cm × 45,7 cm)

1  Ich vernachlässige hier die vorhergehende Wende von der sehr frühen figurativen Malerei hin zum minimalistischkonzeptuellen Werk. 2 Siehe Meat into Meat (1968) oder Untitled Performance for Max’s Kansas City (1970). 3  Zum Begriff Response siehe David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989.

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HELMUT DRAXLER, geboren 1956 in Graz, lebt in Berlin. Als Kunsthistoriker und Kulturtheoretiker publiziert er regelmäßig zu Theorie und Praxis der Gegenwartskunst. Er ist Professor für Kunsttheorie an der Universität für angewandte Kunst Wien.

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„HOLOCAUST ALS KULTUR“ Der Schauspieler Ulrich Matthes liest die knapp dreißig Seiten dieser Aufzeichnungen im großen Saal der Akademie der Künste langsam, mit wunderbarer Durchlässigkeit und im Vertrauen auf jedes Wort. Mit siebzig Minuten ausschließlich innerer Handlung hält er das Publikum in Bann. Es geht nicht nur um die Entstehung eines bedeutenden Romans, sondern um die Entdeckung einer umstürzenden Weltsicht.  Paul Ingendaay, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ob vom „Glück der Konzentrationslager“ die Rede ist oder vom „Wert“ des Holocaust, vom „Holocaust als Kultur“, von der „Sehnsucht“ nach dem „schönen“ Buchenwald, es sind alles bewusste Setzungen des großen, 2016 verstorbenen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Imre Kertész – Paradoxien oder Provokationen, wie sie nur ein Auschwitz- und Buchenwald-Überlebender formulieren kann. „Atonale Stimme“ hat der ungarische Essayist László F. Földényi in seinem KertészWörterbuch dieses Verfahren benannt, das den Grundton des gesamten Werks von Imre Kertész bestimme. Dass wir Földényi, Kertész-Kenner und -Freund in einem, für den Eröffnungsvortrag zum Symposium „Holocaust als Kultur. Zur Poetik von Imre Kertész“ (12.–14. April 2018) am Pariser Platz gewinnen konnten, war ein Glücksfall. Er reflektierte in seinem hier abgedruckten

Vortrag Kertész’ Poetik im Ganzen und im Licht von persönlichen Erinnerungen, bevor an den darauffolgenden Tagen in 16 Vorträgen die einzelnen Werke und „Wahlverwandtschaften“ (zur Musik, zu Thomas Mann, Nietzsche, Camus, Jean Améry und Semprún) sowie die im Moment so aktuelle Frage seines Nachlasses genauer betrachtet wurden. „Zentrum und Höhepunkt“ (FAZ) der drei Tage war die Lesung von Ulrich Matthes aus den unveröffentlichten Arbeitstagebüchern von 1959 bis 1962, in denen sich Kertész mit Idee und Konzeption seines späteren Jahrhundertwerks Roman eines Schicksallosen befasst. JÖRG FESSMANN, Sekretär der Sektion Literatur, Akademie der Künste, Berlin


László F. Földényi

DAS HEIMLICHE LEBEN DES IMRE KERTÉSZ

Eigentlich waren wir eng befreundet. Eigentlich, sage ich, und das mit einem gewissen Zögern. Denn obwohl alle, die uns kannten, uns immer als Freunde ansahen und auch wir selbst unsere Beziehung nie anders hätten beschreiben können, gab es immer wieder Schranken, vor denen ich innehalten musste. Er zeigte sich meistens aufgeschlossen, gierig auf gegenseitige Offenheit, öffnete all seine inneren Tore, gab Episoden aus seinem Leben preis, die ich am liebsten vergessen hätte. Und dennoch, immer wieder stieß ich auf eine Grenze, an der ich steckenblieb. Es gab einen Kern, der für mich ewig fremd blieb. Er verheimlichte nichts, und trotzdem hatte ich oft das Gefühl, in seinem tiefsten Inneren verberge sich ein Geheimnis. Wie ein Krebsgeschwür, das er nicht loswerden konnte. Bestimmt litt er daran. Wir haben über vieles gesprochen, darüber aber nie ein Wort gewechselt. Wir lernten uns kennen, als sein Name in Ungarn noch fast unbekannt war: 1982. Tankred Dorst, dessen Buch Merlin Kertész ins Ungarische übertragen hatte, hielt sich gerade in Budapest auf. Wir begegneten uns zum ersten Mal bei einem Treffen zu Ehren Dorsts im PENClub. Es fiel auf, dass er sich immer in einer bestimmten Weise positionierte, um möglichst im Hintergrund zu bleiben, aber jederzeit vortreten zu können. Er zeigte sich gefällig, versuchte aber auch unauffällig zu bleiben. Es ist schwer, beides miteinander in Einklang zu bringen. Auch deshalb wirkte sein ständiges Lächeln wie eine Maske, hinter die er weder damals noch später allzu viel Einblick gewährte. Als würde er ein Geheimnis in sich tragen, das er nie jemandem verraten würde. „Ich hatte immer ein heimliches Leben, und immer war das das wahre.“ Das zeichnete er in seinem sogenannten „ExitTagebuch“ am 18. Juli 2009 auf. Einer der letzten Sätze, die von ihm bis zum heutigen Tag im Druck erschienen sind. Genauso hätte aber auch der erste Satz seines Werkes lauten können. Dorst blieb damals mehrere Tage in Budapest. Ljubimow, der russische Regisseur, inszenierte gerade den Don Giovanni in der Budapester Oper und lud ihn zur Generalprobe ein. Dorst wurde auch von Kertész begleitet, der nicht nur sein Übersetzer, sondern auch sein Dolmetscher war. Im Zuschauerraum wurde mehrfach

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gedolmetscht: Dort saßen die offizielle russisch-ungarische Dolmetscherin des Ministeriums und Imre Kertész als deutsch-ungarischer Dolmetscher. An dieser Stelle übergebe ich Kertész das Wort: „Dorst lobte die Inszenierung mit innigen Worten. Während ich übersetzte, hatte ich plötzlich die Wahnvorstellung, auch ich sei zugegen, und fügte also hinzu: ‚Bitte, sagen Sie Herrn Ljubimow, dass auch ich ihm gratuliere.‘ Darauf die Dame mit vernichtendem Blick: ‚Sie sollen nicht gratulieren, sondern übersetzen.‘“ Dort, im dunklen Zuschauerraum, hatte sich Kertész plötzlich geöffnet, sein „heimliches Leben“ war für einen Augenblick sichtbar geworden. Sieben Jahre waren zu diesem Zeitpunkt bereits vergangen, seit die erste ungarische Ausgabe von Roman eines Schicksallosen erschienen war. Obwohl der Roman 1982 noch immer ohne jeden Widerhall blieb, durfte sich Kertész im Zuschauerraum sitzend mit einigem Recht als gleichwertiger Kollege der anderen fühlen. Bis er von einer Bürokratin zurechtgewiesen wurde. Rollenverwechslung, mochte sich die Dolmetscherin des Ministeriums gedacht haben. Kertész bewertete die Situation weitaus ernster: „Voilà, die Geschichte eines anderen Inkognito-Verlustes. Damals, vor sechs, sieben Jahren, bin ich noch oft in Identitätsverwirrungen geraten: Manchmal wusste ich plötzlich nicht, welche Form meiner Nichtexistenz ich als Inkognito wählen sollte.“ Das Gefühl des Entrechtetseins mochte Kertész bei der Probe von Don Giovanni durchlebt haben. Eine Episode, die sich lückenlos in die Kette der Ereignisse seines Lebens bis dahin einfügte. Er wurde 1929 in eine nicht religiöse, kleinbürgerliche, jüdische Familie in Budapest geboren, unter einer nicht gerade günstigen Sternenkonstellation. Wie er im Galeerentagebuch schreibt: „Als ich zur Welt kam, stand die Sonne im Zeichen der größten Weltwirtschaftskrise aller Zeiten […]; ein Parteiführer namens Adolf Hitler blickte mir mit schrecklich unfreundlichem Gesicht aus den Seiten seines Buches Mein Kampf entgegen, und das numerus clausus genannte erste ungarische Judengesetz stand als Zeichen im Zenit meiner Konstellation.“ Er wurde 1940 in die neu eingerichtete jüdische Klasse eines Gymnasiums eingeschrieben, 1944 nach Auschwitz, von

dort nach Buchenwald und schließlich ins Konzentrationslager Zeitz deportiert. Neun Monate später, im Juli 1945, kehrte er nach Ungarn zurück, schloss seine Schulausbildung ab und wurde Journalist für diverse Blätter. 1950 verlor er seine Stellung, arbeitete zunächst als Fabrikarbeiter, wurde 1951 zur Armee eingezogen und 1953 entlassen. Fortan führte er ein Doppelleben am Rande der Literatur: Zum einen schrieb er Libretti für musikalische Komödien, zum anderen fasste er den Entschluss, Schriftsteller zu werden. Erst nach zahlreichen Miss­ erfolgen entdeckte er am Ende der 1950er Jahre das Thema von Roman eines Schicksallosen und begann, wie er in einem Interview bekannte, gleichsam als „Selbstbestrafung“ für seine vergangenen Misserfolge mit der Niederschrift des Romans. Nach einem Jahr verwarf er das bis dahin fertiggestellte Material, um anschließend dreizehn Jahre lang daran zu arbeiten. Roman eines Schicksallosen wurde zunächst abgelehnt, erschien dann 1975, ohne auf besonderen Widerhall seitens der Kritik zu stoßen. Um diese Zeit begann Kertész aus dem Deutschen zu übersetzen, unter anderen Nietzsche, Freud, Canetti, Wittgenstein. Als Mitte der 1980er Jahre die zweite Auflage von Roman eines Schicksallosen erschien, wurde man auf ihn auch als Schriftsteller aufmerksam. Von nun an fand er sowohl in Ungarn als auch in Deutschland wachsende literarische Anerkennung, eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt 2002 mit der Zuerkennung des Nobelpreises erreichte. Kertész erlebte in einer Person beide Extreme des 20. Jahrhunderts: Auschwitz und den Nobelpreis. Aber er erlebte sie als radikale Varianten derselben Schicksallosigkeit. Er beschrieb den Holocaust als einen „langen, dunklen Schatten“, der sich unentrinnbar über alle legte. Als einen ähnlich langen, dunklen Schatten sah er später auch den Nobelpreis, den er, allerdings mit gewisser Koketterie, eine „Glückskatastrophe“ nannte, die sich über ihn gelegt hatte und der er ebenfalls entrinnen wollte. Hinaustreten dorthin, wo er ausschließlich er selbst sein durfte, wo er sich vor jenen, die auf ihn warteten, verstecken konnte, wo er keinen Erwartungen genügen musste, wo man ihn nicht auf Schritt und Tritt beobachtete, um ihn und seinen Ruhm für die eigenen Ziele zu benutzen. Wo er sich von den verkrusteten Rollen befreien konnte und nicht mehr ein Denkmal seiner selbst sein musste. Wo er sein heimliches Leben frei ausleben konnte. Dieser souveräne, auf nichts zurückleitbare Kern der Persönlichkeit, das heimliche Leben, muss, wenn er zu Wort kommen will und ins Rampenlicht gestellt wird, die Sprache selbst sprengen. In der klassischen, realistischen Prosa suggerieren die Sätze von vornherein, dass der Abgrund zwischen dem öffentlichen und dem heimlichen Leben des Ich noch ohne Schwierigkeit überbrückbar ist. Im klassischen Realismus durfte sich das Ich sehr wohl als Herr im eigenen Haus fühlen. Kertész’

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Satzkonstruktionen hingegen zeugen von der Entrechtung des Ichs. Es ist von der Sprache entrechtet worden – genauer von der Sprache jener totalen Diktatur, die nicht nur von den beiden großen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts perfektioniert, sondern nach Kertész’ Ansicht unter kräftiger Mitwirkung des gesamten Jahrhunderts herbeigeführt worden war. Das hat sich nach Auschwitz grundlegend verändert. Adornos berühmte Prophezeiung, wonach man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, hat sich nie erfüllt. Vermutlich deswegen nicht, weil er sich dabei ungenau ausgedrückt hat. Was er im Sinn gehabt haben mag, wurde von Kertész, der kein Musikästhet war, mit einem terminus technicus von Adornos Lieblingskomponisten Schönberg genauer formuliert: Nach Auschwitz kann man nur in einer atonalen Sprache authentisch schreiben. „Atonalität [deklariert] die Ungültigkeit von Übereinkunft, von Tradition“, schreibt Kertész in seinem schon durch seinen Titel verräterischen Essay Die exilierte Sprache. Diese Sprache, schreibt er, versucht nicht, Auschwitz in der Vor-Auschwitz-Sprache zu rekonstruieren, sondern in einer Sprache, die vor allem die Ungültigkeit des Konsenses, der Tradition deklariert. Die das heimliche Leben des Ich darstellt, ohne es der Öffentlichkeit preiszugeben. Kertész hält fest an der Literatur, und doch verzichtet er auf sie. Marisa Siguan hat das in ihrem Buch Lager überleben, Lager erschreiben anhand von Kertész schön formuliert: „Die literarische Tradition ist als Folie präsent und unverzichtbar – ein Traumbild […], das aber unrettbar verloren ist.“ Wie erscheint – und erlischt doch gleichzeitig – diese Folie der literarischen Tradition? Ein Beispiel. Der „Alte“, der Erzähler von Fiasko, sitzt in seinem Zimmer und stöbert in seinen Aufzeichnungen über die Entstehung seines Romans und die anschließende Odyssee seiner Veröffentlichung. Und dann grübelt er über die Schwierigkeiten des Schreibens. „Je lebendiger […] meine Erinnerungen waren, um so kläglicher sahen sie auf dem Papier aus. Solange ich meine Erinnerung betätigte, vermochte ich nicht, am Roman zu schreiben; und als ich anfing, den Roman zu schreiben, hörte ich auf, mich zu erinnern. Es war nicht so, als gingen meine Erinnerungen plötzlich verloren: sie veränderten sich nur. […] Meine Arbeit […] bestand im Grunde aus nichts anderem als dem konsequenten Auszehren meiner Erinnerungen im Interesse einer künstlichen – wenn man so will: künstlerischen – Formel, die ich auf dem Papier – und ausschließlich auf dem Papier – als Äquivalent meiner Erinnerungen akzeptieren konnte. […] Nur eines hatte ich – vielleicht naturgemäß – nicht bedacht: daß man sich niemals sich selbst vermitteln kann.“ Und dann kommt er zur Schlussfolgerung: „Mich hatte nicht der Zug aus dem Roman nach Auschwitz gebracht, sondern der wirkliche.“ Kann man diesen wirklichen Zug mit dem Mittel der Literatur darstellen? Bedeutet das nicht, dass das heimliche Leben, ins Rampenlicht gestellt, seine Ausschließlichkeit einbüßt? Liest man Kertész, stellt sich sofort die Frage, ob es überhaupt möglich ist, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Als ihm Péter Nádas einmal diese Frage stellte, erwiderte er ohne zu zögern: Ja, natürlich. Was, wohl wissend, dass er sich häufig in Ironie hüllte, nichts anderes bedeutete als: Natürlich nicht. Oder genauer: Ja und nein. Mit dem Kopf gegen die Wand der Literatur anrennen und, sie durchbrechend, zu etwas vordringen, was mehr als Literatur ist. Das tat Kertész,

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wie übrigens auch der russische Schriftsteller vom gleichen Rang, Warlam Schalamow. Leidenschaftlich beschäftigte beide die Frage der „Beschreibbarkeit“: Wie könnte es gelingen, die Lebendigkeit der Erfahrung zu bewahren? Und beide gelangten schnell zur Einsicht, dass sie gerade ihr einziges Werkzeug in Frage stellen mussten: die Literatur. Wie Kertész sagt: „Wenn ich Geschriebenes suche, suche ich es zumeist außerhalb der Literatur, wenn ich mich ums Schreiben bemühte, würde ich mich wahrscheinlich vor dem literarischen Schreiben hüten, denn […] die Literatur ist in Verdacht geraten. Es ist zu fürchten, dass die ins literarische Lösungsmittel getauchte Form nie wieder ihre Dichte und Lebendigkeit zurückgewinnt.“ Was störte sie an der Literatur? Der sogenannte Humanismus jener klassischen Literatur, der im Namen des öffentlichen „Wir“ das heimliche Leben des „Ich“ verkleinerte oder eben bagatellisierte. Für Kertész waren die „Berufshumanisten“ seine wahren Gegner, denn „mit ihrem Wunsch trachten sie nach meiner Vernichtung: sie wollen meinen Erfahrungen die Geltung absprechen“. Schalamow formulierte es noch knapper: „Sobald ich den Ausdruck ‚das Gute‘ höre, nehme ich meine Mütze und gehe.“ Was hatten sie am Humanismus auszusetzen? Dass er die Geschichte als einen unaufhaltsamen Triumphzug zum Guten hin sieht und das Böse deshalb in einem Licht darstellt, als handele es sich dabei um einen Unfall, eine bloße Betriebspanne. Im Gegensatz dazu dehnt Kertész die Schicksallosigkeit auf die Geschichte der ganzen Moderne aus, sie erscheint ihm sogar als ein wesentliches Kennzeichen der liberalen Demokratien. Das, was er als das „staatliche Massenschicksal“ bezeichnet, ist für ihn keine Betriebspanne, sondern eine „negative Erfahrung“, die niemandem erspart wird. Ein bizarres Beispiel, auf welch raffinierte Weise diese negative Erfahrung einem zuteil wird, ist im Roman eines Schicksallosen ein anscheinend harmloses Vergnügen: der Fußball. Der jugendliche Protagonist ist schier verrückt vor Freude, dass es in Auschwitz einen Fußballplatz gibt. Kertész erzählte später, dass ihn während der Arbeit am Roman Zweifel befielen, ob ihn seine Erinnerung nicht täusche, der Gedanke kam ihm doch zu abwegig vor. Als er später Tadeusz Borowskis Erzählung Und sie gingen … las, in dem die Jungen in Auschwitz in der Nähe des Stacheldrahtzauns hinter der Krankenhausbaracke einen Fußballplatz errichten, beruhigte er sich. Auch Hans G. Adler schreibt in seiner gewaltigen Monografie über Theresienstadt (Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 1955) darüber, dass man dort nicht nur einen Spielplatz für die Kinder gebaut hatte, die später umgebracht werden sollten, sondern dass Mannschaften der Gefangenen und der Wächter zu Fußballspielen gegeneinander antraten. Ein Spiel, das wie jedes Spiel seinen Einsatz hatte und doch anders war, als hätte man es draußen gespielt. Diese negative Erfahrung der Verkehrung der Wirklichkeit wurde auch in der Erfahrung des Fiktionalen, des Theaters deutlich, die Hans G. Adler anhand der im Konzentrationslager abgehaltenen Opernaufführungen beschreibt. Normalität wurde im Ausnahmezustand vorgespielt, was zu einer ganz raffinierten Erniedrigung und Entwürdigung der Häftlinge führte: Sie wurden in eine Falle gelockt und seelisch gedemütigt – was bei körperlichen Folterungen nicht selbstverständlich war. In Theresienstadt, das für die SS eine Art „Vorzeigelager“

beziehungsweise „Präsentierlager“ war, wurden regelmäßig Opernaufführungen organisiert, ja manche Opern wurden von den dort einsitzenden Komponisten selbst geschrieben. Zum Beispiel Hans Krásas Kinderoper Brundibár, die von dort gefangen gehaltenen Kindern aufgeführt wurde, die später – gemeinsam mit dem Komponisten – alle ermordet wurden. Sie studierten aber auch klassische Opern und Theaterstücke ein, fertigten dazu die Kostüme und Kulissen an. Manchmal wurden die Stücke in ganzer Länge aufgeführt, zuweilen nur Ausschnitte aus ihnen. Traf zum Beispiel die Kommission des Internationalen Roten Kreuzes ein, so ein Zeuge, standen in den Theatern „die Schauspieler bereit und im Augenblick, als die Kommission eintrat, begann man mitten in einer Oper oder in einem Drama zu spielen. Nach fünf Minuten begab sich die Kommission weiter, und das Spiel wurde unterbrochen […] Fast alle Männer – Künstler, Schauspieler, Komponisten, Sänger, Dirigenten, Instrumentalisten – kamen ums Leben.“ Dieses Theater ist eine Scheinwelt im engsten Sinne des Wortes. Einerseits erinnert es an das „echte“ Theater draußen, das an sich schon eine Illusion ist, der Schauplatz des „Als-ob“. Andererseits findet es in der Welt „drinnen“ statt, die zwar wirklich, mit der Wirklichkeit draußen aber dennoch nicht identisch ist. Infolgedessen unterscheidet sich auch die Illusion „drinnen“ von jener „draußen“. Alles kippt: Die Wirklichkeit erweckt den Eindruck einer Illusion (eines Alptraums), die Illusion den der Wirklichkeit. Das Theater ist zum Pseudotheater geworden. Oder wie es Hans G. Adler treffend formuliert hat: „Im wahren Wortsinn war die Wirklichkeit ver-rückt.“ Die „Ver-rückung“ von Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit ließ die Lagerinsassen nicht ungerührt. Man hatte sie des existenziellen Erlebens ihres Lebens, also ihres Schicksals, beraubt, so dass sie nicht mehr ihre eigene Wirklichkeit lebten. Darum war die Literatur sowohl für Kertész als auch für Schalamow in Verdacht geraten. Denn es ist verdächtig, wenn ein Schriftsteller die verrückte „Wirklichkeit“ von Schicksallosen mittels der Logik herkömmlicher Erlebnisse erfahrbar machen will. Der Unterschied zwischen freien Menschen und Lagerinsassen besteht nicht nur darin, dass die einen eingeschlossen sind und die anderen nicht, sondern darin, dass die Persönlichkeit der einen zerschlagen wurde, die der anderen nicht. Viele begehen, wenn sie über die Lager schreiben, den Fehler, die Insassen weiterhin als heile Persönlichkeiten darzustellen, die die Welt ähnlich sehen wie freie Menschen, nur eben von der anderen Seite des Zauns aus. Das tat zum Beispiel Solschenizyn in einem der bekanntesten Lagerromane, Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Sein Held Schuchow scheint geradezu einer Erzählung von Tolstoi entstiegen zu sein: Seine Gedanken, Reaktionen, Taten, Urteile zeugen von einem seelisch unbeschädigten Menschen, der zudem noch ein guter Mensch ist. Das ist Literatur, wie sie uns vom Realismus des 19. Jahrhunderts vermacht worden ist. Schalamow zuckte bereits bei den kleinsten Details zusammen. Eine Katze könne nicht unter den Gefangenen herumschleichen, meinte er, denn sie hätten sie längst gegessen. Wie könnte Schuchow seine Hände im kalten Wasser waschen? Er (d. h. Schalamow) vermag seine Hände seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr in kaltes Wasser zu stecken, da sie damals erfroren sind. Und so weiter. Seine Folgerung: Solschenizyn „kennt und versteht das Lager nicht“. Nicht weil er nicht selbst ein Gefangener gewesen wäre, sondern weil er mit dem


Glanz der Literatur etwas überzieht, das durch die herkömmliche Literatur nicht mehr darstellbar ist. Auch für ihn gelten die Worte von Imre Kertész: „Vielleicht macht nicht irgendeine Begabung den Menschen zum Schriftsteller, sondern die Tatsache, dass er die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert.“ Und warum soll man sie nicht akzeptieren? Weil die Sprache eine Totalität ist, die den Menschen „sogar aus seinem eigenen inneren Leben aus[grenzt]“. Es bedarf einer neuen Sprache, um die ver-rückte Welt der Lager zu beschreiben. Diese ver-rückte Sprache bezeichnet Kertész als atonale Sprache. Mit Hilfe dieser Sprache konnte er seinen Protagonisten im Roman eines Schicksallosen in jenen Abgrund stoßen, der sich zwischen Wirklichkeit und Irrealität zieht. Der Held in Kertész’ Roman geht den Weg einer völligen Sinnentleerung jeglichen Konsenses, bis er schließlich als identitätsloses Wesen vor uns steht. Wir werden Zeugen einer ganz außergewöhnlichen Leistung. Kertész reduziert und entblößt das sogenannte „Ich“ immer mehr, zieht ihm immer neue Zwiebelschalen der Geschichte ab. Erst wird der Junge seines Namens beraubt, wird dieser durch eine Nummer ersetzt. Später lässt ihn auch sein Körper im Stich. Infolge ständigen Hungers fühlt er sich am Ende nur noch als ein Loch, anstelle des „Ichs“ gähnt in ihm die metaphysische Leere: „Ich verwandelte mich in ein Loch, in Leere, und mein ganzes Bemühen, mein ganzes Bestreben ging dahin, diese bodenlose, diese unablässig fordernde Leere aufzuheben, zu stopfen, zum Schweigen zu bringen.“ Sein Identitätsverlust erreicht einen Höhepunkt in der Episode des Zementtragens. Beim Schleppen lässt er einen Sack Zement fallen und, schon am Boden liegend, traktiert ihn der Wächter noch mit Fußtritten. Fortan hängt der Wächter mit einem Auge immer an ihm, und der Junge paktiert mit ihm, als sei er sein Mittäter: als wolle er gleichsam beweisen, dass er die Last wirklich noch tragen kann: „Zu guter Letzt spielten wir einander beinahe schon in die Hände, kannten uns schon, beinahe las ich schon so etwas wie Befriedigung, Zuspruch, um nicht zu sagen Stolz auf seinem Gesicht, womit er, das musste ich zugeben, unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen sogar recht hatte: wenn auch schwankend, gekrümmt, zuweilen mit Schwärze vor den Augen, so hielt ich doch durch, ich kam und ging, ich trug und schleppte, und zwar ohne einen einzigen weiteren Sack fallen zu lassen, und das war ja – das musste ich einsehen – alles in allem die Bestätigung für ihn.“ Der Junge übernimmt gleichsam die Perspektive des Wächters, während er immer mehr aufhört, er selbst zu sein. Und als er am Ende des Romans nach Budapest zurückkehrt, nimmt seine Einsamkeit kosmische Ausmaße an. In dieser Einsamkeit findet er zu sich – er verharrt außerhalb jeder menschlichen Gemeinschaft. Sein verlorenes „Ich“ taucht dort wieder auf, wo er es am allerwenigsten erwartet hätte: in der kosmischen Einsamkeit. Diesen Zustand bezeichnete die französische Philosophin Simone Weil als heilig. Vielleicht ist dem so. Aber Kertész’ Held erinnert nicht nur an einen Heiligen; er ist auch wie ein Käfer, der in eine menschliche Gestalt geschlüpft ist. Er bewegt sich wie ein Mensch, aber er hat mit den Menschen wenig zu tun. Er ist ein AntiGregor-Samsa. In Kertész’ Romanen zeichnet sich eine Welt ab, in der zum einen die transzendenten Bindungen ihre Gültigkeit verloren haben, zum anderen aber auch das Erbe

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Sorstalanság (deutsch Roman eines Schicksallosen). Bearbeitete Typoskriptseite zum 1. Kapitel, undatiert

der Aufklärung nichtig geworden ist. Statt die Entwicklung seines Schicksals irgendwie beeinflussen zu können, ist der Mensch zu einem Rad in einem Getriebe reduziert worden. Deshalb lässt sich der Zustand der „Schicksallosigkeit“ nicht auf das Dasein im Konzentrationslager reduzieren. „Schicksallosigkeit“ ist für Kertész kein Ausnahmezustand, der mit der Gefangenschaft einsetzt und mit der Befreiung endet, sondern ein Weltzustand. Der erwähnte Inkognito-Verlust ist eines der wichtigsten Themen in Kertész’ Werk. Es hängt mit der Frage der Freiheit zur Selbstbestimmung zusammen. Hat der Mensch die Freiheit, über sich selbst zu bestimmen, oder muss er zwischen den Mühlsteinen der Kollektivismen und Ideologien zermahlen werden? Diese Frage hat uns die Aufklärung hinterlassen, und Kertész glaubt, dass Europa mit diesem Erbe schlecht gewirtschaftet und die Freiheit des Individuums auf dem Altar des Kollektivismus geopfert habe. „Man kann es als die charakteristischste Eigenschaft der Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnen, dass es das Individuum und die Persönlichkeit restlos eliminiert“, schreibt er 1995 in seinem Essay

Das glücklose Jahrhundert. Dieses Phänomen, das er im Galeerentagebuch „staatliches Massenschicksal“ nennt, ist für ihn weder ein Produkt der als Sozialismus bezeichneten Diktatur noch des „Dritten Reiches“. Diese Systeme hätten nur etwas zur perversen Vervollkommnung gebracht, das für die Geschichte der ganzen Moderne kennzeichnend ist: die Leidenschaft für den Kollektivismus, die in seinen Augen folgerichtig zur Erfindung und Errichtung etwa von Auschwitz geführt hat. Im Gegensatz zu vielen anderen führt Kertész Auschwitz nicht auf irgendeine antisemitische oder eben urgermanische Gesinnung zurück, sondern erblickt darin ein durchaus modernes, durchaus europäisches und durchaus heutiges Phänomen. Um aus seinem Tagebuch Ich – ein anderer den vielleicht illusionslosesten Satz seines ganzen Werkes zu zitieren: „Vergessen wir nicht, daß man Auschwitz keineswegs wegen Auschwitz liquidierte, sondern weil das Kriegsglück umschlug.“ Die Schicksallosigkeit betrat die Bühne der Geschichte in dem Moment, als die europäische Kultur zu vergessen begann, dass es etwas gibt, das mächtiger als der

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Mensch ist, und dass auch das, was man als Leben bezeichnet, nur ein winziger Teil von etwas ist, das es überragt und übertrifft. „Kein Zweifel, wir sind uns an der Schwelle des 21. Jahrhunderts in ethischer Hinsicht selbst überlassen“, schreibt Kertész. „Wir sind verlassen von einem universalen Gott, verlassen von universalen Mythen und auch verlassen von einer universalen Wahrheit. […] Uns leiten weder himmlische noch irdische Wegweiser.“ Die Erfahrung des Fehlens der Transzendenz durchsetzt Kertész’ gesamtes Werk. Es scheint mir wichtig festzuhalten, dass es ihm nicht um irgendeine religiöse Suche oder Gottessuche geht. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass Kertész nicht gottgläubig ist; was nichts an seiner festen Überzeugung ändert, dass es irgendeine Transzendenz geben muss, denn ohne sie würde der Mensch tatsächlich zu einem schicksallosen Automaten reduziert werden. „Die transzendente Wirklichkeit umschließt uns wie ein Mutterschoß“, schreibt er im Galeerentagebuch, das ich neben Roman eines Schicksallosen für ein bleibendes Buch seines Lebenswerks halte. „Sie ist das einzig Gewisse, alles, was wir als materielle Gewissheit ansehen, ist tausendfach ungewisser.“ Wenn ich Kertész lese, habe ich oft das Gefühl, ich lausche dem Repräsentanten einer untergegangenen Welt, der andere Horizonte als die Menschen von heute hat, dessen Aufmerksamkeit auf andere Fragen fokussiert ist als die seiner Zeitgenossen. Das, was traditionell als ein „europäischer Intellektueller“ bezeichnet wird, hat beim Eintritt ins 21. Jahrhundert aufgehört zu existieren. Die kritischen Intellektuellen betraten die Bühne

im 18. Jahrhundert und waren bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Beweggründe alle überzeugt, dass der Geist sehr wohl etwas bewirken, das Wort sehr wohl zur Tat werden könne. An solchen Intellektuellen hat Europa schon seit Jahrzehnten immer weniger Bedarf. Ihren Platz haben andere eingenommen, die die Welt (mit Kertész gesprochen: die Welt „des Ökonomismus, des Kapitalismus, des ideallosen Pragmatismus“) nicht verändern, sondern höchstens ihre Funktionsweise beschreiben – oder noch besser ihr dienen wollen. Auch die Welt des Geistes funktioniert nach den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie. Gerade weil er dieser Unterhaltungsindustrie zuwiderläuft, wirkt Kertész’ Lebenswerk oft anachronistisch und unbequem. Obwohl er nichts anderes tut, als unser Zeitalter, das lautstark den Anspruch erhebt, globaler Erbe des Christentums und der Aufklärung zu sein, beim Wort zu nehmen und gerade dadurch zu entlarven, dass er die Tradition des Christentums und der Aufklärung ernst nimmt. Es ist wegen seines Röntgenblicks, dass ich Kertész für einen klassischen europäischen Intellektuellen halte. Einen der letzten. Er ruft den Eindruck eines großen Tabubrechers hervor. Verwundert es da, wenn wir ihn bei aller Würdigung insgeheim wie einen Fremden, einen vom Aussterben bedrohten Menschentyp betrachten? Mir geht es jedenfalls so mit ihm. Und dabei amüsiert er sich über uns. Wenn ich sein charakteristisches, schon von fern alles durchdringendes Lachen vernahm, das sich so befreit anhörte, als käme es von jemandem, den nichts mehr gefangen hält, dann hatte ich immer das Gefühl, dass der unvergleichliche Klang seines Gelächters aus

einer Ferne widerhallt, die ich vielleicht gar nicht mehr erreichen werde. Lachen? Gelächter? „Das ist kein Grinsen, aber doch mehr als ein Lachen“, schrieb Péter Esterházy über Kertész, „sein Vater ist das Wiehern, das schallende Gelächter seine Mutter. Von diesem grandiosen, gelächterartigen Etwas müssten wir reden, seiner Einfachheit und kosmischen Natur, seiner Kraft, seiner Heiterkeit, seiner Verzweiflung, seiner Glückseligkeit, seiner Einsamkeit.“ Dieses Lachen ist der zu einem Lachen verzerrte Hilfeschrei des aus dem Schicksal ausgestoßenen Menschen. Den Humor, so Kertész, hätten die Menschen wegen der Unzulänglichkeit Gottes erfunden; wäre Gott vollkommen, gäbe es keinen Humor. Gewiss, aber was passiert, wenn es Gott nicht mehr gibt? „Wenn Gott tot ist, wer lacht dann am Ende?“

DAS IMRE-KERTÉSZARCHIV

Drei Koffer und fünf Bananenkartons mit Werkunterlagen bildeten im Oktober 2001 den Grundstock des ImreKertész-Archivs an der Akademie der Künste. Imre Kertész hatte sein Archiv als Vorboten nach Berlin geschickt, denn ab 2002 lebte er in dieser Stadt, in der er nach eigenem Bekunden seine glücklichsten Jahre verbrachte und wo er 2003 zum Akademie-Mitglied gewählt wurde. Ein zweiter großer Zuwachs von ca. 4 laufenden Metern kam 2012 ins Haus, als Kertész krankheitshalber seine Rückkehr nach Budapest vorbereitete und Magda Kertész die Berliner Wohnung auflöste. Über das Gesamtarchiv war 2011 ein Kaufvertrag abgeschlossen worden, der mit Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Kulturstiftung der Länder und der Friede-Springer-Stiftung im Jahr 2012 realisiert werden konnte. Im November 2012 wurde das Imre-KertészArchiv feierlich in der Akademie eröffnet. Kulturstaatsminister Bernd Neumann würdigte in seiner Rede diese Übereignung als „bewegende Geste des Vertrauens und der Versöhnung, dass Imre Kertész als Überlebender des Holocaust dieses einmalige Œuvre auf Dauer einer Akademie in der Hauptstadt Deutschlands überlässt.“ Mit einem weiteren großen Zuwachs im Jahr 2016, nach dem Tode des Schriftstellers, befinden sich heute etwa 70.000 Blatt Schriftgut aus dem Leben und Schaffen von Imre Kertész im Berliner Akademie-Archiv. Von nahezu allen seit 1975 veröffentlichten Romanen, Erzählungen, Essays und autobiografischen Werken Kertész’ existieren die eigenhändigen und maschinenschriftlichen

Manuskripte, von den Urfassungen bis zu den Endfassungen und Druckfahnen, die überwiegend mit autografen Korrekturen, Streichungen, Zusätzen versehen sind, darunter die Entwürfe, Fassungen und Manuskripte zu den bedeutenden Romanen wie Roman eines Schicksallosen, Fiasko, Galeerentagebuch und Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Wesentliche Erkenntnisse und Aussagen, die sein bisher bekanntes schriftstellerisches Lebenswerk entscheidend ergänzen und vertiefen, sind in der vollständigen Reihe der Tagebücher zu finden, die Kertész ab 1961 konsequent führte. Darüber hinaus erlaubt eine umfangreiche, vor allem berufliche Korrespondenz ab ca. 1988 Einblicke in die schriftstellerische Existenz des Autors. Als besonderer Schatz sind die etwa 60 Originalbriefe von Imre Kertész an Eva Haldimann anzusehen, die im Zusammenhang mit der Veröffentlichung im Jahr 2009 wieder in Kertész’ Besitz zurückgegangen und mit seinem Nachlass nach Berlin gelangt sind. Schließlich ergänzen Lebensdokumente, Fotografien, Urkunden und Medaillen – auch die Goldmedaille des Literatur-Nobelpreises 2002 –, audiovisuelle Materialien, Plakate und eine Fülle von Rezeptionsunterlagen den Bestand des Imre-Kertész-Archivs, das unter folgendem Link recherchierbar ist: https://archiv.adk.de/bigobjekt/9512.

Sabine Wolf

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LÁSZLÓ F. FÖLDÉNYI, geboren 1952 in Debrecen (Ungarn), ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u. a. Friedrich-GundolfPreisträger. Seit 2009 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

SABINE WOLF ist Stellvertretende Archivdirektorin in der Akademie der Künste, Berlin.


NEUERWERBUNG IM ARCHIV

ALLES DAHIN!

Maren Horn

DIE WILDE BÜHNE DER TRUDE HESTERBERG IN BERLIN (1921–1923)

Trude Hesterberg mit ihrem ersten Auto, 1922

EIN VERBORGENES ARCHIV

oben: Freikarte für Trude Hesterbergs Wilde Bühne unten: Quittung über Abschriften für Trude Hesterberg von Joachim Ringelnatz, 11. Oktober 1923

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Als ein Feuer am 16. November 1923 Noten, Unterlagen, Kulissen, Plakate, ja sogar das Klavier – kurz, die Räumlichkeiten – des Kabaretts Wilde Bühne komplett vernichtete, befand sich Trude Hesterberg auf einer Gastspielreise in der Schweiz. Zwei Jahre zuvor hatte sie – knapp 29-jährig – am 15. September 1921 im Unter­geschoss des Theaters des Westens in der Kantstraße 12 die Bühne gegründet. Deren Name war Programm: Maßgeblich trug Hesterberg (1892–1967) zur Etablierung des modernen literarisch-politischen Kabaretts bei. Legendär wurde der mit Bertolt Brechts Auftritt verbundene Skandal im Jahre 1922. Er hatte nur zwei Lieder vorgetragen: Nach der Ballade vom toten Soldaten entstand ein Tumult, und Walter Mehring rief dem johlenden Publikum zu: „Meine Damen und Herren! Das war eine große Blamage, aber nicht für den Dichter, sondern für Sie. Und Sie werden sich noch eines Tages rühmen, daß Sie dabeigewesen sind!“ Trude Hesterberg war jung, unbekümmert, mutig, charmant, kritisch, temperamentvoll, witzig, geist- und ideenreich, und sie hatte ein zielsicheres Gespür für Talente. Neben Brecht holte sie

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Anzeige zum Eröffnungsprogramm der Wilden Bühne, In: Metropol Theater Berlin, September 1921

Trude Hesterberg in der Wilden Bühne beim Vortrag des Liedes „Die kleine Stadt“ von Walter Mehring, Musik: Werner Richard Heymann, 1921–1923

unter anderen Joachim Ringelnatz, Klabund, Max Herrmann-Neiße, zu „seiner endgültigen Verstempelung“ binnen zwei Wochen wieKate Kühl, Annemarie Hase, Margo Lion und Wilhelm Bendow auf der vorgelegt werden. Alles wurde vorschriftsmäßig erfüllt, bewahrte die Bühne die Bühne. Bekannte Autoren wie Kurt Tucholsky und Walter Mehring – letzterer hatte auch die literarische Leitung über­ jedoch nicht vor ihrem abrupten Ende, als jemand vergaß, den nommen – sowie der musikalische Leiter Werner Richard Heymann Stromhaupthebel auszuschalten, und in Folge ein heißgelaufener nebst den Komponisten Friedrich Hollaender und Mischa Spoliansky Ventilator nachts die Katastrophe verursachte. An eine Instandsorgten mit einer Mischung aus hohem künstlerischen Anspruch, setzung war auch wegen der rasanten Inflation nicht zu denken. Abwechslungsreichtum und einem gehörigen Maß an Provokation Die letzten Rechnungen, so für die Lichtreklame am Kurfürstenfür den Erfolg der Kleinkunstbühne mit ihren 127 Zuschauerplätzen. damm oder für Zeitungsanzeigen, beliefen sich schon auf MilliarTrude Hesterberg – frühzeitig fasziniert von der Theaterwelt, mit denbeträge. Das Geld war mittlerweile so wertlos geworden, dass solider Gesangsausbildung, die sie dem Vater abgetrotzt hatte – Trude Hesterberg ihre Mitstreiter mit Parkettplätzen im Tageskurs stand selbst auf der Bühne; bald auch auf ihrer eigenen. Als viel- bezahlte. Dies wurde sogar in Verträgen festgehalten, wie der mit seitig begabte Kabarettistin, Chansonsängerin, Soubrette, Diseuse Walter Mehring am 1. November 1923 geschlossene belegt. Weiund Operettensängerin bewegte sie sich mühelos im Theater wie tere Dokumente künden von bewegten Zeiten der Wilden Bühne im Film. Kurzweilige, unterhaltsame und künstlerisch anspruchs- und von bewegten Lebensjahren der Trude Hesterberg. Diese schriftlichen Zeugnisse dürfen als bedeutendster Teilvolle Programme garantierten den Erfolg der Kleinkunstbühne. Aber nicht nur die künstlerischen Angelegenheiten meisterte nachlass der Künstlerin angesehen werden. Sieben Archivkästen Trude Hesterberg bravourös, auch Verwaltungs- und organisatori- sind gefüllt mit Unterlagen zur Wilden Bühne, mit Verträgen, Prosche Aufgaben gehörten zur Leitung einer solchen Spielstätte. grammen und Geschäftspapieren. Hinzu kommen LebensdokuIn zehn Einzelpunkten legte der Stadtausschuss von Charlotten- mente, Texte von Trude Hesterberg sowie Noten, zum Teil mit ihren burg alle Bedingungen zur „gewerbsmäßigen Veranstaltung von Anmerkungen zur Vortragsweise. Einige Briefe, zahlreiche Fotos Singspielen und theatralischen Vorstellungen“ fest, wie Beleuch- und Zeitungsartikel aus den 1920er Jahren bis zu ihrem Tod blättung, Bestuhlung, aber auch das Auftreten der Darsteller nur in tern das gesamte Leben der Künstlerin auf. Nach dem Ende der „Straßen- oder Gesellschaftskleidern“. Der Erlaubnisschein musste Wilden Bühne nahm sie wieder Operetten-Engagements an und

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spielte in Filmen mit. 1933 gründete sie nochmals eine eigene Bühne in Berlin, die Musenschaukel, die jedoch nach wenigen Wochen im Februar 1934 verboten wurde. Nach dem Krieg siedelte Trude Hesterberg nach München über, wo sie sowohl der Bühne als auch dem Film treu blieb. Auch über bisher wenig bekannte, tragische Ereignisse geben die Archivunterlagen Auskunft: Hesterbergs Ehemann, Dr. Fritz Schönherr, wurde in den letzten Kriegstagen am 30. April 1945 von der SS erschossen. Hesterberg und Schönherr hatten im Juni 1936 in Berlin-Charlottenburg geheiratet, seit 1939 leitete der promovierte Kaufmann ein Handelsgeschäft mit Möbeln und Konfek­ tionswaren, die Firma Berthold Feder am Rosenthaler Platz. Dass diese Dokumente gut fünfzig Jahre nach Trude Hesterbergs Tod erstmalig in den Fokus der Öffentlichkeit rücken können, ist Helga Bemmann zu verdanken – einer der profundesten Kennerinnen der Varieté- und Kabarettszene der 1920er und 1930er Jahre. Sie war Journalistin, Buchautorin und von 1958 bis 1969 Lektorin für Unterhaltungskunst im Henschelverlag. Über Jahrzehnte trug sie umfangreiches Arbeitsmaterial und Fotografien über Künstlerpersönlichkeiten dieser Zeit (Autoren, Komponisten, Schauspieler, Sänger, Artisten etc.) zusammen und stand mit Prominenten oder deren Angehörigen in Briefkontakt (dazu zählten: Blandine Ebinger, Erika Mann, Walter Mehring, Muschelkalk Ringelnatz, Mary Tucholsky). Durch ihre Freundschaft mit Trude Hesterberg gelangten schließlich die Originaldokumente in Helga Bemmanns Haus ins Märkische und nunmehr als Kryptobestand im Zuge der großzügigen Schenkung ihres gesamten Archivs in die Akademie der Künste. Die Material-, Foto- und Notensammlungen Helga Bemmanns sind in ihrer Art der Zusammenstellung eine Besonderheit, da sie sich einem „randständigen“ (jedoch nicht unbedeutenden) Thema widmen und wichtige biografische Informationen sowohl über Prominente als auch über heute teils vergessene Persönlichkeiten liefern. Vor allem das Fotoarchiv erscheint in seinem Umfang und in der Qualität der Vorlagen von besonderem Wert. In allen Sammlungsteilen sind darüber hinaus immer wieder Originale und seltene Druckschriften zu finden. Also doch nicht „Alles dahin!“, wie Hesterberg in ihren Memoiren schrieb, denn ein kleiner, papierener Teil der Wilden Bühne hat die Jahrzehnte überlebt und nunmehr einen dauerhaften Platz zwischen den Archiven von Bertolt Brecht, Annemarie Hase, Werner Richard Heymann, Heinrich Mann, Alfred Kerr, Klabund, Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Erich Weinert, Marcellus Schiffer, Margo Lion und vielen anderen gefunden. MAREN HORN ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Literaturarchiv der Akademie der Künste, Berlin.

Vertrag zwischen der Wilden Bühne und Walter Mehring, 31. Oktober 1923

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NEUES AUS DEM ARCHIV „WIR WARTEN AUF DAS PROGRAMM DER ZUKUNFT“

oben: Stills aus Der Dom als Medium / Global Groove (1980) von Nam June Paik links: Künstler der Ausstellung VideoSkulpturen (1989), Kölnischer Kunstverein, Wulf Herzogenrath unten rechts rechts: Herbert Wentscher, Wir warten auf das Programm der Zukunft, Widmung vom 29. Juli 1985 im Gästebuch Nr. 8

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Wie lässt sich analoge Videokunst mediengerecht archivieren? Die Frage stellte sich 2012 bei der Übernahme von 540 Videobändern aus der Schenkung von Wulf Herzogenrath, der in Deutschland als Kurator entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich Video als neues künstlerisches Medium etablieren konnte, um spätestens seit den 1980er Jahren im Rahmen internationaler Ausstellungen gleichberechtigt neben Bildobjekten der Malerei und Fotografie präsentiert zu werden.

VIDEOKUNST IM AKADEMIE-ARCHIV

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1977 widmete die documenta 6 der Videokunst erstmals eine eigene Abteilung, die von Wulf Herzogenrath kuratiert wurde und einen systematischen Überblick über die damals noch junge Kunstgattung lieferte, gefolgt von weiteren Sonderausstellungen und Publikationen während seiner Tätigkeit im Kölnischen Kunstverein (1973– 1989) und als Direktor der Kunsthalle Bremen (1994– 2011). 2006 wurde Herzogenrath zum Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, gewählt, wo er seit 2012 als Direktor der Sektion Bildende Kunst sein Engagement für die zeitgenössische Kunst fortsetzt. Die Entstehung der Videokunst hatte ihren Ursprung in der politisch aufgeladenen Atmosphäre der späten 1960er Jahre, in der die Akteure auf der Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksformen eine ungewöhnliche Kreativität im Umgang mit neuen Technologien entwickelten. Während für die amerikanischen Künstler neben bildtechnischen Experimenten zunächst die Auseinandersetzung mit dem Massenmedium Fernsehen im Vordergrund stand, wurde die neue Technik in Deutschland vorwiegend als multimediales Gestaltungselement in Verbindung mit Live-Performances eingesetzt, um als Weiterführung von Happening und Fluxus den etablierten Kunstbegriff aufzubrechen. Die Videotechnik ermöglichte mit ihren tragbaren Kameras und Monitoren das Experimentieren mit Bewegtbildern in einer nie dagewesenen Form, denn sie erlaubte den Künstlern, vergängliche Aktionen wie Selbstdarstellungen im Galerieraum (Dieter Roth) oder Interventionen in einer Fußgängerzone (Valie Export) live aufzuzeichnen und die Aufnahmen schon während des Filmens zu kontrollieren oder zu verfremden, um eine „zweite Wirklichkeit“ zu schaffen. Die Einbeziehung und Reaktionen des Publikums gehörten dabei zum Konzept. Nam June Paik, der als Begründer der Videokunst gilt, propagierte in Arbeiten wie seinem legendären Global Groove von 1972 die Vision eines universellen Künstlerfernsehens. Mit Spezialeffekten wie Überblendungen und Unschärfen nahm er nicht nur die Bildsprache von Musikvideos vorweg, sondern beeinflusste auch die zeitgenössische Malerei. In der Archivsammlung Herzogenraths ist Paik mit mehr als 90 Bändern in Form von Dokumentationen, Interviews und zahlreichen eigenen Werken vertreten, darunter Unikate wie Der Dom als Medium von 1980, in dem Paik Aufnahmen von einer Rollerskaterin vor der Kulisse des Kölner Doms mit Tanzszenen aus dem Global Groove collagierte, ein für ihn typisches Verfahren. Das Video wurde 2012 für eine Präsentation in der „Langen Nacht der Museen“ in Köln restauriert und in der von Paik ursprünglich vorgesehenen Installation hinter einem Aquarium gezeigt. Die künstlerischen Möglichkeiten der Verwendung von Videotechnik sind vielfältig, von medienkritischen Werken, wie die von Jochen Hiltmann, der den schwarzen Kasten des Röhrenbildschirms als Objekt benutzt, aus dem der Künstler virtuell auszubrechen versucht, über experimentelle Anwendungen zur Visualisierung von Klängen mit Hilfe von Synthesizern, Dokumenta­ tionen von Konzeptkunst oder Live-Performances bis hin zu Videoskulpturen (Friederike Pezold) oder Raum­ installationen, bei denen der Betrachter mit Hilfe von Kontrollkameras selbst zum Akteur wird (Bruce Nauman). Bei der Archivierung von Videokunst sind daher stets mehrere Perspektiven zu berücksichtigen: die kreative Anwendung des elektronischen Mediums, die eine Einordnung in die Kategorie Kunstwerk rechtfertigt, der

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oben: Bjørn Melhus, Lieber Wulf, you are not alone, Widmung vom 5. August 2000 im Gästebuch Nr. 18 unten: Nam June Paik, Videokassette All Star Video (1984) mit persönlicher Widmung: „Dr. Herzogenrath – Paik“

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Ebenfalls in der Ausstellung vorgestellt und erstmals öffentlich präsentiert wird eine Kollektion von Gäste­ büchern aus dem Besitz von Wulf Herzogenrath mit originalen Widmungen von Künstlerinnen und Künstlern, Zeugnisse seiner zahlreichen beruflichen wie privaten Begegnungen zwischen 1967 und 2018. Die Einträge der ca. 1.400 Künstler reichen von einfachen Textwidmungen über eingeklebte Fotos und Materialcollagen bis zu aufklappbaren, dreidimensionalen Gebilden. In der Zusammenschau lesen sich die Widmungen wie ein Who’s who der internationalen Kunstszene, darunter nicht nur Videokünstler und -künstlerinnen wie Marina Abramović, Bill Viola oder Nam June Paik, sondern auch Vertreter anderer Sparten wie Joseph Beuys, Robert Wilson, William Kentridge oder Ai Wei Wei. Für die Präsentation dieser Beiträge beschreitet das Archiv ganz neue Wege. Mit der von Ivo Wessel eigens programmierten Gästebücher-App wurde erstmals eine multimediale Anwendung geschaffen, die den Besuchern die Möglichkeit gibt, die vielfältigen Bezüge im Geflecht der persönlichen Beziehungen und Arbeitsverbindungen der gerade aktuellen künstlerischen Projekte zu recherchieren. Neben den beschreibenden Texten zu den Künstlerbeiträgen gewähren die ergänzenden Kommentare und Erinnerungen von Wulf Herzogenrath sehr lebendige Einblicke in die Form der Zusammenarbeit. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen seit den 1990er Jahren erscheint Paiks Prognose von 1965 zur Entwicklung der Kunst aktueller denn je: „Eines Tages werden die Künstler mit den elektronischen Apparaturen arbeiten, wie sie es heute mit Pinsel, Violine oder Abfällen tun.“2

Dokumentationsfoto zu Ulrike Rosenbach, Sorry Mister (1974), Kölnischer Kunstverein

1  Das ZKM Karlsruhe hat für die Restaurierung und Digitalisierung von analogem Videomaterial eigens ein „Labor für antiquierte Videosysteme“ eingerichtet. Siehe auch: Christoph Blase, Peter Weibel (Hg.), Record Again! 40 Jahre Videokunst.de, Teil 2, Ostfildern 2010. 2  Nam June Paik im Flugblatt Electronic Videotape Recorder, New York 1965, abgedruckt im Katalog N.J.P., Kölnischer Kunstverein, 1976.

inhaltliche und räumliche Kontext, in dem die Videobänder gezeigt wurden (z. B. Mehrkanal-Installationen), und allem voran das technische Format, das für die Erhaltung und Präsentation eine elementare Rolle spielt, da die passenden Abspielgeräte für die Digitalisierung vom Markt verschwinden und bald nur noch in musealen Sammlungen zu finden sein werden.1 Hier setzt die Arbeit des Archivs ein, mit so grundlegenden Fragen wie: Verändert sich der Charakter des Werks bei der Übertragung der analogen Vorlage in ein digitales Format? Lohnt es sich, analoge Kopien digital zu sichern, oder fragt man besser den Künstler/die Künstlerin nach den Mastertapes? Hat die analoge Videokassette den Status eines Originals oder geht es nur um die Erhaltung der Inhalte? Unter den 540 Videobändern des HerzogenrathArchivs finden sich neben signierten Künstlervideos zahlreiche Belegexemplare und Arbeitskopien von Bändern, die in Ausstellungen gelaufen sind, Aufzeichnungen von Fernsehsendungen mit Interviews und Berichten über Ausstellungen, aber auch Demobänder von Künstlern, die nie öffentlich gezeigt wurden. Die Sammlung enthält also nicht nur die sogenannten Highlights der Videokunst, die in allen auf Medienkunst spezialisierten Sammlungen zu finden sind, sondern deckt die ganze Bandbreite der künstlerischen Produktion und somit die Geschichte der Videokunst selbst ab. Ergänzend erhielt

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die Akademie das gesamte schriftliche Archiv mit Korrespondenzen, Fotos, Entwürfen zu Installationen und anderen Dokumenten sowie eine umfangreiche Fach­ bibliothek zur Videokunst. Genau diese Kombination aus Videobändern und Begleitmaterial macht die Einzigartigkeit und das Besondere des Herzogenrath-Archivs aus, das aufgrund seines reichhaltigen Studienmaterials von Wissenschaftlern wie von Museumsleuten regelmäßig konsultiert wird. Erst jüngst bat die amerikanische Künstlerin Joan Jonas um die Zusendung einer digitalen Arbeitskopie ihrer Performance Mirage von 1977 (documenta 6), da sie selbst keine Videodokumentation davon vorliegen hatte und die Aufzeichnung für die Re-Inszenierung ihrer Performance in einer aktuellen Ausstellung der Tate Modern in London benötigte. Im Rahmen des Festivals Videoart at Midnight im Dezember 2018 wird diese einzigartige Studiensammlung zur Geschichte der Videokunst in einer Ausstellung zur Eröffnung des Herzogenrath-Archivs vorgestellt. Die Ausstellung richtet den Fokus auf einige frühe Projekte, die für die Entwicklung und Verbreitung der Videokunst in Deutschland prägend waren, wie die Kölner Ausstellung Projekt ’74 mit dem weltweit ersten elektronischen Videokatalog, die Videoabteilung der documenta 6 von 1977 sowie einige repräsentative Videoprojekte aus den 1980er Jahren.

UTA SIMMONS ist Kunsthistorikerin und leitet das Medienarchiv der Akademie der Künste, Berlin.

Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums von „Videoart at Midnight“ werden im Dezember 2018 in der Akademie der Künste erstmals ausgewählte Materialien des Herzogenrath-Archivs öffentlich präsentiert. 2017 wurde das Archiv durch eine Schenkung von 22 Editionen jüngerer Video­produktionen erweitert, die seit 2008 im Kino BABYLON in Berlin-Mitte zu sehen waren. Bei dem Festival, das die Initiatoren Olaf Stüber und Ivo Wessel kuratieren, wird die Akademie-Veran­s taltung mit einem Rückblick auf die frühen Jahre der Videokunst den Auftakt bilden (12.–16. Dezember 2018, Akademie der Künste, Hanseatenweg).

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NEUES AUS DEM ARCHIV

WIELAND FÖRSTER „… WEIL AUS DEM ZWEIFEL DAS WACHSTUM ENTSTEHT“

Aus Wieland Försters Tagebuch Nr. 15, September 1972 bis November 1973

Wieland Förster im Atelier Greifswalder Straße, Berlin, 1965

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Vorabdruck aus: Wieland Förster, „… weil aus dem Zweifel das Wachstum entsteht“. Aus den Tagebüchern von 1958 bis 1974 (Archiv-Blätter 24)

Im Zentrum des Bandes stehen Auszüge aus den unveröffentlichten Tagebüchern des ehemaligen AkademieMitglieds Wieland Förster (er trat 1991 während der Auseinandersetzungen um die Akademie-Vereinigung aus). Der heute in Brandenburg lebende Künstler zählt zu den bedeutendsten figurativen Bildhauern Deutschlands. Doch seine Begabungen liegen nicht allein auf dem Gebiet der Plastik. Neben seinen international geachteten Denkmälern und Porträts schuf er ein umfangreiches grafisches Werk, zeichnete, malte und schrieb. Nun gibt die Publikation Einblick in seine inzwischen fast zweihundert Tagebücher, die künftig das bereits 2010 an der Akademie der Künste eingerichtete Wieland-FörsterArchiv ergänzen werden. Die kleinen, unscheinbaren Notizhefte vermitteln neue Einsichten in die Biografie des Künstlers und die Entstehung seines Werkes. Thematisiert werden Försters künstlerisches Selbstverständnis, sein Ringen mit der Kulturpolitik und seine Selbstbehauptung in schweren Zeiten. Der Band wurde vom Archiv Bildende Kunst in der Reihe „Archiv-Blätter“ gemeinsam mit Eva Förster erarbeitet. Er erscheint im Oktober 2018 und wird in einer Lesung mit Ulrich Matthes am 13. Oktober 2018, 19 Uhr in der Akademie der Künste, Pariser Platz, vorgestellt. MICHAEL KREJSA, Leiter des Archivs Bildende Kunst,
 Akademie der Künste, Berlin

VIELLEICHT BIN ICH EIN TRÄUMER 3. FEBRUAR 1964

[…] Abends am kleinen Akt in der Akademie. Abends, es war sehr dunkel, kläfften die Hunde in der Feuerzone an der Mauer. Sie bellten mir nach und sprangen an den Zäunen hoch. Ihr Laufgang liegt nicht an der Westgrenze, sondern an der Ostgrenze. Ihr Bellen und Heulen war bis vom Potsdamer Platz her zu hören. Scheinwerfer suchen Gebäude ab. Das ist sehr deprimierend, mehr noch, beleidigend. Da steht man 30 Meter von der Feuerzone in einem Raum und arbeitet an einem Akt, kommt heraus, noch befangen und in Gedanken und da ist die Wirklichkeit – 8. FEBRUAR 1964

Vormittag Akt Akademie, Cremer kam und stach. Ja, barock! Es macht mir halt Spaß, barock zu sein. Ich möchte aber doch besser sagen: vital. Was will ich denn weiter, als daß jede Form plastisch-vital aufblüht […]. Leid und Tod trag ich genug im Herzen. Es bleibt dabei. […] 12. FEBRUAR 1964

[…] Beckmann wäre heute 80 geworden. Aber er hat trotz seines zu frühen Todes ein riesiges Werk, ein grandioses Werk. Und er lebt und lebt, mit mir und vielen anderen. Da können auch seine Ignoranten, die Politischen und die Banausen nichts ändern, sie sind alle Wichte gegen diesen Riesen. […]

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16. FEBRUAR 1964

[…] Abends radiert – nichts. Es fällt mir so schwer, auf Kommando zu arbeiten. Etwas im Barlach geblättert, zum richtigen Lesen bin ich einfach zu müde. Wie lange habe ich schon kein Buch mehr gelesen. Nur meine Musik, sie entspannt mich und frischt mich auf. 19. FEBRUAR 1964

[…] Wenig Schlaf gefunden in der Nacht. Will die winzige Statuette „Ich als Gefangener“ […] weitermachen. Es ist das erste Tasten in dieser Richtung. Es soll mein Credo werden, nicht persönlich, sondern für alle, die in diesem „Gefangenenjahrhundert“ viele Jahre ihres Lebens irgendwo gefangen waren. Wie viele Milliarden Stunden Leid doch gelebt wurden und es geht alles weiter, alles weiter.

29. JUNI 1964

[…] 12 Uhr geht es zu Vent auf die Kolchose, die Sitzende wird begonnen. Versteckte, unerklärte Trauer. 4. JULI 1964

Vormittags H. Vent kurz hier. Nachrichten von „außen“. Interessiert mich nicht. […] Alles idyllisch hier. Erinnerung an Stifter, Nachkommenschaft, das Fachwerkhaus, […] die Kiefern und das Gefühl der Abgeschiedenheit auf ein Ziel hin. Es ist schön hier. Wenn die Kräfte reichen, heut ging es besser, dann sind es glückliche Tage […], allein beruhigt die Verbindungslosigkeit mit der Welt. Zwar, es gibt immer diese Augenblicke, wo mir das Herz friert, diese Erinnerung an eine Schuld. Es bleibt nur das Werk, das mir hilft. 12. JULI 1964

4. MÄRZ 1964

[…] Von 17 bis 23 Uhr bei Ebert. Schöner Abend, Bilder angesehen. […] Tausch vereinbart. Er schenkt mir ca. 3 cm rundes Bild. Hat es unter Angst von einer Platte heruntergeschnitten – Angst vor seiner Frau! Qualität unterschiedlich, aber sehr schöne Sachen dabei. Er ist einfach gut „proletarisch“, gerade und verständig. […] schöner Abend, man fühlt sich nicht angegriffen und nicht vergewaltigt. 21. MÄRZ 1964

Wieder im Atelier! Ausstellung eröffnet. Sah ganz manierlich aus. Viele Kollegen da, mit […] guter Meinung auch über Bilder. […] Lang hat etwas sehr Gutes gesagt, Treffendes für mein Empfinden, „die Bilder schweigen uns an“. Das scheint mir Schlüsselwort für eine gewisse, mir liebe Kühle […]. Ich möchte nicht so „Anspringendes“ machen. […] Programm der Eröffnung sehr schön, Debussy und Schubert-Lieder. Gehen wir also ans Aufräumen meines Stalls, morgen dann wieder streng an die Arbeit. […] Übrigens Lang sagte: Sie arbeiten nicht für den Tag, sondern für die Zeit, hoffen wir es.

[…] Es gibt in der Kunst keinen Naturalismus. Höchstens in der „Unkunst“, und darüber braucht man nicht zu sprechen. Gedanken über die Intoleranz. Die Toleranz müßte die geistige Errungenschaft unseres Jahrhunderts sein. Es ist Zeit. Die Wissenschaft ist gediehen, sie hat gelernt, Erkenntnisse angehäuft und ist weit, wenn man will. Und der Mensch? […] Er liegt zurück, tief im Vergangenen und ist fast immer unwürdig subjektiv, rechthaberischdumm. Es ist Zeit, zum großen toleranten Denken, zur Erkenntnis des Rechts des Anderen und damit zum Verstehen und weiter zur Vergebung und Güte. Hinterher kommt das Jahrhundert der Gnade. 18. JULI 1964

Seit drei Tagen wieder in Bergfelde. Hier draußen, abgeschnitten von der Welt – bin ich fast, stundenweise, glücklich. Arbeit und Ruhe. Es geht voran mit der Figur. Heut 9. Tag und gut gediehen. Fehlt etwas Modell. Sechs Zeichnungen gemacht. Kohle. Wohl noch nicht ganz, was ich wünsche, aber wieder ein Anfang – und ich hatte unbändige Lust. Wie gut so ein Frieden sein kann. […] 27. JULI 1964

22. MÄRZ 1964

Mittags kurz mit Vent in Akademie-Ausstellung. Es ist ein Jammer, was da von den Leuten gezeigt wird. […] 15. APRIL 1964

[…] Aus Paris, sehr freundlich, Eliasberg. Will, Träumer, für mich eine Ausstellung in Paris unterbringen!

[…] Der Tag bricht langsam, fast unmerklich in sich zusammen, die Luft ist reglos, der Himmel vom Sonnenniedergleiten – rosa – himmlisches Rosa, immateriell. Es ist wie ein Frieden. Hin und wieder bellen und hecheln laut die Hunde, Wachhunde, auf Menschen abgerichtet, die Grenze ist nur 100–200 Meter von hier. Soweit der Hintergrund. […] 10. SEPTEMBER 1964

TOLERANZ MÜSSTE DIE GEISTIGE ERRUNGENSCHAFT UNSERES JAHRHUNDERTS SEIN 3. JUNI 1964

Früher Abend. Böser Tag. Körperlich und arbeitsmäßig Tiefpunkt. Den Akt […] endgültig zum Teufel gejagt. Es ist bitter und führt an die Grenze, diese anhaltende Krise, oder ist das die wirkliche Verfassung von mir? Und die besseren Zeiten eine Euphorie. Ich bin hoffnungslos unglücklich, nein, nicht unglücklich, das ist ein […] lebbarer Zustand. Ich bin fast aufgegeben von mir. Die Welt tut ein Übriges. Ich werde noch tiefer mich verkriechen. Mein Kopf ist so müde, wie wenn ich wochenlang ohne Schlaf wäre. Klage beendet, ich muß ja weitermachen oder mich aufhängen, und das hat noch Zeit.

[…] man versucht, mich zu propagieren, dabei gibt es nichts. Der Felsenstein soll im ND von Feist beschrieben werden. Ach, bitte, laßt mich in Ruhe, ich brauche keinen Erfolg, ich brauche Ruhe, ich möchte weg, wo ich ruhig bleiben kann. Man bleibe mir vom Halse. Alles Geschreibe stimmt sowieso nicht, mir geht es nur um die Kunst und meine Arbeit würde ich genauso in Hamburg oder Paris tun.

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NEUES AUS DEM ARCHIV 52

FUNDSTÜCKE Susanne Nagel

SCHREIBEN ALS KULTURGUT – 50 JAHRE SCHULAUSGANGSSCHRIFT 1968

Dass Computer und Smartphone spürbare Auswirkungen auf das geschriebene Wort haben, steht außer Zweifel: Je kleiner das Medium, umso schlichter werden die Zeichen, die Sprache reduzierter, die Mitteilungen informeller. Als primärer Weg der Informationsvermittlung ist die Funktion der Handschrift drastisch reduziert und beschränkt sich überwiegend, wenn überhaupt noch, auf den privaten Raum – Notizzettel, seltene Urlaubskarten, Briefe. Wer schreibt sie noch? Entweder die ältere Generation, die sich nicht mehr mit der neuen Technik anfreunden möchte, oder eine fast schon elitäre Gruppe, die sie ganz bewusst als Alternative zur digitalen Welt oder aus Nostalgie einsetzt. Ob diese technische Entwicklung die Handschrift verdrängt oder gar überflüssig macht, vermag derzeit niemand zu prophezeien. Im Archiv ein Grundpfeiler der täglichen Arbeit – die Handschrift einer Person zu entziffern oder ihr zuzuordnen –, spielt sie im Alltag so gut wie keine Rolle mehr. Was ihr Verlust für die Kulturgeschichte bedeuten könnte, wird sich zukünftig zeigen. Seit 1999 betreut die Akademie-Bibliothek die Berliner Sammlung Kalligrafie. Hier werden Handschriften in ihrer freiesten Form aus den vergangenen 40 bis 50 Jahren sowie ausgewählte typografische Arbeiten der renommiertesten Kalligrafen und Schriftgestalter Europas und auch aus Übersee gesammelt. Die Archivdatenbank erfasst derzeit ca. 1.800 Blätter und Materialien, einsehbar im Lesesaal am Pariser Platz 4. Die Dresdner Type-Designerin, Kalligrafin und Künstlerin Renate Tost (geb. 1937) hat uns 2017 einen umfangreichen Teil ihres kalligrafischen und typografischen Vorlasses geschenkt. Ein besonderes Highlight daraus sind die Schriftproben, Vorentwürfe und das Original des Alphabets zur Schulausgangsschrift, die 1968 als verbindliche Erstschrift in den Schulen der DDR etabliert wurde. Grundlage dafür war die Einführung eines neuen Lehrplanwerks, das den Schriftspracherwerb effektiver gestalten sollte sowie auf die didaktische Überarbeitung des Schreibunterrichts zielte. Die Initiative dazu ging von Albert Kapr aus. Als Professor für Schrift- und Buchgestaltung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bestimmte er fast drei Jahrzehnte lang maßgeblich die hohe und international anerkannte Qualität der Schrift- und Buchkunst in der DDR. Angeregt durch seine internationalen Kontakte setzte er sich beim Ministerium für Volksbildung nachdrücklich für die Verbesserung und Vereinfachung der Schulschrift ein und übertrug seiner ehemaligen Studentin Renate Tost diesen Forschungsauftrag vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut. In Zusammenarbeit mit der Pädagogin Elisabeth Kaestner entwickelte sie ab 1961 verschiedene Varianten zur Veränderung des

Alphabets und erarbeitete Schreibvorlagen, die in ausgewählten Schulklassen erprobt wurden. Der endgültige Entwurf mündete 1968 in der vorliegenden verbindlichen Schulausgangsschrift, geschaffen auf der Basis der Humanistischen Kursive. „Die Großbuchstaben sind vereinfacht, der Bewegungsablauf in den Kleinbuchstaben ist […] zügiger, straffer gestaltet. Bei den vereinfachten Formen treten die unterscheidenden Merkmale klarer hervor. Das ist ein entscheidender Gewinn für die Lesbarkeit: Die Großbuchstaben sind weniger störanfällig im Hinblick auf die Verformungen durch schnelles Schreiben oder durch die individuell bedingte Schreibweise. […] Die auf Zweckmäßigkeit orientierten Formen bilden eine neutrale Ausgangsbasis für die Entwicklung zur individuell geformten Handschrift, indem sie die Details weniger festlegen als die bisherige Schulausgangsschrift […]“ („Zur neuen Schulausgangsschrift 1968“, in: Kunsterziehung 6/1968, S. 8) Die politische westliche Perspektive sah in der neuen Schrift eine weitere Abspaltung des Ostens vom deutschen Gemeinsinn. Positive Stimmen lobten ihr zügiges und vernünftiges Schriftbild und wünschten sich Gleiches im Westen, sahen aber kritisch, dass wohl Reforminitiativen im föderalistischen Kompetenzgerangel stecken blieben. Seit den 1970er Jahren gab es in Deutschland zwei Alternativen, die die „Lateinische Ausgangsschrift“ der 1950er Jahre ablösten: in der DDR die erwähnte „Schulausgangsschrift“, im Westen die „vereinfachte Ausgangsschrift“. Seit der Jahrtausendwende findet die „Grundschrift“ Anwendung. Ihr Grundprinzip ist die Entwicklung der persönlichen Handschrift direkt aus der Druckschrift. Jedes Bundesland entscheidet momentan für sich, wie Kinder schreiben lernen. Das Für und Wider zur Handschrift wird derzeit viel und sehr kontrovers diskutiert. Die wissenschaftliche Arbeit von Frau Tost behauptet sich seit 50 Jahren im Schulalltag. Noch heute wird die Schulausgangsschrift in einigen Bundesländern in Ost und West verbindlich gelehrt. SUSANNE NAGEL betreut die Berliner Sammlung Kalligraphie des Archivs in der Bibliothek der Akademie der Künste, Berlin. Die Einführung didaktischer Schreibvorlagen in der DDR war ein Novum, wurde aber trotz knapper Papierressourcen und der damit verbundenen Herausforderung für die Volkswirtschaft nachdrücklich vom Ministerium für Volksbildung gebilligt und genehmigt. Bis 1990 war die Schulausgangsschrift Grundlage für die Schreiberziehung in der DDR. oben: Schulausgangsschrift, Originalentwurf 1968 unten: Schreibvorlageheft 2. Klasse 1968. Titelblatt, Seiten



FREUNDESKREIS

GEGEN DEN STRICH Christina Weiss

Im Kraftfeld der Künste trainieren wir die Fähigkeit, Gegenaussagen zur eigenen Weltsicht zu akzeptieren, und die Vielfalt der Blickwinkel, die Übergänge zwischen unterschiedlichen und fremden Erfahrungen, zwischen Wahrnehmungs- und Denkzonen als spannende Bereicherung zu erleben. In der Begegnung mit Kunstwerken proben wir das Denken gegen den Strich spielerisch. Ich kann weder aus dem Vertrauten fliehen noch Fremdes akzeptieren, wenn ich die Bewegung von einem Raum zum anderen, vom Bekannten ins Unbekannte geistig nicht vollziehen kann. Derjenige, der sich nur in seinen alltäglich erfahrenen Grenzen wohlfühlt, wird dort verharren, weil er sich den fremden Ort gar nicht erst vorstellen kann oder will. Wir alle aber werden in unserer Gesellschaft, sei es real oder medial, täglich mit Unerwartetem, Fremdem konfrontiert, so dass wir eine Einübung in die Konfrontation mit dem Anderen brauchen, um uns weder abzukapseln noch Angst erfahren zu müssen. Wir brauchen die Energie eines Möglichkeitssinns, die Kraft, den vorurteilsbesetzten ersten Blick zu öffnen. Robert Musil schreibt in seinem Mann ohne Eigenschaften: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben … Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte, müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.“1 Der Möglichkeitssinn aktiviert die Imagination, er ist das Energiefeld der Künste. Jeweils zeitgenössische Kunstwerke brechen immer wieder mit allzu Vertrautem, suchen den Aufbruch ins Neue gegen die Wahrnehmungsabnutzung durch Gewöhnung, gegen Gleichgültigkeit, aber auch gegen falsch verstandenen Genuss, der nur die wohlklingende und erwartungserfüllende glatte Oberfläche sucht. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat für den modernen Großstadtmenschen die Notwendigkeit einer „Kunst der Selbstpreisgabe“ gefordert. Er meint damit die Ausbildung einer Haltung, die es möglich macht, mit aufgeschlossener Sympathie Fremdem und Ungewöhnlichem zu begegnen – was der Alltag in zunehmendem Maße gerade vom Stadtmenschen verlangt.

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Ich behaupte: Die Künste sind das ideale Training zu dieser Fähigkeit. Die Künste öffnen Spielräume der Gefühlsbildung, eingefahrene Wahrnehmungsmuster werden irritiert, Vorurteile bloßgestellt, Alltagsgleichgültigkeit erschüttert. Das kann sich ereignen, weil Kunstwerke gerade den Möglichkeitssinn reizen. Eindeutigkeit ist nicht ihr Bedeutungsfeld. Ein Kunstwerk begreifen heißt, mit ihm eine Beziehung eingehen, sich auf einen Prozess einlassen, der Wahrnehmung, Emotion, Reflexion und Selbstreflexion fokussiert und verändert. Es geht darum, diese Wechselbeziehung zwischen dem Werk und dem wahrnehmenden Subjekt zu begreifen – geradliniges Verstehen und Wissen sind nicht die Grundlagen der Kunstrezeption. Darin unterscheiden sich die Künste von der forschenden Wissenschaft, mit der sie dennoch vieles verbindet. Auch Künstler sind Forscher, sie suchen nach neuen Beziehungen, nach Entdeckungen, nach neuer Erkenntnis. Sie spüren die Grenzen des eigenen und gesellschaftlichen Denkens und attackieren diese Grenzen, um sie zu überschreiten, um die bis dahin vorstellbaren Denkhorizonte zu erweitern. Die Methoden der Grenzüberschreitung sind andere in den Künsten und den Wissenschaften. Während die Wissenschaft einen Fortschritt anstrebt, in dem jede neue Erkenntnis die Gültigkeit der vorherigen überholt und neue Koordinaten des Wissens setzt, verführen uns die Künste zu neuer Erfahrung, die allerdings früheren Erfahrungen ihre volle Gültigkeit belässt. Das Kunstwerk zieht uns in seinen Bann: Wenn wir von seiner sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung – seinen klanglichen und bildlichen Reizen – gepackt werden, löst es Staunen aus, Irritation, provoziert neue Sichtweisen, neue Einsichten. Die Elemente der Alltagsrealität erscheinen variabel sortierbar und lassen sich neu bewerten. Kurz: Das Kunstwerk findet seine Resonanz im Rezipienten, wir selbst sind es, die es in uns zum Klingen bringen, und wir bringen uns in dieser Begegnung selbst zum Klingen – selbstverständlich nur dann, wenn wir bereit sind, uns seinem Reiz zu öffnen. Ob die Begegnung uns anrührt, zum Lachen bringt oder zum Weinen, ob sie uns ratlos oder geschockt abstößt, ob sie die Entdeckerlust in uns weckt oder uns – bildlich gesprochen – am Schlafittchen packt und durchrüttelt, weil uns etwas Unerwartetes und So-nochnie-Erfahrenes widerfährt: In jedem Fall ist der künstlerische Appell zur Selbstpreisgabe gekoppelt mit der Aufforderung zum Ausprobieren. Neugieriges und spielerisches Umgehen mit einem künstlerischen Objekt heißt experimentieren: Wahrnehmungsvarianten durchspielen, wechselnde Regeln erproben und sich mit Lust auf die Vielfalt möglicher Be-Deutungen einlassen. Deshalb ist das Kommunikationsspiel, das ein Kunstwerk in Gang setzt, immer wieder neu erlebbar zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichsten Kontexten. Der Energieaustausch zwischen Wahrnehmendem und Objekt ist immer wieder neu und anders aufladbar. Die Sprache des Kunstwerke konfrontiert uns mit einer fremden Sprache, in der wir das eigene Denken neu formulieren können. Wir werden mit unseren eigenen Grenzen und Vorurteilen konfrontiert mit dem Ziel, die Grenzen

unseres Denkhorizontes immer wieder zu verschieben und den Gefühlsradius auszudehnen. Anarchisches Ausleben von freier Imagination, angeregt durch die Offenheit künstlerischer Zeichen, ist einer der Wege zur subjektiven Mündigkeit, zur Fähigkeit, sich gängigen Meinungen und Urteilen zu widersetzen und Vertrauen auf das eigene Denken zu entwickeln. In diesem Sinn war auch für Friedrich Schiller das Spiel – das ästhetische Spiel – das Prinzip der größtmöglichen Freiheit des Menschen. Das Spiel, zu dem ein Kunstwerk anregt, darf keine Bestimmung von außen, keine Nötigung zulassen. Wer sich auf die Begegnung mit der Kunst wirklich einlässt, verändert sich durch die Intensität dieser Begegnung. Die Ausprägung der Subjektivität, ihrer emotionalen und rationalen Innenwelt, erfährt eine bleibende Spur. Bleibend verändert das Training im Spielfeld der Kunsterfahrung die Reaktion auf die Gegebenheiten der Alltagsrealität: Wir werden dazu befähigt, mit Neugier und Sympathie Fremdem, Befremdlichem und Unerwartetem zu begegnen und über uns selbst immer wieder zu staunen, um uns mit Freude verändern zu wollen. Der Dichter Helmut Heißenbüttel beschreibt dieses Ereignis der Erfahrung von Kunst sehr poetisch in einer einzigen Gedichtzeile: „Etwas knackt auf im Gehirn und färbt nach innen.“2 Die Gesellschaft, die der künstlerischen Arbeit und der Begegnung mit zeitgenössischer Kunst Spielräume und Anerkennung gewährt, erschafft sich dadurch die Chance, freiheitsfähig und friedenstauglich zu sein. Kunst bedeutet für den Künstler Mut, die eigene Sichtweise der Gesellschaft zu gestalten und auszusprechen, für die Rezipienten entwickelt Kunst den Mut zu eigener Meinung und zur Äußerung der eigenen Meinung auch dann, wenn sie vom gesellschaftlichen Konsens abweicht. Kunst stärkt den Mut, Vielfalt zu akzeptieren. Das Energiefeld der eigenen Phantasie wird erschlossen, indem es ein freies Denkspiel unserer Reaktionen auf das Gelesene, Gehörte, Gesehene in Gang setzt. Darin liegt die Freiheit, die überhaupt erst Frieden ermöglicht, weil eine offene Debatte in einer demokratischen Gesellschaft das einzige ist, was Ablehnung des Fremden und Hass verhindern kann. Eine lernende Gesellschaft ist beständig im Dialog mit den Meinungen der Duckmäuser, der Mutigen, der Quertreiber. Und vor allem die Künstlerinnen und Künstler können aus der Genauigkeit der Wahrnehmung und dem Mut zur Äußerung der eigenen Meinung ihre friedensstiftende Kraft in einer Gesellschaft beziehen – vorausgesetzt, es ist erlaubt, sie zu lesen, sie zu hören, sie anzuschauen. 1  Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1958, S. 16 2  Helmut Heißenbüttel, Textbuch 8, Stuttgart 1985, S. 53

CHRISTINA WEISS, Staatsministerin für Kultur und Medien a. D., Publizistin, Beraterin und Professorin, ist Mitglied der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 3+4 Fotos © Dorothée Brand/ Belathee Photography © Akademie der Künste, Berlin, S. 5 Foto © Johannes Odenthal | S. 6+7 Fotos © Die Vielen | S. 10/11 Foto Sacha Flit © Micha Ullman, S. 12 Foto Abraham Hay © Micha Ullman, S. 15+16 Fotos © gezett | S. 18/19 + 20 Fotos © Sibylle Bergemann/OSTKREUZ | S. 23 Foto Marcus Lieberenz | S. 24 Foto © Erich Koch, Sammlung Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein e. V. | S. 26+27 © Kéré Architecture, S. 28 oben Foto © Erik-Jan Ouwerkerk, unten Foto © Andrea Maretto / Kéré Architecture, S. 29 © Kéré Architecture, S. 30+31 Fotos © Erik-Jan Ouwerkerk | S. 32 Foto Manfred Seidl 2018 © Karin Sander und VG Bildkunst, Bonn | S. 34+35 Foto Timo Ohler. Sammlung Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin © Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin, S. 36 Foto David Campos. Sammlung des Museum of Modern Art, New York; mit freundlicher Unterstützung von: Lonti Ebers, Marie-Josée and Henry Kravis, Candance King Weir, Lévy Gorvy Gallery und The Modern Women’s Fund © Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin, S. 37 Foto Dick Durrance II / National Geographic (1977; Cape Town, South Africa). Detail: Schwarz-WeißFotografie. Sammlung Berkeley Art Museum, California. Schenkung der Peter Norton Family Foundation © Adrian Piper Research Archive Foundation Berlin | S. 38 Akademie der Künste, Berlin, Imre-Kertész-Archiv, undatiert, Fotograf unbekannt, S. 41 Akademie der Künste, Berlin, Imre-Kertész-Archiv Nr. 16 | S. 43 oben Foto W. Seldow, Akademie der Künste, Berlin, Trude-HesterbergArchiv Nr. 24, Mitte Akademie der Künste, Berlin, Trude-Hesterberg-Archiv Nr. 19, unten Akademie der Künste, Berlin, Trude-Hesterberg-Archiv Nr. 21, S. 44 links Akademie der Künste, Berlin, TrudeHesterberg-Archiv Nr. 21, rechts Foto Atelier Jacobi, Akademie der Künste, Berlin, Trude-Hesterberg-Archiv Nr. 23, S. 45 Akademie der Künste, Berlin, Trude-Hesterberg-Archiv Nr. 11 | S. 46/47 oben Akademie der Künste, Berlin, WulfHerzogenrath-Archiv, AVM-33 4488, S. 46 unten Foto Joschik Kerstin © Wulf Herzogenrath, S. 47 unten + S. 48 oben Akademie der Künste, Berlin, WulfHerzogenrath-Archiv, S. 48 unten Akademie der Künste, Berlin, Wulf-Herzogenrath-Archiv, AVM-33 4917, S. 49 Foto Joschik Kerstin, Akademie der Künste, Berlin, Wulf-Herzogenrath-Archiv Nr. 9-1 | S. 50 oben Akademie der Künste, Berlin, Wieland-Förster-Archiv, vorl. Sign., Nr. 5–6, unten Foto Christian Kraushaar © Akademie der Künste, Berlin | S. 53 oben Akademie der Künste, Berlin, Berliner Sammlung Kalligraphie, Renate-Tost-Archiv Nr. 20, unten Akademie der Künste, Berlin, Berliner Sammlung Kalligraphie, Renate-TostArchiv Nr. 34

Journal der Künste, Ausgabe 7, Juli 2018 Auflage: 4.000

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Das Journal der Künste erscheint viermal jährlich und ist an allen Standorten der Akademie erhältlich. Mitglieder der Akademie der Künste bekommen ein Exemplar zugesandt. © 2018 Akademie der Künste © für die Texte bei den Autorinnen und Autoren © für die Kunstwerke bei den Künst­l erinnen und Künstlern Verantwortlich für den Inhalt Werner Heegewaldt Johannes Odenthal (V.i.S.d.P.) Kathrin Röggla Redaktion Martin Hager Marie Altenhofen Anneka Metzger Lektorat / Korrektur Julia Bernhard, Claudius Prößer Gestaltung Heimann + Schwantes, Berlin www.heimannundschwantes.de Lithografie Max Color, Berlin Druck Druckerei Conrad GmbH, Berlin Sollten Sie Einzelexemplare oder ein Abonnement wünschen, wenden Sie sich bitte an info@adk.de. Ein Teil der Auflage enthält einen Beileger mit allen Texten auf Englisch. Der Einleger kann auch unter info@adk.de bestellt werden. ISSN (Print) 2510-5221 ISSN (Online) 2512-9082 Digitale Ausgabe https://issuu.com/journalderkuenste Akademie der Künste Pariser Platz 4 10117 Berlin T 030 200 57-1000 info@adk.de, www.adk.de akademiederkuenste

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