Journal der Künste 05 (DE)

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JAN 2018

JOURNAL DER KÜNSTE

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser, wie sieht das postkoloniale Afrika auf Europa? Gibt es in der glo- „Wo kommen wir hin“, wenn Mitglieder der Akademie sektionsüberbalisierten Welt noch nationale Literatur? Zwei Fragen, die den aus greifend eine Werkstatt veranstalten, die sich mit Fragen der Formdem Kongo stammenden Schriftsteller Alain Mabanckou bewegen. gebung beschäftigt? Der Briefwechsel zwischen den beiden InitiMit seinem ironischen Essay „Dieses Europa, das ich in mir trage“ atoren Kathrin Röggla und Manos Tsangaris gibt einen Eindruck eröffnet das Journal und gibt einen Ausblick auf die vielfältigen davon, wie das Experiment aussehen könnte. Mehr wissen wir nach Aktivitäten der Akademie im neuen Jahr. Erstmals erscheint es dem Start des Pilot-Projekts im Herbst 2018. zweisprachig in Deutsch und Englisch, um auch ein internationales Bei den Neuigkeiten aus dem Archiv steht das Theater im MitPublikum ansprechen zu können. telpunkt. Intendantenwechsel sind nicht nur Zäsuren für die künstMit der Ausstellung Abfallprodukte der Liebe werden im Mai lerische Arbeit, sie werfen auch immer wieder die Frage auf, was 2018 die Hallen der Akademie am Pariser Platz eröffnet. Im Mit- mit dem schriftlichen Erbe geschieht. Nach dem Ausscheiden von telpunkt steht die spannungsvolle Künstlerfreundschaft zwischen Claus Peymann am Berliner Ensemble und Frank Castorf an der den Filmemachern und Akademie-Mitgliedern Elfi Mikesch, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz hat die Akademie die Werner Schroeter und Rosa von Praunheim. Alle drei sind Grenz- Archive dieser nicht nur für das Berliner Theater- und Kulturleben gänger in ihrer Kunst und im Leben. Bekennend queer, haben sie so wichtigen Bühnen übernommen. Sie ergänzen hervorragend die seit ihren Anfängen im West-Berlin der 1960er Jahre die Bilder- bereits vorhandenen Materialien im Bertolt-Brecht-Archiv und im welt der Subkultur mit Trash, Pathos und Poesie maßgeblich Archiv Darstellende Kunst. Aber genügen sie, um Theaterarbeit zu mit beeinflusst. dokumentieren? Seit 50 Jahren widmet sich der Arbeitsbereich Die alternativen Musik- und Kunstszenen in West-Berlin und Theaterdokumentation der Aufgabe, das flüchtige Kunstwerk Theden Ländern des ehemaligen Ostblocks sind Thema von zwei ater für die Nachwelt zu bewahren. Ein Symposium, in dem TheaAusstellungen im Frühjahr 2018 am Hanseatenweg. Notes from termacher, Wissenschaftler und Medienvertreter über die Zukunft the Underground – Alternative Art and Music in Eastern Europe der Inszenierungsdokumentation diskutierten, hat gezeigt, wie 1968–1994 stellt eine Generation von Künstlerinnen und Künst- aktuell und wichtig diese Aufgabe ist und dass an ihrer Bewältilern vor, die in Abgrenzung zur offiziellen Kultur agierte. Zensur gung viele Akteure mitwirken müssen. und Mangel führten zu einfallsreichen Arbeiten an der Schnittstelle von bildender Kunst, Videokunst und experimenteller Musik. Unter Viel Freude bei der Lektüre. dem Titel „Three Days of Living Music and Minimal Art“ fand 1969 in der Akademie am Hanseatenweg eine legendäre und nicht ganz Ihr konfliktfreie Konzertreihe der Free Music Production statt. Die Werner Heegewaldt Direktor des Archivs der Akademie der Künste Ausstellung Free Music Production / FMP: The Living Music er­innert an die von Künstlern initiierte Berliner Plattform für die Produktion Freier Musik und führt sie wieder an ihren Ausgangsort zurück. Hier trifft sie auf die zeitgenössische Freie Musik und Improvisations-Szene.

S EE SUPPLEMENT FOR ENGLISH TRANSLATIONS



Alain Mabanckou

DIESES EUROPA, DAS ICH IN MIR TRAGE

Zum Schriftsteller bin ich nicht durch meine Emigration geworden – doch seit ich in der Ferne lebe, habe ich einen anderen Blick für mein Land. Meinen ersten Texten, die ich im Kongo begonnen hatte, fehlte etwas, meine Figuren waren eingesperrt, sie brauchten Luft, sie verlangten nach Vorstellungen von der übrigen Welt, ich musste noch Menschen begegnen, die anders waren als ich, eine andere Hautfarbe hatten, und die sich meine sieben afrikanischen Sprachen anhörten, auch wenn sie nichts verstanden.


Der Wechsel von Afrika nach Europa half die Sehnsucht etwas zu Existenz suchen – Europa versprach das Heil, es war der Ort der lindern, die mit dem künstlerischen Prozess verbunden und not- Heiligsprechung durch die Erlangung eines Diploms. Dieser Weg wendig ist, damit das Werk das Anliegen des Künstlers wiederge- konnte auch in den Selbstmord führen, wenn der Gegensatz der ben kann. Man schreibt, „weil etwas nicht rund läuft“ oder weil man Kulturen die Hauptfigur fast in den Wahnsinn treibt, wie in L´aventure Berge versetzen, einen Elefanten durch ein Nadelöhr treiben will. ambiguë von Cheikh Hamidou Kane … Das Schreiben wird dann zur Verwurzelung, zum Ruf in der Nacht, Meine Generation, die in den 1990er Jahren zu schreiben zum Hören am Horizont, zum Hören des Anderen … begann, hat ihre Sicht der Welt übernommen, aber die meisten hatMein Freund und Kollege Dany Laferrière rät mir, „ein Schrift- ten entschieden, nicht in Afrika zu leben, für einige war es keine steller sollte in einer Stadt leben, die er nicht mag“. Das heißt, man freie Entscheidung, sondern sie fühlten sich aus den unterschiedmuss Distanz halten, um das Paradies immer wieder neu zu lichsten Gründen dazu gezwungen. In die Heimat zurückzukehren, erfinden, das mit unseren schwindenden Kindheitserinnerungen war bei diesen Migranten nicht mehr unbedingt Teil des Lebensverloren geht. plans. Wir entdeckten, dass die Literatur kein bestimmtes UrIch mag alle Städte, die ich besuche, ich staune über alle Orte, sprungsland hat, dass der Schriftsteller von derselben Nationalidie anders sind, als ich sie aus meiner Kindheit kenne. Ich komme tät ist wie der Leser. immer frei im Kopf und mit leichtem Herzen an. Emigrieren bedeutet nicht, sein Wesen, sein Verhalten, seine Sitten, seine Vorlieben mitzunehmen, um sie dem Land aufzudrängen, das einen aufnimmt. Es ist eher so: Wenn der Ort, an dem wir leben, so völlig verschie- Manchmal sage ich mir, dass ich Europäer bin, ob ich will oder nicht, den ist von unserem „natürlichen Milieu“, tauchen plötzlich die ob ich ein Kind der südlichen Sonne bin oder nicht. „Begleiterscheinungen“ unserer eigenen Kindheit auf, das Geschrei Was ist für einen Kongolesen ein Europäer? Schwer zu sagen. auf der Straße, das Leiden und die Freuden der Leute bei uns. In Ich habe lange vergeblich versucht, es zu beschreiben. Schon der Tornadosaison erkennen wir die Vorzüge des blauen Himmels, Europa ist schwer zu greifen. Es entzieht sich auch den Polit­ eines Schwarms frei fliegender Vögel, eines blühenden Baums, man strategen, die uns Utopien mit dem eindimensionalen westlichen sucht seinen Namen, bis einem einfällt, dass er auch hinter der Denken anpreisen. Hütte des Vaters oder in einem Park im Viertel von Moungali in Vielleicht ist ein Afrikaner unfähig, eine eigene Definition zu Brazzaville wächst. In der Wüste erkennen wir, dass der Atlanti- formulieren? Hören Sie beispielsweise den Eintrag für „europäisch“ sche Ozean und der Kongostrom ein göttlicher Segen sind. Es wäre und „Europäer“ im Wörterbuch Le Robert: also ganz falsch, zu meinen, was ein Emigrant schreibt, seien Notate 1. Aus Europa, von seinen Bewohnern stammend seiner Nostalgie. Man kann auch Heimweh haben, wenn man in 2. günstig für den Aufbau Europas seinem Land bleibt. Ich bin nicht nostalgisch, in mir ist eine Unruhe, 3. Europäer: Bezeichnung für jede weiße, die Befürchtung, ich könnte eines Tages diese Welt verlassen, ohne nicht-afrikanische Person die winzige Kleinigkeit gefunden zu haben, die uns verbindet … Europäer ist also jeder, der aus Europa stammt, und europäisch, In den 1980er Jahren hat sich eine sogenannte Immigranten- was sich auf die Bewohner Europas bezieht. Welches Europa? literatur „ausgebreitet“ – sie wurde von dem Literaturwissenschaft- Welche Bewohner? Wer sind sie? Das Wichtigste ist für mich die ler Jacques Chevrier später als „Migritude“ bezeichnet. 1 Bücher Definition, die der Robert für uns Afrikaner bereithält. Für meines Landsmanns Daniel Biyaoula (L´impasse; Die Sackgasse) Afrikaner wäre der Europäer nur eine „weiße, nicht-afrikanische oder von J. R. Essomba (Le paradis du Nord; Das Paradies des Person“! Afrika hätte so gesehen eine rassische – zum Glück keine Nordens) schildern den Alltag eines Afrikaners, der zwischen Afrika rassistische – Vorstellung von Europa. Alle „nicht-afrikanischen“ und Europa zerrissen ist. Zur gleichen Zeit drängte sich die Frage Weißen wären in unseren Augen Europäer. Die Hautfarbe ent­ der Einwanderung ins Zentrum der europäischen Politik: Der Ein- scheidet – das haben wir (oder sie) nun davon! Wenn man diese wanderer wird nun als „Ausländer“ betrachtet, den man als Ein- „afrikanische“ Definition dekonstruiert, entdeckt man, dass sie dringling ablehnt, obwohl er das Land in den Weltkriegen unter dem immerhin die Existenz von „afrikanischen Weißen“ einräumt, denen Kolonialregime doch verteidigt hatte … wir „schwarze Afrikaner“ somit den „Status“ des Europäers ab­Das Phänomen der „Migritude“ ist allerdings nicht so neu, sprechen könnten! wenn man zurückgeht zu Romanautoren wie Bernard Dadié (Un Diese Auffassung ist abzulehnen, weil sie ausgrenzt, einnègre à Paris; Ein Neger in Paris) oder auch Camara Laye (L´enfant schränkt, abschottet, spaltet und herabsetzt. Sie hat höchstens noir; Das schwarze Kind). Dadié zeichnete Land und Sitten der einen Vorzug, sie zeigt, dass wir Afrikaner schon seit Langem die Menschen, die im Norden leben. Der Migrant kehrt zurück, um seine feinen Unterschiede auf der Welt begriffen haben. Wir bereiten die Abenteuer nach Art der „Persischen Briefe“ von Montesquieu zu Welt auf die Eigenart der Menschen vor. Wir berücksichtigen die erzählen. Bestimmend war der Drang, die Welt des früheren Kolo- Bindung an ein Land und nicht an eine Rasse. Wir wären ohne Weinialherrn kennenzulernen. Auch wenn Camara Laye auf den letz- teres bereit, einen Weißen aus Südafrika als Afrikaner zu bezeichten Seiten die Rückkehr beschreibt, so wollte er nicht nur sein Land nen, und ebenso einen Weißen aus Zimbabwe, der nur dieses feiern, sondern in der Ferne auch nach einem Sinn für die eigene Land kennt.

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Hier endet schon die Gültigkeit dieser Darstellung, falls sie überhaupt zutrifft. Denn in Zimbabwe machte ein Präsident, ein Monarch auf Lebenszeit, Jagd auf die Weißen, so dass dieses Wild im Busch schon recht selten geworden ist. Der Präsident erinnerte sie daran, dass sie Weiße sind, also Europäer, selbst wenn manche von ihnen Zimbabwe nie verlassen haben. Für den Diktator in seinem Irrgarten blieben alle Weißen Europäer! Gott hat es so gewollt. Da spielt es keine Rolle, wenn sie nur ein afrikanisches Land, nämlich Zimbabwe, kennen. Und wenn diese Weißen nach Europa „zurückgedrängt“ werden, sind sie in der Falle, irren heimatlos umher. In Afrika zeigt man mit dem Finger auf sie. In Europa starrt man sie verständnislos an. Sie finden sich auf dem Kontinent nicht zurecht, wo nichts an ihre tropische Welt erinnert. Die Definition, die das Wörterbuch Le Robert für Afrikaner bereithält, bietet reichlich Stoff für Feindschaft und Ausgrenzung. Mit dieser Ideologie werden die Rassenkonflikte, der zu­nehmende Hass, die Serie von Landenteignungen ohne Gerichtsurteil gerechtfertigt. Wenn wir dem ehemaligen Präsidenten von Zimbabwe Glauben schenken, ist Europa die Ursache all unseres Unglücks – doch wir sollten ihm das Buch Das Gebot der Gewalt von Yambo Ouologuem schenken, in englischer Übersetzung selbst­verständlich. Europäer: Bezeichnung für jede weiße, nicht-afrikanische Person. Im Umkehrschluss hieße das, Europa ist der Kontinent jeder weißen, nicht-afrikanischen Person. Die anderen Rassen finden in Europa nicht ihr Heil. Europäer kann nur jemand sein, der von weißer Rasse und kein Afrikaner ist. So eliminiert man jede Begegnung der Menschen, den Glauben an Ideen, die gegenseitige Befruchtung in der Geschichte. Würde man den Asiaten sagen, Europäer ist jede Person weißer, nicht-asiatischer Rasse? Und wie wäre es in Ozeanien? Ich sehe schon die pauschale Definition in Bezug auf Nordamerikaner vor mir: Europäer ist jede Person weißer Hautfarbe, die nicht amerikanisch ist! Da Amerika mehrheitlich weiß ist, dazu noch von Europäern besiedelt wurde, müsste gründlich aufgeräumt, unzählige Tonnen Geschichtsbücher müssten verbrannt werden! Wohl aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten seiner Communities hat Amerika Bezeichnungen für sie gefunden, die sie jeweils an die amerikanische Nation binden, ohne ihre Herkunft zu verbergen. So gibt es African-Americans, Asian-Americans, Indian-Americans etc. Das hat schwerwiegende Konsequenzen und zeigt eine Gesellschaft, die vom Umgang mit ihren Minderheiten überfordert ist. Derweil lebt jede dieser Gemeinschaften in ihrer Ecke …

Die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten haben dazu geführt, dass wir heute viele Gegenden bewohnen und Verbindungen überall auf der Welt haben. „Rom ist nicht in Rom, es ist, wo ich bin.“ 2 Der Schriftsteller ist zu einem Zugvogel geworden, der sich an sein fernes Land erinnert, aber auch auf dem Baum seinen Gesang anstimmt, auf dem er gerade sitzt. Haben diese

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Gesänge der Zugvögel noch mit einer nationalen Literatur zu tun? Ich glaube nicht, ebenso wenig, wie sich die Literatur mit einem begrenzten Gebiet zufriedengeben kann. Ich wäre bereit, an jedem Ort der Welt zu leben, er muss nur meine Träume beherbergen und mich meine Welt neu erfinden lassen. Afrika hat mir Flügel gegeben, Europa hat mich gelehrt, sehr hoch zu fliegen, und Amerika hat mir den Baum gezeigt, auf dem ich mich niederlassen, mein Nest bauen und in Heiterkeit schreiben kann. Schlussendlich bin ich das Ergebnis einer polygamen Ehe zwischen Afrika, Europa und Amerika … Aus dem Französischen von Beate Thill

1 A. d. Ü.: Migritude, Begriff in Anlehnung an Négritude, eine von Léopold Sédar Senghor, Aimé Césaire und Léon Gontran Damas in den 1930er Jahren gegründete politische und philosophisch-literarische Bewegung, die sich von der französischen Kolonialliteratur absetzte, um mit eigenen, afrikanischen Themen ein Selbstbewusstsein aufzubauen und auszudrücken. 2 A. d. Ü.: „Rome n'est plus dans Rome, elle est toute où je suis.“ So spricht Quintus Sertorius (121 bis 72 v. Chr.) in der Tragödie Sertorius von Corneille.

ALAIN MABANCKOU, 1966 in der Republik Kongo geboren, zieht 1989 nach Frankreich, um Wirtschaftsrecht zu studieren. 10 Jahre arbeitet er als juristischer Berater, Anfang der 2000er beginnt er, in den USA frankophone Literatur zu unterrichten, 2007 wird er Professor an der University of California, Los Angeles. 2012 zeichnet ihn die Académie française mit dem Grand Prix de Littérature aus. Auf Deutsch sind bereits fünf seiner Bücher erschienen. Den hier abgedruckten Vortrag hat Alain Mabanckou für die Mitgliederversammlung der Akademie der Künste, Berlin, im November 2017 geschrieben.


Das Floß der Medusa von Theodore Géricault ist eines der Hauptwerke des 19. Jahrhunderts im Louvre. Géricault schuf es für den Pariser Salon 1819 als Kritik am Selbstverständnis der französischen Gesellschaft nach der Revolution. 1816 war die Fregatte Meduse, die zur Besatzung des Senegal aufgebrochen war, vor der Küste Afrikas gesunken. Von den 400 Besatzungsmitgliedern mussten 149 auf einem Floß verbleiben, das über Tage hinweg nicht manövrierbar vor der Küste trieb. Es kam sehr bald zu Selbstmorden und Kannibalismus. Von den 149 Menschen in Seenot wurden 15 gerettet. In der Videoarbeit von Marcel Odenbach betrachten drei Afrikaner das Gemälde im Louvre. Die drei Besucher schauen mit ihrer eigenen Fluchterfahrung und aus ihrer Perspektive auf dieses

Schlüsselwerk der französischen Kolonialzeit. Damit erschließen sie dem Betrachter des Videos einen neuen Blick auf die europäische Kunstgeschichte. Gleichsam aktualisieren sie einen Moment der Geschichte, reflektieren auf den Kolonialismus und seine Folgen in einer zeitgenös­sischen Bildsprache. Die Videoarbeit Im Schiffbruch nicht schwimmen können von 2011 wird in der Akademie der Künste am Pariser Platz anlässlich der Konferenz „Koloniales Erbe“ ab dem 25. Januar 2018 gezeigt. Johannes Odenthal

Marcel Odenbach, Im Schiffbruch nicht schwimmen können, 2011


Anlässlich der Ausstellung Abfallprodukte der Liebe spricht Rosa von Praunheim mit sich selbst

Selbstporträt Werner Schroeter, Rosa von Praunheim, London, 1970

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„ICH PLANE, EINIGE ZUSCHAUER ZU VERSPEISEN“

Im Mai 2018 öffnen die Hallen der Akademie der Künste am Pariser Platz mit einer Ausstellung, die sich der spannungsreichen Künstlerfreundschaft zwischen dem Filmemacher, Maler und Aktivisten Rosa von Praunheim, der Kamerafrau, Filmemacherin und Fotografin Elfi Mikesch sowie dem Film- , Theater- und Opernregisseur Werner Schroeter widmet. Alle drei sind sie Grenzgänger in ihrer Kunst und im Leben, bekennend queer, haben sich ihre Wege immer wieder gekreuzt. Den Bilderkanon der Subkultur haben sie seit ihren Anfängen im West-Berlin der 60er Jahre mit bestückt. Kitsch, Trash, Provokation, Pathos und Poesie prägen ihr Werk genauso wie der zärtliche Blick auf Freunde, Nachbarn und Nachtgestalten. Und doch gehen sie auch immer wieder auf Distanz zueinander, beschreiten eigene Wege. Das Private ist bei Mikesch, Praunheim und Schroeter immer politisch. Das eint sie jenseits aller Differenz. Rosa von Praunheim, im November des letzten Jahres 75 geworden, erzählt von den Anfängen …

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Filmstill aus Der Rosenkönig von Werner Schroeter, 1986, Kamera Elfi Mikesch

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Wie schön, dass ich Sie angetroffen habe. ROSA   Herzlich gerne, immer und auch öfter. RVP

Wie darf ich Sie anreden? ROSA   Am liebsten in der dritten Person, denn ich bin adelig. RVP   Also den Titel haben Sie sich ja unrechtmäßig angeeignet, deshalb einfach DU. ROSA   Also worum geht es? RVP   Es geht um die in der ADK geplante Ausstellung Abfall­ produkte der Liebe mit dem Lebenswerk von Elfi Mikesch, Werner Schroeter und Dir, lieber Rosa. ROSA   Ja, das wird ein Höhepunkt in meinem Leben. Ich bau mir ja da ein Mausoleum, wo ich mich am Ende der Ausstellung öffentlich erdolchen werde, und dann plane ich posthum noch viele Filme zu machen; bekanntlich sind das ja die besten. RVP

Ist das denn erlaubt? ROSA   In der Kunst sollte alles erlaubt sein, ich plane ja auch, einige Zuschauer zu verspeisen, natürlich nur gegen ihren Willen. Was wird uns in der Ausstellung erwarten? ROSA   Also Werner Schroeter ist ja leider nicht mehr unter uns, aber vielleicht über uns. Sein Werk wird in zwei Räumen präsentiert, ein Raum wird gestaltet von seiner langjährigen Bühnenbildnerin Alberte Barsacq und ein Raum von seiner Kamerafrau Elfi Mikesch, die 2011 einen großartigen Film über Werner Schroeter gemacht hat, Mondo Lux – Die Bilderwelten des Werner Schroeter.

die er später heiratete, um billiger fliegen zu können, und ich war in Begleitung meines Superstars Carla Aulaulu, die ich 1969 heiratete, um das Ehestandsdarlehen für Berlin-Paare abzukassieren. Das Geld steckte ich dann in weitere Filme. Werner und ich fanden uns attraktiv, fickten im Hotelzimmer, Carla entdeckte uns, schmiss uns vom Bett, legte die Matratze über uns und sang trampelnd den Jäger aus Kurpfalz. Das waren noch Zeiten. Werner besuchte mich in Berlin und wir halfen uns gegenseitig bei unseren kleinen 16-mm-Filmen. Werner hatte eine eigene Kamera, von der ich profitierte. Gemeinsam wurden wir auf das Mannheimer Filmfestival eingeladen, wo wir beide Preise bekamen und diese Hand in Hand abholten. Werner lernte auch Elfi kennen, die dann 1971 bei seinem Film Salome Kostüm und Maske machte – und tolle Fotos. RVP

Also Elfi hatte bis dahin noch keine Filme gedreht? Nein, ich nahm das Ehepaar Mikesch 1971 auf eine filmische Weltreise durch 10 Städte in Amerika und Asien mit. Elfi und ich machten Kamera, Fritz Mikesch spielte die Hauptrolle. Wir reisten 4 Monate durch die Welt und waren danach so genervt voneinander, dass wir uns jahrelang nicht sahen. Der 1973 fertiggestellte Film heißt Leidenschaften. ROSA

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Und Werner Schroeter? Der wurde mit seinen Filmen schnell in Frankreich bekannt und dann in Italien. Er sprach viele Sprachen und wir sahen uns nicht mehr so häufig. 1972 waren wir beide in Los Angeles, wo er seinen Film Willow Springs für das Kleine Fernsehspiel drehte. Ich sollte die Hauptrolle spielen, aber nach zwei Tagen wurde mir die Arbeit als Schauspieler zu langweilig und ich besorgte ihm einen

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Wie habt Ihr drei Euch denn kennengelernt? Also Elfi Mikesch habe ich Anfang oder Mitte der sechziger Jahre kennengelernt über ihren attraktiven Ehemann Fritz Mikesch. Beide kamen aus Innsbruck und arbeiteten in Frankfurt am Main, wo ich sie traf. Ich war ein verrückter Maler und Elfi war entsetzt von mir und dachte, ich wäre der leibhaftige Teufel. ROSA

RVP   Das ist ja eine großartige Voraussetzung für eine lebenslange Freundschaft. ROSA   Du sagst es. Ich beschwor das Ehepaar Mikesch, zu mir nach Berlin zu ziehen und als freie Künstler zu arbeiten. Das taten sie auch, nahmen Drogen und machten großartige Kunst, Bilder und Objekte. Elfi ist eine geniale Fotografin und dokumentierte meine ersten kleinen Inszenierungen mit meinen Berliner Superstars. Daraus entstand 1969 der Fotoroman Oh Muvie. RVP

Und wie kam dann Werner Schroeter in Euer Leben? ROSA   Werner wuchs behütet in Heidelberg auf und machte Super-8-Filme. Ich traf ihn Sylvester 67/68 auf dem Experimentalfestival in Knokke in Belgien. Da wurden zum ersten Mal amerikanische Undergroundfilme gezeigt, die für uns eine Offenbarung waren. Ich hatte gerade einen Kurzfilm gedreht und Werner einen Katzenfilm. Werner war mit einer Freundin, einer Stewardess, da,

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Elfi Mikesch, Selbstporträt, 1964


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Ja, ich bekomme von meiner Professur 100 Euro pro Monat, trotzdem kann ich auf über 150 Filme zurückblicken, einige Bücher und Theaterinszenierungen. Am Deutschen Theater durfte ich ein autobiografisches Musical inszenieren, Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht. Die Uraufführung ist am 21. Januar 2018. RVP   Jetzt reicht’s mir, alles andere kann man ja in der Ausstellung erfahren. Eröffnung ist im Mai 2018, falls bis dahin noch kein Weltkrieg ausgebrochen ist, aber Du liebst ja Katastrophen. ROSA   Kein Kommentar.

Magdalena Montezuma im Film Macumba (1982) von Elfi Mikesch, 1983

Liebhaber von mir als Ersatz. Leider ist der Film wunderschön geworden, auch ohne mich. Werner ermutigte mich auch, den Leiter des Filmfestivals von Los Angeles, in den ich unglücklich verliebt war, zu ermorden, aber davon später. Ich plane in der Ausstellung einige Talkshows mit Zeitzeugen zu veranstalten. RVP

Und die wunderbare Elfi Mikesch? ROSA   Die begann Ende der Siebziger ihren ersten Film zu machen, für den sie sofort den deutschen Filmpreis bekam, den ich auch inzwischen bekommen hatte, aber Schroeter hatte uns noch übertroffen. Er räumte viele Preise ab und bekam den Goldenen Bären auf der Berlinale usw. RVP

Und die wunderbare Elfi Mikesch? Die machte weiter wunderbare Filme, war inzwischen eine international anerkannte Kamerafrau geworden, machte Kamera in vielen Filmen von Werner und auch von mir. Inzwischen lebte sie auch ihre Liebe zu Frauen. Sie ist eine geniale Lichtkünstlerin. Ich bewundere sie sehr. Werner Schroeter machte bis zum Lebensende Filme, inszenierte unzählige Stücke und Opern an Theatern, reiste ständig um die Welt, bis es nicht mehr ging. Von Krankheit gezeichnet, wurde er mehrfach für sein Lebenswerk geehrt, so auch bei den Filmfestspielen von Venedig. Elfi Mikesch ist zwei Jahre älter als ich, fährt täglich mit dem Fahrrad durch Berlin und macht Fotos, arbeitet an neuen Filmen und machte die Kamera für meine beiden Neukölln-Filme. Ich bewundere sie sehr. ROSA

RVP   Und Du, Du müsstest doch schon längst in Rente sein, da Du ja reich und berühmt bist, so wie es auf dem Titel Deines letzten Buches steht.

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Ina Blum als Anita Berber und Mikael Honesseau als Sebastian Droste bei den Dreharbeiten zu Anita – Tänze des Lasters von Rosa von Praunheim, 1988

ROSA VON PRAUNHEIM, Filmregisseur und Autor, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Film- und Medienkunst. Seit 2015 ist er Direktor der Sektion.

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DIE KUNST DER SELBSTBESTIMMUNG

Underground und Improvisation sind die Themen von zwei Ausstellungen der Akademie der Künste im Frühjahr 2018, die sich alternativen Musik- und Kunstbewegungen in Ost und West, vom Jahr der Studentenrevolte und des Prager Frühlings bis zur Nachwendezeit in Berlin und Osteuropa widmen: Notes from the Underground – Alternative Art and Music in Eastern Europe 1968–1994, kuratiert von David Crowley und Daniel Muzyczuk in Zusammenarbeit mit Angela Lammert, und Free Music Pro­duction / FMP: The Living Music, kuratiert von Markus Müller. In seinem Artikel schlägt er den Bogen von den Anfängen der Plattenindustrie bis hin zur Gegenwart und erzählt von den Bemühungen der Musiker, ihre Werke nicht nur kreieren, sondern tatsächlich besitzen zu können. Nele Hertling wirft ein Schlaglicht auf die besondere Beziehung zwischen der FMP und der Akademie der Künste, Berlin.

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Publikum beim Workshop Freie Musik, 1970, Akademie der Künste, Berlin, Hanseatenweg


UNDERGROUND UND IMPROVISATION. ALTERNATIVE MUSIK UND KUNST NACH 1968

„Pop Art is: Popular (designed for mass audience) Transient (for short-term solution) Expendable (easily forgotten) Low Cost Mass produced Young (aimed at youth) Witty Sexy Gimmicky Glamorous Big Business“

Richard Hamilton, Januar 1957 nach Jon Savage: „The simple things you see are all complicated“

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Markus Müller

Die allgemeinen Vorstellungen von Underground könnte man in einem binären Verhältnis zu Pop beschreiben. Zwar sind das Wort und die Ideengeschichte von Pop so komplex, dass sie der Idee des Underground nicht, wie man vorschnell meinen könnte, diametral gegenüberstehen. Aber: Pop ist Big Business, und Underground wird in seinem Ursprung als das Gegenteil oder zumindest als außerhalb eines erfolgreichen Geschäftsmodells verstanden. Zur zeitlichen Einordnung: In England eroberte die Fernsehsendung Top of The Pops 1963 den Prime-Time-Sendeplatz der BBC. Pop hatte, nach Jon Savage, bereits 1966 seinen internationalen Höhepunkt erreicht 1 und hat als hyperkapitalistische Musik­ industrie fünf Jahrzehnte hervorragend funktioniert. Dabei wohnte dem Pop auch immer eine Grundfrage inne, ein Bedeutungsschlachtfeld, das in der inhärenten Ambiguität des Begriffs „popular“ gründet: „… are the people, as a mass and individually, to be feared or celebrated?“ 2 Neben dem Big Business versprach Pop eben auch immer das Potenzial, den Entrechteten, den Stimmen außerhalb des Mainstreams Hör- und Sichtbarkeit zu verleihen. 3 Interessanterweise hat der Guardian im Oktober 2017 eine Serie unter der Überschrift „Where is the musical underground in 2017?“ gestartet. 4 Der Anlass für diese systematische Untersuchung war die Neubewertung eines „whole page guide to the Underground“, der von dem Schriftsteller Adrian Mitchell im Oktober 1967 – also vor 50 Jahren – für die Leser des Guardian erstellt worden war. Nur ein Jahr nach dem Höhepunkt des Pop war der Underground in den Massenmedien angekommen. Wobei dessen Motivation und Entstehungsgeschichte wesentlich von folgenden Argumenten gespeist wurden: „The mass media are too expensive for the underground artist. There are too many compromises. Too many people telling you how you should be doing things.“ 5 Bis in die späten neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren alle Aspekte des Mainstream-Musikgeschäfts, nicht nur das Verhältnis des Künstlers zur Plattenfirma, der Künstlerin zum Manager, des Musikers zum Clubbesitzer, der Musikerin zu den Musikverlagen, in höchstem Maße davon geprägt, dass die Kreativen systematisch ausgebeutet, betrogen und fremdbestimmt wurden. Das liegt auch daran, dass die Schallplatten- oder Tonträgerindustrie seit ihren Anfängen oligopolistisch aufgebaut ist. 6 1894 gründete der aus Deutschland ausgewanderte Emile Berliner zuerst die United States Gramophone Co. als weltweit erste Plattenfirma, 1897 die Gramophone Company in London, ein Jahr später die Deutsche Grammophon GmbH in seiner Heimatstadt Hannover. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es vier große Plattenfirmen, neben den genannten Unternehmungen von Berliner waren dies Edison Amberol (1888), Columbia Records (1888) und die Victor Talking Machine Company (1901). Nachdem es bis 1914 allein in Deutschland etwa 500 konkurrierende Schallplattenmarken gab, sind es heute, 2017, wieder drei große Firmen, nämlich die Universal Music Group, die Warner Music Group und Sony Music Entertainment, die sich gut 70 Prozent des Weltmarkts an verkauften Tonträgern teilen. Zwei dieser Firmen, Universal und Sony, lassen sich direkt auf Emile Berliners Unternehmen zurückführen. Die längere Geschichte dieser unglaubli-

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chen Entwicklungen, Umbrüche und Konzentrationsbewegungen der Marktkräfte kann an dieser Stelle zwar kein Thema sein, 7 wichtig ist allerdings, dass sich der Underground immer in Opposition zu diesen marktbeherrschenden Kräften entwickelt hat. Sei es, um an einem Markt zu partizipieren, von dem man andernfalls ausgeschlossen war, sei es um sich innerhalb rassistischer Systeme selbst zu bestimmen. Heute gibt es tatsächlich internationale Erfolgsgeschichten, die sich auch außerhalb des Oligopols entwickeln und realisieren (siehe Napster und die Folgen). Die Geschichte des Underground hat also mit der Emanzipation einer bestimmten Gruppe von Teilnehmern an diesen Produktionsverhältnissen zu tun, mit der Emanzipation der Musiker. Und hier waren es vor allem Jazzmusiker, afroamerikanische Musiker, die Veränderungen vorantrieben, weil sie sich nicht mehr nur als Entertainer sahen. Sie reklamierten die Rolle des Künstlers für sich, verstanden sich als Teil einer ungeschriebenen afroamerikanischen Musikgeschichte. Und während die bildende Kunst zur Entwicklung ihrer Autonomie gute vierhundert Jahre gebraucht hatte, 8 waren es im Fall des Jazz keine fünfzig Jahre, bis das „sich wandelnde Bewusstsein von der Rolle und den Möglichkeiten des Künstlers und der Kunst das Aussehen der Kunst selbst verändert[e], ihr neue Bereiche des Darzustellenden“ hinzugewann. 9 Der erste Schritt in Richtung Selbstbestimmung galt den Produktionsverhältnissen von Schallplatten. Die Geschichte dieser Musikerinitiativen aus dem Underground soll in der Folge kurz umrissen werden. Dizzy Gillespie gründete 1951 sein Label Dee Gee Records. „One alternative to playing it cool was to make a lot of money […] With the objective of building a large record company, I invested my money and talent and tried to become a musical industrialist“, 10 so Gillespie nicht ohne ironische Überspitzung in seinen Memoiren. Doch bereits zwei Jahre später war schon wieder Schluss: Aufgrund von Zahlungsrückständen konfiszierte die US-amerikanische Steuerbehörde den Bestand und verkaufte alle Mastertapes und die damit verbundenen Urheberrechte an Savoy Records. 1952 starteten dann Charles Mingus, seine damalige Frau Celia und der Musikerkollege Max Roach ihr eigenes Plattenlabel, Debut Records. Debut Records, das immer wieder als erstes musikergeführtes Label in den USA bezeichnet wird, 11 existierte von 1952 bis 1957. Neben einem Akt der Selbsthilfe ging es Mingus und Roach stets um politische Gleichberechtigung und Emanzipation: „I will never again play anything that does not have social significance“, erklärte Roach dem Jazzmagazin Down Beat. 12 „I knew Joe Oliver. He used to go record and they would go in there and stay five or six hours and if they made sixty-five or seventy dollars for the whole group for all day, they were happy. Then when it came for selling the records, there was no rule to give them royalties. So all they got out of it was the fifty or sixty dollars. The industry made all the money. The White manager made money.“ 13 Was hier ein Musiker und Gewerkschaftsaktivist kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs über die Musikindustrie sagt, ist ein bis heute in ungezählten Variationen geäußerter Allgemeinplatz der Oral History des Jazz und seiner Produktionsverhältnisse. 14 Der vergleichsweise kurze Zeitraum, in dem die ersten von Musikern

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geführten Plattenfirmen existierten, lässt daher auch eher Rückschlüsse auf die enormen Widerstände als auf die ideengeschichtliche, symbolische Wirkmächtigkeit dieser Initiativen zu. Die relevanten politischen Fragen der 1950er und 1960er Jahre, das Streben nach Emanzipation und Gleichberechtigung zum Beispiel, entfalteten in der Folgezeit diesseits und jenseits des Atlantiks eine unmittelbare Wirkung auf alle nachfolgenden Initiativen zur Selbstbestimmung von Musikern. Der einzige Musiker, dem es gelang, über Jahrzehnte hinweg nicht nur sein eigenes Plattenlabel zu betreiben, sondern auch eine Big Band in paramilitärischer Disziplin je nach Perspektive als Kommune für Zukunftsmusik oder Sekte für musikhistorische Grundlagenforschung zu unterhalten, war der 1914 in Birmingham, Alabama geborene Herman Poole Blount, der seit 1953 als Le Sony’r Ra auftrat (und auch laut Personalausweis so hieß) und als Sun Ra Musikgeschichte geschrieben hat. Sun Ra war allerdings keine Person, sondern, in Le Sony’r Ras prä-warholianischen Worten: „Sun Ra is not a person, it’s a business. So if they say that my name is this-that-and-the-other, just remember, it’s a business name. A business just happens, it’s not born. And corporations are like that, they just happen. And they’re eternal, too. You get a corporation, it’s eternal.“ 15 Sun Ra war 1964 an der October Revolution in Jazz beteiligt, einer mittlerweile legendären Konzertreihe, die Bill Dixon im

Peter Brötzmann und Albert Mangelsdorff beim Free Music Market, Akademie der Künste, Hanseatenweg, Berlin, 1971

Cellar Café auf New Yorks West Ninety-Sixth Street organisierte. Vier Tage lang, vom 1. bis zum 4. Oktober, fanden dort fast vierzig Konzerte und Diskussionsveranstaltungen statt. Archie Shepp, Cecil Taylor, Ornette Coleman, Albert Ayler, Milford Graves und andere, schlicht die wesentlichen Protagonisten des Underground,


Cecil Taylor und Günter „Baby“ Sommer, Improvised Music II, Kongreßhalle, Berlin, 1988

spielten und diskutierten über ihr Musikerleben. Als eine Konsequenz aus der October Revolution gründete Bill Dixon die Jazz Composers Guild. Dixon hatte die Vorstellung, dass eine Institution („You can’t kill an institution, but you can kill an individual“, Dixon zu Cecil Taylor, 1964) in der Lage sein müsste, nicht nur das Selbstwertgefühl ihrer Mitglieder zu stärken, sondern auch die Marktsituation ihrer einzelnen Mitglieder zu verbessern. Später entwickelte sich aus der Guild das von Carla Bley und Mike Mantler geleitete Jazz Composer’s Orchestra, das mit der Jazz Composers Orchestra Association Inc. auch ein Plattenlabel an­meldete, aus dessen Aktivitäten der erste unabhängige Schallplattenvertrieb hervorging, der New Music Distribution Service. 16 In Chicago hatte sich 1965 die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) als Non-Profit-Organisation vom Staat Illinois anerkennen lassen. Die Satzung besagt, dass sich die Organisation um die sozialen, kulturellen, künstlerischen, ökonomischen, edukativen und geistigen Belange schwarzer Musiker in ihrem Umfeld kümmert. Die AACM ist die einzige amerikanische Musikerorganisation aus den 1960er Jahren, der es gelungen ist, ihre Ideen ins 21. Jahrhundert zu transportieren und über Chicago und New York bis Paris weiterzuführen. Ausgehend von organisatorischen Ideen, aber vor allem auch den musikalischen Entwicklungen in den USA der 1960er Jahre hatten sich in Europa Wahlverwandtschaften zwischen euro­ päischen Musikern entwickelt, deren Arbeitsverhältnisse in An­sätzen mit denen ihrer Kollegen in den USA vergleichbar waren. Für die europäischen Vertreter des neuen Jazz Underground gab es zwei wesentliche Probleme: Erstens wurden sie als epigonal

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abqualifiziert und zweitens wurden bevorzugt die amerikanischen „Originale“ eingeladen. Die sogenannte plagiatorische Phase des europäischen Jazz (von einer Ausnahme wie Django Reinhardt einmal abgesehen) endete mit der Musik des aus der Karibik stammenden Briten Joe Harriott zu Beginn der 1960er Jahre. Mittelfristig blieb er allerdings eher isoliert, seine LP Abstract von 1962 bekam 1998 die fragwürdige Auszeichnung, vom britischen Magazin The Wire in die Liste der „100 Records That Set The World On Fire (While No One Was Listening)“ aufgenommen zu werden. Von 1965 an entwickelte sich in England um drei Gruppen herum eine neue Szene, die auch Be­ziehungen zu kontinentaleuropäischen Musikern aufbaute: das Spontaneous Music Ensemble (gegründet von John Stevens mit u. a. Evan Parker), AMM (ursprünglich Keith Rowe, Lou Gare und Eddie Prévost, ab 1966 kamen Lawrence Sheaff und Cornelius Cardew hinzu) und last but not least das südafrikanische Sextett The Blue Notes (Chris McGregor, Mongezi Feza, Dudu Pukwana, Nikele Moyake, Johnny Dyani und Louis Moholo). Dessen Mitglieder entschlossen sich 1964 nach einem Konzert in Antibes, in Europa zu bleiben, landeten schließlich 1965 in London und trafen dort auf den Südafrikaner Harry Miller. Dieser gründete 1974 eines der beiden wichtigen, von Musikern betriebenen englischen Labels: Ogun Records. Der Auslöser für die Labelgründung waren Aufnahmen von McGregors Big Band Brotherhood of Breath, die bei keinem Plattenlabel unterzubringen waren (Ogun existiert trotz Millers tragischem Tod 1983 heute noch). Das andere Label war das von Derek Bailey und Evan Parker 1970 gegründete Incus, das erste unabhängige Label in England überhaupt. Das erste Label, das auf dem europäischen Festland von Musikern gegründete wurde, war 1967 der Instant Composers Pool der Niederländer Han Bennink, Misha Mengelberg und Willem Breuker. Der Instant Composer Pool unterwanderte die seit 1965 existierende Stiftung SJIN – Stichting Jazz in Nederland, erarbeitete einen Strukturplan für den Jazz in den Niederlanden, gründete 1970 die Berufsvereinigung improvisierender Musiker (BIM) und eröffnete 1973 in Amsterdam das BIMHUIS, in dem es Proberäume, ein Café, Büros und vor allen Dingen einen Konzertsaal gab. 17 Peter Brötzmann ist eine der entscheidenden Figuren in dieser europäischen Emanzipationsbewegung. Mitte der 1960er Jahre spielte er unter anderem mit Don Cherry und Steve Lacy in Paris, bevor er in seine Wahlheimat Wuppertal zurückkehrte, um dort 1967 seine erste Schallplatte aufzunehmen und auf seinem eigenen Label BRÖ zu verlegen. Das Peter Brötzmann Trio bestand aus dem 2002 tragisch früh verstorbenen Peter Kowald und Sven-Åke Johansson, die mittlerweile legendäre Platte hieß For Adolphe Sax. Brötzmann war Ende der 1950er Jahre nach Wuppertal an die Werkkunstschule gekommen, hatte mit Malerei begonnen, lernte dann Gestaltung und Grafik und spielte nebenbei Musik. Wuppertal war in den frühen 1960er Jahren eine Stadt, in der Kunstgeschichte geschrieben wurde. Die Galerie Parnass richtete im Frühjahr 1963 Nam June Paiks erste Einzelausstellung Exposition of Music – Electronic Television aus, die eine internationale Sensation und zugleich ein gehöriger Skandal war. Die FAZ hat das so

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beschrieben: „Das Foto […] zeigt die Anlieferung des Ochsenkopfs, der, präpariert mit Schnüren, soeben im Eingangsbereich der Galerie Parnass aufgehängt wurde. Der Bauer in der Mitte hält das lange Ende der Schnur in der Hand. Rechts von ihm nähert sich Nam June Paik, vermutlich mit einem Messer, um das restliche Ende der Schnur zu kappen. Auf der Treppe links sitzt der Künstler Peter Brötzmann, damaliger Assistent von Nam June Paik.“ 18 Peter Brötzmann war noch 1963 ein Künstler, der auch Musik machte. Und ein Künstler, der als Assistent von Nam June Paik mitten in die interessantesten Prozesse der neuesten Kunst verstrickt war. So auch 1965, beim berühmten 24-Stunden-Happening mit Joseph Beuys, Bazon Brock, Charlotte Moorman, Nam June Paik, Eckart Rahn, Tomas Schmit und Wolf Vostell. 1968, ein Jahr nach der ersten BRÖ-Einspielung, folgte Machine Gun, ein Oktett, in dem das Trio um Willem Breuker, Fred Van Hove, Evan Parker, Buschi Niebergall und Han Bennink ergänzt wurde. Mit diesen beiden Platten hat Brötzmann im Alleingang die Möglichkeitsformen selbstbestimmten Arbeitens für europäische Musiker erweitert. Aufgrund der Initiative von Peter Brötzmann und Jost Gebers gründete sich 1968, vor knapp 50 Jahren, die Free Music Produc-

tion (FMP) in Berlin, im selben Jahr gab es das erste Total Music Meeting, 1969 den ersten Workshop Freie Musik, ebenfalls 1969 ging es mit der ersten LP, Manfred Schoofs European Echoes, weiter. Gebers erhielt von der Berliner Akademie der Künste eine Einladung, eine Konzertreihe für den Frühling 1969 zu organisieren, damals im Rahmen der Ausstellung Junge Generation Groß­ britannien. Die „Three Days of Living Music and Minimal Art“ wurden aber fast ein Fiasko. Das Publikum war dem Nebeneinander von Alexis Korners Blues Group und dem Avantgarde-Nonett Alexander von Schlippenbachs nicht gewachsen und verursachte zudem an den ausgestellten Kunstobjekten beträchtlichen Schaden. Schlägereien gab es auch. 19 Free Jazz war im Museum angekommen, Missverständnisse inklusive. Die FMP verstand es relativ schnell, die deutschen Musiker um Manfred Schoof und Alexander von Schlippenbach (Köln) und Brötzmann, Kowald, Detlef Schönenberg, Hans Reichel und Rüdiger Carl (Wuppertal) in Westberlin zu sammeln. Dabei funktionierte die FMP (auch wegen der kulturpolitischen Sonderstellung der geteilten Stadt) als Katalysator, um die europäische und die internationale Improvisationsszene zusammenzuführen. Oder, wie

Peter Brötzmann, Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Buschi Niebergall vor der Akademie der Künste, Berlin, Hanseatenweg, 1972

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Bill Dixon es 1995 ausgedrückt hat: „Das Interessante an unserer vertreten hat. Im Rahmen eines Artikels zu Evan Parker stellt die Erfahrung ist, dass es in Europa ja später funktionierte. Das ist die Zeitung fest: „All of this makes it the ultimate in underground music. Geschichte der Free Music Production in Berlin, nichts anderes The music is simply too inaccessible for the mainstream, and no wollten wir mit der Jazz Composers Guild. Wir wollten die totale one involved is particularly interested in it anyway.“ 22 Und Greg Kontrolle über unsere Musik. Wir wollten sie nicht nur kreieren, Tate hat darauf hingewiesen, dass es gerade junge Menschen sind, sondern sie auch besitzen.“ 20 die mit ihrem Interesse an Improvisation und anderen in der JazzSpätestens mit den 1980er Jahren entwickelte die FMP einen geschichte gründenden Musiken die „Black Power flower children transatlantischen Austausch. 1983 organisierten Peter Kowald und of the Black Lives Matter era“ sind. 23 William Parker das Sound Unity Festival in einer Basketballhalle in der New Yorker Lower East Side und luden Don Cherry, Peter 1 J on Savage, „The simple things you see are all complicated“, in: Hanif Kureishi und Jon Savage (Hg.), The Faber Book of Brötzmann, Billy Bang, Charles Tyler, Irène Schweizer sowie einige Pop, S. xxvi ff., London 1996. Tänzer ein. Wie auch im Rahmen des Workshops Freie Musik an der 2 ebd., S.  xxi. 3 ebd., S.  xxiii. Akademie der Künste gestaltete A. R. Penck raumfüllende Bilder, 4 https://www.theguardian.com/music/ng-interactive/2017/ oct/09/where-is-the-musical-underground-in-2017 die als Hintergründe genutzt wurden. 21 Bis heute findet dieses 5 ebd. transdisziplinäre Festival, mittlerweile unter dem Titel Visions, in 6 Im Folgenden werden einzelne Aspekte aus Markus Müller, „ECM im Kontext unabhängiger Schallplattenfirmen und unregelmäßigen Abständen statt. der Selbstbestimmung von Musikern in den 50er, 60er und 70er Jahren“, in: Okwui Enwezor (Hg.), ECM – eine kulturelle Interessanterweise haben diese mittlerweile historischen Archäologie, München 2013, S. 54–65 zusammengefasst. Strategien und Initiativen heute eine ganz neue Aktualität. Selbst 7 Vgl. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985 und ders., Grammophon Film Typewriter, verständlich widmet sich der Guardian in seiner Reihe zum Under Berlin 1986 sowie Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz in den USA, Frankfurt 1982 und ders., Jazzmusiker. ground auch der Musik, die zum Beispiel die FMP fast 50 Jahre Materialien zur Soziologie der afro-amerikanischen Musik, Berlin 1982. 8 Werner Busch, „Die Autonomie der Kunst“, in: ders., Kunst: Die Geschichte ihrer Funktionen, Weinheim 1987, S. 178 ff. 9 ebd., S.  178. 1 0 Dizzy Gillespie mit Al Frazer, To Be or Not … to Bop. Dizzy Gillespie, Minneapolis 2009, S. 370. 11 Horst Weber und Gerd Filtgen, Charles Mingus, Gauting-Buchendorf 1984, S. 36. 1 2 Peter Keepnews, „Max Roach, a Founder of Modern Jazz Dies at 83“, in: The New York Times, 16.08.2007, www.nytimes.com/2007/08/16/arts/music/16cnd roach.html 1 3 Der Geiger und Gewerkschaftsmitbegründer (1918) William Everett Smith nach George Lewis, A Power Stronger Than Itself. The AACM and American Experimental Music, Chicago 2008, S. 22. 1 4 Vgl. Jost, Jazzmusiker, S. 47. 1 5 John Corbett, Extended Play. Sounding Off From John Cage to Dr. Funkenstein, London 1994, S. 316. 1 6 Alles zu Bill Dixon und der Jazz Composers Guild nach Valerie Wilmer, As serious as Your Life, London 1977, S. 213 ff. 17 Ekkehard Jost: Europas Jazz, Frankfurt am Main 1987, S. 345 ff. 1 8 „Schamanen in Wuppertal und ein Verstoß gegen das Kadavergesetz“, in: FAZ, Kunstmarkt Spezial, 27.10.2005, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunstmarkt/serie- schamanen-in-wuppertal-und-ein-verstoss-gegen-das kadavergesetz-aus-dem-zentralarchiv-30-1283716.html. 1 9 Z it. n. Jürg Solothurnmann, Zwischen Erfolg und Frustration. FMP – ein Bollwerk der Kreativität, Berlin 1980, vgl. www.fmp-publishing.de/freemusicproduction/ texte/1980d_solothurnmann.html 2 0 Christian Broecking, „Interview mit Bill Dixon: Zirkelschluß der Bewußtlosigkeit“, in: Jazzthetik 7/8, Münster 1995, S. 10. 2 1 Christian Broecking, „Interview mit William Parker“, in: ders., Respekt, Berlin 2011, S. 146 f. 2 2 Noah Payne-Frank: „Free Improvisation: still the ultimate in underground music?“, zitiert nach https://www.theguardian.com/music/2017/nov/15/ free-improvisation-jazz-ultimate-underground music?CMP=share_btn_fb 23 Greg Tate: „Why Jazz Will Always Be Relevant“, zitiert nach http://www.thefader.com/2016/05/05/jazz-will always-be-relevant

MARKUS MÜLLER ist Autor und Kurator. 2007 gründete er das Bureau Mueller, eine Kommunikations- und Consultingfirma in Berlin.

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ZUR GESCHICHTE DER FMP IN DER AKADEMIE DER KÜNSTE Im Jahr 1968 bereiteten wir in der Berliner Akademie der Künste – ich war zu der Zeit Sekretär der Abteilung Musik – ein großes Projekt unter dem Titel „Junge Generation Großbritannien“ vor. Es ging darum, die ungewöhnliche Entwicklung der letzten Jahre in England in all ihren Facetten darzustellen. Bei den Vorbereitungsarbeiten in London hatte ich durch Zufall den Schlagzeuger John Stevens und den Bassisten Dave Holland kennen gelernt. Wir beschlossen, sie mit ihrem Spontaneous Music Ensemble, zu dem auch Derek Bailey und Evan Parker gehörten, zur Eröffnung unserer Ausstellung nach Berlin einzuladen. Mit dem Konzert begann unser Interesse an dieser neuen, lebendigen Musik. Kurze Zeit später lernte ich über die Schauspielerin Donata Höffer, die zur gleichen Zeit in der Akademie in einer Inszenierung von Willy Schmidt probte, den Bassisten Jost Gebers kennen, und gemeinsam planten wir, als Folge des Konzertes mit den englischen Musikern, eine Veranstaltung unter dem Titel „Three Days of Living Music and Minimal Art“, die in einer Ausstellungshalle stattfinden sollte, u. a. mit Alexis Korner und Alexander von Schlippenbach. Dieser Abend hätte schon fast zum Ende weiterer Planungen geführt, denn während der Auftritte der Musiker zwischen den ausgestellten Kunstwerken entstand eine unerfreuliche Situation, als die Zuhörer begannen, – zunächst fast spielerisch und unabsichtlich – die Kunstwerke als Sitzgelegenheiten und eigene Schlag­ instrumente zu benutzen. Als wir versuchten, dies zu stoppen, kam es zu heftigen Rangeleien und sogar Prügeleien. In einer Zeitung hieß es: „Unbekümmert pflückte man auf einem Innenhof Schilfgräser und schritt zu einem Lärmhappening, indem mit Füssen und Fäusten auf die Ausstellungsobjekte aus Blech eingehämmert wurde.“ Sicher war für die meisten Besucher die Musik ungewöhnlich und nicht sofort zu akzeptieren, doch es zeigte auch die spannungsgeladene Atmosphäre dieser Jahre, in denen jeder glaubte, das Recht zu haben, alles auch selber tun und überall mitmachen zu können. Es gab einen immensen Versicherungsschaden und Jost Gebers war sicher, damit sei die Zusammenarbeit mit der Akademie wohl zu Ende. Doch wir fanden diesen musikalischen Beginn so wichtig, dass wir das Haus davon überzeugen konnten, einen neuen Versuch – wieder in einer Ausstellungshalle, aber ohne Kunstgegenstände – zu machen. Es entstand die Idee zu einem Workshop, der ganz und gar von den Musikern selbst konzipiert werden sollte. Erstaunlicherweise hat die Institution Akademie der Künste uns das machen lassen. Es gab wohl kein wirkliches Interesse für diese Musik bei den Mitgliedern der Akademie, aber ein weitgehendes, freundliches Vertrauensverhältnis zu uns so viel jüngeren Mitarbeitern schuf die Grundlage und damit auch die finanziellen Möglichkeiten für neue Formen und Inhalte von Veranstaltungen im Haus.

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Nele Hertling

So gab es vom 23. bis zum 30. März 1970 den ersten FMP-Osterworkshop in der großen Ausstellungshalle, der ein zunächst kleines, doch schnell wachsendes Publikum fand, das die musikalischen Angebote und Entwicklungen mit Interesse und Spaß verfolgte, und so eine lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen der FMP und der Akademie der Künste begründete. Dabei haben wir in die künstlerischen Entscheidungen, die eben nicht von einem „Kurator“ kamen, sondern ausschließlich von den Musikern, zunächst vor allem von Peter Brötzmann und Peter Kowald, nie hereingeredet. Jost Gebers war, als Bassist, einer von ihnen, hat dann die Planungen und Umsetzungen weitgehend verantwortet – der Workshop FMP war ein Gemeinschaftsprozess, ich selbst habe ihn über zwanzig Jahre für die Akademie betreut. Diese künstlerische Selbstbestimmung war etwas sehr Be­sonderes und fast Einmaliges und hat über die langen Jahre die Qualität des Projektes bestimmt. Wichtig und beeindruckend waren die seltenen Auftritte von Musikerkollegen aus der DDR, die nach großen Bemühungen nach Westberlin einreisen durften und ein wenig von der musikalischen Entwicklung hinter dem Eisernen Vorhang hörbar machen konnten. FMP-Musiker haben sich auch in der Akademie-Reihe „Kinder und Künste“ mit Workshops und Konzerten engagiert, fast überrannt vom Publikum, lebendig, manchmal chaotisch, z. B. als eine Kindergruppe das Schlagzeug von Han Bennink gekapert hat, verteidigt von Müttern, die die uneingeschränkten Rechte ihrer Kinder verteidigten, doch so mancher heute Erwachsene erinnert sich daran mit Vergnügen. 1988 war Berlin „Kulturstadt Europas“ , für deren Programmplanung unter dem Titel „Werkstatt Berlin“ ich die Akademie verlassen hatte. Diese Planungen machten es möglich, dem großen Wunsch von Jost Gebers und der FMP zu folgen und Cecil Taylor für einen längeren Aufenthalt nach Berlin einzuladen. Seine vielfältigen Auftritte, Workshops und Konzerte, sind unvergessen und in einer eigenen Publikation der FMP festgehalten. Die ungezählten Stunden und Nächte in den großen Hallen der Akademie, die zugleich offene, lockere und doch konzentrierte Stimmung, die Begegnungen mit den Musikern, das wiederkehrende Publikum, die großartigen musikalischen Momente haben die Beteiligten geprägt – es ist gut, dass jetzt in einem eigenen Projekt daran noch einmal erinnert und zugleich ein Ausblick in die künftige Entwicklung der Freien Musik möglich wird.

NELE HERTLING, Dramaturgin und Theaterautorin, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Darstellende Kunst. Seit 2017 ist sie Direktorin der Sektion.


Butch Morris, Min Tanaka, Peter Kowald, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 1991

Publikum beim Workshop Freie Musik, Akademie der KĂźnste, Berlin, Hanseatenweg, 1970

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CARTE BLANCHE

REFLEX

THOMAS FLORSCHUETZ

REFLEX heißt die Fotoserie von Thomas Florschuetz, aus der er für die Präsentation im Journal der Künste fünf Arbeiten ausgewählt hat. Der Fotograf bewegt sich vor einer Wand aus unterschiedlichen Spiegelformen, in denen er sich wie in einem Selbstporträt reflektiert. Da die Zwischenräume der Spiegel auf der Wand Negativformen bilden, entsteht ein Vexierbild zwischen Wand und Spiegel, zwischen Skulptur, Reflex und vermeintlicher Durchsicht, zwischen Innenraum und Außenraum. Thomas Florschuetz ist in den fünf Fotografien immer nur zu einem Teil in den Reflexionen sichtbar, immer positioniert er sich aber so, dass sein Auge im Wandsegment erscheint, so dass er als Autor unsichtbar ist, als Person zunehmend verschwindet. Wie in seinen Serien zur Architektur entwickelt er auch hier ein Beziehungsfeld zwischen äußerer Wirklichkeit, dem Akt des Sehens und der inneren Wahrnehmung. Es entsteht eine visuelle Dialektik, die als Reflexion der Fotografie als Medium, aber auch als Reflexion der eigenen Wahrnehmung verstanden werden kann. Thomas Florschuetz ist jemand, der jeder Wirklichkeit misstraut, der seine eigene Position immer mit ins Spiel bringt und insofern das in eine fotografische Sprache

übersetzt, was Merleau-Ponty in seiner Philosophie als „anthropologischen Raum“ beschreibt, einen Raum, der in der eigenen Wahrnehmung ebenso verankert ist wie in einer materiellen Realität in der Distanz. Dabei sieht sich Thomas Florschuetz nicht zuletzt in der Tradition der Kunstgeschichte. In den Spiegeln wird auch eine Staffelei reflektiert, die anspielt auf die Aneignung der Wirklichkeit durch die Malerei. Ich möchte die Bildserie als Paraphrase von keinem geringeren Werk als Velázquez’ Las Meninas lesen, die Darstellung der eigenen künstlerischen Position im Werk selbst. Velázquez spielt mit der Spiegelmetapher als bildlicher Reflexion seiner ei­genen sozialen und künstlerischen Position, so wie Thomas Florschuetz das mit den Mitteln der Gegenwart tut. Doch in seiner spielerischen Auseinandersetzung rückt er selbst nicht ins Bild, er verschwindet zwischen den Spiegeln seines eigenen Mediums.

Reflex, 2011/17, 6-teilig, je 92 × 63 cm, Archival Pigment Prints Bilder Folgeseiten: Reflex 05, Reflex 01, Reflex 04, Reflex 02, Reflex 07, 2011/17, 92 × 63 cm, Archival Pigment Print

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JOHANNES ODENTHAL ist Programmbeauftragter der Akademie der Künste, Berlin.


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IMRE KERTÉSZ – „MEINE EINZIGE IDENTITÄT IST DIE DES SCHREIBENS“ Erinnerungen von Durs Grünbein an den ungarischen Literaturnobelpreisträger, neu veröffentlicht anlässlich der Konferenz „Holocaust als Kultur. Zur Poetik von Imre Kertész“

Imre Kertész, 21.1.2011, Akademie der Künste, Pariser Platz

Durs Grünbein wird neben Christina Viragh, László F. Földényi, F. C. Delius und Ingo Schulze an der Podiumsdiskussion zur Er­öffnung der Imre-Kertész-Konferenz teilnehmen, die vom 12. bis 14. April 2018 in der Akademie der Künste am Pariser Platz stattfindet. Podiumsgespräch und Konferenz stehen unter dem Titel „Holocaust als Kultur. Zur Poetik von Imre Kertész“. Die Formulierung „Holocaust als Kultur“ stammt von Kertész selbst und führt ins Zentrum seiner Poetik. Jean Amérys Satz von den „Bewältigungsversuchen eines Überwältigten“ radikalisiert sich im Werk von Kertész. Er geht sogar so weit, Auschwitz als „Gnade“ zu bezeichnen; eine Gnade, die es ihm als Schriftsteller erlaubt, die extreme Leiderfahrung in Kunst zu verwandeln.

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Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, Kritiker und Wegbegleiter werden sich in diesen drei Tagen mit der Werkbiografie und den Wahlverwandtschaften des 2016 verstorbenen Nobelpreisträgers und Mitglieds der Akademie der Künste befassen, dessen literarischer Nachlass im Archiv der Akademie liegt. Aber auch Fragen nach einem neuen Kanon in der Shoa-Literatur und besonders nach Kertész' literarischer Leistung, die, wie Péter Nádas immer wieder betont, zu lange von seinem Lebensthema verdeckt wurde, werden in Vorträgen und Diskussionen behandelt.

Im Flur unserer römischen Wohnung klingelt das Telefon, wie immer ist eine der Töchter als erste am Apparat. Dann ruft sie quer durch die Wohnung, so laut, dass es der Anrufer hören musste. „Papa, da ist ein Mann am Telefon. Es hört sich an, als ob er gleich stirbt.“ Verstört übernehme ich, sage „Hallo?“. Da meldet sich eine ältere Männerstimme, sie klingt zugleich weich und hoch, wie die eines Kindes und spricht ein wunderbar geschmeidiges Deutsch, wie nur die kultiviertesten Ungarn es vermögen. Der Anrufer ist Imre Kertész. Das war vor zwei Jahren, und nun ist es also geschehen. Imre Kertész ist gestorben, in seiner Heimatstadt Budapest, am selben Ort, an dem er vor 86 Jahren geboren wurde. Nie mehr werde ich nun die sanfte Stimme des Mannes hören, der für mich, nach Samuel Becketts Tod, einer der letzten Aufrechten der literarischen Moderne war. Wie würde man einem jungen Menschen erklären, wer dieser Imre Kertész war? Nicht als Schriftsteller, das wäre ein leichtes Spiel, dazu brauchte es nur die genaue Lektüre seiner Bücher, die aber schwerlich vorauszusetzen ist, das habe ich in vielen Gesprächen gemerkt. Ich würde sagen: Dieser grundanständige Mann war der existenzielle Außenseiter per se. Fremd in der Welt, der bürokratisierten Gesellschaft, der Ehe, der Nation und unter Schriftstellern sowieso. Ein Niemals-Mitläufer, Verächter sämtlicher Ideologien, einer der größten Morallehrer meiner Zeit, ein echtes Vorbild fürs Leben. Seine Form des Widerstands war die kluge Naivität. Skeptisch zu bleiben, wo die meisten Bescheid wissen und die Worte gebrauchen als ein für allemal ausgestanzte Formeln. Es war ihm nicht gegeben, sich einzufügen in die bestehenden Ordnungen. Seine Isolation in einer Kultur der allgemeinen Komplizenschaft, der Kontrolle und Konkurrenz war vollkommen. Von Ungarns Handlangern des Nationalsozialismus zur Vernichtung bestimmt und wie durch ein Wunder nur überlebend, blieb ihm nach seiner Rückkehr an den geografischen Ausgangspunkt der Bolschewismus ebenso fremd. Aber auch Emigration kam für ihn nicht in Frage. An die Muttersprache gebunden, fügte er, ein Leben im Verborgenen führend wie die antiken Stoiker, in aller Bescheidenheit dem Ungarischen einige Meisterwerke hinzu. Und das war’s, würde ich sagen, darin bestand seine Größe: auszu­harren wie ein Sklave auf der Galeere und seine Arbeit zu tun, die einzige, die er wie nur wenige beherrschte, das Schreiben. Dass er sich, als Ungar, als Jude, als Autor, nie einließ auf die üblichen ethischen und ästhetischen Standards (vulgo Kompromisse), war, das wusste er, unverzeihlich. Durchzuhalten, nur darum ging es, jahrzehntelang

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in der Baracke des Sozialismus auszuharren, um den Job zu Ende zu bringen, den dann, nach dem Fall der ungarischen Zäune (und der Berliner Mauer) die neuen, unerwarteten Leser im Westen begreifen und bewundern konnten als eines der wenigen ganz großen Lebenswerke des Jahrhunderts der Zerstörungen und des Massenmords. Gegen Krankheit und Selbstzweifel und Selbstmordgedanken die Existenz des Zeugen zu bewahren. Sein Lächeln des Überlebenden war eine Freundlichkeit, die man im Westen später leicht mit der beliebten osteuropäischen Melancholie verwechseln konnte. Er wusste ja, wie weit er da hinausgeschwommen war auf den Ozean der Einsamkeit. „Im Hinblick darauf ist mein Judentum nur ein symbolisches Anhängsel.“ Und auch das war ihm bewusst (aber darüber kann man sich streiten, und dieser Streit hätte ihm gefallen): „Nicht der Roman ist tot, sondern der Leser.“

Im Januar 2011 besucht Imre Kertész die Akademie der Künste am Pariser Platz anlässlich der Aufführung eines Foto-Films nach seinem Roman Fiasko.

Was nun bleibt, sind seine Bücher. Jungen Menschen würde ich empfehlen, zu beginnen mit Ich – ein anderer. Ganz kurzer Roman, der beschreibt, wie einer aus dem Gefängnis entlassen und plötzlich berühmt wird. Berühmtheit ist etwas, das heute alle interessiert. Ein Mensch schreibt sich frei, wie geht das, nachdem er so viele Mauern, Identitäten, fürchterliche Bedrängnisse und Bedingtheiten kennengelernt hat? Seine sonstigen Bücher? Man sollte sie wieder bestellen, sofort. Zuerst den Roman eines Schicksallosen (und dann Fiasko, dann Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, dann, vielleicht, Liquidation). Im ersten Buch dieser Tetralogie, angelegt wie eine komplexe Fernsehserie, kommt der Erzähler durch einen dummen Zufall nach Auschwitz, so wie Karl Roßmann, der Held in Franz Kafkas gleichnamigem Roman, nach

Amerika kommt. Aber Auschwitz war nicht Amerika, Leute. Und was dann folgt, könnt ihr euch denken, aber es war doch anders, ganz anders, gesehen mit den Augen eines vierzehnjährigen Jungen, der zufällig hineingeraten war in diesen Malstrom der Vernichtung. Der Erzähler war einer aus dem Strom der mehreren Hunderttausend ungarischer Juden, die im Sommer 1944 nach Auschwitz deportiert wurden. Man kennt die letzte große »Judenaktion« Adolf Eichmanns, sie ist außerordentlich gut dokumentiert. Die einzigen Fotos, die wir von den Abläufen haben, entstanden zufällig bei der Abfertigung der sogenannten Ungarntransporte an der Rampe in Birkenau. Die Aufnahmen gehören zu den erschlagendsten Dokumenten, die man im AuschwitzMuseum heute zu sehen bekommt. Mittlerweile dienen sie als Beweismittel in den allerletzten Prozessen. Auf den Bildern sieht man überall Kinder, auch kleine Jungen in schmucken Ausgehsachen, manche im Alter des jungen Imre, als er hinter dem Lagertor aus einem der ziegelroten, oben und an den Seiten geschlossenen Güterwaggons stieg. Darum ging es dem Autor, um einen Moment der Menschheitsgeschichte, der unbegreiflich bleibt, solange ihn niemand erzählt. Der Autor, der damals, wenn die Selektion anders verlaufen wäre, sofort vergast worden wäre, noch am selben Tag, und niemand mehr hätte nach ihm gekräht. Wider Erwarten aber hatte er die Hölle überlebt – und ist nun verstorben, in unseren Tagen, als unser aller Bekannter. Vielleicht war ihm sein Deutsch zu Hilfe gekommen. „Daß ich mir am Gymnasium ihre Sprache bis zu einem gewissen Grad angeeignet hatte“, wie es im Roman eines Schicksallosen heißt. Und er erwähnt den Direktor, der die Schüler mit einem Klassikerzitat willkommen hieß. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Aber was lernen wir denn? „Dann hätte ich … die ganze Zeit ausschließlich für Auschwitz lernen müssen“, schreibt Imre Kertész. Den Nobelpreis empfand er als »Glückskatastrophe«, eine unerträgliche Bürde, die dem Berühmten die letzte Ruhe raubt. Er hatte, wie manches andere, auch dieses Schicksal klar vorausgesehen. „Ich schreibe über Auschwitz, aber man hat mich nicht dazu nach Auschwitz gebracht, damit ich den Nobelpreis bekomme.“ Illusionslosigkeit war seine Stärke. Vor den Syllogismen der Bitterkeit hat ihn die Heiterkeit des Lebensgenießers bewahrt und etwas, das er mit seinem wichtigsten Meister teilte, Franz Kafka: die kindliche Unschuld. Kindlichkeit hat ihn vor jeder Lebens- und Sterbensangst zeitlebens bewahrt. „Wer bei gesundem Verstand bleibt und Glück hat, stirbt so, wie das Kind gezwungenermaßen sein Spielzeug liegen läßt, wenn es am Abend ins Bett geschickt wird; sich einerseits beklagend, anderseits kaum noch imstande, die Augen offen zu halten. Zwar tröstet man es, daß es sein Spielzeug am nächsten Tag wiederfinden werde, aber das Kind glaubt so wenig an morgen wie der Sterbende.“ Kaddisch für einen seltenen Menschen. Zuerst veröffentlicht in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.4.2016

DURS GRÜNBEIN, Dichter, Dramatiker und Essayist, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Literatur.

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WO KOMMEN WIR HIN Der folgende Briefwechsel ist Teil einer Akademie-internen Werkstatt mit dem provokanten wie zukunftsgebundenen Titel „Wo kommen wir hin“, die Manos Tsangaris, Karin Sander und Kathrin Röggla initiiert haben. Darin sollen sowohl Fragen des gesellschaftlichen wie auch künstlerischen Umgangs mit Formen gestellt werden. Im Frühjahr 2019 wird sich in einer zweimonatigen Arbeitsphase in der Akademie am Hanseatenweg verdichten, was ab Herbst 2018 mit einzelnen Veranstaltungen schon vorbereitet wird.

Kathrin Röggla und Manos Tsangaris

Lieber Manos, in seinem Buch Gespenster meines Lebens beschreibt der Poptheoretiker Mark Fisher die unterschiedlichen Aspekte einer Renaissance des Gespenstischen in allen kulturellen Äußerungen beziehungsweise den Ausdruck einer besonderen Unheimlichkeit der eigenen Zeit, der einhergeht mit einem Orientierungsverlust und bestimmten Heimsuchungen. Nicht mehr zu wissen, in welcher Zeit wir leben und wo sich eigentlich all diese popkulturellen Äußerungen überlagern, die aus allen Zeiten stammen könnten, mitten in einer Politik der Alternativlosigkeit festzustecken, die nur von rechts vermeintlich aufgebrochen wird, das alles bringt eine melancholische Überproduktion des Gespenstischen in Gang. Vom Nicht-mehr zum Noch-nicht ist alles gespannt, Nachbilder, Aberrationen, geisterhafte Erscheinungen des Gewesenen, das formal sich nochmal behauptet, stehen direkt neben den Dingen, die wir noch nicht zu erwähnen wagen und die wie ein Elefant im Raum stehen, der nur darauf wartet, ausgesprochen, angesprochen, umgesprochen zu werden. Was drückt sich formal auf uns ab, was wir uns nicht trauen deutlich wahrzunehmen? Der Kapitalismus? Frei nach Slavoj Žižek: Eher könnten wir uns den Weltuntergang vorstellen als das Ende des Kapitalismus? Oder ist das zu grob? Welche negative Verdrängungsdynamik des Sprechens, Gestaltens, Zeichensetzens ist im Gang? Solche Dinge interessieren mich derzeit. Sie drängen zu Formfragen hin. Gibt es zwingende Formen? Warum lebt die Formdebatte in der Literaturwissenschaft wieder auf? Was machen wir dann aber mit all dem Inhaltismus in den künstlerischen PR-Texten, die mit politischen Schlagworten um sich werfen? Warum gibt es diese Themenwut, die künstlerische Sichtbarkeit über journalistische Zugriffe auf gesellschaftliche Themen organisiert? Und was machen die fließenden Formen des Netzes und die allseits gegenwärtigen kommerziellen und medialen Benutzeroberflächen, deren Thematisierung Du, Manos, in den letzten Gesprächen immer wieder eingefordert hast? Es scheint, wir müssen an gewissen Wiedereröffnungen des Akademie-Gebäudes am Hanseatenweg arbeiten, zumindest an Öffnungen. Welche architektonischen Verbindungen sind im Haus dafür tauglich? Gibt es eine Linie, die vom Tonstudio zur Halle 1 reicht? Oder von der Cafeteria zum Lager? Welches wahre Innenleben der Akademie können wir produktiv machen? Karin Sander hat das Innenleben der Büroarbeit einer Galerie in einer Papiermüllinstallation plötzlich nach außen gestülpt. Hast Du etwas Ähnliches vor? Du arbeitest auch mit den sozialen Ohren Deines Publikums, die ästhetisch gewachsene sind (wie viele Ohren soll ich eigentlich mitbringen?). Wir haben vor einem Jahr begonnen, miteinander zu sprechen, wie machen wir weiter? Warum ist dieses Gespräch wichtig? Welche Gespensterkunde wollen und können wir gemeinsam mit anderen Künstlern und Künstlerinnen betreiben? Mit dieser Frage grüßend, Kathrin Röggla

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Liebe Kathrin, Dank für Deinen schönen Brief mit den tausend Fragen und Geistererscheinungen. Bei mir hat sich in diesen Tagen ein kleiner Wandel vollzogen. Das, was wir so schön abstrakt (um uns nicht falsch festlegen zu müssen) verteidigt haben, drehte plötzlich in zwei ganz konkrete Projekte. KATHRIN RÖGGLA, Schriftstellerin, ist Vizepräsidentin Das eine sollte schon im Herbst 2018 beginnen, also lange vor unserer ganz „heißen Phase“.
 Ich der Akademie der Künste, Berlin, und Mitglied der nenne es „Free International Drumming“ (FID) oder „Buschtrommeln Berlin“. Buschtrommeln sind Sektion Literatur. Nachrichtentrommeln. Es werden Informationen weitergegeben. Und das „Free International …“ soll bewusst an Joseph Beuys erinnern, der ja die Free International University mit anderen zusammen MANOS TSANGARIS ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Musik. Seit 2012 ist er Direktor der Sektion. gegründet hat. An unterschiedlichen Spielstätten am Hanseatenweg möchte ich immer wieder mit meinen DRUMS OFF CHAOS spielen, aber auch Trommler aus allen Himmelsrichtungen einladen. Dazu kommen Elektro-Lurche aus Berlin, junge DJs und Laptop-Künstler, die sich mit uns musikalisch verknüpfen werden. Es geht also nicht um Folklore, sondern die aktuelle Bewegung der Dinge. „Wir suchen überall das Unbedingte“, schreibt Novalis, „und finden immer nur Dinge.“ Die Trommel ist ein Ding, deren Mitte leer ist. Außenherum befinden sich Felle und der Kessel, in der Mitte ist … nichts (Festes jedenfalls). Diese leere Mitte macht den Sound überhaupt erst möglich. Die Trommel-Sprache ist international. Wir öffnen das Haus für Berliner*innen, für Auswärtige, für auswärtige und inwärtige Geflüchtete, für junge und alte Liebhaber*innen des musikalischen Wandels. Die zweite Sache, parallelgeführt, bezieht sich auf den Hanseatenweg als Gefäß und architektonisches Dispositiv, aber auch auf unsere Akademie. Ich würde sehr gerne mit einer*einem verrückten Filmemacher*in zusammenarbeiten und da etwas tun, was ich sonst nicht machen das klingt gut – wenn wir eine Republik eröffnen, wird sie aller- könnte, möchte die Möglichkeiten der Akademie nutzen. Wir bespielen und gestaldings ganz anders sein müssen als all die Künstlerstaaten, die vor ten unterschiedliche Wege und Situationen des Hauses, die als Übergänge und Staüber zwanzig Jahren aufgemacht wurden, all diese hybriden Kunst- tionen räumlich komponiert sind. Das ist für einzelne Menschen, d. h. ganz kleine staaten. Es müsste ein völlig unmelancholischer Umgang damit Publika gedacht, die diese räumlich komponierten Situationen aufsuchen und die sein, nicht einmal ein einfach ironischer, d. h. mit einer Ironie, die Schaltungen, um die es hier geht, erst vollenden. Hat nicht der Mensch den größsich hinter einer einzigen festen Geste versteckt, die nur mit Sym- ten Teil seiner Geschichte über in Höhlen Schutz gesucht? Und ziehen wir uns nicht bolen um sich wirft. Eine Republik der Künste, die nach vorne geht, heute noch in unsere Privat-Höhlen zurück, holen uns von draußen alles Mögliche kann für mich nur eine mit Geisterstimmen, Verstärkern und rea- herein mittels der kleinen Verteiler, der Displays, wörtlich, der „Entfaltenden“? Der len Netzwerken sein, die ein zweigleisiges Zuhören und Zusehen Mensch in der Mitte wird thematisiert. Der Betrachter ist im Bilde. ermöglicht, ein dialogisches System – eine Republik, die vielleicht Und noch ein Drittes: Wenn es uns passt, werden wir von heute auf morgen am eine Konversion ihrer formalen Gesetze betreibt, weswegen mir Hanseatenweg eine kleine Republik ausrufen. Wir bilden Räte, wir lösen mit Beharrnotgedrungen die Besetzung des Tonstudios vorschwebt, eine digi- lichkeit und Disziplin die Probleme der Welt. Danach wird gefeiert. tal-analoge Radiostation der anderen Art, ein performativer Raum, der Verbindungen ins Oberirdische und Unterirdische erhält. Ein Ganz herzliche Grüße, Dein Manos Ort, in dem ständig der Elefant im Raum, über den niemand reden mag, gezeichnet werden kann und gleichzeitig auseinanderge­ nommen. Aber noch wissen wir nicht, was die anderen sagen, noch wissen wir nicht, wie sich Karin Sander zu Wort melden wird … Diese Engführung der Motive, die ich in Herzlich, Kathrin Deiner Antwort finde, ist mir als Musiker gar nicht fremd. Manches verstehe ich bestimmt falsch. Aber der Rhythmus des Ganzen nimmt mich mit, regt an und macht neugierig. „Die Rhythmus-Formel der Logik muss immer als allererstes gefunden werden“, schreibt Imre Kertész im Galeerentagebuch (aus dem Gedächtnis zitiert). Wenn Du das Tonstudio besetzt, bin ich jedenfalls gerne dabei. Und unsere beiden Gefäß-Systeme im Hanseatenweg könnten sich perfekt ergänzen – Dein Nervenzentrum im elektronischen Studio, die Über- und Unterführungen, Klang- und Resonanzräume – und mein Höhlensystem. Beides legt es ja darauf an, ein möglichst konkret, d. h. genau geformtes Gefäß zu sein, zugleich aber immer wieder offen, geöffnet für die anderen, ihre Arbeitsweisen, Instrumente, Wege und Werkzeugkästen. Darauf bin ich – genau wie Du – sehr gespannt.

Lieber Manos,

liebe Kathrin,

Herzlich, Manos

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[Wird fortgesetzt]

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Szenen aus For the Sky Not To Fall (2016) von Lia Rodrigues

KUNST ALS ÄSTHETISCHE KRISE Lia Rodrigues

Eine zentrale Idee der brasilianischen Tänzerin und Choreografin Lia Rodrigues ist, dass der Ort, an dem wir uns befinden, in unsere Körper eingeschrieben ist. In einem radikalen Schritt heraus aus den bürgerlichen Institutionen und Kultur-Räumen und in der konsequenten Konfrontation mit einer fundamental kunstfernen, oft brutalen Wirklichkeit in der Favela Maré in Rio de Janeiro hat Lia Rodrigues 2003 ein einzigartiges Projekt begonnen. Mit der Gründung des Centro de Artes Maré (CAM) laden sich künstlerische Recherche, soziales Engagement, politische Einmischung und ein fundamentaler Bildungsauftrag gegenseitig auf. Mit dem hier abgedruckten Vortrag von Lia Rodrigues vom Oktober 2017 führte sie ihre Valeska-Gert-Gastprofessur ein, die von der FU Berlin, dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD und der Akademie der Künste, Berlin, jährlich vergeben wird. Johannes Odenthal

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Wenn man heute viel vom „Anderen“, von „den Anderen“ spricht, sollte man nicht vergessen, dass auch Worte ein „Anderes“ haben. Man kann ein und dasselbe Wort auf verschiedene Arten betrachten und verstehen. Nehmen wir das Wort Krise. Ich lebe in einem Land, wo Krise nicht das gleiche bedeutet wie in Europa. Es ist das gleiche Wort, aber nicht die gleiche Krise. Ich kann sagen, dass wir in Brasilien im dauerhaften Krisenzustand leben. Eine Krise folgt der anderen; oder mehrere Krisen ereignen sich gleichzeitig. Und in den Ländern des globalen Südens hat Krise immer auch Arbeit bedeutet. Wir leben und ernähren uns davon. Sie ist weder provisorisch noch vorübergehend, sondern eine Lebensbedingung. In der Krise zu leben, heißt verletzbar zu sein. Doch in Ländern, wo die Krise ein permanenter Zustand ist, lernen wir auch, dass Verletzbarkeit nicht gleichbe­ deutend ist mit Fragilität. Verletzbarkeit fördert vielmehr die Kreation von Leben, von Beziehungen, von Architekturen. Wir sind vollständig von all ihren Dimensionen umgeben: der politischen, der sozialen, der persönlichen und natürlich der künstlerischen. Und weil Verletzbarkeit eine Lebensweise ist, lehrt sie uns auch bestimmte Fertigkeiten. Erfahrungen und Wissen entspringen aus diesem Zustand. Die gesellschaftlichen Beziehungen in Brasilien sind von systematischer Gewaltanwendung geprägt. Und Gewalt wirkt nicht nur in der Seele, sondern auch im Blut und in den Muskeln, wie Frantz Fanon schrieb. Brasilien verzeichnet weltweit die meisten Tötungsdelikte – mehr als 60.000 im Jahr. Alle acht Minuten wird in Brasilien ein Mensch getötet. 71 von 100 Mordopfern in Brasilien sind schwarz. Die größte Gruppe unter ihnen sind junge, arme Schwarze. Jedes Jahr werden etwa 23.000 junge, schwarze Männer zwischen 15 und 29 umgebracht. Alle dreiundzwanzig Minuten wird in Brasilien ein junger Schwarzer umgebracht. Um das in Relation zu setzen: Es ist so, als würden jedes

derselben Stadt leben? Wie überschreiten wir Grenzen und schaffen eine gemeinsame Basis? Wie kann zeitgenössische Kunst gegen diese eklatanten Ungleichheiten ankämpfen? Seit ich meinen Beruf ausübe, ist Arbeit unter den Bedingungen von Krise und Verletzbarkeit die Regel, nicht die Ausnahme. Als Künstlerin habe ich mit verschiedenen Mitteln versucht, darauf zu reagieren: mit Thesen, mit Initiativen, mit Taten.

Szene aus For the Sky Not To Fall

Ich bin Choreografin und habe mein Berufsleben in den siebziger Jahren als Tänzerin in São Paulo begonnen. In den Achtzigern habe ich in Frankreich mit Maguy Marin gearbeitet. Nach meiner Rückkehr nach Brasilien gründete ich 1990 mein eigenes Tanzensemble. 1992 initiierte ich das Tanzfestival Panorama, das ich danach 14 Jahre lang leitete. Seit 2003 habe ich gemeinsam mit der NGO Redes da Maré verschiedene Projekte in der Favela Maré in Rio de Janeiro entwickelt. Diese Favela ist mit 140.000

Szene aus Pororoca (2009) von Lia Rodrigues

Jahr mehr als 150 Passagierflugzeuge voller junger Schwarzer abstürzen, ohne dass auch nur ein Insasse überlebt. Genozid an der schwarzen Bevölkerung ist der zutreffendste Ausdruck für die gegenwärtige Realität Brasiliens. Wenn man in einem so sehr von sozialer Ungleichheit geprägten Land wie Brasilien lebt, stellen sich Fragen. Ist es möglich, auf die Anderen zuzugehen, sich diesen Anderen zu nähern, die uns so fern sind und doch in

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kriminellen Gruppen geschaffen werden und Austausch und Bewegungsfreiheit innerhalb der Favela und mit der umgebenden Stadt beschränken. Die meisten Favelas sind auf keinem Stadtplan zu finden. Sie werden immer noch als leere, instabile Räume am Rande der Gesellschaft betrachtet. Diese Gegenden – berüchtigt für ihre Gewalt und extrem gefährlich – werden außen vor und unsichtbar gehalten. Diese Strategie der Unsichtbarkeit und Leere

Einwohnern eine der größten in Rio. Sie liegt zwischen dem internationalen Flughafen und dem Stadtzentrum und damit in einem symbolträchtigen und strategisch bedeutsamen Bereich. Maré ist dicht bevölkert und größer als 80 Prozent aller brasilianischen Städte, doch wie alle Favelas leidet es unter fehlenden Investitionen in Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Hygiene und Infrastruktur und ist gekennzeichnet durch Grenzlinien, die von bewaffneten

spiegelt sich auch in der Wahrnehmung dessen wider, was eine Favela ist. Die Einwohner der Favelas werden weithin entweder als potenzielle Straftäter oder als passive Opfer betrachtet, und diese beliebten und belebten Stadträume werden ständig auf die Gewaltdimension reduziert. Doch die Favela ist nicht bloß ein Ort der Gewalt und der Armut; sie ist auch ein dynamisches Gebilde mit einer starken Tradition des Aktivismus und der Selbstorganisation, reich an populären Ereignissen und Veranstaltungen. Dennoch: Von Januar bis März 2017 wurden in der Favela Maré 13 Kinder und Erwachsene ermordet. Diese Gewaltwelle traf auch das Bildungs- und Gesundheitswesen: Kinder blieben tagelang ohne Schulunterricht, die Einwohner hatten keinen Zugang zu medizinischen Versorgungsstätten. Diese Zahlen sind nur ein Beispiel für die Wirklichkeit, wie sie sich auch in anderen Favelas von Rio darstellt. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln: Während einer unserer Tanzperformances wurde vor dem Aufführungsort jemand ermordet; wir sind es gewohnt, bei der Arbeit Maschinengewehrfeuer und Geschosseinschläge zu hören; Kinder müssen sich in der Schule oft auf den Boden werfen, um Querschlägern auszuweichen, die sie verwunden oder töten können. Im März demonstrierten mehr als fünftausend Menschen in Maré gegen Gewalt und für Frieden. Der Protest war eine Aufforderung, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was hier geschieht. Es muss sich etwas ändern. Dass mein Tanzensemble täglich in Maré arbeitet, verändert und färbt unsere künstlerische Arbeit. Der Ort, an dem wir sind, schreibt sich in unsere Körper und unsere Bewegungen ein. Es ist ein Zusammenfluss von verschiedenen Intensitäten, von Scheitern und Triumphen. Im Jahr 2008 entdeckte ich ein altes Lagerhaus, das seit zwanzig Jahren leer stand. Aus diesem


Proben zu Pindorama von Lia Rodrigues, Centro de Artes da Maré, 2013

Lagerhaus wurde das Centro de Artes da Maré, das erste Kulturzentrum in dieser Favela. Das Gebäude war in sehr schlechtem Zustand, und gemeinsam mit Redes da Maré räumten wir auf und putzten, erneuerten Fußboden und Decke, malten Wände an, während wir die ganze Zeit bereits Stücke entwickelten und probten. Das Centro de Artes da Maré ist Heimstatt für unterschiedliche Aktivitäten – Kurse, Performances, Theaterund Ballettaufführungen, Filmvorführungen, Foto- und Kunstausstellungen; dazu Konferenzen und Seminare, Präsentationen und Versammlungen der Einwohner von Maré. Außerdem ist dort mein Tanzensemble zu Hause. Als ich beschloss, die Gruppe in einer Favela anzusiedeln, war mir bewusst, dass wir mit ganz bestimmten Situationen konfrontiert sein würden, die aus ökonomischen und sozialen Ungleichheiten resultieren. Doch für mich kann sich der künstlerische Akt nicht auf die Kreation eines Kunstwerks beschränken; er muss auch Raum und Bedingungen dafür schaffen, dass dieses Werk (über) leben kann, muss den Boden für die Kunst bereiten. Darum ist es mir so wichtig, einen physischen Ort für die Kunst in einem Umfeld wie Maré zu errichten. In diesem Raum bin ich schöpferisch tätig, hier denke ich über meine Berufung und meinen Platz in der Welt nach. Ein weiteres Projekt entstand 2011: die Escola Livre de Dança da Maré (Freie Tanzschule Maré) mit über dreihundert Schülerinnen und Schülern im Alter von acht bis achtzig Jahren. Die Schule steht auf zwei komplementären Säulen: regelmäßiger Tanzunterricht, der allen Interessierten umsonst angeboten wird, und eine Gruppe von fünfzehn jungen Tänzerinnen und Tänzern, die kontinuierlich ausgebildet werden, um sich professionalisieren zu können. Die Mehrzahl dieser Schüler haben ihre Ausbildung an der staatlichen Universität, der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ) fortgesetzt, und zwei von ihnen wurden im letzten Jahr in die PARTS aufge-

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nommen, eine von der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker 1994 gegründete Tanzaka­demie. Einige von ihnen geben inzwischen Kurse in unserer Schule. In jüngster Zeit sind Künstler und Kultureinrichtungen in Brasilien der Zensur und heftigen Angriffen von ultrakonservativen Gruppierungen und Politikern ausgesetzt. Das ist eine ernste und gefährliche Entwicklung, die ein echtes Risiko für unsere ohnehin anfällige Demokratie darstellt. Solche Reaktionen auf die Kunst verraten einiges über das, was derzeit in vielen Teilen der Welt geschieht, wo reaktionäre und extrem konservative Tendenzen erstarken. Der Erhalt unserer Freiheit ist in Gefahr, und damit natürlich auch die künstlerische Freiheit. Wir müssen uns dieser Bedrohung bewusst sein und den Mut haben, sie anzuprangern. Sich eine bestimmte Aufführung oder ein bestimmtes Kunstwerk anzuschauen, ist schon eine Entscheidung, eine Wahl. Mir geht es jedoch noch mehr um das gemeinsame Nachdenken darüber, wie wir das Entstehen von Gewalt und Intoleranz verhindern. Wenn ein Mensch anderen verbietet, eine eigene Stimme zu haben, ist das eine gewalttätige und intolerante Haltung. Die Frage ist: Wie können wir in dieser Welt mannigfaltiger Stimmen miteinander leben, ohne die gewalttätigen Stimmen zu verstärken? Wie können wir die Stimmen der Aggression und des Krieges dämpfen und in Gesprächsangebote verwandeln? Wie können wir die Stimme der anderen hören, ohne sie auszublenden oder zu zerstören? Wie können wir politisch leben, ohne polemisch zu werden? In dieser Welt ist zu viel Krieg, weil wir nicht wissen, wie wir mit unserer Vielfalt leben sollen. Diese Vielfalt hängt von der demokratischen Praxis ab, einen Dialog zu schaffen. Meine Arbeit spricht davon, wie ich mit der alltäglichen Gewalt umgehe, die dort existiert, wo ich lebe – und ich arbeite in Rio de Janeiro. Dort ist die Gewalt ein täglicher Begleiter.

Durch die Begegnung der Menschen von Maré mit meinem Tanzensemble ist ein lebendiger Prozess in Gang gekommen, der sich ständig verändert und neue Möglichkeiten eröffnet. Es hat etwas von einem gemeinsamen Körper, einer Solidargemeinschaft. In einer Zeit, da rund um die Welt mehr und mehr Mauern errichtet werden, wo Reviere abgegrenzt und gesichert werden, wo Grenzen gezogen und wütend verteidigt werden, bieten wir eine Gegenbewegung an und wenden uns gegen die Tendenz, einen riesigen Teil der Bevölkerung von Rio de Janeiro einfach auszuschließen. Wir dürfen uns keine Illusionen machen. Irgendwann wird uns der Himmel auf den Kopf fallen. Das ist gewiss. Wie werden wir damit fertig? Noch ist Hoffnung, doch das hängt davon ab, was wir tun, wie wir handeln. Es ist eine kämpferische Hoffnung. Der Titel meiner jüngsten Arbeit lautet Damit der Himmel nicht fällt. Jeder von uns muss einen Weg finden, den Himmel zu stützen. Für manche ist es die Förderung der Demokratie, für andere Solidarität mit Einwanderern und Flüchtlingen. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Es gibt so viele Arten, den Himmel zu stützen. Wir müssen kämpfen und standhalten. Aus dem Englischen von Ingo Herzke

LIA RODRIGUES, Tänzerin und Choreografin, ist Leiterin der Companhia de Danças in Rio de Janeiro.

Die Abschlussveranstaltung der Valeska-Gert-Gast­ professur Lia Rodrigues findet am 14. Februar an der Akademie der Künste am Pariser Platz statt.

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Szene aus Pindorama

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KUNSTWELTEN

KINDER-ARBEIT Katerina Poladjan

Anklamer Impressionen von Katerina Poladjan

Ich bin in Anklam. Eine Woche lang werde ich mit Grundschulkindern arbeiten. Das Thema: Wann fühle ich mich fremd?

TAG EINS Ich wohne in einem Hotel im Stadtkern. Mein Zimmer ist in freundlichen Rottönen gehalten, es gibt einen riesigen Fernseher, ein riesiges Badezimmer und ein riesiges Bett. Auf dem Kissen liegt das Neue Testament. Das ist gut. Beim Blättern stoße ich auf ein Stichwortverzeichnis mit dem Titel Wo findet man Hilfe. Ich schlage unter Erschöpfung nach und lande bei Psalm 90: Wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz steht da und Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest. Zum Stichwort Trübsal finde ich: Aber er sprach zu ihnen: Wer ist unter euch, der sein einziges Schaf, wenn es ihm am Sabbat in eine Grube fällt, nicht ergreift und ihm heraushilft?
 Ich mache den Fernseher an. Hape Kerkeling spricht über sein Coming-out. Hat er das nicht schon in den Neunzigern getan? Ich schalte den Fernseher wieder aus. Ich bin nervös. Ich habe Angst vor Kindern. Ich schlage nach unter Entscheidung, Jakobus 1: Ein Zweifler ist unbeständig auf all seinen Wegen. Nein, ich zweifle nicht.

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TAG ZWEI Das Frühstück ist üppig. Ei, Apfelschnitzchen, Wurst und Käse, Joghurt mit Schokostreuseln, zwei Brötchen, ein dunkles und ein helles. Alles gut?, fragt die Dame, die nur für mich aufgestanden ist. Alles gut. Die Brötchen sind vom Bäcker. Danke. Wo kommst du her? Aus Berlin. Aha, und was machst du hier? Mit Kindern arbeiten. Kinderarbeit? So was, ja. Aha – noch Kaffee? Ja. Man schließt hier alles. Was denn? Das Schwimmbad zum Beispiel, da fragt keiner, das wird einfach beschlossen. Wer? Behörden. Welche? Die Kinder haben nun kein Schwimmbad mehr, und so geht es mit allem, noch Kaffee? Ja. Du trinkst aber viel Kaffee. Ja. Und Berlin? Da kann man schwimmen. Siehst du. Ja. Seit fünfund­dreißig Jahren bin ich hier. So lange schon? DDR. Ja. Immer habe ich gearbeitet, du auch? Nee. Ich habe sogar in Österreich gearbeitet. Ach. Aber die Mentalität ist dort anders. Wo? Na, in Österreich. Wie? Anders. Ach so. Hier, direkt nebenan, am Steintor, wurden Menschen geköpft. Oh. Noch Kaffee? Ja. Schmeckt’s? Sehr. Es steht viel in der Zeitung über unsere Stadt. Was? Wir haben keinen guten Ruf. Mist. Kompliziert. Ja. Nach getaner Kinderarbeit schlendere ich durch die Stadt. Ich zähle sechs Apotheken, einen Buchladen, drei Schuhgeschäfte, vier Pflegeeinrichtungen, fünf Baustellen, vier Fußpflegesalons und fünf Kirchen. Der Marktplatz von Anklam ist eigenartig groß. Die Nikolaikirche ist neben der älteren Kirche
 St. Marien eines der markantesten Gebäude im Stadtbild. Benannt ist sie nach Nikolaus von Myra, einem äußerst vielseitigen Heiligen, der nicht nur vorweihnachtlich mit der Rute droht, sondern unter anderem Schutzpatron ist von Seefahrern, Binnenschiffern, Dieben, Apothekern, Gefängniswärtern, Fuhrleuten und Salzsiedern, Pilgern und Ministranten. Die Hansestädter in Anklam hatten vermutlich vor allem die Schutzfunktion für Fischer und Seefahrer im Sinn, als sie ihm die Kirche weihten. Der Kirchturm ist nur noch

ein Stumpf. Nach einer Legende hat der Teufel persönlich sich den Pastor greifen wollen, um ihm das Genick zu brechen, weil dieser das Wort Gottes so überzeugend verkündete, dass niemand mehr Böses tat. Er griff daneben und verdrehte die Kirchturmspitze statt das Genick des Pastors. Die verdrehte Spitze hätte ich gerne gesehen, aber deutsche Truppen haben wenige Tage vor Ende des letzten Weltkrieges das Teufelswerk vollendet und höchstselbst den Kirchturm heruntergeschossen. Die Fragen der Kinder gehen mir durch den Kopf. Warum fragst du, ob wir gern lesen? Warum wohnst du nicht hier? Wieso willst du wissen, ob ich mich fremd fühle? Wann fühlst du dich denn fremd, Frau Katerina?
 Jetzt fühle ich mich fremd. In einem Drogeriemarkt kaufe ich Nüsse. Vor der Fahrschule stehen fünf Jugendliche zusammen. Einem fehlt ein Bein. Sie rauchen. Sie haben gelbe Gesichter. Sie hören Musik und ich höre, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Nein, ist nicht alles Scheiße, will ich sagen, aber ich halte lieber den Mund. Nach fünf ist kaum noch jemand auf der Straße. Es ist dunkel. Meine Schritte hallen durch die Straßen. Mischa, ein Junge aus der Ukraine, der seit einem Jahr in Anklam lebt, sagte: Ich habe Mischa. Das heißt, ich heiße Mischa, flüsterte ihm seine Tischnachbarin zu. Mischa stand auf und ging aus dem Klassenzimmer. Ich habe auf die Uhr gesehen, er blieb fast fünfzehn Minuten weg. Als er wiederkam, nahm er einen schwarzen Stift und malte einen Planeten. Daneben schrieb er: Auf Planet alle gut, Tiere gut, auch Menschen gut, Straßen gut und Monster auch gut. Seine Wangen röteten sich und am Ende des Vormittags erzählte mir seine Lehrerin, Mischa gehe immer viel zu spät ins Bett, das sei so üblich in der Ukraine, das sei schwierig, da prallten Welten aufeinander. Im Gasthof bestelle ich Anklamer Fischsuppe. Kommt noch jemand? Nein. Kein Problem. Die Suppe wird mit Toast serviert. Die Kellnerin hat etwas Florales auf ihren Arm tätowiert. Ich öffne mein Notizbuch, hinter der Zeile Frauen in Anklam mit Blumentattoo auf dem Unterarm mache ich einen dritten Strich. Es schmeckt. Ich fühle mich etwas einsam und bestelle mehr Toast. Sollte ich mit den Gästen am Nebentisch ins Gespräch kommen? Ich beuge mich langsam in ihre Richtung. Könnte ich bitte das Salz haben, kommen Sie aus Anklam? Ja. Sie alle? Nein, auch von Usedom. Ach, da war ich zur Kur, sage ich. Wo? In Trassenheide, orthopädische Reha, schön da. Und nun? Nichts. Die Kellnerin bringt Schweinerippchen für die Herren und Huhn für die Damen. Guten Appetit. Danke. Wieder im Hotel, versuche ich zu arbeiten. Irgendjemand hat mir ein Buch über Leonardo da Vinci auf den Tisch gelegt. Ist das ein Zeichen? Es handelt sich um ein besonders großes Taschenexemplar. Auf der Fensterbank steht das Modell eines Segelschiffs. Ich sehe in den dunklen Abend und sehe nichts. Im Neuen Testament schlage ich unter dem Stichwort Dankbarkeit nach. Hebräer 13: Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Morgen werde ich Mischa fragen, was er zu später Stunde tut.


IN ANKLAM TAG DREI Mischa hat mir eine Blume aus Papier gefaltet. Schüchtern stand er vor mir und wartete auf meine Reaktion. Ein wenig zu überschwänglich bedankte ich mich. Ich fragte ihn nicht, was er zu später Stunde noch tut. Vielleicht sieht er mit seinen Eltern fern. Vielleicht sind seine Eltern aus Stroh. Vielleicht sind sie mit vier Koffern aus Donezk gekommen. In Anklam sollt ihr nun leben, hat man ihnen gesagt, denn hier ist Platz. Vielleicht sitzt seine Mutter abends am Küchentisch und lernt deutsche Wörter. Hafen. Vermächtnis. Quelle. Vielleicht häkelt sein Vater einen Schal. Vielleicht ist sein Vater über alle Berge. Oder es ist ganz anders. Ich weiß nichts. Während ich Aufgaben verteilte und mir Spiele ausdachte, habe ich Mischa beobachtet, wie er blass und mit unruhigen Augen zwischen den anderen Kindern saß und versuchte, einzelne Wörter zu verstehen. Zwischendurch gab er auf, holte Luft, sah aus dem Fenster, dann sammelte er sich, und der Kampf begann aufs Neue. Am Ende des Vormittags ging ich zu ihm und sagte, ich weiß, wie du dich fühlst. Als ich nach Deutschland kam, war ich ungefähr in deinem Alter, ich erinnere mich gut daran, wie es ist, nichts zu verstehen. Er sah mich an und sein Gesicht verfinsterte sich, mir ist gut, sagte er. Er nahm seine Jacke und ging. Ich hätte meinen Mund halten sollen. Die Sonne scheint. Sogar das Ensemble aus KiK, Aldi, Famila und Futternapf sieht freundlich aus. Endlich sehe ich das erste Hakenkreuz, es ist an die Wand eines Wohnhauses gesprüht. Ich mache ein Foto. Eine Frau mit vollgepackten Einkaufstüten in beiden Händen bleibt stehen, schüttelt den Kopf und geht weiter. Worüber sie den

Das mit den Raubfischen. Was machst du hier in Anklam, oder besser: Was machen Sie hier in Anklam? Ein Projekt von der Akademie der Künste. Aha, und weiter? Ich arbeite mit Kindern, hier gibt es ja nicht so viele Angebote für Kinder. Wer sagt das? Das ist doch bekannt. Ich habe gefragt, wer sagt das? Studien. Was für Studien, sagen deine Studien auch, dass ich mit meinen Kindern jedes Wochenende zum Angeln gehe, dass der Kleine schon einen Fisch und einen Hasen ausnehmen kann? Er zündet sich eine Zigarette an und sagt gedehnt, ihr geht mir alle auf den Sack. Ich hätte natürlich noch fragen können, wen er mit alle meinte, aber ich verabschiede mich. Vielleicht hätte ich meinen Mund halten sollen. Im chinesischen Restaurant China schwimmen fette Goldfische im Aquarium. Raubfische? Es gibt ein Buffet. Huhn süß-sauer, Suppe süß-sauer, Krebsfleischröllchen frittiert, panierter Fisch, gebackene Banane. Ich bestelle Pflaumenwein. Am Tisch rechts neben mir sitzt ein junges Paar. Sie hat keine Blumen auf den Unterarm tätowiert, dafür aber im ausrasierten Nacken ein nicht allzu putziges Hundegesicht. Sie hält seine Hand, und er hat mehrmals den Impuls, die Hand wegzuziehen, damit er besser essen kann, aber er scheint sich nicht zu trauen. Am Tisch zu meiner Linken sitzt eine Vierer-Frauengruppe, alle haben raspelkurze Haare mit blonden Strähnchen. Sie stoßen auf ein zwanzigjähriges Jubiläum an. Drei trinken Spezi und eine Pflaumenwein – wie ich. Sonst ist das Lokal leer. Das junge Paar ist still. Sie sind verliebt. Sie müssen nicht sprechen. Sie lässt seine Hand los und holt ihm eine zweite Portion gebackene Banane. Mit der Rechnung bekommen sie zwei Glückskekse. Du bist klüger als du denkst, steht bei mir, sagt sie. Er steckt seinen Keks ungeöffnet ein und sie verlassen das Lokal. Die Damen am Nebentisch sprechen über Heidelbeerkuchen bei Netto, der soll gut sein. Ich esse drei Portionen, Huhn süß-sauer, gebackenen Fisch, Suppe. Beim Buffet kann ich mich nie zurückhalten. Sie werden weit reisen, steht in meinem Glückskeks. In der Bibel werde ich heute nicht lesen.

und einem grünen Mops im Reihenhaus. In den Ferien besuchen Ananas, so der Spitzname von Anastasia, und Günni, so der Spitzname von Günther, die Großeltern von Anastasia. Dort steht auf dem Dachboden eine Truhe mit einem leuchtenden Viereck. Durch dieses Viereck fallen Ananas und Günni auf den Planeten der Aluschins. Sie erleben allerhand Abenteuer, und am Ende wollen sie gar nicht zurück. Es gibt eine Party und einen ersten Kuss. Als wir zum Kuss kamen, verkrochen sich einige Kinder kreischend unter die Tische und hielten sich die Ohren zu. Andere riefen, weiter, wie schön! So ist das. Als ich mich verabschiedete, kam Mischa noch mal zu mir. Er gab mir die Hand und sagte, aber es gibt doch keine grünen Möpse. Aber wenn wir sie zusammen erfinden, gibt es sie. Zuerst veröffentlicht in Zeit Online, 20.11.2017

KATERINA POLADJAN wurde 1971 in Moskau geboren, kam als Kind nach Deutschland und lebt heute in Berlin. 2011 erschien ihr vielgelobter Debütroman In einer Nacht, woanders. Mit Vielleicht Marseille war sie für den Alfred-Döblin-Preis nominiert, ebenfalls 2015 wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Preis nach Klagenfurt eingeladen.

TAG VIER

Kopf geschüttelt hat, weiß ich nicht. Entweder über die Schmiererei oder über mich. Dabei trage ich heute gar nicht meinen Federhut. An der Peene angeln Männer. Im Abstand von fünf Metern stehen sie nebeneinander und warten auf die Fische. Fast wie am Bosporus. Ich mache ein Foto. Einer der Männer stellt sich in Pose. Er trägt Tarnkleidung und aus seiner Jackentasche lugt Die deutsche Jagdzeitschrift mit dem Aufmacher Sauen Lockjagd – Grunzend zur Beute. Und, Fische gefangen?, frage ich. Willste mal sehen, zwei Zander! Oh, so große. Die Peene ist der Amazonas des Nordens, ob du willst oder nicht. Ich habe nichts dagegen. Siebenunddreißig Fischarten haben wir hier, auch Raubfische verirren sich manchmal. Ach. Was, ach?

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Mein letzter Tag in Anklam. Heute wieder Rührei zum Frühstück? Lieber ein gekochtes Ei. Ach, aber Ei schon? Ja, ein Ei. Hart oder weich? So dazwischen. Zehn Minuten später bringt sie mir ein hartes Ei und beobachtet, wie ich es esse. Ganz schön trocken, was? Ja. Als ich gehe, zwinkert sie mir zu. Ich zwinkere zurück. Hast du das Buch gefunden? Leonardo? Ja. Danke für das Buch. Schon gut, dachte, es könnte dir gefallen. Hat mir ge­fallen. Ist aber kein Geschenk, das Buch. Weiß ich doch. Gut. Die Kinder hatten schon drei Stunden Unterricht und mussten eine Mathe-Arbeit schreiben. Das Leben von Kindern ist grausam zu Kindern. Sie haben mich schon erwartet. Ich bin gerührt. Schnell verteile ich Gummibärchen. Wir lesen die Geschichte, die wir zusammen erfunden haben: Günther und Anastasia sind beste Freunde. Günther lebt im Hochhaus, Anastasia mit Eltern

Anfang November hat Katerina Poladjan Kinder einer Anklamer Grundschule in eine KUNSTWELTEN-Werkstatt der Akademie der Künste eingeladen. Gemeinsam mit dem Bildenden Künstler Rolf Giegold traf sie an fünf Vormittagen 44 Mädchen und Jungen. Sie haben Märchen gelesen, Geschichten geschrieben, fotografiert, gemalt, gezeichnet. Im Oktober fand an einer anderen Anklamer Schule eine Werkstatt mit Fiston Mwanza Mujila und Stefano Zangrando statt, weitere Schreibprojekte folgen im neuen Jahr. Die Ergebnisse werden in einer kleinen Buchreihe publiziert, in der Kinder aus Anklam von ihrem Leben, ihren Wünschen, Ängsten und Träumen erzählen.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCKE DER NIEDERGANG DER RUHMREICHEN ARMEE – EINE SATIRE SCHADOWS ÜBER NAPOLEON Werner Heegewaldt

Berlin vor 200 Jahren. Im Winter 1813 erreicht die von französischen Truppen besetzte Stadt die Nachricht, dass die Grande Armée geschlagen und Napoleon aus Russland geflüchtet ist. Versprengte Soldaten ziehen zerlumpt, ausgezehrt und geschunden durch Berlin. Ihr Anblick macht das Grauen und Elend des verlorenen Krieges offenbar. Der Nimbus der unbesiegbaren Eroberer, die halb Europa beherrschen, scheint dahin. Vertrieben durch russische Kosaken müssen sie im März 1813 die preußische Hauptstadt endgültig verlassen. Als Reaktion formiert sich die Gegenwehr. Preußen und Russland schließen einen Freundschaftsvertrag. Am 17. März

erscheint der Appell An mein Volk, in dem der preußische König zum Kampf gegen Napoleon aufruft. Die bisher unterdrückte Kritik an der französischen Herrschaft wird laut und bricht sich Bahn. Spott und Hass auf die Besetzer entladen sich in bissigen Satiren, die rasche Verbreitung finden. Auf Wunsch des Verlegers Caspar Weiß entwirft Johann Gottfried Schadow im April 1813 zwei Karika­ turen auf Napoleon und seine Armee: La Retraite de la Renommée (Der Rückzug der Berühmtheit) und Le Déjeuner à la Fourchette (Das Gabelfrühstück). Einen Monat später liegen sie bereits im Druck vor, der im


Gegensatz zu den Vorlagen ironische Kommentare enthält. Die pointierten Satiren zeigen Schadow als virtuosen Zeichner und treffsicheren Karikaturisten und unterscheiden sich dadurch merklich von der großen Zahl einfacher Spottbilder, die zu dieser Zeit Konjunktur haben. In detaillierten Momentaufnahmen und eindrucksvollen Figurenstudien schildert er Anspruch und Wirklichkeit der napoleonischen Armee. Seine drastische Bildersprache entlarvt den Hochmut und Dünkel des geschlagenen Feldherrn, von dem die französische Kriegspropaganda noch im Dezember 1812 verlautet, dass „die Gesundheit Sr. Majestät nie besser war“. Die persönlichen Erfahrungen des Künstlers spielen bei der Entstehung durchaus eine Rolle. Als Berliner Bürger und Hausbesitzer leidet Schadow nicht nur unter den hohen Kriegskontributionen, er erfährt in seinem Wohn- und Atelierhaus hautnah, was die Einquartierung französischer Truppen bedeutet. Auch muss er erleben, wie seine Quadriga als Kriegstrophäe vom Brandenburger Tor demontiert und nach Paris verbracht wird. La Retraite de la Renommée zeigt die Flucht des Kaisers aus Russland. Spannungsvoll und bissig inszeniert Schadow die skurile Bildergeschichte, wobei die Hauptpersonen eher beiläufig eingeführt werden. Inmitten einer schemenhaften Winterlandschaft steht ein merkwürdiger Pferdeschlitten, ein hölzerner Trog auf Kufen, der einer Sarghälfte nicht unähnlich ist, und den zahlreiche, schon durch Habitus und Kleidung komisch wirkende Personen umgeben. Ein Schild weist nach Posen, in das von den Franzosen als barbarisch und unkultiviert charakterisierte Polen, von dessen

Wohlwollen nun die Flucht abhängt. Davor verhandelt ein Offizier in gold-betresster Paradeuniform mit einem in Pelze gehüllten polnischen Fuhrmann über die Weiterfahrt. Trotz Körpergröße und Kostümierung wird klar, wer hier die Entscheidungsgewalt hat. Napoleon ist am rechten Rand nur in Rückansicht zu sehen, aber durch Figur und Zweispitz unzweifelhaft erkennbar. Mit energischer Geste verlangt er, dass die Fahrt weitergeht. Ein kläffendes Hündchen an seinen Fersen, laut Bildunterschrift die Stimme des Volkes, ignoriert er. Flankiert wird der Kaiser von seinem getreuen Leibmameluken Roustam Raza und einem Gardesoldat. Ihre Mimik macht deutlich, wie tragikomisch die Situation ist. Höhepunkt der satirischen Szenerie ist Madame Renommée, deren Kopfputz die Farben der Trikolore schmücken. Als Allegorie auf den Niedergang der ruhmreichen Armee stürzt sie bei einem Fehltritt des kaiserlichen Maultiers. Lorbeer und Fanfare liegen zerstört auf der Erde und das hochgerutschte Kleid enthüllt nackte und ungewohnte Tatsachen: Die ruhmreiche Grande Armée liegt geschlagen am Boden. Die französische Bildunterschrift wird noch deutlicher. Die „Berühmtheit“ kommt in die Wechseljahre. Die Soldaten in ihrer Umgebung ignorieren jedoch diese Botschaft und blicken ostentativ in andere Richtungen. Unbekümmert zieht ein posierender Infanterist sein Lorgnon und blickt gelangweilt in die Ferne. Das Pendant Le Déjeuner à la Fourchette zeigt die zersprengten Reste der kaiserlichen Armee bei ihrem grausamen Kampf um das Überleben. Zwei zerlumpte Soldaten haben aus den Trümmern eines Armeewagens ein Feuer gemacht, in dem ein Pferdeschädel brät. An

Bajonetten rösten sie im Feuer zwei Ratten und einen Hund, während zwei Soldaten mit Frauenröcken und Strohschuhwerk gegen die Kälte kämpfen und an mageren Knochen nagen. Ihre Kameraden reagieren mit angewiderter Grimasse, was sie aber nicht daran hindert, selbst ein Pferd zu tranchieren. Bei beiden Werken handelt es sich um herausragende Beispiele für Schadows zeichnerisches Schaffen. Die seltenen Karikaturen befanden sich bisher in Privatbesitz und wurden in diesem Jahr in einer Berliner Auktion angeboten. Das Blatt La Retraite de la Renommée konnte für die Kunstsammlung der Akademie erworben werden. Der Ankauf wurde durch eine großzügige Unterstützung der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste, der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Kulturstiftung der Länder möglich. Das Gegenstück wird künftig im Metropolitan Museum of Art in New York verwahrt. Die Neuerwerbung ist eine wichtige Ergänzung der Kunstsammlung. Von Johann Gottfried Schadow, dem Begründer der Berliner Bildhauerschule und prägenden Bildhauer des Klassizismus, sind zwar wichtige plastische Werke und mit über 1.200 Zeichnungen der mit Abstand umfangreichste Bestand an Arbeiten auf Papier überliefert. Bislang gehörten dazu allerdings keine Karika­ turen. Diese Lücke konnte nun geschlossen werden.

WERNER HEEGEWALDT ist Direktor des Archivs der Akademie der Künste, Berlin.

Johann Gottfried Schadow, La Retraite de la Renommée (Der Rückzug der Berühmtheit), 1813. Aquarell über Feder in Braun und Pinsel in Grau auf Velin, 15,4 × 39,3 cm. Die 1813 bei Gaspare Weiß und Comp. Berlin entstandene Druckfassung enthält eine Bildlegende in französischer Sprache, die das Geschehen ironisch kommentiert (von links nach rechts in deutscher Übersetzung): Beobachtung und Nachdenken | Die Berühmtheit kommt in die Wechseljahre | Fehltritt des kaiserlichen Maultiers | Eskorte der leichten Kavallerie | Kader eines in Aussicht gestellten Infanterie-Regimentes | Das unheilvolle Gefährt | Exzellenz und Dienstbarkeit | In Ägypten ist es zu warm, in Russland zu kalt | In Rückansicht | Volkes Stimme | Hoffnung


NEUES AUS DEM ARCHIV

GROSSE BÜHNE FÜR’S ARCHIV Erdmut Wizisla, Stephan Dörschel

Die Akademie hat die Archive des Berliner Ensembles und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz übernommen. Mit diesen herausragenden Neuzugängen wird der Schwerpunkt Berliner Theater- und Kulturleben erheblich gestärkt. Beide Häuser sind nicht erst seit der Ära von Peymann und Castorf zentrale Orte künstlerisch-ästhetischer Auseinandersetzung und des öffent­ lichen Diskurses über gesellschaftspolitische Fragen.

BERLINER ENSEMBLE Nach einvernehmlichen Gesprächen mit dem scheidenden Intendanten Claus Peymann und dem neuen Intendanten Oliver Reese übernahm die Akademie der Künste in der Spielzeitpause 2017 das umfangreiche Archiv des Berliner Ensembles. Es dokumentiert die Theaterarbeit der Jahre 1949 bis 2017, beginnend mit der Zeit von Bertolt Brecht und Helene Weigel, den nachfol­ genden Jahrzehnten unter Ruth Berghaus, Manfred Wekwerth, Heiner Müller, Stephan Suschke und anderen bis zu Claus Peymann, der das Theater von 1999 bis 2017 leitete.

Personalübersicht des Berliner Ensembles von 1970

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Das Archiv des Berliner Ensembles wird im BertoltBrecht-Archiv aufgearbeitet und steht ab sofort der Benutzung zur Verfügung. Seine Entstehung verdankt sich Brechts ausgeprägtem Interesse, seine Arbeit zu Lehr- und Studienzwecken, aber stets auch zur Versicherung und Entwicklung der eigenen theaterpraktischen Grundsätze zu dokumentieren. Das Archiv umfasst etwa 200 laufende Meter. Kernstück ist eine Dokumentation sämtlicher Aufführungen in Stückfassungen, darunter Überlieferungen mit handschriftlichen Änderungen von Brecht. Die Inszenierungen sind zudem genau dokumentiert in Textbüchern, die zu unterschiedlichen Zwecken entstanden sind: als Rollenbücher, als Grundlage für Regisseure, Inspizienten, Souffleusen. Bildlich nachvoll­ ziehbar sind die Produktionen des Berliner Ensembles in den berühmten Modellbüchern und in Filmdokumentationen, diskursiv in Notaten von Mitwirkenden und Materialien der Dramaturgie. Überliefert sind ferner Plakate, Kritiken, Akten verschiedener Abteilungen, Schauspielerkarteien, Noten und Partituren, Unterlagen von Gastspielen, Lesungen, Sonderveranstal­ tungen, Preise und Auszeichnungen, Programmhefte und Drucksachen. Das Archiv des Berliner Ensembles verbreitert die Quellenbasis erheblich und ergänzt die bereits in der Akademie der Künste vorhandenen Archivalien. Nach Brechts Tod hatte Helene Weigel veranlasst, dass wesentliche Materialien der Zeit bis 1956 aus dem Theater ins Brecht-Archiv gegeben werden, und nach ihrem Tod sind auf Bitten der Bertolt-Brecht-Erben Unterlagen vom Helene-Weigel-Archiv übernommen worden. Im Brecht-Archiv werden außerdem die eng mit dem Ensemble verflochtenen Archive von Isot Kilian, Hans-Dieter Hosalla, Hainer Hill und Vera Tenschert betreut. Ferner


gibt es Verschränkungen mit Beständen in den Archivabteilungen Darstellende Kunst, Literatur, Musik und Bildende Kunst: von der Regisseurin Ruth Berghaus und den Regisseuren Benno Besson und Manfred Wekwerth, den Regisseuren und Schriftstellern Fritz Marquardt, Einar Schleef, George Tabori, B. K. Tragelehn, den Schauspielerinnen und Schauspielern Ernst Busch, Erwin Geschonneck, Regine Lutz, Käthe Reichel, Ekkehard Schall, Leonard Steckel, den Autoren Thomas Brasch, Volker Braun, Heiner Müller, den Komponisten Paul Dessau und Hanns Eisler, den Bühnenbildnern Karl von Appen, Heinrich Kilger und Teo Otto, um nur eine Auswahl zu nennen. Mit dem Schriftgut wurde auch das mehr als 20.000 Bilder umfassende Foto-Archiv der Peymann-Ära übernommen. Die umfangreichen Bilddokumentationen schließen zeitlich an das bereits vor zehn Jahren zugegangene Foto-Archiv des Berliner Ensembles an. Auch das umfangreiche Tonarchiv geht in die Akademie der Künste über. Es enthält unter anderem mehr als 500 Bänder Inszenierungsmitschnitte und Arbeitsgespräche von den frühen 1950er bis in die frühen 1990er Jahre. Die Akademie der Künste ist den Intendanten Peymann und Reese für ihre kooperative Haltung dankbar. Hannah Arendt hat den Aufbau des Berliner Ensembles als „vielleicht die hervorragendste kulturelle Leistung im Deutschland der Nachkriegszeit“ bezeichnet. Die Übernahme des Archivs ermöglicht es allen Interessierten, dieses bedeutende Kapitel der Theatergeschichte zu studieren.

ERDMUT WIZISLA leitet das Bertolt-Brecht-Archiv und das Walter Benjamin Archiv der Akademie der Künste, Berlin.

VOLKSBÜHNE Die Berliner Volksbühne hat ihr Archiv der Akademie der Künste übergeben. Damit werden auch die fünfundzwanzig Jahre der Intendanz von Akademie-Mitglied Frank Castorf sicher aufbewahrt und nach ihrer Bearbeitung der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Dieser wesentliche Bestandszuwachs reiht sich in die archivische Sicherung, Bearbeitung und öffentliche Zugänglichmachung von Theater-Beständen ein, die die theater- und zeithistorisch wichtigsten Stationen in der Entwicklung der deutschen Bühnen nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentieren: Bertolt Brechts und Helene Weigels Berliner Ensemble (1949), Kurt Hübners Bremer Theater (1962–1973), Peter Steins Schaubühne (1970–1985) und dieses ganz andere Theater, das der Regisseur Frank Castorf 1992 mit der Übernahme der Intendanz der Berliner Volksbühne in Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Bert Neumann und dem Dramaturgen Carl Hegemann begründete und zu einem europaweiten Modell machte – interessanterweise sind es heute gerade die osteuropäischen Theater, die sich an Castorfs Volksbühne orientieren! Das Archiv der Berliner Volksbühne umfasst in etwa den Zeitraum von 1954 bis 2017. Nur wenige Überlieferungen wie Besetzungszettel und Programmhefte sowie Aufführungsfotos verweisen auf die Zeit seit der Gründung des Theaters im Kriegsjahr 1914. Die eigentliche Überlieferung beginnt mit der Intendanz Fritz Wistens, der den Berlinern einen fortschrittlichen, abwechslungsreichen Spielplan bot. Brechts Meisterschüler, der Schweizer Benno Besson, übernahm 1969 als Oberspielleiter und 1974 als Intendant die Volksbühne und führte sie mit ungewöhnlichen Spektakeln und herausragenden Inszenierungen zu internationaler Beachtung. Es blieb,

im Gegensatz zur West-Berliner Schaubühne, ein Experiment, das 1978 endete. Künstler wie Heiner Müller oder Fritz Marquardt verantworteten auch in der Nachfolgezeit immer wieder erregende Inszenierungen. Neben einer lückenlosen Dokumentation der einzelnen Produktionen ab 1954 (darin unter anderem Programmhefte, Besetzungszettel, Kritiken) besteht das Archiv aus einer umfangreichen Fotosammlung sowie Dramaturgie- und Intendanzunterlagen und den legendären Aufführungs- und Imageplakaten. Die umfangreiche Sammlung von audiovisuellen Aufzeichnungen wurde zum Teil bereits mit Unterstützung der LottoStiftung digitalisiert. Auch die Website der Volksbühne, unverwechselbar in Bert Neumanns Frakturschrift, wurde von der Akademie übernommen und ist jetzt über den Link https://volksbuehne.adk.de weiterhin online zugänglich. Das Archiv der Akademie der Künste hat aber schon vor der Übernahme des Volksbühnen-Archivs die Intendanz Frank Castorfs mit der Dokumentation zahlreicher Inszenierungen, sei es vom Hausherrn selbst, sei es von seinen Mitstreitern Christoph Marthaler, Herbert Fritsch oder René Pollesch, begleitet. Da das Archiv die gesamte Intendanz Frank Castorf bewahren wollte, ist es erst kurz vor Ende der Spielzeit übernommen worden und wird derzeit gesichtet, geordnet, beschrieben und verzeichnet. Mit zirka 600 Umzugskisten ist es eines der umfangreichsten Bestände der Abteilung.

STEPHAN DÖRSCHEL leitet das Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin.

Screenshot einer Startseitenvariante der archivierten Website der Volksbühne: https://volksbuehne.adk.de. Das Szenenfoto aus der Inszenierung Die (s)panische Fliege von Herbert Fritsch stammt von Thomas Aurin.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

INSZENIERUNGSDOKUMENTATION

Probennotat von Thomas Martin zu Hamlet/Maschine in der Inszenierung von Heiner Müller am Deutschen Theater, Berlin

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Wie kann ein flüchtiges Kunstwerk wie eine Theateraufführung für die Nachwelt festgehalten werden? Über dieses Thema diskutierten Vertreterinnen und Vertreter aus Theater, Wissenschaft, Medien und Archiv bei einem Symposium im November 2017. Anlass war das 50-jährige Bestehen der Sammlung Inszenierungsdokumentation im Archiv der Akademie. Dazu drei Stimmen:

ÜBER DEN MOMENT HINAUS: ZUR „THEATERDOKUMENTATION“ IM ARCHIV DER AKADEMIE DER KÜNSTE Nele Hertling

Was bedeutet es für die aktive praktische Theaterarbeit, wenn gleichzeitig zur entstehenden Inszenierung eine Dokumentation dieses Prozesses erarbeitet wird? Welches Verhältnis entwickelt sich zwischen den Künstlern und den „Dokumentaren“, wie nah kommen sie sich, gibt es so etwas wie eine objektive Sicht auf die Arbeit der an der Inszenierung Beteiligten? Was aus diesem komplexen Prozess geht in die Dokumentation ein, was spiegelt sie wider? Kann der parallele Vorgang – Inszenierung/Dokumentation – vielleicht hilfreich sein für die Probenarbeit und Entscheidungen unterstützen? Was vermittelt am Ende eine solche Dokumentation und von wem ist sie zu nutzen? Wir wissen, das Kunstwerk Aufführung existiert nur im Moment seiner lebendigen Präsentation. Jeder Versuch, es festzuhalten, schafft etwas Neues, vielleicht ein eigenes Kunstwerk, aber es kann nicht identisch mit der Aufführung selbst sein. Für den Künstler kann die Dokumentation einer Inszenierung zu einem neuen Ausgangspunkt werden, dazu anregen, sich mit den getroffenen Entscheidungen zur Stückauswahl, zur Interpretation oder zur Besetzung, zur Nutzung des gewählten Materials auseinanderzusetzen, die eigene Arbeitsweise und die gefundenen Lösungen am Ergebnis zu befragen. So kann es durchaus wichtig sein, in die Auswahl der zu dokumentierenden Aufführungen aufgenommen zu werden. Damit werden die Kriterien für die Auswahl wichtig. Wer trifft diese Entscheidung, ist es eine Frage der Theaterpolitik, eine Aufgabe des Arbeitsbereiches „Theaterdokumentation“– in Absprache mit den Künstlern? Hat die Dokumentation eine bestimmte Aufgabe, geht es um eine Analyse der jeweiligen künstlerischen Arbeit? Oder ist sie sozusagen zweckfrei? Blickt man auf die Ergebnisse der fünfzigjährigen Arbeit zurück, wird deutlich, dass die archivierten Dokumentationen vor allem auch wichtige Belege sind für die Erforschung der Theaterarbeit dieser Zeit, jenseits des künstlerischen, ästhetischen Interesses an den Künstlern selbst, auch an der Erkenntnis kulturpolitischer Zusammenhänge. So kann zum Beispiel Spielplan­politik nachverfolgt werden, die Auswahl der zu doku-

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mentierenden Inszenierungen kann Auskunft geben über Entwicklungstendenzen in den Theatern und ihre übergeordnete Einschätzung. Das trifft auch auf die Zeit nach 1989 zu, als vor allem mit der Dokumentation von Entwicklungen und theaterpolitischen Prozessen begonnen wurde, beispielsweise von Vorgängen in der Wendezeit wie politischen Aktivitäten der Theaterkünstler im Herbst ’89, aber auch Neugründungen nach der Wende oder der Schließung des Schillertheaters. Diese gesammelten Materialien machen die kritische Betrachtung von Theaterarbeit über längere Zeiträume möglich und werden so zu wichtigen Dokumenten, auch und besonders für die Forschung. Es wäre interessant zu erfahren – auch für die Mitglieder der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste –, wo heute das besondere Interesse an der Arbeit dieses speziellen Arbeitsbereiches und an der Wahrnehmung von historischen Zusammenhängen liegt. Im Lauf der Zeit hat sich die Methodik des Dokumentierens geändert. Dazu haben vor allem auch technische Entwicklungen beigetragen, insbesondere natürlich die vereinfachte Möglichkeit des visuellen Festhaltens von Aufführungen und den dazugehörenden Abläufen. In der Praxis, selbst der sogenannten „Freien Szene“, die im Allgemeinen nur über begrenzte Produktionsbudgets verfügt, ist es fast undenkbar, dass keine Aufzeichnung der Proben und der fertigen Aufführung entsteht. Dabei trifft der beauftragte Filmende meistens seine eigene Auswahl einzelner Blickpunkte, wodurch ein eher subjektiv gefärbtes Ergebnis entsteht. Damit geht auch die Nähe zu den Entstehungsprozessen während einer Theaterarbeit, die tiefere Einsicht in Entscheidungsvorgänge, in begleitende Auseinan­ dersetzungen verloren. Diese Art der Dokumentation hat heute zum Teil auch andere Aufgaben, wie die Bewerbung einer Aufführung, die Vorbereitung von möglichen Gastspielen usw., doch kann sie natürlich ebenso theaterpraktischen oder wissenschaftlichen Untersuchungen und Erfahrungen dienen. Sicher muss sich die ohne Zweifel wichtige Aufgabe der Theater- und Inszenierungsdokumentation in Fragen der Auswahlkriterien, der Methodik oder der

Finanzierung flexibel weiterentwickeln. Auch die Frage, für wen hier gearbeitet wird, sollte entsprechend geklärt sein. Wir wünschen uns, dass dieser besondere Arbeitsbereich im Archiv der Akademie die so lange und er­folgreich gesammelten Erfahrungen auch in zukünftige Arbeiten einbringen kann und sowohl für die Theaterpraxis als auch die Wissenschaft ein wichtiger Partner bleibt.

NELE HERTLING, Dramaturgin und Theaterautorin, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Darstellende Kunst. Seit 2017 ist sie Direktorin der Sektion.

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„Da ist eben das Problem, daß Theater im Moment doch auch als Ware genommen wird. Und interessant ist nur das Produkt, das verkaufbare Produkt, und nicht der Prozess. Und das Theater wird sterben, wenn man es nicht schafft, den Akzent auf den Prozeß zu legen.“ Heiner Müller in einem Interview mit Alexander Kluge

50 JAHRE THEATERDOKUMENTATION IN DER AKADEMIE DER KÜNSTE Konstanze Mach-Meyerhofer

Die Sammlung Inszenierungsdokumentation im Archiv der Akademie der Künste umfasst mehr als 1.000 Dokumentationen zu Inszenierungen des Schauspiel- und Musiktheaters. In ihnen wird der Versuch unternommen, wesentliche Einblicke in die Entstehung, das Ergebnis und die Wirkung einer Inszenierung zu ermöglichen. Dadurch vermitteln die Dokumentationen nicht nur tiefe Einblicke in die Arbeitsweise von über 350 Schauspielund Musiktheaterregisseuren an 120 Theatern im deutschsprachigen Raum, sondern auch in die Zeitgeschichte, die sich in vielen berühmt gewordenen Inszenierungen niederschlug. Mit 130 laufenden Metern, ca. 70.000 Szenen- und Probenfotos und zahlreichen audiovisuellen Aufzeichnungen gehört die häufig genutzte Sammlung zu den umfangreichsten Beständen. Sie ist dem interdisziplinären Charakter des Akademie-Archivs entsprechend mit vielen Archiven verknüpft, die das Theater aus einer anderen Perspektive beleuchten, wie denen von Ruth Berghaus, Benno Besson, Volker Braun, Paul Dessau, Adolf Dresen, Achim Freyer, Peter Konwitschny, Heiner Müller, Hans Dieter Schaal, Arila Siegert, Maria Steinfeldt, Peter Zadek. Wie ein so flüchtiges Kunstwerk wie eine Theateraufführung, das sich als künstlerisches und soziales Ereignis gegen jede Form der Materialisierung sperrt, festgehalten werden kann, haben vorbildhaft die beiden Theaterreformer Bertolt Brecht am Berliner Ensemble und Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin in ihren Modellbüchern und Regiechroniken gezeigt. Auf diese Beispiele haben sich Ende der 1960er Jahre Mitglieder der Sektion Darstellende Kunst der Akademie (Ost) bezogen, als sie die Herstellung von Inszenierungsdokumentationen anregten, um Erfahrungen und Ergebnisse ihrer Arbeit auszutauschen. Mit der dafür entwickelten Methode, die nicht von vorhandenem, mehr oder weniger zufällig überliefertem Material ausgeht, sondern vom jeweils zu dokumentierenden Ereignis, können Inszenierungsprozesse und Theaterentwicklungen sowohl aktuell wie auch retrospektiv dokumentiert werden. Sie verlangt ein genaues Eingehen auf die jeweilige Persönlichkeit und Methode des Regisseurs, auf die Besonderheit der dramatischen beziehungsweise

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musikdramatischen Vorlage und auf die Bedingungen, unter der die Produktion stattfindet. Auf diesem Weg erhält man subjektiv-authentische Aussagen der Theatermacher über ihre Intentionen, die Suche nach Lösungen und ihre Erfahrungen. Damit wird deren Position zur eigenen Arbeit zum Ausgangspunkt für den Dokumentalisten, der in der Regel zum Produktionsteam gehört und in einem kreativen Prozess ein Originaldokument, die Inszenierungsdokumentation, herstellt. Sie enthält üblicherweise eine systematische, kommentierte Sammlung von Arbeits- und Theatermaterialien sowie schriftliche und, wenn möglich, audiovisuelle Probenaufzeichnungen, Interviews, Regiebücher, Fotodokumentationen, Beschreibungen und Wirkungsbelege wie Kritiken. Allerdings ist eine komplette Dokumentation nicht immer möglich und auch gar nicht angestrebt; sie kann auch einen thematischen Aspekt verfolgen. Bei der Auswahl von Inszenierungen ab Mitte der 1960er Jahre wurde versucht, ein repräsentatives Spiegelbild des Gesamtgeschehens im DDR-Theater zu liefern und möglichst von Beginn an innovative Regie­ konzepte wie die von Ruth Berghaus, Frank Castorf, Jo Fabian, Peter Konwitschny und Heiner Müller sowie Neuinterpretationen von Repertoirewerken und Ur- und Erstaufführungen aufzuspüren. Ab 1990 war das wegen der großen Anzahl der Theater mit einer Fülle von Premieren nicht mehr möglich. In einer Übergangszeit von drei Jahren, in der das Zentrum für Theaterdokumentation von dem neu gegründeten Förderverein Theaterdokumentation e. V. getragen und durch das Bundesministerium des Innern, das Land Berlin, das Land Brandenburg und die Stiftung Kulturfonds als erhaltenswerte Archiveinrichtung finanziert wurde, lag der Schwerpunkt der Arbeit vor allem auf der Dokumentation der Umbruchprozesse an den Theatern in den ostdeutschen Ländern und in Berlin. Damit wurde das Zentrum zu einer Anlaufstelle vor allem für Forscher aus dem Ausland. Sie konnten so aussagekräftige Dokumentationen über das Zeitgeschehen wie Räuber von Schiller von Frank Castorf an der Volksbühne Berlin 1990 und Hamlet/Maschine von Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin 1990 ebenso wie die 1989 begonnene und bis 1993 fortgeführte

thematische Sammlung „Theater in der Wende“ nutzen. Ein anderer Schwerpunkt war die Ergänzung der Sammlung durch Dokumentationen zu Inszenierungen vor 1990, die aus politischen Gründen – wie die letzte verbotene DDR-Inszenierung Revisor oder Katze aus dem Sack am Hans-Otto-Theater in Potsdam – oder weil Material aus anderen Gründen zurückgehalten wurde, nicht dokumentiert werden konnten. Seit der Eingliederung des Zen­ trums für Theaterdokumentation als Arbeitsbereich Theaterdokumentation in das Archiv Darstellende Kunst liegt der Schwerpunkt auf Inszenierungen von Regisseuren, die Mitglied der Akademie der Künste sind, sowie weite­ ren die Theaterlandschaft prägenden Regisseuren. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Dokumentationen eine vertiefte Beschäftigung mit Theateraufführungen und Einblicke in künstlerische Entwicklungstendenzen ermöglichen und damit auch zu den Aufgaben der Akademie der Künste beitragen? Im Wesentlichen sind zu nennen: eine stabile finanzielle und personelle Basis für eine kontinuierliche Sammeltätigkeit; die Weiterentwicklung von Dokumentationsmethoden im Austausch mit der Praxis und der Wissenschaft auch in Workshops; ein Netzwerk zur Unterstützung der Arbeit (Mitglieder der Akademie der Künste, Theatermitarbeiter, ehrenamtlich Tätige wie die Mitglieder des Fördervereins Theaterdokumentation e. V., Wissenschaftler und Studierende an Universitäten und Hochschulen); die Veröffentlichung von Ergebnissen in Veranstaltungen und Publikationen – sowie die Klärung von Rechtefragen, um die Möglichkeiten der Archivdatenbank nutzen und Dokumentationen auch auf diesem Weg in Zukunft für eine größere Anzahl von Benutzern bereitstellen zu können.

KONSTANZE MACH-MEYERHOFER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin.


ENTSTEHUNGSPROZESSE FESTHALTEN Barbara Gronau

Vor sechs Jahren suchte ich nach Quellen zu Einar Schleefs Inszenierung Salome, weil diese bekanntlich mit einem langen stummen Tableau Vivant begann, das die Zuschauer regelmäßig in Rage versetzte. Im Schleef-Nachlass des Akademie-Archivs fand ich zwar nichts zu diesem Tableau, dafür aber ein Videoband mit der Aufschrift „Konversationsprobe 3/1997“, das ich im Medienraum am Robert-Koch-Platz bis heute sicher ein Dutzend Mal angeschaut habe. Es handelt sich dabei um die 88-minütige Aufzeichnung einer Sprechprobe zu dieser Inszenierung im Frühsommer 1997, bei der im beengten Konversationszimmer des Düsseldorfer Schauspielhauses das Regieteam, die Darsteller_innen und der Chor gemeinsam durch eine dramatische, zuweilen hochkomische Krisensituation gehen, an deren Ende eine großartige, komplexe Dialogszene steht. Mehr als durch ein Foto oder einen Stücktext wird durch diese Auf­ zeichnung die Arbeitsweise des Theatermachers Einar Schleef und der Beteiligten anschaulich. Das Video macht einen Verlauf deutlich, der ein gemeinsames Suchen (nicht die Durchsetzung einer sogenannten

halten und die darin verarbeiteten Fragen und Lösungswege transparent zu machen. Es ist kein Wunder, dass sich in den vergangenen fünfzig Jahren immer mehr Wissenschaftler_innen diesen Quellen zugewandt haben. Heute stellen sie die größte Gruppe der Nutzer_innen dar. Mit dem zunehmenden Interesse an Proben und Inszenierungsvorgängen tauchen auch in der Theaterwissenschaft neue und grundsätzliche Fragen auf, die das Verhältnis von Theater und Wissenschaft, aber auch das von Prozess und Dokument, Beteiligung und Beobachtung oder Zeitlichkeit und Stillstellung betreffen. Im kursorischen Überblick stehen hier vier Themenbereiche zur Diskussion.

1 ETHIK DES DOKUMENTIERENS Damit verknüpft sich die simple Frage: Warum soll dieser Praxisprozess dokumentiert werden? Welche Form wäre dafür adäquat? Wer bin ich selbst als Beobachtende oder Beobachtete in diesem Prozess? Im Kern geht es dabei um die Verantwortung, aber auch die Schwierigkeit, die jeder Zeugenschaft innewohnt.

„Erst eine solche Perspektive auf die Produktionsprozesse ermöglicht ein tiefes Verständnis der Darstellenden Künste.“ Regieidee) ist, in dem Krisen und Lösungen alle Beteiligte (be)treffen und gemeinsam erarbeitet werden müssen. Allerdings offenbart sich darin auch, dass diese Archivalie selbst lückenhaft ist. Um sie zu „lesen“, bedurfte ich zahlreicher anderer Quellen, die dem Gesehenen manchmal auch widersprachen oder meine Fragen nicht beantworteten. Der Wert des Dokuments lag eindeutig darin, dass es die eigentliche Theaterarbeit erfasste und nicht nur deren Ergebnis. Erst eine solche Perspektive auf die Produktionsprozesse ermöglicht ein tiefes Verständnis der Darstellenden Künste. In der Gründung der Sammlung Inszenierungsdokumentation drückte sich dieses Anliegen aus: nicht nur Werke, sondern deren Entstehungsprozesse festzu­-

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2 METHODIK DES DOKUMENTIERENS Mit der mittlerweile etablierten Kritik am Objektivitätsbegriff zeigt sich, dass die Frage „Wie dokumentieren?“ nicht auf richtige oder falsche Art zu beantworten ist. Die Vielzahl möglicher Verfahren der Aufzeichnung und Methoden der Beschreibung und Auswertung spiegelt die Komplexität theaterpraktischen Arbeitens und muss immer wieder neu justiert werden. Eingedenk Nietzsches Diktum „Das Werkzeug schreibt mit an unseren Gedanken“ ist schon die Entscheidung für oder gegen bestimmte technische Medien (Stift, Kamera, Video) weitreichend. Dazu gehört auch die grundsätzliche Frage: Was wird als Probenarbeit verstanden? Wie lässt sich kollektives Arbeiten erfassen, beschreiben und auswerten? Und auf

welche Weise können die gesellschaftlichen Umstände, der „Zeitgeist“ oder die historische Konstellation ebendieser künstlerischen Arbeit reflektiert werden?

3 ÄSTHETIK UND EPISTEMOLOGIE DES DOKUMENTIERENS Schon an Brechts Modellbüchern lässt sich nachvoll­ ziehen, dass Probendokumente nicht nur Wissensspeicher und Erkenntnisinstrumente sind, sondern selbst künstlerische Qualität haben können. Dokumentieren ist selbst eine ästhetische Praxis, und das Herstellen von Fotografien, Filmen, Audiodateien oder Texten schafft zeichenhafte Formen, die zueinander in Beziehung gesetzt und interpretiert werden müssen. In der Geschichte der Theater- und Probenfotografie ist dieser künstlerische Anteil der Artefakte bisher am stärksten reflektiert worden.

4 KANONISIERUNG DURCH DOKUMENTIEREN Wenn von über dreitausend jährlich in Deutschland entstehenden Inszenierungen gerade zehn Eingang in die Sammlung Inszenierungsdokumentation des Akade­mieArchivs finden, so zeigt sich, wie stark Dokumentationen mit der Frage der Kanonisierung verknüpft sind. Welchen Effekt hat es, wenn Tanz, Performance oder Arbeiten der Freien Szene ausgeschlossen bleiben? Und wie können neue Archivplattformen geschaffen werden, um von der flüchtigen Kunst des Theaters Spuren zu hinterlassen, die noch kommende Generationen zu begeistern vermögen?

BARBARA GRONAU ist Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste Berlin und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“.

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Ausschnitt aus der Fotodokumentation mit Text­f assung der Inszenierung Hamlet/Maschine von Shakespeare/Müller unter der Regie von Heiner Müller, Deutsches Theater Berlin, Premiere: 24. März 1990, Bühne: Erich Wonder, Kostüme: Christine Stromberg, Dokumentation: Stephan Suschke Probenfotos mit Margarita Broich (Ophelia) und Ulrich Mühe (Hamlet)

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NACHRUFE

50. MITGLIEDERVERSAMMLUNG DER AKADEMIE DER KÜNSTE, 17. – 19. NOVEMBER 2017

ILSE AICHINGER

ILSE AICHINGER

GABRIEL EPSTEIN

* 01.11.1921 Verstorben am 11.11.2016 Sektion Literatur

* 25.10.1918 Verstorben am 25.07.2017 Sektion Baukunst

GISELA MAY

WERNER WIRSING

* 31.05.1924 Verstorben am 02.12.2016 Sektion Darstellende Kunst

* 04.03.1919 Verstorben am 29.07.2017 Sektion Baukunst

KARL GERSTNER

WILHELM KILLMAYER

* 02.07.1930 Verstorben am 01.01.2017 Sektion Bildende Kunst

* 21.08.1927 Verstorben am 20.08.2017 Sektion Musik

JOHN BERGER

EGON GÜNTHER

* 05.11.1926 Verstorben am 02.01.2017 Sektion Bildende Kunst

* 30.03.1927 Verstorben am 31.08.2017 Sektion Film- und Medienkunst

INGE KELLER

ERICH SCHNEIDER-WESSLING

Zu sagen, dass ich Ilse Aichinger niemals begegnet bin, wäre ein auf mehreren Ebenen hilfloses Unterfangen. Keine Schriftstellerin, kein Schriftsteller aus Österreich ist ihr nicht begegnet. Wir alle haben sie getroffen und treffen sie manchmal noch, in den Kaffeehäusern, in den Kinos, zwischen den Zeilen, in der Stadt Wien, im Salzburger Land. Wir versuchen mit ihr ins Gespräch zu kommen, was nur mit gewissen Tricks und Finten gelingt, selten aber wirklich schiefgeht. Schließlich war sie der unmonolithischste Monolith der österreichischen Nachkriegsliteratur, was heißt Nachkriegsliteratur, sie hat über 60 Jahre die literarische Öffentlichkeit geprägt und nicht nur die österreichische. Die größere Hoffnung von 1948 machte sie schlagartig bekannt, für die Spiegel­ geschichte bekam sie 1952 den Preis der Gruppe 47, und das brachte sie endgültig in alle deutschsprachigen Schulbücher. In ihren vielen Werken an Kurzprosa habe ich mit ihr zu sprechen begonnen, in den Schlechten Wörtern in Kleist, Moos, Fasane, in Eliza Eliza. In Szenen und Skizzen und in der Lyrik, dem Verschenkten Rat, und ich kann sagen, sie hat ermuntert zur kurzen Form, in einer Schärfe und Geradlinigkeit, einen Literaturbegriff verteidigend, der heute zumindest in der deutschsprachigen Welt am Verschwinden ist, immer gegen einen Konformismus gerichtet, der uns in diesen Tagen mehr denn je beschäftigt. Die „Souveränität der Lächerlichkeit“ von Stan Laurel & Oliver Hardy beschwörend wie die Filme von Fritz Lang oder die von Marcel Ophuls literarisch begleitend, kennen wir sie als euphorische Cineastin. Ihre Texte zum Kino, die regelmäßig in der österreichischen Presse erschienen sind und den Gang in jene Lichtspielhäuser noch einmal zu feiern verstanden, ihre Kinobücher verbanden sie noch einmal neu und anders mit einer jüngeren Generation, man könnte sagen, der Enkelgeneration. Über Stan Laurel & Oliver Hardy schrieb sie: „Was die beiden bieten, geht um einiges über beruhigte Ziele hinaus.“ Beruhigte Ziele, das ist es, was sie nie wollte. Ohnedies ging es ihr niemals ums Erscheinen, sondern immer ums Verschwinden. Sie war eine Künstlerin des Verschwindens – insofern ist es fast amüsant, dass der Fischerverlag einen Autorenfotoband zu ihr herausgab. „I am glad, I am not me“, zitiert sie beinahe dagegen Bob Dylan. Nicht ich sein zu müssen, lieber schon das, was einem wesentlich ist. Als Humanistin regte sie zu dem Misstrauen sich selbst gegenüber an. „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr“, beginnt eine ihrer bekanntesten poetologischen Aussagen, und sie schreibt darin: „Leben ist kein besonderes Wort und sterben auch nicht. Beide sind angreifbar, überdecken, statt zu definieren. Vielleicht weiß ich, warum. Definieren grenzt an Unterhöhlen und setzt dem Zugriff der Träume aus.“

* 15.12.1923 Verstorben am 06.02.2017 Sektion Darstellende Kunst

HANS-JOACHIM RUCKHÄBERLE

KLAUS HUBER

* 06.09.1947 Verstorben am 10.04.2017 Sektion Darstellende Kunst

* 30.11.1924 Verstorben am 02.10.2017 Sektion Musik

MICHAEL BALLHAUS

SILVIA BOVENSCHEN

* 05.08.1935 Verstorben am 12.04.2017 Sektion Film- und Medienkunst

* 05.03.1946 Verstorben am 25.10.2017 Sektion Literatur

MAGDALENA ABAKANOWICZ * 20.06.1930 Verstorben am 20.04.2017 Sektion Bildende Kunst

DANIIL GRANIN * 01.01.1919 Verstorben am 04.07.2017 Sektion Literatur

PETER HÄRTLING * 13.11.1933 Verstorben am 10.07.2017 Sektion Literatur

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* 22.06.1931 Verstorben am 28.09.2017 Sektion Baukunst


Nein, Ilse Aichinger ist nicht gestorben, das ist ein Irrtum, den sie selbst als Künstlerin des Verschwindens gerne in die Welt gesetzt hätte. KATHRIN RÖGGLA, Schriftstellerin, ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste, Berlin, und Mitglied der Sektion Literatur.

GABRIEL EPSTEIN

Gabriel Epstein war ein feiner Mensch. Ein feiner und auf eine distanzierte Art sehr freundlicher Mensch. Er hat in der Regel wenig von sich erzählt, aber wenn er erzählte, wie in einem Interview an der Universität Stuttgart, hatten alle geschilderten Lebenssituationen eine Bedeutung: Er sprach mit Emotion, aber überlegt. Aus diesem Interview erzähle ich Ihnen nun, denn ich meine, sein Leben hatte mit dem, was er tat und dachte, in einer ziemlich reflektierten Art mehr zu tun, als dies üblich ist. Diese seine Lebensgeschichte war ihm immer eingeschrieben, wenngleich er im Nachhinein meinte, der Verlauf seines Lebens, die Entscheidungen hätten sich „zufällig ergeben – alles ungeplant“. Gabriel Epstein ist, wie man so sagt, großbürgerlich aufgewachsen, die Familie lebte seit Jahrhunderten am Niederrhein und hatte ein großes Warenhaus in Duisburg. Sein Vater, ein Zionist der frühen Stunde, war Jurist, kümmerte sich um die große Schar der Ostjuden, die wegen der Verfolgung in Polen und Russland nach Deutschland kamen, von den deutschen Juden abgelehnt wurden, und deren „verkrümmte Rücken wieder aufgerichtet werden sollten“. Das Haus der Eltern war in künstlerischer Hinsicht hochkarätig: Epsteins Pate war der Pianist Rudolf Serkin, zum Abendessen kamen Arnold oder Stefan Zweig oder auch Ernst Toller, der „sich nach dem Abendessen sein schönes seidenes Hemd auszog, einfache Kleider anlegte und zu den Arbeitern ging, um ihnen Kommunismus einzureden“. Erich Mendelsohn baute das Kaufhaus um, und mit Einstein hatte der Vater eine lange Korrespondenz, die leider verloren ging. Im Frühjahr 33 folgte die absolute Verdunkelung des Lebensweges: Innerhalb eines einzigen Tages konnte die Familie nach Belgien fliehen, dann kamen zwei der Kinder allein nach Palästina, wohin später die Eltern folgten und wo sich der Vater nie einleben konnte – in einem Land, für das er an sich sein ganzes bisheriges Leben gearbeitet hatte. Gabriel Epstein allerdings gewann Freunde dort. Er wurde in der Haganah der schnellste Morse-Operateur, worauf er noch im Alter mit einem Bubenlächeln stolz war. Er sagte später, dass das Leben in diesem Land der

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Unruhe ein besserer Rahmen für ihn war als „das bürgerliche Leben in Duisburg am Rhein“. Die Haganah war seine Heimat. Von der Familie seines Vaters konnten sich viele retten, die Verwandten seiner Mutter allerdings blieben in Theresienstadt. 1984 lebten von den drei Geschwistern Epsteins zwei in Israel, ein Bruder in Amerika, der nie wieder nach Deutschland zurückkam. Ein Jahr vor dem Abitur ging Epstein zu Mendelsohn und unterbreitete ihm, Lehrling bei ihm werden zu wollen. Mendelsohn schickte ihn postwendend bis zum Abitur zurück auf die Schulbank, danach aber arbeitete Epstein bei ihm, der ihn als seinen Meisterschüler betrachtete, bevor er – und nun beginnt seine Bindung an England – an die Architectural Association School in London ging. Letztlich lernte er, zurückgekehrt, in Jerusalem den kennen, der beruflich und als Person der von ihm akzeptierte Lehrmeister seines Lebens wurde: Heinz Rau aus Berlin, ein, wie er ihn beschreibt, „feinfühliger und undeklamatorischer Architekt“. Oft saß er ihm „abends, wenn es dunkel wurde, gegenüber und guckte zu, wie er zeichnete“. Ihn hat er nie vergessen und sprach, wie Julius Posener schrieb, sein Leben lang mit unveränderter Achtung von ihm. Ab 1942 trat er mit seiner Haganah-Einheit in die englische Armee ein und verbrachte den Krieg dann als Offizier großteils in Ägypten und Tripoli. Merkwürdige Erzählungen gibt es aus dieser Zeit. Nun aber kommt der lange englische Zeitraum seines Lebens. Zurückgekehrt an die AA School, schloss er das Studium dort mit einer Auszeichnung ab und ging dann zu dem Büro, dessen Partner er bis zum Schluss werden sollte: Bridgwater, Shepheard und dann eben Epstein. Im übrigen war er als Lehrer weiter der AA sehr verbunden, wurde schließlich deren Präsident – bis er seine Vorstellungen von Lehrkonzepten nicht mehr für durchsetzbar hielt. In London lernte er auch seine Frau Josette kennen, eine Pariserin, sehr nett, sehr elegant, die mit ihm bis zu seinem Tode und mit ihm sehr verbunden im Quartier Latin lebte. Von den drei Kindern starb der älteste drei Monate vor Gabriel Epstein, ein Schicksal, das ein Elternpaar nicht überwinden kann. Das Leben von Gabriel Epstein prägte, auf eine – keinesfalls nachzuweisende – Art auch seine Auffassung von Architektur. Wenn die Begriffe Bescheidenheit, Unaufgeregtheit und Menschlichkeit nicht völlig überstrapaziert wären, Epstein fände sie gut. Seine Bauten und vor allem städtebaulichen Strukturen sind in der Tat von „angemessenem“ Maßstab, sie sind wenig abstrus, wenig exaltiert, aber menschlich und sozial sehr wirksam. Und vor allem: Er erkannte den Raum außerhalb der Häuser als den wahrhaft sozial wirkenden, als den Handlungsraum der Menschen miteinander. Er sah die Straßenwände der Häuser als Akteure, die Gassen, die Passagen, Arkaden und Plätze als das eigentliche Zentrum. Allerdings kam bei ihm noch eine ganz logische, aus seinen Einsichten, seinen Erfahrungen und seinem Charakter gespeiste Praktikabilität dazu, die die zeitlichen Abläufe einer Benutzung, die gesellschaftlichen Folgen in der Zukunft beinhaltete – letztlich ein Frage der Verantwortung, wie er es sah, immer angereichert mit einer atmosphärischen Gebrauchsfähigkeit, die alle seine Projekte beinhalten. Seine Universitätsbauten –

das bekannteste Beispiel ist das in Lancaster, für das er seine erste große Anerkennung bekam und dessen Planungsphase er selbst für die wichtigste in seinem Berufsleben hielt – hatten die Entwicklungskapazität für die Zukunft eingeschrieben. Epstein mochte das Exzessive nicht, auch nicht die exzessive Architektur. Mit dieser Haltung war er höflich, aber unbeirrbar. Auf einer Vortragsreise durch Deutschland sprach Epstein über englische programmatische Universitätsplanungen und lernte dort Horst Linde kennen, der ja auch Akademie-Mitglied war, was letztendlich zur Annahme einer Professur an der Universität Stuttgart führte. So waren wir drei, Linde, Epstein und ich, nacheinander Inhaber desselben Lehrstuhles. Epstein hatte damit wöchentliche Rundreisen auszuführen: Paris, London, Stuttgart, Paris, London, Stuttgart. Er litt nicht darunter, soweit ich weiß, ganz im Gegenteil, er liebte die Verbindung der unterschiedlichen Tätigkeiten und hatte viele Freunde an der Universität. Eines kommt dazu: Gabriel Epstein zeichnete, und zwar sehr gut. Es gibt eine Unmenge von wunderbaren, atmosphärereichen Tuschezeichnungen, die immer Paris in seinem Licht zeigen, das Paris der Plätze und Straßenecken, der Bäume, Blätter, des Wassers und der Hausgesichter. Als Gabriel Epstein in die Akademie gewählt wurde, sagte seine Frau im Hinblick auf Deutschland und seine Geschichte: „Aber das kannst Du doch nicht annehmen!“ Sie hatte die Besetzung von Paris miterlebt, das waren schwere Erinnerungen. Nach der Einsicht in die Mitgliederliste allerdings sah sie das dann ganz anders und Epstein wurde unser Mitglied. Er selbst sah keine Kollektivschuld der Deutschen. Über sein Leben sagte er, es sei merkwürdig, wie sich solche Entscheidungen zufällig ergäben – alles un­geplant. Das Leben sei wirklich ein Kompromiss zwischen einem gewissen Maß von Ausrichtung und einer gewissen Offenheit den Einflüssen gegenüber, die einen hin- und herschieben. Man dürfe da nicht allzu rigide sein ... Ein weiser, feiner, internationaler Mensch, mit einer ihm eingeschriebenen leichten Traurigkeit. Er hat es zudem verstanden, sehr gute Partner an seine Ideen zu binden, eine große Kunst. Wir haben uns oft, wenn wir mit miserablen Machenschaften zu tun hatten, vor­ gestellt, dass es auch Menschen wie Gabriel Epstein mit einer solchen Haltung gibt – das hat geholfen. Und diese Hilfe steht eigentlich auch jetzt noch weiterhin zur Verfügung. KARLA KOWALSKI, Architektin, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Baukunst.

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DANIIL GRANIN

Am 27. Januar 2014 hielt Daniil Granin im Bundestag die Rede zum Holocaust-Gedenktag. Am 27. Januar 1944, ein Jahr vor der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, war die Blockade Leningrads durchbrochen worden. Am Vortag seiner Rede besuchte Daniil Granin ein paar Mitglieder unserer Sektion im Akademie-Gebäude am Pariser Platz. Er wurde von einem ganzen Tross russischer Fotografen und Kameraleute begleitet, was ihm keineswegs recht war. Schroff wies er die Journalisten ab, was allerdings wenig half. Uns gegenüber war er voller Neugier und Freundlichkeit. Die meiste Zeit verständigten wir uns auf Deutsch, das er als Kind und Jugendlicher gelernt hatte. Daniil Granin, geboren 1919, hatte Elektrotechnik studiert und als Ingenieur gearbeitet, als er sich 1941 freiwillig für den Kriegsdienst in seiner Heimatstadt Leningrad meldete. Er hat es selbst als ein unwahrscheinliches Wunder angesehen, dass er den Krieg überlebt hat, sowohl den Beginn als unausgebildeter Soldat mit veralteten Waffen an der Front wie auch als einer, der im Schützengraben vor Leningrad vor Hunger und Kälte das Bewusstsein zu verlieren drohte, wie auch später als Kommandant einer Panzerkompanie. Minuten vor einem Angriff, bei dem die Angehörigen seiner Kompanie fast alle den Tod fanden, wurde er demobilisiert, weil man Elektroingenieure brauchte. Davon schreibt er in seinem jüngsten und letzten Roman Mein Leutnant, der 2011 in Russland erschienen und mit einem bedeutenden Literaturpreis ausgezeichnet worden war. Daniil Granin freute sich, dass zumindest dieses Buch auch auf Deutsch erscheinen sollte, die erste deutsche Übersetzung nach 1990. Granins Erzählungen, Romane und Essays waren in der DDR präsent gewesen, ich zählte mich zu seinen Lesern. Am meisten aber hatte mich sein gemeinsam mit Ales Adamowitsch 1987 verfasstes Blockadebuch ergriffen, eine Dokumentation über die Leningrader Blockade. Mein Leutnant ist die so kunstvolle wie rückhaltlose Autobiografie, in der der Erzähler der Beobachter seines damaligen Selbst ist, jenes Mannes in Uniform. Am eigenen Beispiel macht er die Zwiespältigkeit, die das Leben eines jeden in der Sowjetunion zerriss, nacherlebbar. Es ist auch eine Abrechnung mit der eigenen Führung, die nicht nur den GULAG zu verantworten hat, sondern durch ihre Borniertheit und Unfähigkeit auch die Schuld an Millionen sinnloser Opfer in den eigenen Reihen trägt. Eine der ungeheuerlichsten Szenen diese Buches – und zugleich eine von literarischer Meisterschaft – beschreibt, wie zwei deutsche Soldaten, ein Offizier und ein Gefreiter, volltrunken durch das verminte

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Gelände zwischen den Schützengräben torkeln, auf keinen Ruf reagieren und im sowjetischen Schützengraben sofort in tiefen Schlaf fallen. Als sie erwachen und in die Augen der russischen Soldaten sehen, beginnt der Offizier zu lachen, weil er es für einen Alptraum hält. Daran ändert sich auch nichts, als der Erzähler die beiden Deutschen in die Stadt zum Verhör eskortiert. Was sie sehen – ein toter alter Mann, der erfroren noch in einem kaputten Straßenbahnwagen sitzt, ein Stapel erfrorener Leichen, eine entkräftete alte Frau, die sich beim Anblick der Deutschen erschrickt – bestärkt den deutschen Offizier in seinem Wahn zu träumen. Je länger der an seinem Wahn festhält, desto verzweifelter werden der Erzähler, aber auch der deutsche Gefreite. Die Weigerung des Offiziers, das Grauen als wirklich, als einem Menschen fasslich anzuerkennen, ist vielleicht die einzig adäquate Beschreibung. Unser Gespräch in der Akademie kreiste um die vielen politischen Umbrüche, die er miterlebt hat. Stolz war Daniil Granin auf die Selbstbefreiung der Sowjetunion vom Stalinismus. Seine Rede im Bundestag kann man im Internet sehen und hören und nachlesen. Es war im eigentlichen Sinne keine Rede, sondern ein Bericht über die Blockade. Und doch war es eine der wichtigsten Reden im deutschen Parlament. In seinem schon etwas zu groß gewordenen Anzug, ohne Krawatte, wollte er am Rednerpult stehen und wehrte mehrfach seine Rede unterbrechende Versuche ab, ihm einen Stuhl anzubieten. Der 95-Jährige sprach als Soldat vor den deutschen Abgeordneten. Er ersparte sich und den Zuhörern nichts. „Ein Kind stirbt, gerade mal drei Jahre alt. Die Mutter legt den Leichnam in das Doppelfenster und schneidet jeden Tag ein Stückchen von ihm ab, um ihr zweites Kind, eine Tochter, zu ernähren.“ „Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe“, sagte Daniil Granin, „konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. (…) Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.“ Im Anschluss traf Daniil Granin auch mit Helmut Schmidt zusammen, der als Leutnant auf deutscher Seite mit einer Panzerdivision auf Leningrad vorgerückt war. Helmut Schmidt schrieb das Vorwort für die deutsche Übersetzung. Es sollte einen Abend mit beiden in der Akademie geben, um das Buch vorzustellen, die Karten waren bereits verkauft. Daniil Granin zog sich kurz vor der Lesung einen komplizierten Beinbruch zu. Er hoffte weiter, seine Lesung in der Akademie nachholen zu können. Am 4. Juli dieses Jahres ist das älteste Mitglied unserer Sektion im Alter von 98 Jahren in St. Petersburg gestorben. INGO SCHULZE, Schriftsteller und Essayist, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Literatur. Von 2005 bis 2010 war er Direktor der Sektion.

PETER HÄRTLING

Jean Paul schrieb auf einen seiner Tausenden von Zetteln, dass, wenn Goethe stürbe, für ihn eine ganze Welt unterginge. Ja, wenn Waiblinger stürbe, wenn Schubert, Schumann, wenn Niembsch, Nikolaus Lenau, wenn E. T. A. Hoffmann, wenn „Die Frau“, wenn „Die drei Marien“, wenn Hölderlin sterben würden. Peter Härtling hat sie alle und viele andere mehr in seinen Romanen und Erzählungen ins Leben zurückgeholt. Er machte sie zu Zeitgenossen des Lesers, der Leserin und die Leser gleichzeitig zu ihren Zeitgenossen. Er gab ihnen allen Raum und Zeit. Raum und Zeit, das ist Poesie, die Poesie des Poeten Peter Härtling. Das Wort Zeit fiel mir in den letzten Wochen immer wieder ein, wenn ich an ihn zurückdachte. Wo und wann – und wie zufällig auch immer – man ihn traf, er hatte Zeit, viel Zeit, wie einer, der nichts anderes zu tun hätte, als eben jetzt hier zu sein, für diesen Menschen hier zu sein. Ich habe ihn nie anders erlebt, als im Zustande der Gemütlichkeit. Härtling liebte die Menschen. Ich weiss, das ist ein simpler Satz. Für Härtling war es mehr, nämlich Prinzip. Dabei konnte er durchaus leidenschaftlich und kämpferisch engagiert sein, aber auch dies nicht ohne sein „Raum und Zeit“ zu verlassen. Ich kenne nur einen einzigen Menschen, auf den er mit Hass und Zorn reagierte, aber auch das in aller Ruhe, die Ruhe eines Müssiggängers. Dabei war er an Fleiss kaum zu überbieten. Sein riesiges Werk ist das Werk eines Fleissigen. Woher nahm er die Zeit, mit mir zu trinken, mit uns zusammen zu sein, uns Zeit zu schenken? Jetzt hat er sie mitgenommen für immer, diese Zeit – woher soll ich gehetzter Unfleissiger jetzt diese Zeit nehmen? Ich bin am Lesen – vorerst mal den Niembsch, sein Frühwerk, das ich schon oft ge­lesen habe –, ich will Peter Härtlings Zeit zurück. PETER BICHSEL, Schriftsteller und Essayist, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Literatur.


BILD- UND TEXTNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 3, 4 und 7: © Marcel Odenbach, VG Bild-Kunst, Bonn 2018, Courtesy of Galerie Gisela Capitain, Stampa Galerie und Videoart at Midnight Edition, Fotos Frederik Walker | S. 6 Foto © gezett | S. 8 Foto © Rosa von Praunheim, S. 9–11 Fotos © Elfi Mikesch | S. 12–14 Fotos Werner Bethsold © Werner Bethsold/FMP-Publishing, S. 15 Foto Dagmar Gebers, © Dagmar Gebers/ FMP-Publishing, VG Bild-Kunst, Bonn 2018 S. 16–17 Foto Paul Lovens, © Paul Lovens/FMP-Publishing, S. 19 oben Foto Dagmar Gebers, © Dagmar Gebers/ FMP-Publishing, VG Bild-Kunst, Bonn 2018, S. 19 unten Foto Werner Bethsold © Werner Bethsold/FMP-Publishing | S. 20–25 Fotos © Thomas Florschuetz, VG Bild-Kunst, Bonn 2018 | S. 26 Foto © Klaus Staeck, S. 27 Foto © Kerstin Gnielka | S. 28 Foto © culture-images/ fai | S. 30–35 Fotos © Sammi Landweer | S. 36–37 Fotos © Katerina Poladjan | S. 38–39 Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr. HZ 5312 | S. 40 Akademie der Künste, Berlin, Archiv Berliner Ensemble, S. 41 © Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz, Berlin, Foto Thomas Aurin | S. 42, S. 46, S. 47 Dokumente Akademie der Künste, Berlin, Sammlung Inszenierungsdokumentationen 677, S. 42 © Thomas Martin, S. 44 Zitat aus Anti-Oper/Materialschlacht von 1914/ Flug über Sibirien, 6.12.1993 [https://Kluge.library.cornell.edu/de/ conversations/mueller/film/100/ transcript], S. 46–47 Fotos © Wolfhard Theile/drama-berlin.de, Manuskript © Heiner Müller Erben, mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages Berlin, sowie henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag | S. 48 Foto Marianne Fleitmann © Akademie der Künste, Berlin, S. 49 Foto privat, S. 50 links Foto Christian Kraushaar, © Akademie der Künste, Berlin,S. 50 rechts Foto Inge Zimmermann, © Akademie der Künste, Berlin

Journal der Künste, Ausgabe 5, Januar 2018 Auflage: 4.000

Wir danken allen Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

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