Filmpodium Programmheft November – Dezember 2018

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15. November – 31. Dezember 2018

4th Arab Film Festival Zurich René Clair


Geschenke fürs ganze Jahr – ein Abonnement oder ein Plakat!

MB NO VE

xenix.ch / Até ver a Luz, 2012

ER

20 18

Erhältlich an der Kinokasse

L BA O GL L GA U RT PO


01 Editorial

Entdeckungen ermöglichen Vor wenigen Wochen ist das Zurich Film Festival (ZFF) zu Ende gegangen und hat in seiner 14. Ausgabe bei den Eintritten erstmals die 100000er-Marke überschritten. Von vielen als «Cüpli-Anlass» belächelt, setzt das Festival mit seinen Gala-Vorpremieren zwar nach wie vor auf Glamour, der in den Masters und Talks auch ins Filmpodium überschwappt. Im Wettbewerb und in den Nebensektionen jedoch lassen sich viele Besucherinnen und Besucher, vom Festivalfieber infiziert, auf Filme ein, von denen sie noch nie gehört haben, deren Regisseure sie nicht kennen und die sie sich im regulären Kinoprogramm kaum angesehen hätten. Das ZFF leistet damit im grossen Massstab, was auch das Filmpodium mit dem 4th Arab Film Festival beabsichtigt: dem Film ein Fest auszurichten und dem Publikum Entdeckungen und prägende Erlebnisse zu ermöglichen. Beim Arab Film Festival ist es spezifisch die arabische Welt, deren aktuelles Filmschaffen wir den Zuschauerinnen und Zuschauern näherbringen wollen, seien dies neugierige Filminteressierte oder Menschen aus dieser Weltregion, die eine Verbindung zur Kultur ihrer Heimat aufrechterhalten möchten. Wir freuen uns nicht nur auf die Filme, sondern auch auf die zahlreichen Gäste – Schauspielerinnen und Schauspieler, Film-, Medien- und Festivalschaffende –, die in Gesprächsrunden Auskunft über und Einblick in ihre Arbeit geben werden. Diese exklusiven Festivalangebote sind nur möglich dank des Engagements des Vereins International Arab Film Festival Zurich (IAFFZ), mit dem wir bereits zum vierten Mal zusammenarbeiten. Seine hervorragenden Kontakte zur arabischen Film- und Festivalwelt, seine Beziehungen zu den verschiedenen arabischen Botschaften, seine intensiven Bemühungen um Sponsoren und nicht zuletzt die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer aus den Reihen des Vereins machen es möglich, solch ein reichhaltiges Festival zu planen und durchzuführen. Ein riesiges Dankeschön geht deshalb an Aida Schläpfer Al Hassani und ihr grossartiges Team! Gerne machen wir Sie bereits heute darauf aufmerksam, dass das Filmpodium im kommenden Frühling das Arab Film Festival historisch ergänzen wird, und zwar mit einer Retrospektive mit Filmen von Youssef Chahine (1926–2008), einem der wichtigsten Regisseure des ägyptischen Kinos. Gelegenheit für filmgeschichtliche (Wieder-)Entdeckungen bietet aber bereits das aktuelle Programm: Die Werke des grossen, zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratenen französischen Regisseurs René Clair werden mit ihrer Leichtigkeit und Verspieltheit auch Sie verzaubern. Corinne Siegrist-Oboussier Titelbild: Le silence est d’or von René Clair


02 INHALT

4th Arab Film Festival Zurich

04

René Clair zum 120. Geburtstag 17

Das vierte Arab Film Festival Zurich verblüfft erneut mit der Vielfalt des arabischen Kinos. Die Formate reichen vom Kurzdokumentarfilm über die satirische Miniatur zum dramatischen Langspielfilm; geografisch spannt sich der Bogen von Marokko bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, wobei dieses Jahr Ägypten und Irak ein besonderes Augenmerk gilt. Zum Filmschaffen beider Länder – hier Ägypten mit seiner langen Filmtradition, da der Irak, dessen Filmarchiv im Krieg fast ganz zerstört wurde und der seine Filmproduktion erst wieder aufbauen muss – finden vertiefende Podien mit Gästen statt. Thematisch geht es um kleine Alltagsgeschichten, aber auch um jüngste politische Ereignisse wie den Arabischen Frühling oder um die filmische Bewältigung von Bürgerkriegstraumata.

René Clair (1898–1981) gab seinen Einstand beim Film gleich mit dessen völliger Auflösung: Das dadaistische Kleinod Entr’acte (1924) foutierte sich um sämtliche Spielregeln der siebten Kunst. Clair erwies sich als begnadeter Schöpfer traum- oder märchenhafter Fabeln wie Paris qui dort und Le voyage imaginaire, Sous les ­toits de Paris oder À nous la liberté, die meist die (schöpferische) Freiheit feiern. Auch spätere Tonfilme wie Quatorze juillet, Le silence est d’or oder Les belles de nuit, selbst jene, die er in Grossbritannien und Hollywood drehte (The Ghost Goes West, I Married a Witch, It Happened Tomorrow), lassen sein Flair für «reines Kino» spüren. In Sachen Leichtigkeit und Witz kann sich nur Lubitsch mit ihm messen.

Bild: Zaman: The Man from the Reeds

Bild: Les belles de nuit


03

Das erste Jahrhundert des Films: 1998

27 Filmpodium für Kinder: Belle und Sebastian

Vor 20 Jahren rannte Franka Potente als Lola atemlos durch Berlin, schob Jeff Bridges als «Dude» eine ruhige Kugel und versuchte sich Jim Carrey als Truman aus seinem TV-Käfig zu befreien; Thomas Vinterberg verstörte mit seinem Familiendrama Festen, Samira Makhmalbaf fing in Der Apfel die faszinierend fremde Welt des Iran ein und Hirokazu Kore-eda stellte in After Life die grossen Fragen des Lebens. Bild: The Truman Show

Reedition: Miracle on 34th Street 36 Gibt es den Weihnachtsmann wirklich? Im Weihnachtsfilmklassiker Miracle on 34th Street kämpft Edmund Gwenn als «Kris Kringle» vor Gericht um seine Anerkennung.

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Ein vielschichtiger Film über die tiefe Freundschaft eines Jungen und einer Hündin. Zum Mitfiebern, aber auch zum Fragenstellen und Diskutieren. Bild: Belle und Sebastian

Einzelvorstellung IOIC-Soiree: The Four Horsemen of the Apocalypse

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05

4th Arab Film Festival Zurich Das 4th Arab Film Festival Zurich zeigt einen Querschnitt durch das vielfältige aktuelle arabische Filmschaffen: packende Geschichten, liebenswerte Alltagsepisoden und knallharte Perspektiven auf ein Leben in turbulenten Verhältnissen, gedreht in Ländern, die uns oft nur in den Medien mit News zu Terror und Krieg begegnen. Erneut zeigt sich, wie kreativ sich das junge arabische Kino mit den politischen und ­sozialen Zuständen auseinandersetzt. Der arabische Film ist ein Phänomen im wörtlichen Sinn: eine Erscheinung, die nur schwer zu fassen ist. Im französischsprachigen Raum lautet die Bezeichnung «les cinémas arabes» und trifft mit dem Plural den Kern der Sache. Das arabische Kino ist – wie die (arabische) Welt selbst – bunt, divers und schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Suche nach Gemeinsamkeiten führt in die Geschichte: Berührungspunkte sind die poetische und visuelle Hochkultur sowie die Parallele einer meist kolonialen Vergangenheit, was wiederum die jeweils sehr spät einsetzende Filmproduktion erklärt. Abhängigkeiten von den Schutzmächten und deren Repressionen gegen die autochthone Kultur verhinderten lange Zeit eine eigenständige Filmkultur. Die einzige Ausnahme bildet Ägypten, das bereits während der Kolonialzeit mit dem Aufbau einer landeseigenen Produktion beschäftigt war und dieses Geschäft bis heute meisterhaft beherrscht. Kino als Katalysator Die filmgeschichtlichen Wurzeln der anderen arabischen Länder liegen in den politischen Befreiungskämpfen im Zuge der Dekolonialisierung. Es überrascht wenig, dass es sich dabei um radikale Experimente, Dokumentarfilme oder sozial engagierte Werke handelt. Stellvertretend für dieses politisierte Kino kann das Filmschaffen in Algerien ab 1954 oder jenes von Palästina seit Ende der 1960er-Jahre genannt werden. Heute ist das Spektrum der Geschichten, die uns die Filme aus der sogenannten MENA-Region (Middle East and North Africa) zeigen, weit vielfältiger: Sie erzählen von struktureller Entwicklung und staatlichen Interventionen. Das Kino überrascht mit Witz und Poesie, um staatlicher Zensur zu entgehen, und drückt sich aus Budgetgründen oft in experimentellen Formen aus. Nicht nur die Vielfalt im arabischen Filmschaffen hat in den letzten Jahren zugenommen, auch die Begeisterung des Pu-

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Langzeitbeobachtung einer Aufmüpfigen: Amal > Als Niederländer auf der Suche nach dem Vater in Tunesien: Bezness as Usual Letters from Baghdad: Gertrude Bell zwischen Winston Churchill und T. E. Lawrence 1921


06 blikums für diese Werke. Die Industrien in den arabischen Ländern haben das Potenzial der Filmbranche längst erkannt. «Die Eröffnung von Kinos wird ein Katalysator für wirtschaftliches Wachstum und Diversifikation sein.» Der saudische Kulturminister Auwad al-Auwad verblüffte im Dezember 2017 mit der Ankündigung, das seit 35 Jahren bestehende Verbot von Kinos aufzuheben. Seit April 2018 gibt es nun ein reguläres Kinoprogramm. Neben wirtschaftlichen Interessen mag das Zugeständnis des Königreichs die Reaktion auf einen anderen wunden Punkt sein: Es gab einige Häme für das Land, als gleich zwei saudische Filme international erfolgreich liefen, die eigene Bevölkerung aber darauf verzichten musste. Neben Wadjda (Haifaa Al Mansour, 2012) sorgte Barakah Meets Barakah von Mahmoud Sabbagh 2016 für Furore. Während einerseits die Filmbranche als wirtschaftliche Heilsbringerin gefördert wird, kam es andererseits im letzten Jahr zu Finanzierungsschwierigkeiten. Grund ist die seit Juni 2017 wirksame Wirtschaftsblockade gegen Katar. Da das Doha Film Institute einen der aktivsten Filmfonds betreibt, dessen Gelder in zahlreiche Produktionen der MENA-Region fliesst, sind durch die diplomatische Krise viele Projekte gefährdet. Junge Talente, Schatten der Vergangenheit und mutige Aufbrüche Selbst wenn es schwer ist, das Filmschaffen nur allein schon der produktivsten arabischen Länder – vornehmlich Marokko, Algerien, Tunesien, Palästina, Libanon, Syrien, Jordanien und Irak – im Blick zu behalten, fallen in jüngeren Werken doch einige Trends auf. Mutig werden queere Themen angesprochen, etwa in Upon the Shadow von Nada Mezni Hafaiedh (Tunesien 2017; im aktuellen Festival zu sehen), in Anthony Chidiacs Room for a Man (2017) oder in Mohamed Sabbahs Chronic (2017), beides Werke aus dem Libanon, dessen Filmschaffende gegenwärtig international für Aufsehen sorgen. Einer davon ist Vatche Boulghourjian, dessen erster Spielfilm Tramontane (2017) auch am Arab Film Festival Zurich zu sehen ist. Er arbeitet darin den libanesischen Bürgerkrieg auf; obwohl seit 1990 zu Ende, bleibt dieser im aktuellen libanesischen Filmschaffen überaus präsent. Die Schrecken des Kriegs prägen auch das Kino des Irak, des zweiten Fokuslandes des Festivals, der mit starken Filmen vertreten ist. 2003 schreckte der Schnappschuss eines halb verbrannten Zelluloidstreifens zu Füssen eines Journalisten die Filmwelt auf. Das Bild entstand nach der Bombardierung der Baghdad Cinema Studios, wo sich auch das nationale Filmarchiv befand. Nur acht Streifen stark beschädigten Zelluloids waren von einem der grössten Bestände der arabischen Welt übrig geblieben. Das Ereignis zog mehrere künstlerische und restauratorische Projekte nach sich. Verschiedene Filmschaffende, die während des Krieges emigrieren mussten, besuchten im Ausland Filmschulen und sind inzwischen in den Irak zurückgekehrt. Dazu zählen Regisseure wie Yahya Al-Allaq (War Canister, 2013) oder auch Raad Mushatat


07 (The Silence of the Shepherd, 2014; Arab Film Festival 2016). Mit dem Versuch, erneut eine unabhängige Filmindustrie aufzubauen, trotzen sie dem ­Verlust. Einer der Furchtlosen ist Mohamed Al Daradji, dessen neuestes Werk The Journey am 17. November zu sehen ist. Im März dieses Jahres wurde es im Irak uraufgeführt und ist damit der erste irakische Film seit 27 Jahren, der seine Premiere im Heimatland feiern konnte. Und auch das scheint ein Trend im aktuellen arabischen Kino zu sein: Es gibt wieder Hoffnung. Evelyn Echle Evelyn Echle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissenschaft der Uni Zürich und Vorstandsmitglied des Vereins IAFFZ, International Arab Film Festival ­Zurich. Eine längere Fassung des Einführungstextes finden Sie unter www.filmpodium.ch.; dort finden Sie auch aktuelle Angaben zur Anwesenheit der Filmschaffenden.

PODIUMSDISKUSSIONEN ZUM ARABISCHEN FILMSCHAFFEN FILMLAND IRAK

SA, 17. NOV. 19.00 UHR

Nach der Vorführung von The Journey diskutieren der Schauspieler Sami Kaftan (Titelrolle in Zaman: The Man from The Reeds), der Präsident des Alexandria Film Festival, Alamir Abaza, und Aida Schläpfer Al Hassani, Präsidentin IAFFZ und irakisch-schweizerische ­Filmemacherin, über die Situation des Filmschaffens im heutigen Irak. FILMLAND ÄGYPTEN

SO, 18. NOV. 19.00 UHR

Über das ägyptische Kino diskutieren die Filmschaffenden Ahmed Amer (Kiss Me Not), Mahmoud Kamel (Out of Order), Mohamed Siam (Amal) und Mervat Omar (Künstlerische Leitung, Alexandria Film Festival). Die Gesprächsleitung übernimmt Evelyn Echle, IAFFZ; Sprachen: Arabisch und Deutsch (Dolmetscherin: Ola Adel). Dauer jeweils ca. 1 h. Das 4th Arab Film Festival wird unterstützt von:

CASSINELLI-VOGEL-STIFTUNG

Embassy of Egypt in Bern, Switzerland

Ministry of Culture of Egypt

Iraqi Embassy in Bern, Switzerland

Botschaft von Tunesien in Bern


> Sweat Rain.

> Those Who Remain.

> Mustafa Z.

> Burning Hope.

> Kiss Me Not.

> Les bienheureux.


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4th Arab Film Festival Zurich

BAGHDAD PHOTOGRAPHER Irak 2017 Die Entwicklung einer Bagdader Familie, festgehalten von einem Fotografen.

AL SHEIKH NOEL Irak 2017 In einem irakischen Gebiet, das unlängst aus den Händen des Islamischen Staats befreit wurde, versucht ein muslimischer Scheich, seinen Enkel und die Bewohner eines Vertriebenenlagers in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Das wird nicht nur gern gesehen.

ZAMAN: THE MAN FROM THE REEDS (Zaman: Rajul Al Qasab) Frankreich/Irak 2003 Zaman lebt mit seiner Frau Najma und dem gemeinsamen Adoptivsohn zu Beginn der Nullerjahre im Sumpfgebiet des südlichen Irak. Als Najma erkrankt, muss der Marsch-Araber seine ländliche Heimat verlassen und in die Grossstadt Bagdad ­reisen, um Medizin für seine Frau zu suchen. Amer Alwan drehte Zaman: The Man from the Reeds 2003 als ersten irakischen Film seit 15 Jahren, und zwar auf Video, weil das Saddam-Regime den Import von Filmmaterial verboten hatte. Sein Werk wurde mehrfach preisgekrönt. BAGHDAD PHOTOGRAPHER 3 Min / Farbe / DCP / ohne Dialog // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Mejd Hameed // KAMERA Bayan Nabeel // MUSIK Zaydon Hussen // MIT Alla Najim, Ayad Altaye, Labwa Salih.

AL SHEIKH NOEL 21 Min / Farbe / DCP / Arab/e // REGIE Saad Ali Abdul Hussein // DREHBUCH Walaa Almanaa // KAMERA Mohamed Jawad // MUSIK Alexandre Desplat // SCHNITT Mustafa Mushan // MIT Saheb Shaker, Abdull Al Greeb, Raed Al Gaburi.

ZAMAN: THE MAN FROM THE REEDS 77 Min / Farbe + sw / Digital SD / Arab/e // REGIE Amer ­Alwan // DREHBUCH Joëlle Alauzet, Amer Alwan // KAMERA

Kind erwürgt. Er sucht die Frau, Hoda, auf, um sie mit dem Video zu erpressen. Hoda, ihrerseits drogensüchtig, reagiert aber gar nicht so, wie Saeed sich das vorgestellt hat. Zwischen den beiden entspinnt sich eine mehr als sonderbare Beziehung. Mahmoud Kamel hat seine kuriose Fabel über zwei Randständige in Kairo während der kurzen Zeit des Regimes der Muslimbrüder angesiedelt. Sein höchst eigenwilliger, moderner und urbaner Film wurde am Cairo Filmfestival 2016 ausgezeichnet. 99 Min / Farbe / DCP / Arab/e // REGIE Mahmoud Kamel // DREHBUCH Omar Sami // KAMERA Arturo Smith // MUSIK ­Tamer Karawan // SCHNITT Heba Othman // MIT Ahmed Fishawy (Saeed), Sherin Reda (Hoda), Mohamed Farok ­ (Mamdouh), Ahmed Thabet (Jawa).

INTO REVERSE Ägypten 2017 Verkehrsstau in einer ägyptischen Stadt. Zahlreiche Männer wollen eine Frau zwingen, rückwärts zu fahren, aber diese weiss sich im Recht. Witzige Kurzparabel über Geschlechterrollen und männliches Machtgebaren.

A DAY FOR WOMEN (Yom lel-sittat) Ägypten 2016 In einem ärmlichen Viertel von Kairo wird ein Schwimmbad eröffnet, und der Sonntag ist den Frauen vorbehalten. Während sich die Frauen mehrheitlich darüber freuen (auch wenn nicht alle schwimmen können oder ohne Weiteres ihren Schleier ablegen wollen), reagiert die Männerwelt teils mit Ablehnung auf dieses weibliche Privileg, teils mit lüsternen Plänen. Die sehr unterschiedlichen Frauen, die sich nicht alle vertragen, entwickeln beim sonntäglichen Badespass mehr Verständnis füreinander und solidarisieren sich. Die Filmemacherin Kamla Abu-Zekri entwirft ein schönes, frauenzentriertes Sittengemälde vom Ende der Mubarak-Zeit, das die Geschlechterkonflikte thematisiert und den aufkommenden religiösen Fanatismus antippt. Preisgekrönt.

­Tomasz Cichawa // MUSIK François Rabbath // SCHNITT ­Roger Ikhlef // MIT Sami Kaftan (Zaman), Shada ­ Salim

INTO REVERSE

(Najma), Hussein Imad (Yasin), Saadiya Al Zaydi.

14 Min / Farbe / DCP / Arab/f // DREHBUCH UND REGIE Noha Adel // KAMERA Raouf Tadrous // SCHNITT ­Micheal Youssef

OUT OF ORDER (Khareg el khedma) Ägypten/VAE 2015 Saeed ist ein drogensüchtiger Kleinganove. Als er einen geklauten Daten-Stick zu Geld machen will, entdeckt er darauf ein schockierendes Video, das zeigt, wie eine Frau aus der Nachbarschaft ein

// MIT Ahmed Essam (Hamdy), Mona El ­Namoury (Hanan), Hanin Hanafi (Amira).

A DAY FOR WOMEN 123 Min / Farbe / DCP / Arab/d // REGIE Kamla Abu-Zekri // DREHBUCH Hanaa Attia // KAMERA Nancy Abdel Fattah // MIT Naheh El Sebai (Azza), Nelly Karim (Lula), Ilham Shaheen (Shamiya), Ahmad El Fishawi (Ali), Mahmoud Hemida (Ahmed).


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4th Arab Film Festival Zurich

BURNING HOPE (Ghodwa hay) Tunesien 2016 Nach dem Arabischen Frühling in Tunesien kreuzen sich die Schicksale zweier junger Frauen und eines Teenagers, die zwischen Hoffnung und Enttäuschung schwanken. Politisches und Privates wird auf zwei Zeitebenen – 2011 und 2014 – erzählt, deren Zusammenspiel sich erst allmählich erschliesst. Burning Hope ist kein Dokumentarfilm über die Revolution, sondern ein Spielfilm, in dem es vor allem um das Abenteuer von Zeineb, Elyssa und Houssine geht, drei jungen Leuten, die im Grunde nichts verbindet und die sich unter anderen Umständen nie begegnet wären. In einer Situation, in der es kein Zurück mehr gibt, sind die Protagonisten gezwungen, alles, was sie über sich selbst und über ihr Land zu wissen glaubten, vollständig zu überdenken. 85 Min / Farbe / DCP / Arab/d // REGIE Lotfi Achour // DREHBUCH Natacha de Pontcharra, Lotfi Achour, Anissa Daoud // KAMERA Frédéric de Pontcharra // MUSIK Anouar Brahem, Pony Hoax, Eric Truffaz // SCHNITT Jean-Marie Lengellet // MIT Anissa Daoud (Zeineb), Doria Achour (Elyssa), Achraf Ben Youssef (Houssine), Issa Harrath (Brahim Mahjoub), Latifa Gafsi (Sassia), Ghazi Zaghbani (Zied Mahjoub).

AYA Tunesien/Frankreich/Katar 2017 Die kleine Aya wird von ihrem salafistischen Vater in den Koranunterricht geschickt, aber sie lässt lieber mit dem Nachbarsjungen Drachen fliegen. Als sich Aya eines Tages voll verschleiert, um Gott kennenzulernen, hat das Folgen. Preisgekrönte Parabel über Religion und Selbst­bestimmung.

BEZNESS AS USUAL Niederlande/Deutschland/Schweden/ Schweiz/Tunesien 2016 Alex Pitstra wächst in den Niederlanden bei seiner Mutter Anneke auf. Zeitlebens eine Leerstelle bleibt aber sein Vater Mohsen, der in Tunesien lebt. Als Erwachsener bricht Pitstra auf, um Mohsen kennenzulernen. Über mehrere Jahre dreht er ein Doppelporträt von Mohsen, der in den 70erJahren als Gigolo für europäische Urlauberinnen tätig war, ohne sich um die leiblichen Folgen seines Treibens zu kümmern, der aber inzwischen sein Playboy-Dasein abgeschlossen hat und in Tunesien ein konservativ-religiöses Leben führt.

Ein wahres Familiendrama, das viel über die Beziehungen zwischen Europa und Nordafrika aussagt und über die Faktoren, die interkulturelle Familienbande bestimmen. AYA 24 Min / Farbe / DCP / Arab/e // REGIE Moufida Fedhila // DREHBUCH Moufida Fedhila, Mahdi Hmili // KAMERA Frida Marzouk // SCHNITT Sofiene Ben Slimene // MIT May Berhouma (Aya), Afef Ben Mahmoud (Myriam), Ghanem Zrelli (Youssef).

BEZNESS AS USUAL 93 Min / Farbe / DCP / E+Niederl+Arab+D/d // REGIE Alex Pitstra // DREHBUCH Alex Pitstra, Katja Schoondergang // KAMERA Tadeusz Kieniewicz, Alex Pitstra, Rosan Breman // MUSIK Renger Koning // SCHNITT Jos Driessen.

LETTERS FROM BAGHDAD GB/USA/Frankreich 2016 Gertrude Lowthian Bell (1868–1926), eine Tochter aus grossbürgerlichem Hause, brillierte an der Universität Oxford in Geschichte und wurde eine Bergsteigerin von Weltrang. Bell begeisterte sich für die arabische Kultur und reiste auf eigene Faust durch den Nahen und Mittleren Osten, Gebiete, die damals noch Teil des Osmanischen Reiches waren. Sie lernte viele Stammesfürsten kennen und unterstützte sie in ihrem Streben nach Unabhängigkeit von den Türken. Sie trug entscheidend zur Gründung des Irak bei, begriff aber bald, dass diesem ethnisch und religiös uneinheitlichen Land keine gute Zukunft beschieden war. Die Schweizer Filmemacherin Sabine Krayenbühl und ihre amerikanische Kollegin Zeva Oelbaum erwecken Gertrude Bell durch ihre umfangreiche Korrespondenz, die von Tilda Swinton gelesen wird, zum Leben und illustrieren ihre Vita mit seltenem dokumentarischem Filmmaterial. 95 Min / Farbe + sw / DCP / Arab + E/d // REGIE Sabine ­Krayenbühl, Zeva Oelbaum // DREHBUCH Sabine Krayenbühl, Zeva Oelbaum, nach den Briefen von Gertrude Bell // KAMERA Gary Clarke, Petr Hlinomaz // MUSIK Paul Cantelon // SCHNITT ­Sabine Krayenbühl // MIT Tilda Swinton (Stimme von Gertrude Bell), Michael Higgs (General Clayton), Eric Loscheider (T. E. Lawrence), Rachael Stirling (Vita Sackville-West). Am Di., 20.11.18, 18.15 Uhr, ist die Regisseurin Sabine ­Krayenbühl anwesend. Mit freundlicher Unterstützung von


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4th Arab Film Festival Zurich

TRIPOLI: ROAD TO RECONCILIATION – PART 1 (Tarablos: Al-tarik ila al-mousalaha) Libanon 2017 2017, drei Jahre nach dem Ende des Libanonkriegs, ist Tripoli nach wie vor verwüstet, viele ­Leben sind zerstört. Die Abwesenheit von Krieg reicht allein nicht aus, um ein Leben im Frieden zu ermöglichen.

THOSE WHO REMAIN (Mayyel ya ghzayyel) Libanon/VAE 2016 Unweit der Grenze zu Syrien lebt der Christ Haykal Mikhael. Er baut ein grosses Haus, das seine Familie und ein Restaurant beherbergen soll. Inmitten von kleinen Gemeinden von Sunniten und Christen, die früher zusammenhielten, nun aber isoliert bis verfeindet nebeneinander leben, trotzt Haykal allerlei Widrigkeiten, die nicht nur vom syrischen Bürgerkrieg herrühren. Eliane Rahebs Dokumentarfilm illustriert das Prinzip Hoffnung, das selbst auf kargem Boden immer noch gedeiht. TRIPOLI: ROAD TO RECONCILIATION – PART 1 9 Min / Farbe / Digital HD / Arab/e // REGIE Elias Khlat // DREHBUCH Bilal Al-Ayoubi, Elias Khlat // KAMERA Ahmad Al-Kassar // MUSIK Daniel Leblanc // SCHNITT Marco Torni.

THOSE WHO REMAIN 95 Min / Farbe / DCP / Arab/e // REGIE UND SCHNITT Eliane Raheb // DREHBUCH Haykal Mikhael // KAMERA Jocelyne Abi Gebrayel.

CARGO Libanon/Frankreich/Zypern 2017 Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg stranden ein Junge und sein Grossvater im Bekaa-Tal. Eine Schauspielerin nimmt die beiden im Auto mit nach Beirut, doch damit ist ihre Odyssee nicht zu Ende.

TRAMONTANE (Rabih) Libanon/Frankreich/Katar/VAE 2017 Rabih Malek, ein junger Blinder, lebt bei seiner verwitweten Mutter Samar in einem libanesischen Dorf und schlägt sich durch. Er singt und musiziert in einem Chor und vergöttert seinen Onkel Hisham. Als er sich um einen Pass bewirbt, weil der Chor nach Europa eingeladen ist, erfährt er, dass seine ID gefälscht ist. In den Akten der Gemeinde ist er auch nicht vermerkt. Rabih beginnt nachzuforschen, trotz des Widerstands seiner Mutter und des Schweigens seines Onkels.

Seine Ermittlungen führen ihn quer durch den Libanon und in die kriegerische, trügerische Vergangenheit des Landes. Rabihs Suche nach seiner wahren Identität spiegelt die problematische Selbstfindung seines Landes. Boulghourjians bewegender Film hat in Cannes und Dubai mehrere Preise errungen. CARGO 20 Min / Farbe / DCP / Arab/e // REGIE Karim Rahbani // DREHBUCH Ghady Rahbani, Karim Rahbani // KAMERA ­Rachelle Noja // MUSIK Omar Rahbani // SCHNITT Sébastien Leclercq // MIT Abed el Hady Assaf (Abboudi), Saad el Din Moukhalalati (Grossvater), Cynthia Kalifeh (Schauspielerin).

TRAMONTANE 105 Min / Farbe / DCP / Arab/e // DREHBUCH UND REGIE ­Vatche Boulghourjian // KAMERA Jimmy Lee Phelan // ­MUSIK Cynthia Zaven // SCHNITT Nadia Ben Rachid // MIT Barakat Jabbour (Rabih Malek), Julia Kassar (Samar Ralek), Toufic Barakat (Hisham Malek).

NOCTURNE IN BLACK Libanon 2016 Ein junger Musiker im Mittleren Osten, dessen verwüstete Stadt von islamistischen Terroristen besetzt ist, versucht sein Klavier zu reparieren, das von den Fanatikern beschädigt wurde.

A MAN AND THREE DAYS Syrien 2017 Majd, ein bekannter Theatermann in Damaskus, erfährt, dass sein Cousin und Jugendfreund Bayram im Krieg gestorben ist. Nun soll er den Toten heim nach Idlib bringen. Die Armee gibt Majd die Leiche heraus und teilt ihm einen übereifrigen Offizier als Fahrer zu. Da die Strasse nach Idlib gefährlich ist, behält Majd den Sarg vorläufig bei sich, was für allerhand Verwicklungen sorgt ... Mit surrealistischen Elementen versucht Joud Said der absurden und unmenschlichen Situation des syrischen Bürgerkriegs beizukommen. NOCTURNE IN BLACK 23 Min / Farbe / DCP / Arab/e // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Jimmy Keyrouz // KAMERA Ziad Chahoud // MUSIK Jeanne Gourlet // MIT Karim Zein (Ziad), Julian Farhat (Anführer), ­Tarek Yaacoub (Karim).

A MAN AND THREE DAYS 88 Min / Farbe / DCP / Arab/e // REGIE Joud Said // DREHBUCH Joud Said, Samah Al Kattal, Anna Akkash // KAMERA Wael Ezz Al Deen // MUSIK Sameer Kuwaifati // SCHNITT Rauf Zaza // MIT Muhammad Alahmad (Majd), Ruba Alhalabi (Nour), Karam Alshaarani (Mahmoud), Lama Alhakim (Schauspielerin), Abdulmenem Amayri (Obdachloser).


> 17.

> Until the End of Time.

> The Journey.

> Vent du nord.

> A Day for Women.


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4th Arab Film Festival Zurich

AMAL

LES BIENHEUREUX

Ägypten/Libanon/Deutschland 2017

Algerien/Belgien/Frankreich 2017

2011 demonstrierte Amal, die Tochter eines früh verstorbenen ägyptischen Polizisten, mit 14 Jahren auf dem Tahrir-Platz gegen das Mubarak-­ Regime. 2012 begann Mohamed Siam, die Halbwüchsige zu porträtieren, und er begleitete sie durch Jahre der politischen Wirren und wirtschaftlichen Nöte. Engagement und Liebe prägen das Leben der Heranwachsenden, die den wechselnden Verhältnissen in ihrem Land nach dem Arabischen Frühling mit viel Willenskraft und ­Eigensinn begegnet. Amal ist eine Langzeitstudie, die zugleich als Porträt einer Jugendlichen und als Darstellung eines gebeutelten Landes überzeugt und bewegt.

Algier, 2008. Die Wunden des algerischen Bürgerkriegs, der 2002 zu Ende ging, sind noch nicht verheilt. Samir und seine Frau Amal wollen ihren Hochzeitstags feiern, aber Begegnungen mit alten Freunden und Konfrontationen mit einer zunehmend sittenstrengen Gesellschaft trüben die Feststimmung. Ihr Sohn wiederum möchte mit seinen Freunden Spass haben, doch der gleichaltrige Reda hat begonnen, sich zu radikalisieren. Sofia Djamas Erstling zeichnet das Porträt aufgeschlossener und toleranter Algerierinnen und Algerier, die sich schwertun in einem Lande, das sich nicht von den Traumata der Vergangenheit zu befreien vermag. Les bienheureux wurde u. a. 2017 in Venedig mehrfach preisgekrönt.

83 Min / Farbe / DCP / Arab/d // DREHBUCH UND REGIE ­Mohamed Siam // KAMERA Lotta Kilian, Mohamed Siam // MU-

102 Min / Farbe / DCP / F+Arab/e // DREHBUCH UND REGIE

SIK Matthieu Deniau // SCHNITT Véronique Lagoarde-Ségot.

Sofia Djama // KAMERA Pierre Aïm // SCHNITT Sophie Brunet // MIT Sami Bouajila (Samir), Nadia Kaci (Amal), Lyna Khoudri (Feriel), Salima Abada (Souad), Adam Bessa (Reda).

AS MY FATHER WAS

BONBONÉ

Irak 2018

Palästina/Libanon 2017

Der junge Kurde Ali, ein Fussball-Fan, ist mit seiner Familie aus dem Exil in den Irak heimgekehrt und möchte lesen und schreiben lernen. Sein Vater, wie Ali ein Analphabet, versteht nicht, wieso keine Schule ihn aufnehmen will.

Ein palästinensischer Häftling und seine Frau hecken einen Plan aus, wie sie trotz Kontaktverbot zu einem Kind kommen können.

17

Tunesien 2017

Jordanien 2017 Die jordanische U-17-Frauenfussball-Nationalmannschaft qualifiziert sich 2016 erstmals für die WM. Die Teammitglieder stammen aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen, vom wohlhabenden Hause bis zum SOS-Kinderdorf. Der schottische Trainer Johnson versucht die Mädchen zu einem Team zusammenzuschweissen. Die spanisch-jordanische Regisseurin und Aktivistin Widad Shafakoj zeigt junge Frauen, die dem Klischee über Araberinnen gar nicht entsprechen wollen. AS MY FATHER WAS 14 Min / Farbe / DCP / Arab/e // DREHBUCH, REGIE, KAMERA Muslim Habib // MUSIK Rekan Azadi // SCHNITT Ali Khalid.

17 73 Min / Farbe / DCP / Arab+E/d // DREHBUCH UND REGIE Widad Shafakoj // KAMERA Ali El-Saadi // SCHNITT Yahya ­Abdallah.

MUSTAFA Z Tunesien, kurz vor den ersten freien Präsidentschaftswahlen. Mustafa hat einen schlechten Tag: Er verkracht sich mit seiner Frau, verliert die Achtung seines Sohnes und wird beim Radiosender nach 18 Jahren geschasst. Ausserdem verliert er einen Zahn. Als dann auch noch sein Wagen abgeschleppt werden soll, setzt er sich hinein, lässt sich mitnehmen und übernachtet im Autohof der Polizei. Im Internet erntet ein Video von ihm, wie er in sein Auto am Abschleppwagen einsteigt, viele Kommentare. Mustafa postet einen persönlichen Protest gegen den Staat, der an seiner Situation schuldig sei; er will deshalb auch nicht wählen gehen. Damit wird er unversehens zum Volkshelden. Mustafa Z ist eine unterhaltsame Satire über Geschlechterrollen und Politik im heutigen Tunesien. BONBONÉ 15 Min / Farbe / DCP / Arab+Hebr/e // DREHBUCH UND REGIE Rakan Mayasi // KAMERA Koussay Hamzeh // MUSIK OAK // SCHNITT Parine Jaddo, Simon El Habr // MIT Saleh Bakri (Mann), Rana Alamuddin (Frau).


> Tramontane.

> A Man and Three Days.

> Out of Order.


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4th Arab Film Festival Zurich MUSTAFA Z 82 Min / Farbe / DCP / Arab/d // REGIE Nidhal Chatta // DREHBUCH Sophie Haouas // KAMERA Mohamed Maghraoui // MUSIK Ayed Ghanem // MIT Abdelmonem Chouayet (Mustafa), Fatma Nasser (Farah), Ferid Memmich (Minister), Narjess Ben Ammar (Polizistin), Sabri Khiari (Malek).

SWEAT RAIN (Pluie de sueur) Marokko 2017 M’Barek besitzt einen Flecken vertrocknetes Land seiner Vorväter und hat zudem Schulden bei der Bank. Verzweifelt gräbt er einen Brunnen, denn neben ihm sind seine schwangere Frau Aida, sein alter Vater und der erwachsene Sohn Ayoub mit Down-Syndrom abhängig von Heim und Ernte. Aber die Dürreperiode will nicht enden und der Familie droht der baldige Verlust ihrer Habe. In der poetischen Landschaft Marokkos trifft M’Barek eine schwerwiegende Entscheidung und macht sich auf in die nächste Stadt. In seiner Abwesenheit tritt nun Ayoub an seine Stelle. Der mehrfach ausgezeichnete, bildstark erzählte Film von Hakim Belabbes beeindruckt durch seine Schlichtheit, seine genaue Figurenzeichnung und herausragende Darsteller. Neben dem für Marokko zentralen Thema der Erde steht auch die Würde des Menschen im Mittelpunkt. 127 Min / Farbe / DCP / Arab/e // DREHBUCH UND REGIE ­Hakim Belabbes KAMERA Amine Messadi // SCHNITT Hakim Belabbes, Agnes Starczewski // MIT Amine Ennaji (M’Barek), Fatima Zahra Banacer (Aida), Ayoub Khalfaoui (Ayoub), ­Mohamed Najah Zahraoui (Grossvater).

LANGUAGE (Loga) Irak/Katar/VAE 2016 Hakam der Blinde verwandelt Nähmaschinen in Drucker für Blindenschrift. Als Bewohner von Bagdad erfindet er bald eine Methode, um mit seiner kriegsgebeutelten Stadt zu kommunizieren.

THE JOURNEY Irak/Kanada/GB/Frankreich/Katar 2017 Bagdad, 30. Dezember 2006, der erste Tag von Eid ul-Adha, dem islamischen Opferfest. Sara, eine unauffällige junge Frau, betritt den Hauptbahnhof in der Absicht, einen Terroranschlag zu verüben. Ihre Pläne ändern sich aber durch ihre Zufallsbegegnung mit dem selbstsicheren und charmanten Salam. Dieser findet sich bald als Geisel in der Gewalt von Sara, die den neu eröffneten Bahnhof in die Luft jagen will. Von der unfassbaren Situation völlig überfordert, versucht Salam, Sara den Anschlag auszureden.

Der irakische Regisseur Mohamed Al Daradji ­erkundet die menschlichen Hintergründe unbegreiflicher terroristischer Gewalthandlungen. Seine Wahl einer weiblichen Hauptfigur gründet auf dem wahren Fall einer jugendlichen Selbstmord-Attentäterin. LANGUAGE 10 Min / Farbe / DCP / Arab/e // DREHBUCH, REGIE, KAMERA, SCHNITT Mortada Gzar.

THE JOURNEY 82 Min / Farbe / DCP / Arab+E/e // REGIE Mohamed Al ­Daradji // DREHBUCH Mohamed Al Daradji, Isabelle Stead // KAMERA Saef Alden, Duraid Munajim // MUSIK Fabien Kourtzer, Mike Kourtzer // SCHNITT Mohamed Al Daradji, Pascale ­Chavance // MIT Zahraa Ghandour (Sara), Ameer Jabarah (Salam), Bennet De Brabandere (Hewiston).

UPON THE SHADOW Tunesien 2017 Die Tunesierin Amina Sboui, die als lesbische Femen-Aktivistin Amina Tyler von sich reden gemacht hat, hat diese Bewegung verlassen, weil sie gemerkt hat, dass sie nicht wegen Femen toleranter geworden ist, sondern – ausgerechnet – aufgrund der Haftstrafe, die sie als Folge ihrer Demonstrationen verbüssen musste. Nun lebt sie in einer WG mit Schwulen und Transvestiten, die von ihren Familien verstossen worden sind. Homosexualität ist in Tunesien noch ein Verbrechen; die Selbstmordrate unter LGBT-Menschen ist viermal höher als der Durchschnitt. Entsprechend dramatisch sind die Geschichten, die die WG-Genoss*innen im Dokumentarfilm Upon the Shadow zu erzählen haben. 83 Min / Farbe / DCP / Arab/d // DREHBUCH UND REGIE Nada Mezni Hafaiedh // KAMERA Ikbal Arafa // MUSIK Yacine Azaiez // SCHNITT Tidal Zran, Noura Nafzi.

DEPTH WISH (Hawass el omq) Ägypten 2007 Einer Künstlerin wird von einem blasierten Rezensenten beschieden, es mangele ihr an Tiefe. Von dieser Kritik traumatisiert, entschliesst sich die Künstlerin zu einem radikalen Schritt. Nach einer Geschichte von Patrick Süskind.

KISS ME NOT (Balash tebosni) Ägypten 2017 Der junge Regisseur Tamer dreht eine Beziehungsgeschichte, und als es zu einer entscheidenden Szene kommt, weigert sich die Hauptdar-


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4th Arab Film Festival Zurich stellerin Fagr plötzlich, drehbuchgemäss ihren Filmpartner zu küssen. Das verursacht Probleme für die Dreharbeiten, die mit einem Making-of dokumentiert werden, hat aber auch Folgen für das Privatleben der Betroffenen. Ahmed Amer wagt mit Kiss Me Not eine satirische Auseinandersetzung mit dem Sittenwandel in Ägypten. Sein Mockumentary enthält viele Szenen des klassischen ägyptischen Kinos, das weit freizügiger war, als es im heutigen religiösen Klima möglich ist. DEPTH WISH 15 Min / Farbe / 35 mm / Arab/e // REGIE Osama El Abd // DREHBUCH Osama El Abd, nach der Kurzgeschichte «Der Zwang zur Tiefe» von Patrick Süskind // KAMERA Hussein Assar // SCHNITT Mohamed El Sharqawy // MIT Yosra El Lozy (Künstlerin), Tarek Mandour (Kritiker).

KISS ME NOT 85 Min / Farbe / DCP / Arab /e // DREHBUCH UND REGIE ­Ahmed Amer // KAMERA Houssam Shahine // MUSIK Omar Fadel // SCHNITT Emad Maher // MIT Yasmin Raeis (Fagr), Mohamed Mahran (Tamer), Salwa Mohamed Ali (Afaf),

VENT DU NORD Frankreich/Tunesien/Belgien 2018 Hervé arbeitet seit Jahrzehnten in einer nordfranzösischen Schuhfabrik. Als die Fabrik nach Tunesien verlegt wird, verliert Hervé seine Stelle, kauft aber mit der Abfindung ein Boot, um seiner Leidenschaft, dem Angeln, nachzugehen und damit Geld zu verdienen. Doch dann wird Hervé mit gesetzlichen Hürden konfrontiert. Gleichzeitig tritt in Tunesien der junge Foued in der Schuhfabrik Hervés ehemalige Stelle an. Als Foued erkennt, dass er mit dem Verdienst in der Fabrik seine kranke Mutter und sich selbst kaum durchbringen kann und seine Freundin Karima offenbar fremdgeht, gibt er seinem Leben eine Wendung. Walid Mattar gelingt in Vent du nord eine geschickte und elegante Verflechtung von Schick­ salen an beiden Enden wirtschaftlicher und de­ mografischer Bewegungen zwischen Europa und Nordafrika. Als Hervés Sohn Vincent ist der Schweizer Jungstar Kacey Mottet Klein mit von der Partie.

­Sawsan Badr (Susu), Mohamed Khan (er selbst). 89 Min / Farbe / DCP / F+Arab/e // REGIE Walid Mattar // DREHBUCH Leyla Bouzid, Claude Le Pape, Walid Mattar //

UNTIL THE END OF TIME (Ila akhir ezzaman) Algerien 2018 In Sidi Boulekbour, einem grossen, nach seinem Stifter benannten Friedhof bei einem abgelegenen algerischen Dorf, pilgern zahlreiche Hinterbliebene an die Gräber ihrer Lieben. Ali, der 70-jährige Totengräber, begegnet Joher, einer 60-jährigen Frau, die das Grab ihrer Schwester El Alia besucht. Sie bereitet sich auf ihren offenbar nahen Tod vor und will Alis Hilfe bei der Vorbereitung der Riten. Gleichzeitig jedoch lebt sich die verwitwete Joher im Haus ihrer Schwester ein und schlüpft allmählich in die Rolle von El Alia, die sie und ihre Familie zu Unrecht verstossen hatten. Ali hofft, mit der Hinwendung zum Leben werde Joher auch ihren Gefühlen für ihn nachgeben. Aber so einfach geht die Sache nicht. Yasmine Chouikhs preisgekröntes Regiedebüt ist eine bestechende Mischung aus besinnlichem Emanzipationsdrama, Liebeskomödie und politischer Allegorie mit eigenwilligen Figuren und skurrilen Einfällen. 94 Min / Farbe / DCP / Arab/d // DREHBUCH UND REGIE

KAMERA Martin Rit // MIT Philippe Rebbot (Hervé Lepoutre), Mohamed Amine Hamzaoui (Foued Benslimane), Kacey ­Mottet Klein (Vincent Lepoutre).

NEUE ARABISCHE KURZFILME Das arabische Kurzfilmschaffen setzt sich mit der oft unliebsamen Realität auseinander und zeichnet sich dabei durch pointierten Witz und metaphorische Kraft aus.

MOHAMED, LE PRÉNOM Frankreich/Marokko 2016

CRACK Libanon 2017

THE PARROT Jordanien/Deutschland 2016

THE PRESIDENT’S VISIT Libanon/Katar/USA 2017

THE OAK TREE Libanon/GB 2017

­Yasmine Chouikh // KAMERA Touzene Semchediine // SCHNITT Yamina Bachir // MIT Djillali Boudjemaa (Ali), ­Djamila Aress (Joher), Mohamed Benbakreti (Imam), Imen

Gesamtdauer: 91 Min.

Noel (Nassima), Mehdi Moulay (Nabil), Mohamed Takkerat

Inhaltsangaben und Details: www.filmpodium.ch

(Jelloul).

Kurztexte: Michel Bodmer


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René Clair zum 120. Geburtstag «Auch ohne Ihren Namen im Vorspann hätte ich Ihren Stil in zwei Mi­nuten erkannt.» Das sagte Charles Chaplin 1942 zu René Clair nach der Premiere von dessen Komödie I Married a Witch. Tatsächlich hat Clair (1898–1981) als Autorenfilmer schon zur Stummfilmzeit eine Handschrift entwickelt, die auch seine Spätwerke kennzeichnet: eine Poesie und Leichtigkeit, oft mit pointiertem Witz kombiniert, und die souveräne Beherrschung der Ausdrucksmöglichkeiten von Bild und Ton, die gerne gegeneinander ausgespielt werden. Am Prozess, den seine Produzenten gegen Charles Chaplin anstrengen wollten, mochte René Clair sich nicht beteiligen. Dieser hatte sich für Modern Times von seiner Satire À nous la liberté inspirieren lassen, hatte gar schlankweg die tragikomische Fliessbandszene daraus übernommen. Aber Clair fühlte sich nicht bestohlen, sondern geehrt: Chaplin habe ihn so sehr beeinflusst, da sei er stolz und glücklich, nun auch seinerseits dessen Fantasie beflügelt zu haben. Diese Geste verrät nicht nur grosse Noblesse, sondern auch Clairs tiefe Verbundenheit mit dem frühen Kino von Chaplin, Griffith, Méliès oder Feuillade. Es ist für ihn eine Wunderkammer erzählerischer Vorstellungskraft, ein Versprechen auf die rasanten Fortschritte, welche die Filmsprache machen wird. In Le silence est d’or erweist er den Anfangsgründen des Kinos seine Reverenz, jenem «Heldenzeitalter des französischen Films» (Clair), als die vergnügungssüchtige Belle Époque eine neue Attraktion entdeckt, die anfangs noch ein Jahrmarktvergnügen ist, das in Zelten aufgeführt wird. Ein gelehriger Meister Clair selbst prägt das Stummfilmkino noch entscheidend mit. In den 1920erJahren ist er so jugendlich-ungestüm wie das neue Medium, dem er sich verschrieben hat. Er schöpft dessen visuellen Reichtum im Avantgarde-Stück Entr’acte und der luftig-surrealen Groteske Paris qui dort nicht nur aus, sondern erweitert ihn erfinderisch. Auch als Pionier des Tonfilms gelingt es ihm, die magische Aura des stummen Kinos zu bewahren. Mit Sous les toits de Paris geht er 1930 gleich aufs Ganze: Toneffekte und Dialoge genügen ihm nicht, auch Gesang und Musik sollen eine volkstümliche, selbstverständliche Präsenz als Bestandteile des urbanen Lebens erhalten. Quatorze juillet aber demonstriert zwei Jahre später, dass Clair die ­Geheimnisse des Stummfilms nicht vergessen hat. Die Pantomime des betrunkenen Lebemannes (eine veritable Chaplin-Figur), der sein Geld so freigebig verteilt wie seine Visitenkarten, die verhinderten Betrügereien zweier Taschendiebe, die tragisch sich verpassenden Blicke der Liebenden – sie alle



19 ­ emonstrieren, dass sich das Entscheidende ohne Dialoge inszenieren lässt. d Der nächtliche Überfall auf das Bistro ist ein Kabinettstück des visuellen Erzählens: Die heruntergelassenen Fensterläden verhindern, dass Clairs Held in der Kellnerin seine verlorene Geliebte erkennt. Dass im Verlauf eines Handgemenges das mechanische Klavier anspringt und den Besitzer alarmiert, ist wiederum eine treffliche Tonfilmidee. Es geht Clair um «reines» Kino, das zwar an die Traditionen der etablierten Künste anknüpft, sich aber zugleich stolz abgrenzt und als eigenständige Kunstform behauptet. Zu dieser «épuration» (Reinigung, Klärung) ­gehört, dass die Erzählelemente – wie im Märchen – auf eine vibrierende Einfachheit reduziert sind, die es Clair erlaubt, die Essenz einer Figur, eines Ortes, eines Milieus oder einer sozialen Klasse zu erfassen. Deshalb konnte sein Stil auch so leichtfüssig im englischen und amerikanischen Kino heimisch werden. Clair ist ein Avantgardist, der das grosse Publikum sucht. Zeitlebens wird er sich in Artikeln und Essays Rechenschaft ablegen über die Errungenschaften der eigenen Kunstform und deren Fortschritte neugierig begleiten. Er ist ein ästhetischer Wanderer zwischen den Zeiten, gerade so wie der träumende Gérard Philipe in Les belles de nuit: In seinen Filmen ist nicht nur die Vergangenheit stets gegenwärtig; sie spielen immerfort auch zu Utopie und Zukunft hinüber. Umso erstaunlicher ist es, dass er seit geraumer Zeit aus der Mode gekommen zu sein scheint. Bertrand Tavernier rechnet ihn in Voyage à travers le cinéma français (2016), einer ebenso persönlichen wie monumentalen Geschichtsschreibung, gar den grossen Vergessenen des Nachkriegskinos zu. 120 Jahre nach seiner Geburt reiht Clair sich dezent ein in den ehrwürdigen Kreis der berühmten Unbekannten des Kinos. Paris ist ein Dorf Geboren wird Clair am 11. November 1898 als René Chomette, Sohn eines Seifenhändlers im Pariser Viertel Les Halles. Mit sieben Jahren schreibt er erste Stücke fürs Puppentheater. Mit 16 steht für ihn fest, dass er Dichter werden will. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitet er zunächst als Journalist, bald auch als Filmkritiker und verfasst Chansontexte. Im Kino debütiert er als Darsteller bei Feuillade (ab 1921 als René Clair) und Jakow Protasanow, dreht dann erste eigene Filme mit Erik Satie, Man Ray und Marcel Duchamp. Sous les toits de Paris macht ihn weltberühmt. In Frankreich löst der Film ­übrigens anfangs kaum Begeisterung aus, in Berlin jedoch spielt er innerhalb eines Tages seine gesamten Produktionskosten ein.

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Legendärer «Pausenfüller»: Entr'acte (1924) > Clair in Höchstform: I Married a Witch (1942) Sehr freie «Faust»-Adaption: La beauté du diable (1950)


20 Der Kritiker Willy Haas rühmt Clairs Kino daraufhin als «die diskreteste Propaganda für Paris». Das gilt vor allem, aber nicht ausschliesslich, für die frühen Tonfilme, mit denen Clair das Terrain bereitet für den Poetischen Realismus Jacques Préverts, Marcel Carnés und Jean Renoirs. Er zeichnet ein rechtschaffen sentimentales Bild des volkstümlichen Paris, erschliesst dem Kino die Poesie der Strassen, der kleinen Handwerksbetriebe, Bistros und Geschäfte. Er ist einer der ersten französischen Regisseure, die ein persönliches, wiedererkennbares und beständiges Universum entwerfen. Es ist eine Welt, die so klein und überschaubar ist, dass auch der haarsträubendste Zufall noch plausibel erscheint. Den frühen Tonfilmen ist ein heiterer, zärtlicher und zuweilen burlesker Tonfall zu eigen, aber schon im Augenblick des Filmens scheint Clair die Vergänglichkeit dieser Idylle zu ahnen. Mit Quatorze juillet findet der Zyklus sein vorläufiges Ende; 1957 knüpft Clair mit Porte des Lilas noch einmal daran an, jetzt mit gebrochener, aufgeklärter Nostalgie. Da versucht er nachdrücklich, wieder zum Zeitgenossen seines Publikums zu werden, nachdem er es bis anhin in die Vergangenheit entführt hat, vorzugsweise in die prunkende Belle Époque von Le silence est d’or und Les grandes manœuvres. Nutzlos? Unverzichtbar! Obwohl er einen Dokumentarfilm über den Eiffelturm gedreht hat und beinahe den Neorealismus vorweggenommen hätte (wäre nicht der Zweite Weltkrieg dazwischengekommen), ist für Clair das Kino ein Medium der Fantasie, wo sich der Traum wundersam in den wachen Alltag fügt. Seine Filme, schreibt er einmal, seien so vollkommen nutzlos wie eine Nachtigall oder eine Blume. Ihr vornehmstes Mandat sind Eleganz, Ironie und Raffinement. So erfindet er Geister, die den Atlantik überqueren, heiratsfähige Hexen und Zeitungen, die heute schon berichten, was morgen passiert. Körperliche Arbeit spielt eine zentrale Rolle in seinem Werk; indes ermüdet sie niemanden. Wenn er von Traum und Realitätsflucht erzählt, tut er das in dem Wissen, dass sie kein endgültiger Ausweg sind. Die vorgebliche Naivität seines Kinos ist grundiert in intellektueller Schärfe; nicht von ungefähr wird er als erster Filmemacher in die Académie française gewählt. Sein Stil ist federleicht, aber er lässt Dramatik und Melancholie grosszügig Raum. Bei René Clair steht die Komik unter dem Vorbehalt der Lebensnähe. Das musste er nicht erst von Chaplin lernen. Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.


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René Clair

ENTR’ACTE

LA PROIE DU VENT

Frankreich 1924

Frankreich 1927

Der Künstler Francis Picabia bat René Clair, einen Pausenfüller für eine Aufführung des Ballet Suédois in Paris zu gestalten, und gab ihm eine Ideenskizze mit. Clair schuf daraus eine dadaistische, teils frenetisch montierte Bildcollage ohne Handlungsfaden, die das Publikum schockieren und amüsieren sollte. (mb)

Nach einer Notlandung bei einem osteuropäischen Schloss wird ein französischer Pilot von seiner schönen Gastgeberin gesundgepflegt und verliebt sich in sie. Doch dann erfährt er von einer «verrückten» Schwester, die im Schloss eingesperrt ist, und beschliesst, ihr zu helfen. Der junge Charles Vanel, eigentlich auf Gangstertypen abonniert, spielt den zerquält-verliebten Piloten. La proie du vent, in dem es auch eine virtuos gedrehte Autojagd gibt und bei dem Clair erstmals mit dem Ausstatter Lazare Meerson zusammenarbeitete, rehabilitierte den Filmemacher nach dem Flop von Le voyage imaginaire bei Kritik und Publikum. Dennoch wollte Clair später von diesem Film nichts mehr wissen. (mb)

LA TOUR Frankreich 1928 Nach Paris qui dort interessierte sich Clair so sehr für den Eiffelturm, dass er zu seinem Vergnügen ein Porträt des Ausnahme-Bauwerks drehte.

LE VOYAGE IMAGINAIRE Frankreich 1926

83 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f Zw’titel // REGIE René

Der schüchterne Bürolist Jean ist verliebt in die Stenotypistin Lucie, aber seine forscheren Kollegen Albert und Auguste durchkreuzen seine romantischen Pläne. In Träumen versunken, reist Jean in ein Märchenland, wo er zahlreiche Feen vor einem Fluch retten muss. Lucie, Albert und Auguste verschlägt es ebenfalls in dieses wundersame Reich, dessen Zauber allerdings bald unter dem Einfluss einer bösen Fee ins Bedrohliche kippt. Ursprünglich als Vehikel für den Tänzer Jean Börlin konzipiert, gestattet Le voyage imaginaire dem Regisseur fast so viele cineastische Gags und schrullige Einfälle wie Entr’acte. (mb)

amoureuse de Pierre Vignal» von Armand Mercier // KA-

ENTR’ACTE 22 Min / sw / DCP / Stummfilm // REGIE René Clair // DREHBUCH Francis Picabia, René Clair // KAMERA Jimmy Berliet // MUSIK Erik Satie // MIT Jean Börlin (Jäger, Magier), Inge Friss (Ballerina), Francis Picabia (ein Mann), Man Ray (ein Schachspieler), Marcel Duchamp (ein Schachspieler), Erik Satie, Georges Auric.

LA TOUR 12 Min / sw / 35 mm / Stummfilm // REGIE UND SCHNITT René Clair // KAMERA Georges Périnal, Nicolas Roudakoff.

LE VOYAGE IMAGINAIRE 71 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, e Zw’titel // DREHBUCH UND REGIE René Clair // KAMERA Jimmy Berliet, Amédée Morrin // MIT Dolly Davis (Lucie), Jean Börlin (Jean), Albert Préjean (Albert), Jim Gérald (Auguste), Paul Ollivier (Bank­

Clair // DREHBUCH René Clair, nach dem Roman «L’Aventure MERA Robert Batton, Henri Gondois, Nikolas Roudakoff // MIT Charles Vanel (Pierre Vignal), Sandra Milowanoff ­(Hélène), Lillian Hall-Davis (Elisabeth, die Gräfin). DO, 6. DEZ. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: ANDRÉ DESPONDS, ZÜRICH (PIANO)

SOUS LES TOITS DE PARIS Frankreich 1930 Albert verkauft Noten beliebter Chansons in den Gassen von Paris. Als er sich in die hübsche Pola verliebt, gerät er ins Visier des Ganoven Fred, der es aus anderen Gründen auf die junge Dame abgesehen hat. Und als Albert zu Unrecht als Dieb ins Gefängnis gesteckt wird, bandelt sein bester Freund Louis mit Pola an. «René Clairs erster Tonfilm war einer der ersten einfallsreichen Ansätze zum Musical als Filmgattung. Clair beschränkt den Dialog auf ein Minimum und verwendet Musik und Geräusche, um einen unbeschwerten, poetischen Stil zu erschaffen.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, Marion Boyars 1993) 96 Min / sw / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE René Clair // KAMERA Georges Périnal // MUSIK Armand Bernard

direktor), Maurice Schutz (die Hexe), Yvonne Legeay (die böse

// SCHNITT René Le Hénaff // MIT Albert Préjean (Albert),

Fee), Marguerite Madys (Urgel, die gute Fee).

Pola Illéry (Pola), Gaston Modot (Fred), Edmond T. Gréville (Louis), Bill Bocket (Emile), Paul Ollivier (Stammgast).

DO, 13. DEZ. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: GÜNTER A. BUCHWALD, FREIBURG I. BR. (PIANO, VIOLINE), BRUNO SPOERRI, ZÜRICH (SAXOFON)


> Le voyage imaginaire.

> The Ghost Goes West.

> Sous les toits de Paris.

> A nous la libertĂŠ.

> La proie du vent.


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René Clair 86 Min / sw / 35 mm / F // DREHBUCH UND REGIE René Clair

À NOUS LA LIBERTÉ

// KAMERA Georges Périnal // MUSIK Maurice Jaubert //

Frankreich 1931

SCHNITT René Le Hénaff, René Clair // MIT Annabella

«Clairs fantasievolle Gesellschaftssatire über die Mechanisierung des modernen Lebens beginnt mit einem Mann, der aus dem Gefängnis ausbricht und ein Plattenspielergeschäft aufzieht, dessen Fliessbandbetrieb ebenso reglementiert ist wie das Gefängnis. (...) Der Kumpel des Tycoons aus seinen Gefängnistagen ist ein weichherziger ‹kleiner Mann› – der Underdog als Verkörperung des freien, humanistischen Geistes. Die elegant-futuristischen Sets werden mit schlichter formeller Perfektion der Kameraarbeit wunderschön in Szene gesetzt; das Tempo des Films ist auf die Untermalung von Georges Auric abgestimmt, eine der ersten (und besten) Filmmusiken überhaupt. Clair bewies, dass Tonfilme genauso flüssig sein konnten wie Stummfilme, und dieser Film gilt zu Recht als Klassiker.» (­Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies)

Cordy (Raymond), Raymond Aimos (Charles), Paul Ollivier

104 Min / sw / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE René Clair // KAMERA Georges Périnal // MUSIK Georges Auric // SCHNITT René Le Hénaff, René Clair (ungenannt) // MIT Raymond Cordy (Louis), Henri Marchand (Emile), Rolla France (Jeanne), Germaine Aussey (Maud), Jacques Shelly (Paul).

QUATORZE JUILLET

(Anna), Georges Rigaud (Jean), Pola Illéry (Pola), Raymond (M. Imaque, ein Betrunkener), Thomy Bourdelle (Fernand).

THE GHOST GOES WEST GB 1935 Murdoch Glourie, schürzenjagender Spross des schottischen Clans Glourie, kommt bei einem Streit mit dem verfeindeten Clan McLaggan im 18. Jahrhundert ums Leben. Sein kampflustiger Vater stirbt vor Demütigung und verflucht Murdoch dazu, als Geist im Familienschloss zu spuken, bis er sich einst an den McLaggans rächen kann. 200 Jahre später verkauft Donald, der letzte Glourie, das Schloss an den amerikanischen Millionär Martin, auf Wunsch von dessen Tochter Peggy. Das Gemäuer wird in die USA verpflanzt, samt Gespenst. Ein Kulturkonflikt ist unvermeidlich. «Ein fröhlicher, weltgewandter und brillant komischer Film. Drehbuchautor Sherwood und Clair entspinnen einen anmutig langen und lauten Spass auf Kosten millionenschwerer amerikanischer Kunstliebhaber und europäischer Traditionen.» (Andre Sennwald, The New York Times, 11.1.1936)

Frankreich 1933

83 Min / sw / 35 mm / E // REGIE René Clair // DREHBUCH

«Auf die erste Einstellung, in der Georges Périnals Kamera geschmeidig um Lazare Meersons Destillat eines Pariser Quartiers herumkurvt, zur sanft lyrischen Musik von Maurice Jaubert (was für ein Team!), folgt eine Reihe von Vignetten, die die Hauptfiguren bei ihren Vorbereitungen auf die Festlichkeiten zum 14. Juli zeigen. Das ist schön, doch dann denkt man: Oje, jetzt kommt sicher eine Geschichte. Tatsächlich bleibt diese rudimentär: Der Taxifahrer Jean und das Blumenmädchen Anna (emblematische Berufe der 30erJahre) sind ein Liebespaar. Sie verkrachen sich, verbringen einige Zeit getrennt und unglücklich, bis Clair zum Finale hin eine launige Wiederver­ einigung einfädelt. Clairs Borzage-hafteste Romanze.» (Bob Baker, Time Out Film Guide)

zählung «Sir Tristram Goes West» von Eric Keown // KAMERA

Die Vorführung der Filme Sous les toits de Paris, À nous la liberté, Quatorze juillet, Les grandes manœuvres und Porte des Lilas ist möglich dank der freundlichen Genehmigung durch TF1 Studio.

­Robert E. Sherwood, Geoffrey Kerr, René Clair, nach der ErHarold Rosson // MUSIK Mischa Spoliansky // SCHNITT ­Harold Earle // MIT Robert Donat (Murdoch/Donald Glourie), Jean Parker (Peggy), Eugene Pallette (Mr. Martin).

I MARRIED A WITCH USA 1942 «Clairs musikalische Komödien der 30er-Jahre gelten immer als enorm originelle, innovative Klassiker, die seinen amerikanischen Filmen weit überlegen seien. Aber während jene französischen Filme heute in ihrer gezierten Gefühligkeit und ihrem naiven Bestreben, eine ernste Aussage zu machen, veraltet und chaplinesk wirken, bleiben die amerikanischen Filme entzückend: unprätentiös, temporeich und echt witzig. I Married a Witch zeigt Clair in Höchstform, mit einem ehrgeizigen puritanischen Politiker, der geplagt wird von der schelmischen Hexe, die wiedergeboren wird und auf Rache sinnt, weil sie von seinen Vorfahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide)


> Porte des Lilas.

> It Happened Tomorrow.

> And Then There Were None.

> Les belles de nuit.

> Le silence est d’or.


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René Clair 77 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE René Clair // DREHBUCH Robert Pirosh, Marc Connelly, Dalton Trumbo (ungenannt), nach der Story «A Passionate Witch» von Thorne Smith, ­Norman Matson // KAMERA Ted Tetzlaff // MUSIK Roy Webb // SCHNITT Eda Warren // MIT Fredric March (Wallace ­Wooley), Veronica Lake (Jennifer), Cecil Kellaway (Daniel). I Married a Witch wird auch im Rahmen der «Sélection Lumière» gezeigt. Daten s. Programmübersicht.

IT HAPPENED TOMORROW USA 1944 Larry, ein Reporter der Jahrhundertwende, erhält von einem kuriosen alten Kollegen die Abendausgabe der Zeitung des nächsten Tags. Der Hauptartikel schildert einen Raub in der Oper und so eilt Larry an den Tatort, bevor die Tat stattfindet. Die Exklusivstory bringt Larry Ehre bei der Zeitung. Doch dann liest er auf der Titelseite einer weiteren morgigen Ausgabe von seinem eigenen Tod. Witzige und raffinierte Fabel über Zeit, Bestimmung und sich selbst erfüllende Prophezeiungen, nach Motiven von Lord Dunsany. (mb) 85 Min / sw /Digital SD / E // REGIE René Clair // DREHBUCH Dudley N ­ ichols, René Clair, nach dem Theaterstück «The Jest of H ­ ahalaba» von Lord Dunsany // KAMERA Eugen Schüfftan, Archie Stout // MUSIK Robert Stolz // SCHNITT Fred Pressburger // MIT Dick Powell (Lawrence «Larry» Stevens), Linda Darnell (Sylvia), Jack Oakie (Oscar Smith/Cigolini), Edgar Kennedy (Inspektor Mulrooney), John Philliber (Pop Benson).

AND THEN THERE WERE NONE USA 1945 Acht Gäste werden in ein Herrenhaus auf einer abgelegenen Insel eingeladen; zwei Bedienstete erwarten sie. Eine Schallplatte verkündet, dass alle zehn des Mordes schuldig sind und sterben werden – nach dem Motto eines Kinderreims. «René Clair packt Agatha Christie an wie das Kabinettstück eines Zauberkünstlers, das an Magrittes Pfeife erinnert. (...) Ein straffer Mechanismus mit Selbstaufzug, hermetisch und herzlos, eine Erleichterung nach den zuckersüssen Hexen und Geistern in Clairs amerikanischen Filmen.» (Fernando F. Croce, cinepassion.org)

LE SILENCE EST D’OR Frankreich 1947 Wie René Clair selbst «ein Symbol frankoamerikanischer Beziehungen sowie der Frühzeit des Kinos ist Maurice Chevalier, der einen Regisseur kurz vor dem Ende seiner Karriere spielt (...), charmant und beschützerisch sowohl gegenüber seiner Equipe wie auch gegenüber der jungen Madeleine, die sich hilfesuchend an ihn wendet. Das verwandelt sich in eine Dreiecksgeschichte voller Motive aus den französischen Filmen der 30erJahre: der Altersunterschied zwischen Liebenden, ein Hauch von Inzest und der abschliessende Verzicht.» (Stéphanie Salmon und Lenny Borger, Katalog Il Cinema Ritrovato, Bologna 2018) 99 Min / sw / DCP / F // DREHBUCH UND REGIE René Clair // KAMERA Armand Thirard, Alain Douarinou // MUSIK Georges Van Parys // SCHNITT Louisette Hautecoeur, Henri Taverna // MIT Maurice Chevalier (Emile Clément), François Périer (Jacques Francet), Marcelle Derrien (Madeleine Célestin), Dany Robin (Lucette), Raymond Cordy (Lockenkopf).

LA BEAUTÉ DU DIABLE Frankreich/Italien 1950 «René Clairs sehr freie Adaption des Faust-Stoffes spiegelt den (alten) wissensdurstigen Gelehrten in seinem (jungen) satanischen Versucher, stellt die beiden einander als Doppelgänger im Geiste gegenüber, als Herzensfeinde auf der Jagd nach dem irdischen Paradies, das in Trugbildern von ewiger Jugend, Geld, Macht und Fortschritt aufflackert. Durch den schlagenden Einfall, die Kontrahenten ihre Körper tauschen zu lassen, verwischt La beauté du diable nicht nur die Grenze von Gut und Böse, der Film bereitet auch – für den Betrachter höchst vergnüglich – seinen Hauptdarstellern Gérard Philipe und Michel Simon eine grosse Bühne.» (Sebastian, kinotagebuch.blogspot.com) 96 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE René Clair // DREHBUCH René Clair, Armand Salacrou // KAMERA Michel Kelber // MUSIK Roman Vlad // SCHNITT James Cuenet // MIT Michel Simon (Mephistopheles/alter Faust), Gérard Philipe (junger Faust/junger Mephistopheles), Raymond Cordy (Antoine), ­Nicole Besnard (Marguerite, das Zigeunermädchen).

97 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE René Clair // DREHBUCH Dudley Nichols, nach dem Roman von Agatha Christie // KAMERA Lucien N. Andriot // MUSIK Mario Castelnuovo-­ Tedesco // SCHNITT Harvey Manger // MIT Barry Fitzgerald (Richter Quincannon), Walter Huston (Dr. Edward G. Arm­ strong), Louis Hayward (Philip Lombard), Roland Young (Detektiv William Henry Bloor), June Duprez (Vera Claythorne).


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René Clair

LES BELLES DE NUIT

PORTE DES LILAS

Frankreich/Italien 1952

Frankreich/Italien 1957

«Gérard Philipe spielt in Clairs ansprechendem Märchen den jungen Komponisten Claude, der sich aus seinem Alltag voller Armut, Lärm und Versagen in Träume von der Belle Époque flüchtet, wo seine Musik an der Pariser Oper verehrt wird und eine schöne verheiratete Frau (...) nach ihm schmachtet. Doch alte Männer, die lamentieren, dass die wahre Belle Époque 1830 gewesen sei, nein, 1789, treiben seine Träume tiefer in die Vergangenheit zurück (...). Seine Fantasien gehorchen der Logik des Traums, indem sie sich willkürlich unterbrechen, verändern und ineinander verschmelzen; sie sind aber oft witzig (...) und borgen ihre übergreifende Struktur von Griffiths Intolerance.» (Tom Milne, Time Out Film Guide).

Der Penner Juju nötigt seinen Freund l’Artiste, einen Gangster und Mörder vor der Polizei zu verstecken. Aus diesem verqueren Akt von Altruismus schöpft Juju einen Lebenszweck, gefährdet damit aber sein Beziehungsumfeld. «Rene Clairs kleiner, ironischer Film ist in einem uralten Quartier von Paris angesiedelt; er ist fast so etwas wie eine Träumerei über Einsamkeit und wirkt recht träge, doch der Wandel von Pierre Brasseurs Hauptfigur ist unterhaltsam, und in einer wunderbaren Szene spielen die Kinder auf der Strasse vor dem Versteck ein Verbrechen nach, das drinnen wesentliche Bedeutung annimmt.» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies) 95 Min / sw / 35 mm / F // DREHBUCH UND REGIE René Clair

85 Min / sw / Digital HD / F // REGIE René Clair // DREHBUCH

// KAMERA Robert Lefebvre // MUSIK Georges Brassens //

René Clair, Pierre Barillet, Jean-Pierre Grédy // KAMERA

SCHNITT Louisette Hautecoeur // MIT Pierre Brasseur (Juju),

­Armand Thirard // MUSIK Georges Van Parys // SCHNITT

Georges Brassens (l’Artiste), Henri Vidal (Pierre Barbier),

Louisette Hautecoeur, Denise Natot // MIT Gérard Philipe

Dany Carrel (Maria), Raymond Bussières (Alphonse).

(Claude), Martine Carol (Edmée de Villebois), Gina Lollo­ brigida (Kassiererin/Leïla), Magali Vendeuil (Suzanne).

LES GRANDES MANŒUVRES Frankreich/Italien 1955 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wettet Leutnant Armand mit seinen Kameraden, dass er in den Wochen bis zum grossen Manöver jede beliebige Frau der Stadt erobern kann. Seine Wahl fällt auf die Modistin Marie-Louise. Armands bewährte Verführungskniffe verfangen bei dieser aber nur bedingt – dabei ist er erstmals wirklich verliebt. Militärische Vorschriften und gesellschaftliche Regeln bilden den Käfig, in dem die Figuren manövrieren und den Clair in seinem subtil gestalteten ersten Farbfilm auch auf der visuellen Ebene reproduziert. (mb) 106 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE René Clair // DREHBUCH René Clair, Jérôme Géronimi, Jean Marsan, nach einem Roman von Courteline // KAMERA Robert Lefebvre // MUSIK Georges Van Parys // SCHNITT Louisette Hautecoeur, Denise Natot // MIT Gérard Philipe (Armand de la Verne), Michèle Morgan (Marie-Louise Rivière), Jean Desailly (Victor Duverger), Yves Robert (Félix Leroy), Brigitte Bardot (Lucie).


27 Das erste Jahrhundert des Films

1998 Kurz vor Ende des letzten Jahrtausends erobert unser heutiges, von Stress geprägtes Lebensgefühl die Leinwand: Gerade mal 20 Minuten bleiben Tom Tykwers Lola, um ihren Freund zu retten – dreimal rennt sie los, dreimal nimmt das Schicksal seinen Lauf. Lola rennt ist nicht nur ein rasanter Actionfilm, sondern auch ein Essay über das Wesen des Kinos. Tykwer und seine Hauptdarstellerin Franka Potente machen damit international Furore. Eine ruhigere Kugel schiebt derweil in Joel und Ethan Coens The Big Lebowski der abgehalfterte Alt-Hippie Dude, der sich zwischen Bowlingrunden bei Joints, White-Russian-Cocktails und Walgesängen entspannt – ein Lebenskünstler, der zu einer viel zitierten Kultfigur avanciert. Relevanter als je zuvor wirkt heute Peter Weirs The Truman Show, in dem Jim Carrey als Truman Burbank Star und Opfer einer Fernsehshow ist und von Millionen sensationssüchtiger Zuschauer rund um die Uhr beobachtet wird. Ein weiterer Schlüsselfilm der neunziger Jahre ist Festen, der erste «Dogma»-Film, in dem Thomas Vinterberg die Perversion der modernen Gesellschaft schonungslos aufdeckt und mit seinem schnörkellosen Filmstil die Welt im Sturm erobert. Aufsehen erregt in diesem Jahr auch Samira Makhmalbaf mit ihrem Regiedebüt Der Apfel, in dem sie vom Schicksal zweier Mädchen erzählt, die vom Vater gefangen gehalten werden; ihr gelingt eine leise Kritik an der iranischen Gesellschaft. Zuletzt finden wir uns am Tor zum Paradies wieder, wo frisch Verstorbene ihre wichtigste Erinnerung als Filmclip realisieren lassen: Hirokazu Kore-edas After Life ist eine nachdenklich stimmende Reflexion über die Frage, was nach dem Tod geschieht, und zugleich ein zutiefst humanistischer Aufruf zu mehr Lebensfreude. Tanja Hanhart Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 ­wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, im Jahr 2018 sind Filme von 1918, 1928 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1998 American History X Tony Kaye, USA Buffalo 66 Vincent Gallo, USA Chat noit chat blanc Emir Kusturica, Jugoslawien Conte d’automne Eric Rohmer, F Die Ewigkeit und ein Tag (Mia eoniotita ke mia mera) Theo Angelopoulos, Griechenland F. est un salaud Marcel Gisler, CH Fear and Loathing in Las Vegas Terry Gilliam, USA Happiness Todd Solondz, USA Idioten Lars von Trier, Dänemark

La leggenda del pianista sull’oceano Giuseppe Tornatore, I La vida es silbar Fernando Pérez, Kuba Lock, Stock and Two Smoking Barrels Guy Ritchie, GB My Name is Joe Ken Loach, GB Pi Darren Aronofsky, USA Ringu Hideo Nakata, Japan Rushmore Wes Anderson, USA Saving Private Ryan Steven Spielberg, USA The Thin Red Line Terrence Malick, USA


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Das erste Jahrhundert des Films: 1998

LOLA RENNT Deutschland 1998 Berlin, 1998: Lola und Manni sind ein Liebespaar. Manni jobbt als Geldkurier für einen Autoschieber – bis alles schiefgeht: Auf der Flucht vor ­Ticketkontrolleuren hat er eine Plastiktüte mit 100 000 DM in der U-Bahn liegen lassen. In 20 Minuten will sein Boss das Geld wiederhaben. Verzweifelt ruft Manni Lola an – sofort rennt sie los, um das fehlende Geld zu besorgen. Diese Pop-Fabel wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Filme; sein globaler Triumphzug ist inzwischen Legende. Tom Tykwer sowie Franka Potente und Moritz Bleibtreu schafften damit den internationalen Durchbruch. «Dieser Film beginnt nicht wie andere Filme – er explodiert geradezu. Wie beim Start zum 100-Meter-Lauf schiesst er aus den Startblöcken, um die Schnellkraft gleich in Geschwindigkeit umzusetzen. Den Titel darf man durchaus wörtlich nehmen. Mit ihrem feuerroten Haar sieht Lola ohnehin so aus, als stünde sie unter Strom, und so rennt sie wie aufgezogen durch den Film – deutsches Kino auf Speed. Allein der Vorspann ist das Tollste, was seit Jahren zu sehen war, so eine Art Geburt des Films aus dem Geist der Achterbahn. (…) Die Kamera von Frank Griebe fliegt und

kurvt, dass es eine wahre Freude ist. Das Kino ist ein grosses Spielzeug, und Tykwer führt stolz vor, was es alles kann. (…) Dreimal beginnt die Geschichte von Neuem, dreimal rennt Lola los, dreimal nimmt das Schicksal seinen Lauf, aber jedes Mal mit anderem Ausgang. (...) Das perspektivische Spiel mit Wiederholung und Vervielfältigung hat im Kino mehrere Väter: Alain Resnais liebt es, Kurosawa hat es durchexerziert, und auch Brian De Palma macht es ähnlich. Tykwer verdankt ihnen allen etwas und ist doch niemandem verpflichtet. Er macht sich seinen eigenen Reim auf die Vorbilder und findet einen neuen Tonfall. (…) So sieht der Film aus, von dem das deutsche Kino all die Jahre geträumt hat.» (Michael Althen, Süddeutsche Zeitung, 19.8.1998) 80 Min / Farbe / 35 mm / D // DREHBUCH UND REGIE Tom ­Tykwer // KAMERA Frank Griebe // MUSIK Tom Tykwer, Johnny Klimek, Reinhold Heil // SCHNITT Mathilde Bonnefoy // MIT Franka Potente (Lola), Moritz Bleibtreu (Manni), ­Herbert Knaup (Lolas Vater), Joachim Król (Norbert von Au), Ludger Pistor (Herr Meier), Armin Rohde (Herr Schuster, der Wachmann), Nina Petri (Jutta Hansen), Heino Ferch (Ronnie), Sebastian Schipper (Mike), Suzanne von Borsody (Frau Jäger), Lars Rudolph (Herr Kruse), Monica Bleibtreu (blinde Frau).


Das erste Jahrhundert des Films: 1998

THE BIG LEBOWSKI USA/GB 1998 Der arbeitslose Alt-Hippie Jeffrey «The Dude» Lebowski schiebt im wahrsten Sinne des Wortes eine ruhige Kugel – bis er in einen Entführungsfall verwickelt und mit «The Big Lebowski», einem stadtbekannten Unternehmer, verwechselt wird. «Ausgerechnet jene Filme, in denen das Scheitern des Erzählens selbst zum Thema gemacht wird, sind die schönsten, ja perfektesten Filme der beiden Coen-Brüder. In The Big Lebowski bleibt am Ende nichts übrig als ihr versiffter Protagonist. Die Entführungsgeschichte aber, mit der man dem Publikum diesen Verlierer als Hauptfigur untergejubelt hat, verpufft am Ende restlos und alle Handlungsfäden führen ins Nichts. Der Film funktioniert wie die Joints, welche sich die Hauptfigur regelmässig ansteckt: alles nur Dunst – aber ein verflucht guter.» (Johannes Binotto, Filmpodium, Juli/August 2009) «In den USA spielte The Big Lebowski wenig mehr als sein Budget von 15 Millionen Dollar ein. Fast doppelt so viel floss aus dem Ausland zurück, und über die Jahre wurde die Slacker-Komödie ins Metagenre ‹Kultfilm› aufgenommen. (…) Rund um The Big Lebowski entstand ein ausgewachsener Fankult. (…) Als der Film herauskam, war der

Dude die Gegenfigur zur prosperierenden Wirtschaft. 20 Jahre später ist der Typus praktisch verschwunden. Der Dude hat sich in seine Antithese verkehrt: in den sehr viel aggressiveren Lebowski, mit dem er zu Beginn verwechselt wird. (…) Der Lebowski von heute ist ein Mächtiger in der Tech-Branche, der sich noch mit kreativer Verrücktheit und einer unerschütterlich positiven Grundeinstellung umgibt. Aber sein Ziel, den Erfolg, lässt er nie mehr aus den Augen. Was ist bloss aus unserem faulen Dude geworden?» (Tages-Anzeiger, 11.4.2018) 117 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Joel Coen, Ethan Coen (ungenannt) // DREHBUCH Joel & Ethan Coen // KAMERA Roger Deakins // MUSIK Carter Burwell // SCHNITT Roderick Jaynes (=Joel & Ethan Coen), Tricia Cooke // MIT Jeff Bridges (Jeffrey Lebowski, «The Dude»), John Goodman (Walter Sobchak), Steve Buscemi (Donny), Julianne Moore (Maude Lebowski), David Huddleston (Jeffrey Lebowski, «The Big Lebowski»), Philip Seymour Hoffman (Brandt), John ­Turturro (Jesus Quintana), Ben Gazzara (Jackie Treehorn), Jon Polito (Da Fino), Tara Reid (Bunny Lebowski), Jimmie Dale Gilmore (Smokey), David Thewlis (Knox Harrington).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1998

THE TRUMAN SHOW USA 1998 Truman Burbank führt ein ganz normales Leben: Er hat einen Job als Versicherungsangestellter, eine Ehefrau namens Meryl und wohnt im idyllischen Städtchen Seahaven. Was er allerdings nicht weiss: Sein ganzes Leben ist eine TV-Seifenoper, die rund um die Uhr ausgestrahlt wird und von Millionen Zuschauern verfolgt wird. Truman ist glücklich mit seinem Leben – erst als ihm eines Tages ein Scheinwerfer vom Studiohimmel vor die Füsse fällt, wird er misstrauisch. Peter Weirs bitterböse Satire The Truman Show war ein kulturelles Phänomen – sie war ihrer Zeit voraus und ist heute vielleicht aktueller denn je. Der Komiker Jim Carrey wurde für seine her­ vorragende Darstellung mit einem Golden Globe ausgezeichnet und etablierte sich damit als ernsthafter Schauspieler. «Seit 1988 dominieren Reality-TV-Shows die TV-Sender auf der ganzen Welt, während SocialMedia-Plattformen mit ähnlichen Ideen Milliarden verdienen. (...) Koproduzent und Drehbuchautor Andrew Niccol hatte die Idee zum Film schon seit seiner Kindheit: Als Kind müsse man denken, dass sich die Welt um einen selbst drehe, als Abwehrmechanismus sozusagen. Die meisten

Menschen wüchsen daraus heraus, er aber habe das nie getan. (...) Neulich habe er einen Senator aus Louisiana getroffen, der auf den Film verwies – wenn sich sogar die konservativsten Leute auf den Film beziehen, habe dieser definitiv einen wunden Punkt getroffen.» (Lou Thomas, bfi.org. uk, 31.5.2018) «Die beste Komödie seit Groundhog Day – und sogar noch besser. The Truman Show ist mehr als bloss eine kluge und geniale Satire über Mediensättigung, er ist ein bewegendes metaphysisches Märchen. The Truman Show kann man mit absoluter Sicherheit als modernen Klassiker bezeichnen.» (Tom Charity, Time Out Film Guide) 103 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Peter Weir // DREHBUCH Andrew Niccol // KAMERA Peter Biziou // MUSIK ­Philip Glass, Burkhard von Dallwitz // SCHNITT William Anderson, Lee Smith // MIT Jim Carrey (Truman Burbank), Laura Linney (Meryl Burbank/Hannah Gill), Noah Emmerich (Marlon/Louis Coltrane), Natascha McElhone (Lauren/Sylvia Garland), ­Holland Taylor (Trumans Mutter), Brian Delate (Trumans Vater), Ed Harris (Christof), Peter Krause (Lawrence), Paul Giamatti (Kontrollraum-Direktor), Harry Shearer (Mike Michaelson), Philip Glass (Keyboarder).


Das erste Jahrhundert des Films: 1998

FESTEN Dänemark 1998 Ein heisser Sommertag in Dänemark. Auf einem herrschaftlichen Landgasthof trifft eine illustre Festgemeinde ein, um den 60. Geburtstag des Familienpatriarchen Helge zu feiern. Am Abend hält Helges Sohn Christian seine erste Tischrede. Die Verwandtschaft tafelt und schwatzt, aber Christian hält keine gewöhnliche Rede: Er tischt eine Geschichte aus seiner Kindheit auf, die davon handelt, wie der Vater ihn und seine Zwillingsschwester Linda missbraucht hat. Die Verwandtschaft stutzt, schweigt – und feiert weiter. Neben Lars von Triers Idioten (1998) war Festen, ein furioses Drama über die Zerstörungskraft eines niemals ausgesprochenen Kindesmissbrauchs, der erste gemäss dem «Dogma 95» produzierte Film. Regisseur Thomas Vinterberg gewann dafür in Cannes die Goldene Palme und wurde als neues Wunderkind bejubelt. «Festen ist die vielleicht düsterste Farce überhaupt, der Film ist ein Totalangriff auf die Sinne, bei dem man nicht weiss, ob man lachen oder weinen soll. (…) Auch von Psychologen wurde das Werk gelobt, die surreale Art, mit der die Feierlichkeiten fortgesetzt werden, erinnere an die chronische Verleugnung, die oft in inzestuösen

Familien zu beobachten sei. (...) Festen ist ein brisanter Film, und so wie das Thema präsentiert wird, bekommt man das Gefühl, dass man in diese Enthüllungen gar nicht eingeweiht werden sollte. Für diejenigen, die das ertragen können, ist dies ein kühner und wuchtiger Angriff auf die Heuchelei der ‹Chattering Classes›, des Bildungsbürgertums, und eine der eigenwilligsten Tragikomödien der gesamten Filmgeschichte.» (Darren Richman, The Independent, 8.2.2017) 105 Min / Farbe / 35 mm / Dän/d/f // REGIE Thomas Vinterberg // DREHBUCH Thomas Vinterberg, Mogens Rukov // ­KAMERA Anthony Dod Mantle // MUSIK Lars Bo Jensen // SCHNITT Valdís Óskarsdóttir // MIT Ulrich Thomsen (Christian), Henning Moritzen (Helge Klingenfeldt-Hansen, der Vater), Thomas Bo Larsen (Michael), Paprika Steen (Helene), Birthe Neumann (Else, die Mutter), Bjarne Henriksen (Kim), Trine Dyrholm (Pia), Therese Glahn (Michelle), Helle Dolleris (Mette).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1998

AFTER LIFE

DER APFEL

(Wandafuru raifu) Japan 1998

(Sib) Iran/Frankreich 1998

Irgendwo zwischen Himmel und Erde: Hier werden in einer Filmwerkstatt die Lieblingserinnerungen der frisch Verstorbenen nachgestellt. Zwei Tage haben sie Zeit, sich für einen einzigen Moment ihres Lebens zu entscheiden, den sie für die Ewigkeit bewahren wollen. Was bleibt vom gelebten Leben? Das ist die zentrale Frage dieser cineastischen Versuchsanordnung. «After Life basiert auf Hunderten von Interviews mit Leuten, die Hirokazu Kore-eda nach ihrer schönsten Erinnerung befragte. (…) Kore-eda gelingt es, ganz nebenbei die ganz grossen Fragen des Lebens zu stellen. Es geht um Ehrlichkeit, um Verantwortung, um das, was ich gemacht habe aus meinem Leben, und wie ich dazu stehe. (…) After Life ist ein überwältigend kluger, ein hoch philosophischer Film. Er verliert nie die Realität aus den Augen und bricht sie zugleich – weil er sie aus einem Zwischenreich betrachtet, aus der Welt der melancholischen Engel.» (Christina Tilmann, Der Tagesspiegel, 10.4.2003) «Die Genialität des Films liegt vor allem in seiner Art, verschiedene Formen und Materialien zu einem organischen Ganzen zu verknüpfen. Die Vorstellung, dass uns nach unserem Tod eine Behörde erwartet, ist ja nicht neu (...), aber Kore-eda verwendet dieses Bild auf völlig neue Weise: Er verwebt Fiktion und Realität, und beide gewinnen in der wechselseitigen Beziehung eine andere Qualität.» (Tony Rayns, Sight & Sound, 10/1999)

In einem Armenviertel in Teheran hält ein Vater seine zwölfjährigen Zwillingstöchter seit ihrer Geburt im Haus gefangen. Die Nachbarn alarmieren die Behörden. Eine Sozialarbeiterin versucht den Vater, einen einfachen Mann mit radikal-islamischen Ideen, zu überreden, die Mädchen freizulassen. Als sie nicht weiterkommt, greift sie zu einer Zwangsmassnahme. Inspiriert durch einen Fernsehbericht über dieses Ereignis rekonstruierte die damals erst 17-jährige Samira Makhmalbaf, Tochter des Regisseurs Mohsen Makhmalbaf, in ihrem Debütfilm das Leben der eingesperrten Zwillinge. Auf ihr Bitten hin spielten der Vater und die Kinder ihre Geschichte vor der Kamera noch einmal nach. «Entstanden ist eine leise, aber treffende Kritik der iranischen Gesellschaft und ihrer Männer. (…) Dass diese Kinder, gerade erst dem heimischen Gefängnis entronnen, zu Filmstars geworden sind und mit entwaffnender Offenheit vor der Kamera agieren, grenzt an ein Wunder. Dass eine Siebzehnjährige in ihrem ersten Spielfilm so genau, so eindringlich eine Geschichte erzählt, vor der Ältere, Erfahrenere zurückschrecken würden, ist das zweite Wunder dieses Films.» (Christina Tilmann, tagesspiegel.de, 1.12.1999) «Als Makhmalbaf ihren Film in Cannes zeigte, war sie die jüngste Regisseurin, die je am re­ nommiertesten Filmfestival der Welt teilnahm. (…) Es ist die authentische Geschichte einer ­barbarischen Tat, die nicht aus Bosheit, sondern aus Ignoranz und falsch verstandenen religiösen Geboten entsteht. (…) Makhmalbafs klare, fast sachliche Filmsprache brachte selbst den ewigen Grantler Godard zum Schwärmen.» (Katja Nico­ demus, Die Zeit, 2.1.2003)

118 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Hirokazu Kore-eda // KAMERA Masayoshi Sukita, Yutaka Yamasaki // MUSIK Yasuhiro Kasamatsu // MIT Arata (Takashi Mochizuki), Erika Oda (Shiori Satonaka), Susumu Terajima (Satoru Kawashima), Takashi Naito (Takuro Sugie).

86 Min / Farbe / 35 mm / Farsi/d/f // REGIE Samira Makhmal✶ am Montag, 10. Dezember, 18.15 Uhr:

baf // DREHBUCH Samira Makhmalbaf, Mohsen Makhmalbaf //

Einführung von Andri Erdin (Studierender am ­Seminar für Filmwissenschaft, Universität ­Zürich, zurzeit Praktikant beim Filmpodium)

KAMERA Mohammad Ahmadi, Ebrahim Ghafori // SCHNITT Mohsen Makhmalbaf // MIT Massoumeh Naderi (Massoumeh), Zahra Naderi (Zahra), Ghorban Ali Naderi (der Vater).


33 Filmpodium für Kinder

Belle und Sebastian

Ein berührender Film über Freundschaft und Mut mit grandiosen ­Naturaufnahmen.

BELLE UND SEBASTIAN (Belle et Sébastien) / Frankreich 2013 104 Min / Farbe / Digital HD / D / ab 6/8 // REGIE Nicolas Vanier // DREHBUCH Nicolas Vanier, Juliette Sales, Fabien Suarez, nach der Fernsehserie von Cécile Aubry // KAMERA Éric Guichard // MUSIK Armand Amar // SCHNITT Stéphanie Pedelacq, Raphaele Urtin // MIT Félix Bossuet (Sebastian), Tchéky Karyo (César), Margaux Chatelier (Angélina), Dimitri Storoge (Doktor Guillaume), Andreas Pietschmann (Leutnant Peter), Urbain Cancelier (Bürgermeister), Mehdi El Glaoui (André).

Sommer 1943 in den französischen Hochalpen, nahe der Schweizer Grenze: Der 7-jährige Sebastian schliesst Freundschaft mit der wilden Hündin Belle. Doch die Dorfgemeinschaft und auch sein Zieh-Grossvater César sehen in ihr nur «die Bestie», die ihre Schafe reisst. Gleichzeitig sind deutsche Besatzer auf der Suche nach Widerständischen, die von hier heimlich jüdische Familien über die Grenze schleusen. Schliesslich überschlagen sich die Ereignisse rund um Belle und Sebastian. Doch dank ihrer Freundschaft bestehen sie zusammen die schier überwältigenden Abenteuer. Nicolas Vaniers Belle und Sebastian basiert auf der gleichnamigen Fernsehserie aus den 1960er-Jahren, realisiert von der einstigen Schauspielerin ­Cécile Aubry, die auch die berühmten Kinderbücher verfasst hat. (pm) KINDERFILM-WORKSHOP Im Anschluss an die Vorstellungen vom 24. November und 15. Dezember bietet die Filmwissenschaftlerin Julia Breddermann (www.fifoco.ch) einen Film-Workshop an. Die Kinder erleben eine Entdeckungsreise durch die Welt der Filmsprache und werden an einzelne Szenen und Themen des Films herangeführt. Dauer des Workshops: ca. 45 Min. Der Workshop wird gratis angeboten. Keine Voranmeldung nötig.


34 IOIC-SOIREE

DO, 22. NOV. | 20.45 UHR

KRIEG UND FRIEDEN IM STUMMFILM Das IOIC – Institute of Incoherent Cinema-

tin Lovers, dem beide Geschlechter in Scha-

tography – macht mit neuartigen Live-Ver-

ren erlagen. Der Film folgt den Irrungen

tonungen die frühe Stummfilmkunst nicht

und Wirrungen des Protagonisten durch

zuletzt auch einem jüngeren Publikum zu-

die deutsch-französische Front des Ersten

gänglich. In der Saison 2018/19 ist das IOIC

Weltkriegs, und auch wenn er zu guter Letzt

wiederum im Filmpodium zu Gast, diesmal

im Frieden mündet, wird schliesslich – Hol-

mit einer Reihe zu Krieg und Frieden.

lywood oblige – der Zeigefinger erhoben: Der Frieden ist erkämpft worden, aber die

In den 1920er-Jahren fanden Kriegsfilme

vier apokalyptischen Reiter – Tod, Hungers-

ihren Weg ins klassische Hollywood. Rex

not, Krieg und Eroberung – werden weiter-

­Ingrams Anti-Kriegs-Epos The Four Horse-

hin wüten und die Welt in Unruhe versetzen,

men of the Apocalypse (1921) machte den bis

«bis aller Hass stirbt und nur Liebe das

anhin unbekannten Rudolph Valentino über

Herz der Menschheit regiert». (IOIC)

Nacht zum Superstar und Inbegriff des La-

> The Four Horsemen of the Apocalypse.


35 THE FOUR HORSEMEN OF THE APOCALYPSE / USA 1921 132 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, e Zw’titel // REGIE Rex ­Ingram // DREHBUCH June Mathis // KAMERA John F. Seitz // SCHNITT Grant Whytock // MIT Rudolph Valentino (Julio Desnoyers), Pomeroy Cannon (Madariaga), Josef Swickard (Marcelo Desnoyers), Bridgetta Clark (Doña Luisa), Virginia Warwick (Chichí), Alan Hale (Karl von Hartrott), Mabel Van Buren (Elena), Stuart Holmes (Otto von Hartrott). «Das mitreissende Melodram erzählt von verbotener Liebe, Hass und Tod vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges. Julio, gespielt von Rudolph Valentino, wächst als Spross einer

­Valentino weltberühmt. Während amerikanische Kritiker den Film zum besten Film des Jahres 1921 wählten, wurde er in Deutschland von konservativer Seite zum ‹antideutschen Hetzfilm› skandalisiert und stiess auf heftige Ablehnung.» (filmmuseum-potsdam.de) Vertonung: The Pussywarmers & Réka Vertont wird der Kassenschlager, der 1921 selbst Chaplins The Kid in den Schatten stellte, von den in Zürich bestens bekannten The Pussywarmers & Réka. Die Band wird nicht zuletzt auch dafür geliebt, dass sie auf immer wieder ans Ironische grenzende Art und Weise besonders schwülstiger Stummfilm-Melodramatik neues Leben einhaucht.

reichen argentinischen Gutsbesitzerfamilie auf. Als begna-

Réka Csiszér (Stimme, Elektronik), Fabio Pozzorini

deter Tangotänzer verführt er die schönsten Frauen. Wäh-

­(Stimme, Gitarre), Simone Bernardoni (Gitarre),

rend seines Studiums in Paris beginnt er eine leidenschaft-

Damiano Merzari (Schlagzeug)

liche Liebesaffäre mit der verheirateten Marguerite, deren

www.thepussywarmers.com

Mann an der Front kämpft. Als dieser schwerverletzt heimkehrt, bricht Julio mit seinem alten Leben und will sich selbst an der Front bewähren. Der prachtvoll inszenierte und von grossen Emotionen getragene Film gehört zu den erfolgreichsten Stummfilmen überhaupt und machte den gebürtigen Italiener Rudolph

HUMAN RIGHTS FILM FESTIVAL 5.–10. DEZ 18 ZURICH

WWW.HUMANRIGHTSFILMFESTIVAL.CH


36 Reedition

Miracle on 34th Street Ein zeitloser Weihnachtsfilmklassiker, so rührend wie klug: In George Seatons Miracle on 34th Street kämpft ein Weihnachtsmann gerichtlich um seine Anerkennung.

MIRACLE ON 34TH STREET / USA 1947 96 Min / sw / DCP / E/d // DREHBUCH UND REGIE George Seaton, nach der Story von Valentine Davies // KAMERA Lloyd Ahern Sr., Charles G. Clarke // MUSIK Cyril J. Mockridge // SCHNITT Robert L. Simpson // MIT Maureen O’Hara (Doris Walker), John Payne (Fred Gailey), Edmund Gwenn (Kris Kringle), Natalie Wood (Susan Walker), Gene Lockhart (Henry X. Harper, der Richter).

«Glauben Sie an den Weihnachtsmann?» lautet die Frage, die sich nicht nur an die Filmfiguren, sondern auch an das Publikum richtet. Wenn das für Ihren Geschmack etwas zu kitschig tönt, dann machen Sie sich darauf gefasst, Ihre zynischen Reaktionen auf diesen oscarprämierten Film zu zügeln. Den Oscar für den besten Nebendarsteller erhielt Edmund Gwenn für seine Darstellung des Kris Kringle, der den Weihnachtsmann in jeder Hinsicht zu verkörpern scheint. Das kommt gelegen, als das Kaufhaus Macy’s für seine ‹Thanksgiving Day Parade› dringend einen Weihnachtsmann sucht. Er hat grossen Erfolg und wird gebeten, als offizieller Weihnachtsmann zu bleiben. Eingestellt wird Kris Kringle von Doris Walker, die ihre kleine Tochter Susan so aufgezogen hat, dass diese nicht an Unsinn wie den Weihnachtsmann glaubt. Unbeeindruckt von ihrer Einstellung ist er nur zu gerne bereit, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Bevor er sich Susan gegenüber aber beweisen kann, steht er vor Gericht, angeklagt wegen Unzurechnungsfähigkeit, weil er behauptet, er sei, wer er ist. Miracle on 34th Street ist eine höchst originelle Geschichte, die stimmig und selbstsicher ihren Weg geht und dabei auch beträchtlichen Charme entwickelt.» (Almar Haflidason, bbc.co.uk, 8.12.2000)


37 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Marius Kuhn (mk), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde PRAKTIKUM Andri Erdin // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 412 31 25 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Adamz Production, Beirut; A.P.A, Artistes Producteurs Associés, Sidi Bou Said; BAC Films, Paris; Be For Films, Brüssel; British Film Institute, London; The Bureau Sales, Paris; Mahmoud Kamel, Los Angeles; La Cinémathèque française – Musée du cinéma, Paris; Deutsches Filminstitut – DIF, Wiesbaden; The Festival Agency, Paris; Filmcoopi, Zürich; Filmmuseum München; Gaumont, Neuilly sur Seine; Groupe Ali n’ Productions, Casablanca; Kinemathek Le Bon Film, Basel; MAD Solutions, Kairo; Making of Films, Alger; MK2, Paris; The Open Reel, Massafra; Panoceanic Films, Paris; Park Circus, Glasgow; Pathé Films, Zürich; Pathé Distribution, Paris; Picture Tree International, Berlin; Pidax Film, Riegelsberg; Eliane Raheb, Beirut; Screenbound, Lutterworth; South by Southwest Films, La Marsa; Studiocanal, Berlin; Syndicado, Toronto; TF1 Studio, Boulogne; trigon-film, Ennetbaden; Warner Bros. International, London. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS, Zürich // KORREKTORAT Nina Haueter, Daniel Däuber // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 6000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Stummfilmfestival 2019

Edward G. Robinson

Bereits zum 16. Mal wartet das Zürcher

Edward G. Robinson (1893–1973) wirkte nach

Stummfilmfestival mit neuen Restaurierun-

Jahren auf der Bühne erst ab 1929 und zu-

gen der Filmarchive, Wiederentdeckungen

nächst widerwillig in Filmen mit. Sein selt-

von internationalen Festivals und den «Jahr-

sames Gesicht prädestinierte ihn für Böse-

gangsfilmen» auf. Dazu gehören 1919 Bro-

wichte und schillernde Charakterrollen, und

ken Blossoms von D. W. Griffith und der bit-

auf diesem Gebiet wurde er schon bald zum

tere Kriegsfilm Behind the Door sowie zwei

Star: Mervyn LeRoys Little Caesar (1931) war

herausragende schwedische Filme. 1929 er-

der erste von vielen Films noirs, in denen

scheint im Rückblick vielen als Höhepunkt

Robinson einen Gangster spielte; bald tat er

stummer Filmkunst – etwa mit Tagebuch ei-

sich schwer mit diesem Klischee. Allmäh-

ner Verlorenen; daneben erregen frühe Ton-

lich verkörperte er auch positive Figuren,

filme wie Thunderbolt von Josef von Stern-

darunter den Nazijäger in Confessions of a

berg Aufmerksamkeit. Das Festival bietet

Nazi Spy (1939) und den Syphilis-Arzt im Do-

wiederum eine enorme Vielfalt an Themen

kudrama Dr. Ehrlich’s Magic Bullet (1940),

und Stilen und glänzt mit Live-Musikbeglei-

brillierte aber nebenbei durchaus in Komö-

tung auf höchstem Niveau.

dien.


Ab 22. November im Kino

LIQUID TRUTH| Carolina Jabor, Brasilien

Der Publikumsliebling aus Rio

GUSTAVO PIZZI, BRASILIEN Ab 2

emb e 0. Dez

r im Ki

no

Mutterliebe und Muttersorgen


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