Filmpodium Programmheft Mai - Juni 2017

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16. Mai –30. Juni 2017

Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz Catherine Deneuve & Françoise Dorléac


BIG D ATA

mit Pie rry Che & ne n fi m a «d ffee» co

Filmstill: Tron

17 20 I MA

Twin Peaks Reloaded Fire Walk with Me (1992) The Missing Pieces (2014) Samstag, 20. Mai, 18:15 Uhr www.filmpodium.ch


01 Editorial

Nicht jetzt, nicht alles 1981 brachte der Schweizer Konzeptkünstler Dieter Meier den Film Jetzt und alles heraus, dessen Titel eine Parole der Punk-Generation aufgriff: Wenn schon «no future» absehbar war, dann musste das volle Leben «subito» her. 36 Jahre später ist «jetzt und alles» da, zumindest in der Welt der Medien: Digital Natives mussten nie lernen, auf etwas zu warten oder zu planen, denn alles, was sie sehen und hören wollen, ist mit einem Fingertippen subito auf ihrem Smartphone. Entsprechend haben sich Hör- und Sehgewohnheiten bei den heutigen Unter-30-Jährigen verändert: Die meisten unterwerfen sich nie den Programmstrukturen irgendwelcher Institutionen; sie meiden Veranstaltungen, die nicht nur ihre Community bedienen; sie wählen individuell aus, was sie wann konsumieren wollen. Da das Medien- und Veranstaltungsangebot auch in der ­realen Welt inzwischen unübersichtlich gross geworden ist, gehen U30er nur noch selten ins Kino und wenn, dann spontan und nur in Filme, die gerade ­aktuell und im Gespräch sind. Das Filmpodium zeigt grundsätzlich nicht alles, sondern Ausgesuchtes und Erlesenes. Es ist nicht tagesaktuell und sein Programm ist auf gut sechs Wochen hinaus präzis geplant und absehbar. Bei uns läuft nicht das Neueste und Lauteste; vielmehr zeigen wir hauptsächlich klassische Filme, die wiederzusehen oder wieder zu sehen sich lohnt. Im kommenden Programm gilt dies etwa für die restaurierten Werke des alten Schweizer Films, der nicht nur formal und inhaltlich neu bewertet werden will, sondern auch als historisches Zeitdokument von Belang ist. Und es gilt dies nicht minder für die ersten Filme von Catherine Deneuve, die den Vergleich mit ihrer leider früh verstorbenen, ebenfalls hoch talentierten Schwester Françoise Dorléac gestatten. Die Digital Natives wollen wir indes nicht völlig ignorieren. Auch sie dürften sich bei uns wohlfühlen, wenn das Filmpodium David Lynchs Twin Peaks am Vorabend der Fortsetzung dieser legendären Serie mit einem Event würdigt. Und wenn der Cineast und Aktivist Yann Arthus-Bertrand persönlich in unserem Kino sein jüngstes Projekt Human vorstellt, so kommen seine eindrucksvollen Porträts von Menschen aus aller Welt und seine spektakulären Luftbildaufnahmen auf der Leinwand allemal besser zur Geltung als auf dem Smartphone. Michel Bodmer

Titelbild: Zarli Carigiet in Wachtmeister Studer


02 INHALT

Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz

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Catherine Deneuve & 16 Françoise Dorléac

Der «alte» Schweizer Film, oft po­ pulär, aber von der Kritik lange gering geschätzt, erlebt eine Renaissance. Nicht nur werden die Filme heute künstlerisch differenzierter beurteilt; dank sorgfältiger Restaurierungen durch das Schweizer Fern­sehen in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse und Memoriav offenbaren die Werke von Franz Schnyder, Leopold Lindtberg, Kurt Früh und ihren Zeitgenossen ihre a­ udiovisuellen Qualitäten. Höchste Zeit also, dass Klassiker wie Gilberte de Courgenay, Die letzte Chance und Hinter den sieben Gleisen sowie der umstrittene «Problemfilm» Dilemma und Alfred Rassers Läppli-Satiren in neuem Glanz auch wieder im Kino zu geniessen sind. Die Reihe wird ergänzt mit einer Podiumsveranstaltung zum Thema Restaurierung.

Françoise Dorléac und Catherine Deneuve waren noch keine zwanzig, als die talentierten Schwestern Anfang der Sixties ihre ersten Erfolge feierten. Ob als Komödiantin, Musical- oder Drama-Darstellerin, als passive Verführerin, trickreiche Hochstaplerin oder Märchenprinzessin, als überdrehte verwöhnte Tochter oder junge Ehefrau, als Neurotikerin oder Sadistin, ob unnahbar oder kumpelhaft: noch heute überzeugen die beiden mit ihrer Vielseitigkeit. Mit Filmen von Michel Deville, François Truffaut, Roman Polanski, Jacques Demy, Luis Buñuel und vielen andern zeichnet unser Programm die bald parallel laufenden, bald rivalisierenden Schwester-Karrieren bis in die frühen 1970er Jahre nach und erlaubt auch ein Wiedersehen mit zahlreichen Stars jener Zeit.

Bild: Im Parterre links

Bild: Les demoiselles de Rochefort


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Das erste Jahrhundert des Films: 1957

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Filmpodium für Kinder: 35 Brendan und das Geheimnis von Kells

Männer in Not: Arbeiter Aldo wird in Il grido von seiner Frau verlassen; Oberst Dax rebelliert in Paths of Glory gegen einen unmenschlichen Befehl; Oberst Nicholson muss für die Japaner The Bridge on the River Kwai bauen; Zeitungsmann Hunsecker kann in Sweet Smell of Success die Romanze seiner Schwester nicht ertragen; in der Bäckerei Zürrer bricht der Vater mit dem Sohn – nur in Wilde Erdbeeren hält ein Akademiker versöhnlich Rückschau.

Ein von mittelalterlicher Buchmalkunst inspirierter Fantasy-Animationsfilm aus Irland. Der junge Brendan entflieht der klösterlichen Enge in die Welt der Mythen und Legenden.

Bild: Paths of Glory

Premiere: Human

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Der engagierte Fotograf und Cineast Yann Arthus-Bertrand präsentiert in Human ein Mosaik von Porträts einzelner Menschen aus aller Welt mit beeindruckenden Luftbildaufnahmen des Planeten, auf dem wir leben.

Bild: Brendan und das Geheimnis von Kells

Einzelvorstellungen Buchvernissage «Claude Goretta» 36 Twin Peaks Reloaded

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70 Jahre Filmfestival Locarno: Warum Bodhi-Dharma in den Orient aufbrach? und Ayneh (The Mirror)

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Eröffnung der Tagung «Exploring the ‹Transnational› in Film Studies»: ¡Alambrista!

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Sélection Lumière: Shadows

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05 Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz

Die digitale Rettung von Wipf, Gilberte und Läppli Seit 2002 restauriert das Schweizer Fernsehen in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse und dem Verein Memoriav alljährlich zwei bis vier Schweizer Filme mit digitaler Technik. Diese Arbeiten, seit Kurzem im HD-Format, werden in Fachkreisen hoch geschätzt, sind aber kaum je auf der Kinoleinwand zu sehen. Das Filmpodium schliesst diese Lücke mit einer repräsentativen Auswahl von 17 Titeln. Jedes Programm ist eine Auswahl. Das gilt für die Herkules-Aufgabe der Restaurierung und Erhaltung des Schweizer Filmerbes genauso wie für die Zusammenstellung eines Filmpodium-Programms. Was den Schweizer Film von 1938 bis 1964 betrifft, so kommt man dabei um die drei Namen Leopold Lindtberg, Franz Schnyder und Kurt Früh nicht herum. Als einzige Regisseure haben sie zu ihrer Zeit kontinuierlich Filme gedreht, von ihnen stammen konsequenterweise ein Grossteil der bisher restaurierten Werke und das Gros der nun im Kino programmierten Titel. Nicht alles ist grosse Kunst, primär geht es um Rettung, Erhaltung und Zugänglichmachung des filmischen Kulturguts. Erwähnenswert ist sodann, dass sich auch die Bildbearbeitung in den vergangenen fünfzehn Jahren entwickelt hat: Das heute übliche HD-Format (High Definition) lässt einen 2002 restaurierten Film schon fast wieder «alt» aussehen. Leopold Lindtberg: der Internationale Gleich sechs der insgesamt elf abendfüllenden Spielfilme, die zwischen 1938 und 1953 unter Leopold Lindtbergs Regie entstanden, sind im Filmpodium zu sehen. Bei seinem Erstling Füsilier Wipf wurde Lindtberg noch der erfahrene Cutter Hermann Haller als Koregisseur beigesellt, doch schon für die beiden nachfolgenden Filme, Wachtmeister Studer (1939, nach Friedrich Glauser) und Die missbrauchten Liebesbriefe (1940, nach Gottfried Keller), war er allein zuständig. Lindtberg, hauptamtlich am Zürcher Schauspielhaus tätig, inszenierte die beiden, vom Inhalt sehr unterschiedlichen Literaturadaptionen mit Esprit und Witz; nicht zufällig gehören die Titel seit Jahrzehnten zu den beliebtesten Schweizer Filmen. Marie-Louise (1944) und Die letzte Chance (1945) sind die vorläufigen Höhepunkte der Restaurationsarbeiten: Beide >

Grenzüberschreitend: Die letzte Chance < Ländlich: Die Käserei in der Vehfreude

<

Urban: Hinter den sieben Gleisen


06 brillieren im HD-Format und beide enthalten Szenen, die bis anhin als verschollen galten. Während im ersten Film noch reichlich Sonntagsschulstimmung mitschwingt, überzeugt das Flüchtlingsdrama Die letzte Chance durch die aktuelle Stoffwahl sowie die Nüchternheit der Darstellung. Der Film, nach Kriegsende mehrfach ausgezeichnet, ist ein Muss für alle Cineasten. Swiss Tour (1948) ist als Zeitdokument interessant: Wem, ausser amerikanischen GIs, wäre wohl erlaubt worden, sich übermannsgross neben dem Matterhorn in Szene zu setzen? Franz Schnyder: Glück nur mit Gotthelf Beinahe ein Vierteljahrhundert umfasste die Filmkarriere Franz Schnyders, doch sie verlief alles andere als geradlinig. In der Filmpodium-Reihe ist der Berner Regisseur mit drei Titeln vertreten, darunter sein erstes und sein letztes Werk. Gleich das Debüt Gilberte de Courgenay (1941) geriet zum Grosserfolg und beschied der Hauptdarstellerin Anne-Marie Blanc eine Starrolle, mit der sie bis ins hohe Alter identifiziert wurde. Schnyders übernächster Film, Wilder Urlaub (1943), der einen Schweizer Soldaten als Deserteur porträtierte, fiel beim Publikum durch. Erst 1954 konnte Schnyder mit Uli der Knecht zum Film zurückkehren. Mit dem mutigen Der 10. Mai (1957, restaurierte Fassung 2015 im Filmpodium) erlitt der Regisseur erneut kommerziellen Schiffbruch, diesmal auch als Produzent. «Retour à Gotthelf» lautete nun die Losung. Die Käserei in der Vehfreude (1957) setzte voll auf Action, was dem Film in der BRD den Verleihtitel Wildwest im Emmental eintrug. In der Folge verfilmte Schnyder vier weitere Werke des Emmentaler Autors bis hin zu Geld und Geist (1964), dem einzigen Titel der Reihe in Farbe. In jenem Jahr kam allein dieser einheimische Spielfilm ins Kino, und er beendete eine Epoche. Kurt Früh: Wider den «Landi»-Geist Lange Zeit wurden die Kinofilme Kurt Frühs als «Kleinbürger-Dramen» empfunden – zu Unrecht: Bäckerei Zürrer (1957, aktuell in der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» programmiert) ist der beste Schweizer Film der fünfziger Jahre und der erste urbane Schweizer Film überhaupt. Früh setzte einen städtischen Mikrokosmos ins Bild und konfrontierte die «Landi»-Werte des alten Bäckermeisters sowohl mit jenen seiner drei (erwachsenen) Kinder als auch mit jenen der Italienerkolonie rund um die Zürcher Langstrasse. Drei Nebenfiguren aus Bäckerei Zürrer kamen in Hinter den sieben Gleisen (1959) zu einem Hauptauftritt. Es ist dies des Regisseurs Lieblingsfilm, ein anarchistisches Märchen, in dem die drei Clochards Dürst, Clown und Barbarossa (grossartig: Max Haufler) ein Leben abseits der Normen zelebrieren. Der Teufel hat gut lachen (1960) ist das Sequel des Sequels, eine schweizerischdeutsche Koproduktion: Diesmal hat es die drei Vagabunden ins Tessin verschlagen, wo sie der Teufel mit Geld in Versuchung führt, wobei häufige


07 ­ aheinstellungen auf Banknoten wohl unbewusst auf die angebrochene N Hochkonjunktur verweisen. Weniger bekannt ist Im Parterre links (1963), ein Familienstück um Schein und Sein. Die Mutter definiert und manipuliert die Wertvorstellungen ihrer Liebsten und ist dann völlig ratlos, als die eigene Tochter ihren jugoslawischen Freund nach Hause bringt: «En Jugo-Was?» Läppli und Raritäten Alfred Rassers Cabaret-Figur Theophil Läppli ist helvetischer Kult; sie kam unter Rassers Regie auch in zwei abendfüllenden Spielfilmen zu Ehren. HDSoldat Läppli (1960), in dem der Autor den militärischen Leerlauf durch permanenten Übereifer unterlief, war ein Kinohit und hat bis heute eine grosse Fangemeinde. Gerade im partiellen Scheitern ist Demokrat Läppli (1961) vielleicht der interessantere Film. Rasser mass hier die Schweizer Realität an den Idealen der klassischen Demokratie, wobei er auch die Arbeitswelt miteinbezog. Doch die Läppli-Subversion verfing dabei nur gelegentlich, offensichtlich verbot sich im Kalten Krieg humorvolle Systemkritik. Edmund Heuberger ist als Regisseur nur noch Insiderkreisen bekannt. Als Rarität zeigt das Filmpodium sein ambitioniertes Abtreibungsdrama Dilemma (1940). Gespannt sein darf man auf eine weitere Arbeit Heubergers, Das Menschlein Matthias (1941), dessen Restauration momentan in der Endphase steckt. Max Haufler schliesslich, der ewige Aussenseiter und Rebell des Schweizer Films, ist im Programm mit Menschen, die vorüberziehen ... (1942) vertreten. Allzu gerne hätte man sich auch Farinet, Hauflers 1939 gedrehte Ramuz-Verfilmung, angesehen. Doch davon existiert vorläufig keine restaurierte Fassung. Nicht alles, was wünschbar ist, ist auch machbar. Dies gilt auch für die Rettung und Restaurierung des Schweizer Filmerbes. Felix Aeppli Felix Aeppli, Historiker und Filmwissenschaftler, lebt in Zürich und befasst sich seit Mitte der 1970er-Jahre mit dem Thema Schweizer Film. aeppli.ch

DIE LETZTE CHANCE: DAS SCHWEIZER FILMERBE UND SEINE RETTUNG

PODIUMSDISKUSSION MI, 31. MAI | 18.15 UHR

Die Filme in diesem Programm wurden in den letzten Jahren vom Schweizer Radio und Fernsehen SRF in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse und dem ­Verein Memoriav restauriert. Über die Herausforderungen und die Prioritäten bei der Restaurierung des Schweizer Filmerbes diskutieren an einer Podiumsveranstaltung der Projektverantwortliche bei SRF, Heinz Schweizer, Memoriav-Direktor Christoph Stuehn und Cinémathèque-Direktor Frédéric Maire mit dem Historiker und Filmwissenschaftler Felix Aeppli. Das Gespräch wird moderiert von Andreas Furler, ehem. Koleiter Filmpodium, Gründer Filmportal cinefile.ch.


> FĂźsilier Wipf.

> Gilberte de Courgenay.

> Wachtmeister Studer.

> Dilemma.

> Die missbrauchten Liebesbriefe.

> Menschen, die vorĂźberziehen ....


Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz. 109 Min / sw / DCP / Dialekt/d // REGIE Leopold Lindtberg //

FÜSILIER WIPF

DREHBUCH Richard Schweizer, Horst Budjuhn, Kurt Gug-

Schweiz 1938

genheim, nach dem Roman von Friedrich Glauser // KAMERA

Ein Coiffeurlehrling wird während der Grenz­ besetzung im Ersten Weltkrieg zum Militär ein­ gezogen und reift, nicht zuletzt dank einem ­Mentor, zum verantwortungsbewussten Menschen. «Füsilier Wipf kann – bei romanhaft-erzählerischem Inhalt – als der erste vollständig nationale Film betrachtet werden. Seine Zielrichtung war eindeutig, er sollte das Volk für die Unsicherheit, die seit der Machtergreifung Hitlers in Europa herrschte, sensibilisieren, es durch die Idealität des Milizsystems und des freien Bürgers im Soldatenrock auch gegen die Suggestionen der von der nationalsozialistischen Diktatur ausgegebenen Parolen einer Neuen Ordnung wappnen und einsehen lassen, dass für die Schweiz eine militärische Rüstung nicht unnütz ist.» (Martin Schlappner, in: Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films 1896  –1987, Schweizerisches Filmzentrum 1987)

MIT Heinrich Gretler (Wachtmeister Jakob Studer), Bertha

112 Min / sw / Digital HD / Dialekt/d // REGIE Leopold Lindtberg, Hermann Haller // DREHBUCH Richard Schweizer, Robert Faesi, nach der Novelle von Robert Faesi // KAMERA Emil Berna // MUSIK Robert Blum // SCHNITT Käthe Mey, ­Hermann Haller // MIT Paul Hubschmid (Reinhold Wipf), Heinrich Gretler (Leu), Robert Troesch (Meisterhans), Zarli Carigiet (Schatzli), Max Werner Lenz (Hungerbühler), Sigfrit Steiner (Oberleutnant), Lisa Della Casa (Vreneli), Elsie ­Attenhofer (Rosa Wiederkehr), Emil Hegetschweiler (Coiffeur Wiederkehr), Alfred Rasser (Notar Schnurrenberger).

WACHTMEISTER STUDER Schweiz 1939 In Gerzenstein wird eine Leiche mit Kopfschuss aufgefunden. Ein Gärtnergehilfe wird als Mordverdächtiger inhaftiert und macht einen Selbstmordversuch. Wachtmeister Studer von der Berner Kantonspolizei rettet ihm das Leben und versucht die Hintergründe des Falls aufzuklären. «Hier wurde, dem Vorwurf Friedrich Glausers folgend, ein schweizerischer Typus des Detektivs geschaffen, Bild und Vorbild eines Mannes, der zwar von spiesserhaftem Aussehen ist, rauh und ungehobelt im Benehmen; in dessen Innern aber tief eingelagert Mitgefühl und Verständnis für die Versuchungen vorhanden sind, die den Bürger auf Abwege führen. Er ist Bild und Vorbild eines Mannes, der, indem er im Namen des Gesetzes für Ordnung und für das Gute sorgt, die seelischen Spannungen nachzufühlen imstande ist, zu denen das Böse oder allgemein die Not des Gemütes den Menschen hindrängt.» (Martin ­ Schlappner, a. a. O.)

Emil Berna // MUSIK Robert Blum // SCHNITT Käthe Mey // Danegger (Mutter Aeschbacher), Anne-Marie Blanc (Sonja Witschi), Adolf Manz (Aeschbacher, Bürgermeister), Armin Schweizer (Gottlieb Ellenberger), Ellen Widmann (Anastasia Witschi), Robert Troesch (Armin Witschi), Robert Bichler (Erwin Schlumpf), Zarli Carigiet (Schreier), Rudolf Bernhard (Schwomm), Sigfrit Steiner (Steffen, Untersuchungsrichter).

DIE MISSBRAUCHTEN LIEBESBRIEFE Schweiz 1940 Viggi Störteler, ein Kaufmann und heimlicher Möchtegern-Dichter aus Seldwyla, muss auf Geschäftsreise gehen und nötigt seine Frau Gritli, mit ihm einen poetischen Briefwechsel zu führen. Von diesem Auftrag überfordert, greift Gritli zu einer List: Sie schickt Viggis Briefe in ihrem Namen an den Dorflehrer Wilhelm, der sie prompt feurig erwidert, und seine Ergüsse leitet Gritli wiederum in ihrem Namen Viggi weiter. Aber bald ist Wilhelm heftig in Gritli verliebt. «Diese weitgehend gelungene, das komödiantische Element betonende Leinwandadaption von Kellers amüsant-versöhnlicher Novelle um den Kampf zwischen Sein und Schein wurde zu ­einem der grössten Erfolge des ‹alten Schweizer Films›.» (Zoom) «Die Liebesbriefe weisen ein Merkmal auf, das im Schweizer Filmschaffen quasi inexistent ist: Charme. Max Ophüls, der den Film anlässlich seines kurzen Zürichaufenthalts im Winter 1940/41 visionierte, war entzückt, ‹gerührt und überrascht, dass hier so etwas entstehen konnte›.» (Hervé Dumont: Geschichte des Schweizer Films, Schweizer Filmarchiv/Cinémathèque suisse 1987) 94 Min / sw / DCP / Dialekt/d // REGIE Leopold Lindtberg // DREHBUCH Richard Schweizer, Kurt Guggenheim, Leopold Lindtberg, Horst Budjuhn, nach der Novelle von Gottfried Keller // KAMERA Emil Berna // MUSIK Robert Blum // SCHNITT Käthe Mey // MIT Anne-Marie Blanc (Gritli Störteler), Paul Hubschmid (Wilhelm), Alfred Rasser (Viggi Störteler), Heinrich Gretler (Schulpfleger), Therese Giehse (Marie), Mathilde Danegger (Kätter Ambach), Emil Hegetschweiler (Pfarrer), Elsie Attenhofer (Anneli), Emil Gyr (Beisitzer).

DILEMMA Schweiz 1940 Der Frauenarzt Paul Ferrat hat ein Heim für Kinder lediger Mütter gegründet und ist ein erklärter Gegner der Abtreibung. Doch dann wird seine 17-jährige Tochter Edith vom skrupellosen Ver-

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Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz. führer Sternen in einen Nachtclub geschleppt, betrunken gemacht und missbraucht. Als Ferrat feststellt, dass Edith ungewollt schwanger ist, will er ihr die Abtreibung verweigern, aber sie droht, zu einer Engelmacherin zu gehen. Um Schlimmeres zu verhindern, nimmt Ferrat den Eingriff selbst vor – mit fatalen Folgen. Der Zürcher Stefan Markus kehrte nach 16 Jahren als Drehbuchautor und Produzent in Paris Ende der 30er-Jahre heim und gründete die Gotthard-Film GmbH. Für die Inszenierung seines Stoffs zum Skandalthema Abtreibung verpflichtete er den Auslandschweizer Edmund Heuberger. Lukas Ammann verkörperte nicht nur den schmierigen Verführer Sternen, sondern überwachte auch die Dialektdialoge; Maria Becker gab in einer (englischsprachigen!) Nebenrolle ihr Leinwanddebüt. Obschon der Film keineswegs Partei für die Abtreibung ergreift (auch wenn er die gesellschaftliche Ächtung lediger Mütter anprangert), wurde Dilemma von der katholischen Presse verteufelt. Das dürfte zu seinem Erfolg beim Publikum beigetragen haben, ebenso wie das zeitweilige Verbot des Films in Luzern und Genf. Die Militärzensur verlangte, dass «der Ort der Handlung anonym bleibe», und liess einen Anfangsschwenk über das dennoch unschwer erkennbare Zürich entfernen. (mb) 114 Min / sw / Digital HD / Dialekt/D/E/d // REGIE Edmund ­Heuberger // DREHBUCH Stefan Markus // KAMERA Harry Ringger, Georges C. Stilly // MUSIK Hans Haug // SCHNITT Georges C. Stilly // MIT Leopold Biberti (Dr. Paul Ferrat), Marina Rainer (Edith Ferrat), Fritz Schulz (Mr. Reed), Margarete Fries (Agnes), Rita Liechti (Schwester Cécile), Maria Becker (Miss Ellen Denny), Walter Wellauer (Redaktor Marti), Lukas Ammann (Jean Sterner), Gerti Wiesner (Vanna Corelli), Johannes Steiner (Untersuchungsrichter), Sigfrit Steiner ­ (Staatsanwalt).

GILBERTE DE COURGENAY Schweiz 1941 «Die Gilberte. Der Glücksfall. Die Rolle ihres Lebens. Die Verkörperung der legendären ­ ­Wirtstochter an der jurassischen Grenze, die den Soldaten im Ersten Weltkrieg die Moral aufrechterhalten half und nun im Kino den Soldaten und der Bevölkerung im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung zur Erbauung dienen sollte. (…) Schnyder hat augenscheinlich gespürt, dass seine bildhübsche 22-jährige Heroine zum Idol taugte, und sie entsprechend inszeniert.» (Martin Walder, NZZ am Sonntag, 6.2.2009) Dieser Klassiker des Schweizer Films war auch ein Publikumserfolg – zu seiner Zeit allerdings nicht unumstritten: Der Film zeige «eine

Gruppe von Gemütsmoren, von einem unverantwortlichen Zeughaus eingekleidet», schimpfte Max Frisch schon 1941 in der Zeitschrift «Du». 115 Min / sw / DCP / Dialekt/F/d // REGIE Franz Schnyder // DREHBUCH Kurt Guggenheim, Richard Schweizer, nach dem Roman von Rudolf Bolo Mäglin // KAMERA Emil Berna // ­MUSIK Robert Blum // SCHNITT Käthe Mey, Hermann Haller // MIT Anne-Marie Blanc (Gilberte Montavon), Hélène Dalmet (Gilbertes Mutter), Heinrich Gretler (Friedrich Odermatt), Ditta Oesch (Tilly Odermatt), Mathilde Danegger (Tante Ottilie), Erwin Kohlund (Peter Hasler), Rudolf Bernhard (René Gengenbach), Jakob Sulzer (Otto Helbling), Zarli Carigiet (Luzi Caviezel), Max Knapp (Fritz Gubler), Schaggi Streuli (Gustav Hannart).

MENSCHEN, DIE VORÜBERZIEHEN ... Schweiz 1942 «Der Wanderzirkus Arena Komet fährt durchs Mittelland. Ein Unfall zwingt die kleine Truppe, in einer Kleinstadt haltzumachen. Marina, die Tochter von Direktor Horn, lässt ihr Pony grasen und weckt so den Zorn der Bäuerin vom Bucherhof. Deren Sohn Hans jedoch ist fasziniert vom rebellischen Mädchen. Als die Artisten des Diebstahls bezichtigt werden, springt Hans helfend ein und weckt so das Interesse von Marina. (...) Zwei unterschiedliche Lebensweisen, zwei unterschiedliche Welten prallen hier kontrastreich aufeinander: jene der Fahrenden und jene der Sesshaften. Lose als Grundlage für diese Geschichte diente Carl Zuckmayers Bühnendrama ‹Katharina Knie›, doch Max Haufler verschweizerte es mit seinen Autoren komplett, sodass ein eigenständiges Werk entstand. (...) Haufler inszeniert mit gutem Gespür für Optik und Schauspielführung, verzichtet auf grobschlächtige Szenen, sondern taucht so einfühlsam wie gescheit in die Welt der Artisten und jene der Bauern ein. Seine Sympathien liegen dabei klar auf der Seite der Fahrenden, deren Kunst und lebenslange Wanderschaft ihm deutlich näher lagen. Dennoch schafft er es gut, die Balance zu halten, und nutzt beide Milieus als Bereicherungen für seine Geschichte.» (Marco Spiess, molodezhnaja.ch, 11.1.2013) 102 Min / sw / Digital SD / Dialekt/D/F/I // REGIE Max Haufler // DREHBUCH Albert J. Welti, Horst Budjuhn, Max Haufler, nach dem Theaterstück «Katharina Knie» von Carl Zuckmayer // K ­ AMERA Harry Ringger // MUSIK Hans Haug // SCHNITT Georges Stilly // MIT Adolf Manz (Ludwig Horn), Marion Cherbuliez (Marina, seine Tochter), Therese Giehse (Boschka), Max Werner Lenz (Picco), Willy Frey (Hans Bucher), Ellen Widmann (seine Mutter), Lukas Ammann (Blacky), Rudolf Bernhard (Ouen-Ouen), Emil Hegetschweiler (Schlumpf).


Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz.

MARIE-LOUISE Schweiz 1944 «Im Film kommt eine Gruppe von Kindern, darunter die 13-jährige Marie-Louise, aus Frankreich in die Schweiz, um sich während dreier Monate bei Gastfamilien und in einem Ferienlager vom Schrecken des Kriegs zu erholen. Die Fachkritik lobte das Werk nahezu euphorisch. (...) Regisseur Leopold Lindtberg und Drehbuchautor Richard Schweizer hatten anfänglich eine distanziertere Haltung gegenüber dem Schweizer Hilfsprogramm für die traumatisierten Auslandskinder im Auge (ihr Ansatz scheint noch im nüchternen Realismus der Aussenszenen des Films durch, zum Beispiel dem Bombardement Rouens, im Schrecken Marie-Louises über die tieffliegenden Flugzeuge oder in der Begräbnisszene). Sie wollten aufzeigen, dass man den Kindern einen schlechten Dienst erweist, wenn man sie hätschelt und behandelt, als ob sie in der Schweiz zu Hause wären. Doch die Starbesetzung des Werks machte dem Anliegen einen Strich durch die Rechnung. Heinrich Gretler als Fabrikbesitzer Rüegg, in dessen Villa Marie-Louise zunächst als Notlösung, bald aber definitiv untergebracht wird, war zu sehr bärbeissiger und jovialer Patron, als dass das Publikum ihm gegenüber eine kritische Distanz hätte wahren können. Desgleichen Anne-Marie Blanc, freiwillige Rotkreuz-Helferin, charmante Tochter und Chef­ sekretärin Rüeggs, die den Vater immer dann um den Finger zu wickeln weiss, wenn eine Situation sich allzu sehr zuspitzt.» (Felix Aeppli, Film­ bulletin 6/2015) Richard Schweizers Drehbuch gewann einen Oscar. 100 Min / sw / DCP / Dialekt/F/d // REGIE Leopold Lindtberg // DREHBUCH Richard Schweizer // KAMERA Emil Berna // MUSIK Robert Blum // SCHNITT Hermann Haller // MIT Josiane Hegg (Marie-Louise Fleury), Heinrich Gretler (Direktor Rüegg), Anne-Marie Blanc (Heidi Rüegg), Margrit Winter (Anna Rüegg), Armin Schweizer (Lehrer Bänninger), Mathilde Danegger (Päuli), Fred Tanner (Robert Scheibli), Emil Gerber (Ernst Schwarzenbach), Bernard Ammon (André).

DIE LETZTE CHANCE Schweiz 1945 «Erneut schicken uns die Schweizer einen lebhaften und aufrichtigen Film, der etwas von der Not und dem Mut gewisser Völker in Europa während des Kriegs wiedergibt. Die letzte Chance muss als einer der bisher besten Filme über den Zweiten Weltkrieg anerkannt werden.

(Das Drama) handelt von zwei alliierten Gefangenen, einem Briten und einem Amerikaner, die in Norditalien aus einem Zug entkommen, zur Schweizer Grenze aufbrechen und wenige Kilometer vor ihrem Ziel in ein kritisches Unterfangen verstrickt werden. Denn dort, in einem italienischen Dörflein – und dank der Bemühungen eines kühnen Priesters –, stossen sie auf einen weiteren britischen Offizier und eine Gruppe von Flüchtlingen, die in die Schweiz gelangen wollen.» (Bosley Crowther, The New York Times, 28.11.1945) «Die letzte Chance ist ohne Zweifel Lindtbergs Meisterwerk. (...) Man tut dem Film Unrecht an, wenn man heute meinen zu dürfen glaubt, dass er eine Art offizieller Film über die Schweiz gewesen sei. Das Gegenteil trifft zu, die Filmemacher bekamen den Widerstand der Ämter zu spüren, den Unmut der Behörden, die sich durch den Stoff des Films und die Tatsache, dass er überhaupt gedreht wurde, dem Vorwurf des neutralitätswidrigen Verhaltens ausgesetzt sehen wollten.» (Martin Schlappner, a. a. O.) 113 Min / sw / DCP / OV/d // REGIE Leopold Lindtberg // DREHBUCH Richard Schweizer, Elizabeth Scott-Montagu, ­Alberto Barberis, David Wechsler // KAMERA Emil Berna // MUSIK Robert Blum // SCHNITT Hermann Haller // MIT Ewart G. Morrison (Major Telford), John Hoy (Leutnant John Halliday), Ray Reagan (Sgt. James R. Braddock), Therese Giehse (Frau Wittels), Eduardo Masini (Wirt), Luisa Rossi (Tonina), Sigfrit Steiner (Schweizer Militärarzt), Leopold ­ ­Biberti (Oberleutnant Brunner), Robert Schwarz (Bernhard Wittels), Emil Gerber (Grenzwächter Rüedi), Germaine Tournier (Madame Monnier).

SWISS TOUR Schweiz/USA 1949 «Lazar Wechsler, der Schweizer Produzent, dessen frühere Filme The Search, Die letzte Chance und Marie-Louise nicht eben von Fröhlichkeit strotzten, macht mit Swiss Tour eine Kehrtwende. Dieser Film ist so schwergewichtig und bedeutsam wie der Knatsch eines Liebespaars, und bei dieser Geschichte über einen amerikanischen Matrosen, der sich auf Urlaub in den Alpen in ein einheimisches Mädel verguckt, steht Wechsler Hollywood näher als der Schweiz. Trotz gelegentlicher Banalitäten wird der Film gerettet von den gut gelaunten Darbietungen seiner Darsteller und von den spektakulären Schauplätzen, an denen er gedreht wurde. (...) Cornel Wilde schlüpft mühelos in die Rolle des liebeskranken Mariners und macht sogar seine Versuche, Schweizerdeutsch zu sprechen und Ski zu laufen, recht lustig. Josette Day, bekannt aus Cocteaus La belle et

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> Swiss Tour.

> Marie-Louise.

> Der Teufel hat gut lachen.

> HD-Soldat Läppli.

> Demokrat Läppli.

> Geld und Geist.


Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz. la bête, ist blond und wehmutsvoll attraktiv als die Sonne in seinem Leben. Simone Signoret ist reizvoll und nicht wirklich böse als die andere Frau.» (Bosley Crowther, The New York Times, 9.6.1950) 101 Min / sw / Digital HD / OV/d // REGIE Leopold Lindtberg // DREHBUCH Richard Schweizer, Ring Lardner Jr., Curt Siodmak, Peter Viertel, Richard Schweizer // KAMERA Emil Berna // MUSIK Robert Blum // SCHNITT Hermann Haller // MIT Cornel Wilde (Stanley Robin), Josette Day (Suzanne), ­Simone Signoret (Yvonne), John Baragrey (Jack), Richard Erdman (Eddy), Alan Hale Jr. (Joe), George Petrie (Sidney), Leopold Biberti (Walter Hochuli), Heinrich Gretler (Gemeindepräsident), Liselotte Pulver (Schwarm eines GI).

DIE KÄSEREI IN DER VEHFREUDE Schweiz 1958 Die Bewohner des Emmentaler Weilers Vehfreude haben eine Käserei gegründet, um wie die Nachbardörfer mehr Gewinn zu erwirtschaften. Als aber die Bauern aus Habgier anfangen, ihre Milch mit Wasser zu strecken, gerät das gemeinsame Geschäft in Gefahr; Hass und Missgunst führen zu wüsten Schlägereien. Inmitten dieses Trubels entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen dem Verdingkind Änneli und Felix, dem Sohn des Gemeindeammanns, die vom eifersüchtigen Eglihannes sabotiert wird. «Man merkt dem Film an, wie sehr Franz Schnyder an diesem Stoff gelegen war, wie vehement er sich dabei wiederum in Vermittlung eines historisch-literarischen Stoffes als ein Sozialkritiker in seiner eigenen, in unserer Gegenwart versteht.» (Martin Schlappner, a. a. O.) «Angenehm aber überrascht der Film insbesondere mit seinen dynamischen und launigen Action-Szenen. Im spektakulären Krawall, den Schnyder auf dem Marktplatz zu Langnau in Szene setzt, gehen sich über zweihundert Dörfler wild an den Kragen (...), während etwas weiter weg Matter und Haufler (erstklassig als niedere Krämerseele Eglihannes) ein Ben-Hur nachempfundenes, atemberaubendes Wagenrennen zum Takt gegenseitiger Peitschenschläge ins Gesicht hinlegen.» (Hervé Dumont, a. a. O.) 106 Min / sw / Digital HD / Dialekt/d // REGIE Franz Schnyder // DREHBUCH Richard Schweizer, Franz Schnyder, nach dem Roman von Jeremias Gotthelf // KAMERA Konstantin IrmenTschet // MUSIK Robert Blum // SCHNITT René Martinet // MIT Annemarie Düringer (Änneli), Franz Matter (Felix), Heinrich Gretler (Ammann), Margrit Winter (Bethi), Hedda Koppé (Ammännin), Emil Hegetschweiler (Pfarrer), Erwin Kohlund (Sepp), Ruedi Walter (Peterli), Margrit Rainer (Eisi, seine Frau), Max Haufler (Eglihannes), Max Werner Lenz (Dorf­ lehrer), Hans Gaugler (Fankhauser).

HINTER DEN SIEBEN GLEISEN Schweiz 1959 In einer Hütte hinter den Gleisen beim Rangierbahnhof Zürich hausen die Clochards Dürst, Barbarossa und Clown. Als eines Tages die schwangere Deutsche Inge auftaucht und im Schuppen des Trios ihr Kind zur Welt bringt, sehen sich die drei freiheitsliebenden Tagediebe und Kleinganoven plötzlich in einer kollektiven Vaterrolle und genötigt, Geld zu verdienen. Und Inge soll ja auch noch einen anständigen Mann kriegen. Ein Limmatstadt-Märchen. «Früh geht auch ein paar Wagnisse ein. Mit den Hauptfiguren zum Beispiel. In jener Zeit des wirtschaftlichen Booms war Arbeit das höchste Gut: Ein Land ohne Rohstoffe musste auf die Ressourcen setzen, die da waren – auf Fleiss, auf Wissen, aufs ‹Chrüpple›. Ausgerechnet drei Kerle ins Zentrum zu setzen, die mit Stolz nichts tun und nur rumlümmeln, ist mutig. Auch mutig: Eine Frau, erst noch eine aus dem ‹grossen Kanton› Deutschland, bringt unehelich ein Kind zur Welt und erfährt dafür nicht die einst obligate Strafe Gottes. Im Gegenteil: Glück soll ihr beschieden sein. Hinter den sieben Gleisen ist schliesslich ein Wohlfühl-Film, trotz aller potenziell kritischen Themen.» (Marco Spiess, molodezhnaja.ch, 10.12.2012) 106 Min / sw / DCP / Dialekt/D/d // REGIE Kurt Früh // DREHBUCH Kurt Früh, Hans Hausmann // KAMERA Emil Berna // MUSIK Walter Baumgartner // SCHNITT Hans Heinrich Egger // MIT Max Haufler (Barbarossa/Karl Kessler), Ruedi Walter (Clown), Zarli Carigiet (Dürst), Ursula Heyer (Inge), Hannes Schmidhauser (Hartmann), Margrit Rainer (Frau Herzog), Helmut Förnbacher (Paul Eberhard), Ettore Cella (Colonna), Albert Pulmann (Caraco).

DER KAUFMANN CARACO Schweiz 2017 Kurt Frühs Hinter den sieben Gleisen zeichnet ein vergnügliches Sittenbild von Zürich in den späten 1950er-Jahren. Der seinerzeit stadtbekannte Spitzenhändler Abraham Caraco, der am Rennweg sein Geschäft betrieb, erscheint in einer Nebenrolle, verkörpert von Albert Pulmann. Dem Schicksal des historischen Caraco spürt dessen Urgrossnichte, die Künstlerin Françoise Caraco, in ihrem Kurzfilm Der Kaufmann Caraco nach. 11 Min / Farbe + sw / DCP / Dialekt/D // DREHBUCH, REGIE, KAMERA, SCHNITT Françoise Caraco. Nur am 27. Juni, 18.15 Uhr, in Anwesenheit von Françoise Caraco

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Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz.

DER TEUFEL HAT GUT LACHEN Schweiz 1960 Nach dem Publikumserfolg von Hinter den sieben Gleisen doppelte Kurt Früh nach mit einem Sequel. In Der Teufel hat gut lachen lässt er den ­Leibhaftigen seine drei allzu genügsamen Clochards Dürst, Barbarossa und Clown mit einer fetten Brieftasche in Versuchung führen; auch sie sollen endlich dem Mammon hinterherjagen, wie der Rest der Welt. Tatsächlich mutieren die drei ­Tagediebe zunächst zu Glücksspielern und ­Prassern und zerstreiten sich; jeder will seinen Lebenstraum verwirklichen. Allmählich aber erkennen die Clochards, dass sie sich Glück nicht kaufen können, und kehren zu ihrer angestammten Lebensweise zurück. Die Koproduktion der Praesens mit Deutschland stellt dem Schweizer Trio deutsche Stars wie Gustav Knuth, Theo Lingen, Grit Boettcher und Horst Janson zur Seite. In Deutschland allerdings kam die gekürzte Fassung unter dem Titel Drei schräge Vögel nicht gut an. «Es ist ein ausgesprochen überzeugendes Ensemble, das Kurt Früh locker-flockig durch seine sozialkritische Geschichte manövriert. Sein Film verteufelt die Macht des Geldes, tut dies auch auf sehr offene, vielleicht gar plakative Weise, aber stets lustvoll-verspielt. Man nimmt die Aussage mit, aber vor allem gibt man sich dem Spass und der Unterhaltung hin.» (Marco Spiess, molodezh­ naja.ch, 14.2.2013)

Beim Telefondienst wird Läppli zum schwachen Glied in der Befehlskette, und als ein Schleifer ihn auf Vordermann bringen will, treibt ihn der unerschütterlich doofe HD-Soldat zur Verzweiflung. «Die Story, die Rasser um seinen Antihelden konstruiert hat, ist an sich kaum der Rede wert. Sie erlaubt ein paar herrliche Szenen, die aber weitgehend Sketch-Charakter haben. Als sympathischer Nebeneffekt des ständigen Abkommandierens wird HD-Soldat Läppli auch zu einer nostalgischen Schweiz-Reise, die uns von Basel über Schaffhausen bis in den Kanton Jura führt. (...) Nein, das ist keine hohe Filmkunst, aber ein Werk mit Spassgarantie. Mit grandiosem Hauptdarsteller, etlichen geglückten Pointen, Spitzen auf das Militär und einer immerhin soliden Machart schafft es Läppli, auch junge Generationen noch zu begeistern.» (Marco Spiess, molodezhnaja.ch, 30.12.2009) 116 Min / sw / Digital HD / Dialekt/d // REGIE Alfred Rasser // DREHBUCH Charles Ferdinand Vaucher, Alfred Rasser, nach ihrem Theaterstück «HD-Soldat Läppli» // KAMERA Hans Schneeberger // MUSIK Hans Moeckel // SCHNITT Walter Kägi // MIT Alfred Rasser (Theophil Läppli), Editha Nordberg (= Immy Schell) (Alice Brodbeck), Otto Wiesely (Fritz Mislin), ­Simone Petitpierre-Rasser (Henriette Brodbeck), Hermann Frick (Major Indlekofer), Franz Matter (Korporal Herbert ­Mathys), Bernard Junod (Oberleutnant Marc Clermont).

DEMOKRAT LÄPPLI Schweiz 1961

106 Min / sw / Digital HD / Dialekt/D/d // REGIE Kurt Früh // DREHBUCH Kurt Früh, Max Haufler // KAMERA Emil Berna // MUSIK Walter Baumgartner // SCHNITT Hans Heinrich ­Egger // MIT Max Haufler (Barbarossa), Ruedi Walter (Clown), Zarli Carigiet (Dürst), Gustav Knuth (Erich Füllgrabe), Trude Herr (Helga), Grit Boettcher (Elke), Walter ­Morath (Teufel), Ettore Cella (Colosso), Theo Lingen (Hoteldirektor), Horst Janson (Jürgen Lüdecke).

HD-SOLDAT LÄPPLI Schweiz 1960 Frei nach Jaroslav Hašeks bravem Soldaten Schwejk hat der Kabarettist Alfred Rasser seinen HD-Soldaten Theophil Läppli gestaltet und nach erfolgreichen Inszenierungen auf der Bühne 1960 auch ins Kino gebracht. Bei der Generalmobilmachung 1939 wird Läppli als vermeintlicher Antimilitarist verhaftet. Mangels Beweisen freigelassen, rückt er mit Sack und Pack ein und wird trotz seines offensichtlichen Deppentums dem Hilfsdienst zugeteilt. Der welsche Offizier Clermont schickt Läppli als Postillon d’Amour los, was prompt schiefgeht.

Theophil Läppli hat Griechenland, die Wiege der Demokratie, besucht und will nun seine Heimat wieder auf den rechten demokratischen Weg bringen; allerdings durchschaut er das Wahlsystem ebenso wenig wie die Machenschaften der Mächtigen. Der Unternehmer und Nationalrat Boller kauft das Haus von Läpplis Schwester und errichtet auf dem Grundstück ein riesiges Chalet. Mit einem Teil des Kauferlöses will Läppli die neue Partei des jungen Idealisten Flammer unterstützen, aber sein Freund Mislin haut mit dem Geld nach Italien ab. Bollers Frau bezahlt Hunziker, einen entlassenen Arbeiter Bollers, dafür, das Chalet in Brand zu stecken, weil sie dort einen Neubau plant. Hunziker schiebt das Verbrechen Läppli in die Schuhe, worauf dieser in die Mühlen der Justiz gerät. «Halb Don Quichotte, halb Candide, fällt Rasser über die Phrasendrescher des 1. August sowie über Grundstücksspekulanten, Berufspolitiker und Meinungsmacher her. Unser einfältiger Philosoph sucht unter seinen folgsamen Landsleuten die ‹ideale Demokratie› und stellt fest, dass das in jeder Hinsicht abgenützte Wort nur Willfährigkeit


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Schweizer Filmklassiker in neuem Glanz. und Privatinteressen verdeckt – zu dem auch die Nationalräte ihren Teil beitragen. Die stolzen Schweizer arbeiten wie Herdentiere in den Fabriken – deshalb ersetzt sie der Individualist Läppli durch Schimpansen ...» (Hervé Dumont, a. a. O.) 104 Min / sw / Digital HD / Dialekt/d // DREHBUCH UND R ­ EGIE

net, Anne-Marie Demmer // MIT Valerie Steinmann (Annie ­Wieser), Paul B ­ ühlmann (Karl Wieser), Bella Neri (Evi Wieser), Josef ­Scheidegger (Erich Blaser), Ursula Kopp (Helen Wieser), René Scheibli (Herbert Wieser), Gaby Froesch (Dany, Helens Sohn), Peter Brogle (Sandro Jovanovic).

Alfred Rasser // KAMERA Hans Schneeberger, Albert Bolli-

GELD UND GEIST

ger, Rolf Lyssy // MUSIK Werner Kruse // SCHNITT Walter

Schweiz 1964

Kägi // MIT Alfred Rasser (Theophil Läppli), Ruedi Walter (Fritz Mislin), Margrit Rainer (Agathe, Läpplis Schwester), Hedy Maria Wettstein (Sophie Müller), Roland Rasser ­(Herbert Flammer), Inigo Gallo (Dr. Strübin, Fürsprecher), Armin Berner (Touristenführer), Anneliese Egger (Frau Boller), Werner Wirth von Kaenel (Direktor Boller).

IM PARTERRE LINKS Schweiz 1963 Annie Wieser, Matriarchin einer Zürcher Trämlerfamilie, weiss, was für ihre Liebsten gut ist. Ihre ältere Tochter Helen hat in den USA einen Millionär zum Mann. Sohn Herbert soll Medizin studieren und die jüngere Tochter Evi Opernsängerin werden. Selbst ihren Mann Karl stachelt sie zu einem Karrieresprung an. Doch Knall auf Fall brechen Annies sämtliche Träume und Illusionen zusammen. «Früh konzipiert Im Parterre links wie ein Kammerspiel, in dem die Handlung von den Charakteren ausgeht und nicht durch äussere Einwirkungen vorangetrieben wird; die Geschlechterrollen sind vertauscht, da es nicht der Vater, sondern die Mutter ist, die mit ihrem Voluntarismus, ihrer Mythomanie und ihren psychologischen Fehleinschätzungen zum Kern der Familie wird.» (Hervé Dumont, a. a. O.) «Die Kleinbürgerfilme waren selbst für Schweizer Verhältnisse extrem konservativ, in Sprache, Denkweise und Machart. Die Zeit war reif für etwas Öffnung, einhergehend mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes, der mit dem deutschen Wirtschaftswunder als Motor kräftig anzog. Doch gerade dieses vermeintlich antiquiert Schweizerische ist es auch, was einen Film wie Im Parterre links sehenswert macht. Man spürt dieses Milieu, es wirkt authentisch in Dialogen und Figurenzeichnung. Nur unter der Oberfläche brodelt das Moderne, wenn die Tochter den Jugoslawen liebt, Diskussionen über die Verkehrsplanung in der Stadt laufen oder das Neue aus Amerika in den Alltag einfliesst.» (Marco Spiess, molodezhnaja.ch, 6.4.2015)

Der Bauer Christen lässt sich zu einer Spekulation mit Mündelgeldern verleiten, verliert das Geld und muss den Schaden wiedergutmachen. Das führt zum Zerwürfnis mit seiner Frau Änneli, unter dem auch die Söhne Resli und Christeli und die Tochter Annelisi leiden. Resli verliebt sich in Anne-Mareili, die Tochter des Dorngrütbauern, aber dieser will, dass das Mädchen den reichen Witwer Kellerjoggi heiratet. Um den Preis für seine Tochter in die Höhe zu treiben, fordert der Dorngrütbauer von Resli eine absurd hohe «männliche Mitgift». Anne-Mareili aber will sich nicht verschachern lassen. «(Im Jahr der Expo hat) Franz Schnyder mit Geld und Geist in seiner ihm eigenen Art zu der brisant gewordenen schweizerischen Gewissensbefragung beitragen wollen. (...) Das Thema vom Verfall einer bäuerlichen Familie, deren Zusammenhang und gegenseitige Achtung und Liebe am Geld zerbrechen, war – versteht man es im übertragenen Sinn und löst man es aus dem Milieu einer Landwirtschaft um die Jahrhundertwende – durchaus ein Thema, mit welchem sich eine Perspektive auf unsere eigene Zeit öffnen liess. (...) Im Werk von Jeremias Gotthelf nahm Franz Schnyder eine noch längst nicht überholte und tatsächlich nie auch überholbare Aktualität wahr. Eine Aktualität, durch welche sich eine kritische Haltung gegenüber der hemmungslos vorangetriebenen Entwicklung unseres Landes in eine Gesellschaft der totalen Industrialisierung und Kommerzialisierung, der Zerstörung von Umwelt durch deren ausbeuterische wirtschaftliche Nutzung und der Entfremdung der Menschen durch deren Funktionalisierung und Vermassung ausdrücken lassen würde.» (Martin Schlappner, a. a. O.) 102 Min / Farbe / Digital HD / Dialekt/d // REGIE Franz Schnyder // DREHBUCH Franz Schnyder, Richard Schweizer, nach dem Roman «Geld und Geist oder Die Versöhnung» von Jeremias Gotthelf // KAMERA Konstantin Tschet // MUSIK Robert Blum // SCHNITT Anne-Marie Demmer // MIT Margrit Winter ­(Änneli), Erwin Kohlund (Christen), Peter Arens (Resli), Fritz Nydegger (Christeli), Verena Hallau (Annelisi), Max Haufler (Dorngrütbauer), Margrit Rainer (Dorngrütbäuerin), Elisa-

95 Min / sw / Digital HD / Dialekt/d // REGIE Kurt Früh // DREH-

beth Berger (Anne-Mareili), Ruedi Walter (Kellerjoggi).

BUCH Alex Freihart, Kurt Früh, nach dem Stück «Das Fenster zum Flur» von Curth Flatow und Horst Pillau // KAMERA Emil

Mehrere Filme werden auch mit einer Audiodeskription für

Berna // ­MUSIK Walter Baumgartner // SCHNITT René Marti-

Sehbehinderte gezeigt (siehe

im Leporello).



17 Françoise Dorléac & Catherine Deneuve

Sister Act Bald waren sie Konkurrentinnen, bald bezaubernde «Zwillinge»: die ­beiden Schwestern Françoise Dorléac (1942 –1967) und Catherine Deneuve (*1943). Ihre Karriere begann in den frühen Sechzigern. Neben ihrer legendären Schönheit besticht noch heute ihre darstellerische Vielseitigkeit, die beide weit über den Status von Stilikonen hinaushebt. Auf einem Schwarzweissfoto, das Mitte der 1960er entstanden ist, sieht man zwei schöne, junge, schlanke Frauen, beide mit schulterlangem Haar, vor ­einer Air-France-Maschine stehen, offenbar kurz vor dem Abflug. Es sind die Schwestern Françoise Dorléac und Catherine Deneuve, die, so denkt man, gerade aus London aufbrechen, der Mode-, Kunst- und Pop-Metropole jener Dekade. Sie mögen zu Dreharbeiten dort gewesen sein und sich nebenbei eingekleidet haben: Dorléac, der ein langer Pony in die Augen fällt, trägt einen quergestreiften, etwas puscheligen Kurzmantel zu Hosen und Stiefeletten, dazu eine Lackhandtasche, einen kleinen Stoffbeutel und eine Tote-Bag im Animal-Print – eine wilde Mischung aus Materialien, Mustern und Farben. Ihre jüngere Schwester wirkt mit kurz überm Knie endendem dunklem Rock, Kniestrümpfen mit Rautenmuster und flachen Slippern, einem über die Schulter gehängten schweren Tuchmantel mit Goldknöpfen, einer Ledertasche in der Armbeuge und einer an den Körper gepressten Zeitung ebenso stylish, aber auf klassisch-konservative Art. Und während Dorléac etwas skeptisch, aber durchaus offen in die Kamera schaut, trägt Deneuve eine Sonnenbrille, die ihren Blick verbirgt. À la mode française Das Foto, das zusammen mit sechs ähnlichen Bildern 2016 in der «Vogue» veröffentlicht wurde, illustriert einen Artikel mit dem Titel «‹Like Twins› – How Catherine Deneuve and Françoise Dorléac Did Sister Style the French Way». Im Wesentlichen geht es darum, dass die beiden Französinnen als Stil­ ikonen bis heute schwer zu übertreffen sind. Und das mag daran liegen, dass die 1942 und 1943 geborenen Schwestern noch nicht 20 waren, als sie ihre ersten Erfolge hatten und die Sixties begannen. Die erste Dekade, in der weltweit nicht nur die Jugend, sondern auch eine neue Moderne gefeiert wurde, nicht modern genug jedoch, um der in den 1950ern üblichen Geringschätzung der Frauen ein Ende zu setzen. >

Durchtrieben und sadistisch: Françoise Dorléac in Cul-de-sac

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Getrieben und masochistisch: Catherine Deneuve in Belle de jour


18 Die Aufbruchsstimmung der 1960er spiegelt sich in Filmen wie L’homme de Rio (1964) und La peau douce (1964). Ersterer protokolliert quasi mit staunendem Blick den Luxus des Fliegens, die verschiedensten Automobile und Maschinen und feiert die Architektur der soeben fertiggestellten Stadt Brasilia in fantastischen Totalen. Neben dem vor artistischer Beweglichkeit strotzenden Jean-Paul Belmondo wird Françoise Dorléac allerdings wie eine willenlose Puppe präsentiert. Zugunsten des kruden Plots ist sie über weite Strecken betäubt, aber wenn sie doch einmal erwacht, tanzt sie umso ungezügelter zu wilden Trommelwirbeln brasilianischer Favela-Bewohner, barfuss und mit zerzaustem Haar. Man ahnt in dieser Szene, zu welcher Leidenschaft sie fähig ist, aber die sollte erst später Roman Polanski ins Bild setzen. In La peau douce stilisiert François Truffaut gar das Fliegen zum Faszinosum: Seine von Dorléac gespielte Protagonistin ist Flugbegleiterin. In einer Szene zu Beginn des Films wird geradezu akribisch verfolgt, wie ein verspäteter Passagier doch noch seinen Flug erwischt, indem die an einzelnen Stationen arbeitenden Hostessen wunderbar kooperieren. Dass dieser als Literaturwissenschaftler, also Intellektueller, der Flugbegleiterin begehrenswert erscheint, war ebenfalls nur in den 1960er-Jahren und besonders in Frankreich möglich: Die Wirtschaft prosperierte wie noch nie seit dem Kriegsende, man konnte sich Geist und Kultur leisten und sie chic finden. Beiläufig erzählt Truffaut von der Provinzbourgeoisie, die den Intellektuellen in banale Gespräche verwickelt, während seine Geliebte, derer er sich plötzlich schämt, draussen vor der Tür wartet. Dorléac ist auch in diesem Film sehr schön und sehr passiv, und solange sie sich entzieht, ist sie interessant. Nicht so interessant allerdings, dass der Mann des Geistes sich mit ihr in der Öffentlichkeit präsentieren wollte. Gleich und doch ganz anders Ebenfalls 1964 drehte Édouard Molinaro mit den beiden Schwestern, die etwa gleichzeitig fünf Jahre zuvor mit der Schauspielerei angefangen hatten, La chasse à l’homme. Im Film manifestieren sich die Unterschiede zwischen der erwachsenen, raffinierten, wunderschönen Dorléac, deren Starpotenzial bereits deutlich war, und ihrer mit Schleifchen im Haar und weissem Kragen auf mädchenhaft niedlich getrimmten Schwester, die im Grunde erst nach dem Tod Dorléacs zum Star wurde. Deneuve war 1964 auch in Les parapluies de Cherbourg zu sehen, in dem sie sich züchtig und provinziell zugunsten der bürgerlichen Ehe gegen die grosse Liebe entscheidet. Es muss schwierig gewesen sein für Catherine, in die Fussstapfen der älteren Schwester zu treten: Sie nahm den Geburtsnamen ihrer Mutter an, was sie im Nachhinein bereute, wie sie 2008 in einem Interview berichtete, und sie wurde, ursprünglich brünett wie Françoise, zur Blondine – einer sehr kühlen Blonden, von der die Regisseure nicht genug bekommen konnten. Sie spielte 1965 in Das Liebeskarussell, einer deutsch-österreichischen, verschwiemelten


19 Adaption von Schnitzlers «Reigen», aber Dorléac war kurz vorher in La ronde (1964) aufgetreten, Roger Vadims Interpretation desselben Stoffes. Gab es Konkurrenz zwischen den Schwestern, die auf den Fotos so harmonisch wirken? Sie hatten genau gleich viele Filme gedreht, beide 20, bis sie ein letztes Mal zusammen in Les demoiselles de Rochefort (1967) vor der Kamera standen. Kurz danach kam Dorléac bei einem Autounfall ums Leben, gerade 25 Jahre alt. Und sie drehten beide mit Roman Polanski in England, der, man muss es ihm zugestehen, beider Potenzial erkannt und für seine Zwecke nutzbar gemacht hat: Repulsion (1965) und Cul-de-sac (1966) sind zwei brillante Filme, in denen die beiden Schwestern diametral entgegengesetzte Figuren spielen. Während Deneuve in Repulsion sich unablässig imaginären Schmutz von der Haut wäscht und kratzt, bis sie Morde an Männern begeht, von denen sie sich verfolgt glaubt, verbrüdert sich Dorléac in Cul-de-sac mit einem Gangster und macht damit ihren eigenen Ehemann lächerlich, den sie gleich zu Anfang des Films aus Gründen des Amüsements in ein Negligé gesteckt hat. Während Deneuves Figur fragil, scheu und prüde ist, wirkt jene von Dorléac durchtrieben, sinnlich und gar ein wenig sadistisch. Bei Polanski stehen die Frauen­ figuren im Mittelpunkt, sind nicht nur Projektionsfläche oder Dekor für Männer, sondern eigenständige Charaktere. Aber auch sie sind nur im Kontext der 1960er denkbar, als Sex und die Besessenheit davon mit der Nouvelle Vague auf die Leinwand kamen. Wie wunderbar harmlos ist da im Vergleich Les demoiselles de Roche­ fort (1967), in dem Jacques Demy die Schwestern als doppelt begehrenswert feiert, sie in pastellfarbene Zwillingskostüme steckt und durch ein fröhlich buntes Szenenbild tanzen, nein: tänzeln lässt. Denn auch wenn die beiden ­einen an Jane Russell und Marilyn Monroe angelehnten Tanz- und Gesangsauftritt hinlegen, so haben sie doch nichts von deren offenherzigen und ein wenig derben Reizen. Sie sind schon in frühen Jahren Damen gewesen: von unnachahmlicher Eleganz und erlesener Schönheit. Catherine Deneuve ist es bis heute geblieben. Daniela Sannwald

Daniela Sannwald, Berlin, veröffentlichte zuletzt «Leinwandgöttinnen» (2016, mit Tim ­Lindemann) und schreibt regelmässig u. a. für «Der Tagesspiegel» (Berlin), «ray» (Wien), für Anthologien und Kataloge. Sie ist auch als Ausstellungskuratorin für die Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen tätig.


> La chasse à l’homme.

> Cul-de-sac.

> La peau douce.

> L’homme de Rio.


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Catherine Deneuve & Françoise Dorléac.

CE SOIR OU JAMAIS Frankreich 1961 An einem Sonntagabend feiert Laurent mit einer Gruppe von Freunden den anstehenden Probenbeginn seines neuen Theaterstücks. Im Laufe des Abends erfahren sie, dass das Mädchen, das die Hauptrolle spielen sollte, einen Unfall hatte. Für die Schauspielschülerin Valérie ist die grosse Chance gekommen: Sie will die Rolle und den Regisseur und kehrt ihren ganzen Charme hervor. Nach einem Film als Koregisseur realisierte Michel Deville hier seinen ersten eigentlichen Autorenfilm. «Die Szenarien dieser frühen Filme sind fein gesponnen und drehen sich um die Gefühle junger Frauen; die beschwingte Regie verströmt ein schwärmerisches Glücksgefühl; unbekannte Schauspielerinnen machen hier, präzis geführt, ihre ersten Schritte. (…) Deville sah sich bald einmal mit dem frühen Jacques Becker verglichen und in die Tradition Marivaux’ gestellt.» (Larousse dictionnaire de cinéma) «Françoise Dorléac hat einen kurzen, aber ziemlich spektakulären Auftritt.» (films.blog. lemonde.fr, 5.1.2014) 104 Min / sw / 35 mm / F // REGIE Michel Deville // DREHBUCH Nina Companéez, Michel Deville // KAMERA Claude Lecomte // MUSIK Jean Dalve // SCHNITT Nina Companéez // MIT Anna Karina (Valérie), Claude Rich (Laurent), Georges Descrières (Guillaume), Françoise Dorléac (Danièle), Michel

konnte auch den Hauptdarsteller nicht leiden. (…) Meine Sympathie gehörte ganz Françoise Dorléac.» (François Truffaut im Interview mit Peter Michel Ladiges, in: François Truffaut, Hanser, 1983) 116 Min / sw / DCP / F/e // REGIE François Truffaut // DREHBUCH François Truffaut, Jean-Louis Richard // KAMERA ­Raoul Coutard // MUSIK Georges Delerue // SCHNITT ­Claudine Bouché // MIT Jean Desailly (Pierre Lachenay), Françoise Dorléac (Nicole Chomette), Nelly Benedetti (Franca Lachenay), Daniel Ceccaldi (Clément), Jean Lanier (Michel), Sabine Haudepin (Sabine), Paule Emmanuele (Odile).

4×D Frankreich 1964 1964 porträtierte Philippe Labro im Auftrag der Promotionsagentur UniFrance ein paar junge Schauspielerinnen, deren Namen mit D anfangen: Mireille Darc, Marie Dubois, Catherine Deneuve und Françoise Dorléac. Neben der Persönlichkeit jeder Einzelnen hat er dabei auch das damalige Paris eingefangen. Marie Dubois (1937–2014) hat u. a. viel mit Truffaut gearbeitet (Jules et Jim, Tirez sur le pianiste); Mireille Darc (*1938) wurde durch zahlreiche Komödien, aber auch durch Godards WeekEnd bekannt. Beide sind auch in La chasse à l’homme zu sehen.

de Ré (Alex), Guy Bedos (Jean-Pierre), Eliane D’Almeida ­(Nicole), Anne Tonietti (Anita), Jacqueline Danno (Martine).

LA CHASSE À L’HOMME Frankreich 1964

LA PEAU DOUCE Frankreich 1964 Einer von Truffauts persönlichsten Filmen, in dem er auch zum ersten Mal zeigt, was er von Hitchcock gelernt hat. Beim zeitgenössischen Publikum fiel er allerdings durch, und auch von der Kritik wurde er schlecht aufgenommen. Pierre Lachenay, Herausgeber einer Literaturzeitschrift, ist glücklich verheiratet. Auf einer Vortragsreise nach Lissabon lernt er die attraktive Stewardess Nicole kennen und verliebt sich in sie. Bald entwickelt sich ihr Verhältnis zu einem nervenaufreibenden Versteckspiel: Pierre fürchtet ständig, erkannt und verraten zu werden. «Truffaut entwickelt den melodramatischen Stoff zur kritisch-analytischen Beschreibung männlicher (und bürgerlicher) Verhaltensweisen zwischen Realitäts- und Lustprinzip.» (Lexikon des int. Films) «Ein bitterer, bösartiger, fast zynischer Film. Ich wollte ihn ganz trocken, ganz unverblümt. Ich

Antoines Hochzeit mit Gisèle steht unmittelbar bevor. Sein Freund Julien, ein eingefleischter Junggeselle, versucht ihn davon abzubringen und führt eigene schmerzliche Erfahrungen ins Feld. Rund um Liebe, Ehe und Affären inszeniert Komödienregisseur Édouard Molinaro einen höchst vergnüglichen Episodenfilm voller komischer Situationen; gleichzeitig nimmt er den damaligen Zeitgeist aufs Korn: Existenzialismus, linke Rive-Gauche-Ideologie, Sartre, Juliette Gréco, vielleicht sogar den Stil der Nouvelle Vague. Neben Françoise Dorléac als Schwindlerin Sandra entzückt ihre 21-jährige Schwester Catherine Deneuve in einer Nebenrolle. «‹Die Ehe ist eine Falle› – das scheint das Leitmotiv dieser Komödie zu sein. Hier haben die blühenden jungen Mädchen nur eins im Kopf: einen Mann zu ergattern. Diese – zumindest für die damalige Zeit – mild subversive Attacke auf die Institution der Ehe wird ohne exzessive Frauenfeindlichkeit geführt, die Grundanlage des Drehbuchs


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Catherine Deneuve & Françoise Dorléac. stammt übrigens von einer Frau, France Roche, die Dialoge sind von Michel Audiard. (...) Wie viele Episodenfilme ist der Film etwas unausgeglichen, aber er ist immer noch vergnüglich.» (films. blog.lemonde.fr, 1.12.2014)

­(Roland Cassard), Ellen Farner (Madeleine), Mireille Perrey (Tante Élise), Jean Champion (Aubin), Jane Carat (Ginny), ­Harald Wolff (Monsieur Dubourg).

L’HOMME DE RIO Frankreich/Italien 1964

4×D 12 Min / sw / DCP / F/e // REGIE Philippe Labro // KAMERA Willy Kurant // SCHNITT Jean-Claude Lubtchansky // MIT Catherine Deneuve, Françoise Dorléac, Marie Dubois, Mireille Darc, Philippe Labro (Erzähler).

LA CHASSE À L’HOMME 100 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Édouard Molinaro // DREHBUCH France Roche, Michel Audiard (Dialoge) // KAMERA Andréas Winding // MUSIK Michel Magne, Giorgos Zambetas // SCHNITT Monique Isnardon, Robert Isnardon // MIT Françoise Dorléac (Françoise Bicart alias Sandra Rossen), Catherine Deneuve (Denise Heurtin), Jean-Paul Belmondo (Fernand), Jean-Claude Brialy (Antoine Monteil), ­Marie Laforêt (Gisèle), Claude Rich (Julien), Marie Dubois ­(Sophie), Bernadette Lafont (Flora), Mireille Darc (Georgina).

LES PARAPLUIES DE CHERBOURG Frankreich 1964 Guy, ein junger Autoschlosser, und Geneviève, Tochter der Inhaberin eines Schirmladens, lieben einander, doch Guy wird für zwei Jahre nach Algerien in den Krieg geschickt. Geneviève ist verzweifelt und gesteht ihrer Mutter, dass sie schwanger ist; diese rät zur Heirat mit dem jungen Diamantenhändler, der um Geneviève wirbt. Eine vordergründig anspruchslose Alltags­ geschichte, die Jacques Demy zu einem lyrischen, höchst artifiziellen Kammerspiel verdichtet. «Demy zaubert ein Werk von schierem filmischem Vergnügen; er verwandelt den trostlosen Hafen von Cherbourg in eine pastellfarbene Märchenwelt, in der jede Dialogzeile zu Michel Legrands unvergesslicher Filmmusik gesungen wird. (…) Die Magie liegt (...) in der Eleganz von Jean Rabiers Kameraarbeit und in Bernard ­Eveins hinreissenden Szenenbildern. (…) Catherine Deneuve ist durchweg strahlend schön, selbst in ihren Umstandskleidern sieht sie unvergleichlich schick aus.» (Tom Dawson, BBC Films, 7.9.2005) Catherine Deneuves erste Hauptrolle. Les ­parapluies de Cherbourg gewann 1964 in Cannes die Goldene Palme. 91 Min / Farbe / DCP / F/e // DREHBUCH UND REGIE Jacques Demy // KAMERA Jean Rabier // MUSIK ­Michel Legrand // SCHNITT Anne-Marie Cotret, Monique Teisseire // MIT ­Catherine Deneuve (Geneviève Emery), Nino Castelnuovo (Guy Foucher), Anne Vernon (Anne Emery), Marc Michel

«Auf Urlaub in Paris wird ein Luftwaffensoldat Zeuge, wie seine Verlobte nach Rio entführt wird. Er folgt ihr und gerät in eine Folge halsbrecherischer Ereignisse. Ein ironisch gefärbter Abenteuerfilm, der seine Effekte schwungvoll serviert. Ein etwas rauhes, aber herzhaftes Vergnügen.» (filmdienst.de) Für L’homme de Rio haben sich Regisseur de Broca und sein Autorenteam zugegebenermassen reichlich bei Hergé und seinen «Tintin»-­ Comics bedient; gleichzeitig ist der Film auch Vorläufer und Vorbild zahlreicher Abenteuerfilme wie der Indiana Jones-Serie. Er war mit 4,8 Mio. Eintritten in Frankreich und auch international sehr erfolgreich und wurde mehrfach ausgezeichnet. Die Archäologentochter Agnès ist zickig und herrisch, verwöhnt und überdreht, und gemäss dem Regieassistenten Olivier Gérard war auch Françoise Dorléac «süss, aber etwas verrückt, sie verbrachte ihre Nächte in Clubs und schlief zu wenig. (…) ‹Sie ist grün!›, rief der Produzent Alexandre Mnouchkine beim Anblick der Muster aus.» (devildead.com/histoiresdetournages) 90 Min / Farbe / Digital HD / F/d // REGIE Philippe de Broca // DREHBUCH Philippe de Broca, Jean-Paul Rappeneau, Daniel Boulanger, Ariane Mnouchkine // KAMERA Edmond Séchan // MUSIK Georges Delerue, Catulo de Paula // SCHNITT Laurence Méry // MIT Françoise Dorléac (Agnès Villermosa), Jean-Paul Belmondo (Adrien Dufourquet), Jean Servais (Professor Catalan), Adolfo Celi (De Castro), Roger Dumas (Lebel), Simone Renant (Lola), Daniel Ceccaldi (Inspektor), Milton Ribeiro (Tupac).

REPULSION GB 1965 Carol lebt mit ihrer Schwester Helen zusammen in einer Londoner Wohnung. Sie ist Angestellte eines Kosmetiksalons. Männer und deren Nähe sind ihr verhasst – als sie mehrere Wochen allein in der Wohnung zubringt, zieht sie sich in eine erschreckende Welt aus Fantasien und Albträumen zurück. Roman Polanski drehte mit Repulsion seinen ersten englischsprachigen Film und prägte damit nachhaltig das Thriller- und Horrorgenre. «Dieser Film ist immer noch Polanskis unheimlichster und verstörendster – nicht nur we-


Catherine Deneuve & Françoise Dorléac. gen seiner Beschwörung sexueller Panik, sondern auch in seinem meisterhaften Einsatz von Ton, der auf die Vorstellungskraft des Zuschauers einwirkt. (...) Tiefenschärfe, extreme Weit­ winkel und andere visuelle Kunstgriffe vermitteln subjektive Geisteszustände, in denen Träume, Vorstellungen und Alltagsrealität in eins verschmelzen.» (Jonathan Rosenbaum, in: 1001 Filme, Ed. Olms, 2012) «Mit ihrer ungewöhnlichen Schönheit und ihrem grossen Talent wurde Catherine Deneuve für den Film überaus wesentlich. (…) Die Arbeit mit Catherine Deneuve – das war wie das Tanzen eines Tangos mit einer überragend geschulten Partnerin. Auf dem Set wusste sie genau, was ich von ihr wollte, und sie schlüpfte so sehr in die Haut der Hauptfigur, dass sie bei Ende der Dreharbeiten selbst introvertiert und ein wenig überkandidelt war.» (Roman Polanski, in: Roman Polanski von Roman Polanski, Scherz, 1984) 109 Min / sw / Digital HD / E/d // REGIE Roman Polanski // DREHBUCH Roman Polanski, Gérard Brach // KAMERA ­Gilbert Taylor // MUSIK Chico Hamilton // SCHNITT Alastair McIn­tyre // MIT Catherine Deneuve (Carol Ledoux), Ian Hendry (Michael), John Fraser (Colinvonne), Yvonne Furneaux (Helen Ledoux), Patrick Wymark (Vermieter), Renée Houston (Miss Balch), Valerie Taylor (Madame Denise).

CUL-DE-SAC GB 1966 Zwei entflohene Verbrecher dringen in die Einsamkeit eines nordenglischen Inselschlosses ein, das von einem Ehepaar – einem kahlköpfigen Neurotiker und einer gelangweilten, sexuell frustrierten Frau – bewohnt wird. Während man vergeblich auf das Eintreffen des Gangsterbosses Katelbach wartet, entspinnt sich ein makabres Spiel um Macht und Abhängigkeit, bis der Hausherr den Terror eher zufällig mit einem Gewaltakt beendet. «Dies ist ein makabrer Film, den einige Zuschauer wegen des übertriebenen Schauspielstils eine schwarze Komödie nennen würden. Er ist jedoch in keinster Weise komisch genug, um eine Komödie, egal welcher Farbe, zu sein. Regie und Drehbuch sind aber so stilvoll, dass man dem Film seine Exzesse verzeiht.» (The Motion Picture Guide) «Ich war verzweifelt. In wenigen Tagen sollten die Dreharbeiten beginnen (und die weibliche Hauptrolle war noch nicht besetzt; Anm. d. Red.). Plötzlich hörte ich, dass sich Françoise Dorléac in London befand. Wir sprachen mit ihr, wurden uns einig (…). Ich engagierte Françoise ohne Test.» (Roman Polanski, s. o.)

111 Min / sw / DCP / E/d // REGIE Roman Polanski // DREHBUCH Roman Polanski, Gérard Brach // KAMERA Gilbert Taylor // MUSIK Krzysztof Komeda // SCHNITT Alastair McIntyre // MIT Donald Pleasence (George), Françoise Dorléac (Teresa), Lionel Stander (Richard), Jack MacGowran (Albert), Iain Quarrier (Christopher), Geoffrey Summer (Christophers Vater), Renée Houston (Christophers Mutter), Robert Dorning (Philip Fairweather), Marie Kean (Marion Fairweather), Jacqueline Bisset (Jacqueline), Trevor Delaney (Horace).

BELLE DE JOUR Frankreich/Italien 1967 Séverine, eine scheinbar glücklich verheiratete, aber unter masochistischen Zwangsvorstellungen leidende Frau aus grossbürgerlichem Milieu, ist plötzlich fasziniert von dem Gedanken, sich zu prostituieren. Heimlich beginnt sie, nachmittags in einem Edelbordell zu arbeiten. Ein Freier aus kriminellem Umfeld verliebt sich in sie, folgt ihr nach Hause und dringt schliesslich gewaltsam in ihren Gesellschaftskreis ein. «Ein ganz grosser Buñuel und ein Meisterwerk des sadomasochistischen Films (...). Die Vermischung von Realität und Fantasien schafft eine traumartige Atmosphäre und vervielfacht die erotische Suggestivkraft dieses Werks, in dem aber alles nur angedeutet wird, so etwa das Kästchen mit dem wunderlichen Gemurmel im Besitz eines asiatischen Freiers.» (Jean Tulard: Guide des films) «Bei den Dreharbeiten zu Buñuels Belle de jour war ich mir nicht so sicher, wohin er mit der Figur der Séverine wollte. Ich fühlte mich in manchen Szenen ausgestellt und schutzlos. Ich war zutiefst verunsichert. Später wurde mir natürlich klar, dass Belle de jour ein Meisterwerk ist.» (Catherine Deneuve im Gespräch mit Katja Nicodemus, Die Zeit, 17.3.2011) 100 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Luis Buñuel // DREHBUCH Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, nach dem Roman von Joseph Kessel // KAMERA Sacha Vierny // SCHNITT ­Louisette Hautecœur // MIT Catherine Deneuve (Séverine Sérizy), Jean Sorel (Pierre Sérizy), Michel Piccoli (Henri ­Husson), Geneviève Page (Madame Anaïs), Francisco Rabal (Hippolyte), Pierre Clémenti (Marcel), Françoise Fabian (Charlotte).

LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT Frankreich 1967 «Episoden um einige Menschen in der Hafenstadt Rochefort, ihre grossen und kleinen Träume, Lebensvorstellungen und Erinnerungen: Zwei ­

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> Les parapluies de Cherbourg.

> Repulsion.

> Tristana.

> Peau d’âne.

> La sirène du Mississipi.

> Le sauvage.


Catherine Deneuve & Françoise Dorléac. ­ttraktive junge Frauen, Zwillingsschwestern, a schwärmen von der grossen Liebe; ihre Mutter, Inhaberin eines Bistros am Hafen, trauert einer vergangenen Liebe nach, ein Matrose malt die Geliebte seiner Träume. Zufall und Schicksal verknüpfen einige der Fäden und stellen neue Per­ spektiven her. Nach Les parapluies de Cherbourg Demys zweiter Film, in dem eine Vielzahl der Dialoge gesungen werden. Stilisierte Farben, Musik und (Tanz-) Bewegungen verdichten sich zur schwung- und liebevollen Hommage an das amerikanische (Film-)Musical, das sich vor allem durch die zärtliche Zuneigung zu den Personen auszeichnet.» (Lexikon des int. Films) «Die Gesangsnummern der beiden Schwestern Deneuve und Dorléac sind die lebhaftesten des ganzen Films. (…) Es spielt keine Rolle, dass ihr Singen – wie das aller anderen Schauspieler, ausser von Darrieux – synchronisiert wurde. (…) Die magischste Paarung in diesem höchst heiteren Film ist diejenige zwischen den beiden Schwestern. (…) Deneuve zeigt hier eine Fröhlichkeit, die nur selten mit ihr assoziiert wird.» (Melissa Anderson, The Village Voice, 9.4.2014) 126 Min / Farbe / DCP / F/e // DREHBUCH UND REGIE Jacques Demy // KAMERA Ghislain Cloquet // MUSIK Michel Legrand // SCHNITT Jean Hamon // MIT Catherine Deneuve (Delphine Garnier), Françoise Dorléac (Solange Garnier), Danielle ­Darrieux (Yvonne), Michel Piccoli (Simon Dame), Gene Kelly (Andy), Agnès Varda (eine Nonne).

LA SIRÈNE DU MISSISSIPI Frankreich/Italien 1969 Der attraktive, schwerreiche Plantagenbesitzer Louis Mahé sucht über eine Kontaktanzeige eine Ehefrau. Als die schöne Julie Roussel wenig später mit dem Schiff auf La Réunion ankommt, sieht sie dem Foto der Braut aber kaum ähnlich. Nach der Heirat verschwindet sie – samt dem Vermögen von Louis. Zufällig findet er sie in Frankreich wieder und verfällt ihr erneut. Bald befinden sich die beiden auf der Flucht: vor dem unermüdlichen Detektiv, den Louis selbst engagiert hat. «Die Geschichte eines verkehrten Liebesverhältnisses: (...) Sie war in diesem Fall der üble Bursche, sie war im Erziehungsheim, sie war ein Dieb, sie war ein Verbrecher. Und er benimmt sich wie eine Jungfrau. Aber die Leute, die Belmondo sehen wollen, wollen eine Männlichkeit sehen. (…) Und umgekehrt kennen die Leute Catherine Deneuve als Prinzessin oder als hübsches junges Mädchen und waren schockiert.» (Truffaut im Interview mit Peter Michel Ladiges, a. a. O.

120 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE François Truffaut // DREHBUCH François Truffaut, nach dem Roman «Waltz into Darkness» von William Irish // KAMERA Denys Clerval // ­MUSIK Antoine Duhamel // SCHNITT Agnès Guillemot // MIT Catherine Deneuve (Julie Roussel/Marion), Jean-Paul Belmondo (Louis Mahé), Michel Bouquet (Comolli), Nelly ­ Borgeaud (Berthe Roussel), Marcel Berbert (Jardine), ­Martine Ferrière (Madame Travers), Yves Drouot (Bankdirektor), Roland Thénot (Richard).

PEAU D’ÂNE Frankreich 1970 Weil der Blaue König seiner sterbenden Ehefrau versprochen hat, sich nur mit einer Frau wiederzuverheiraten, die ebenso schön sei wie sie, hält er um die Hand seiner Tochter an. Diese aber folgt den Ratschlägen ihrer Patentante, der FliederFee, und stellt scheinbar unerfüllbare Bedingungen, um seinem Wunsch nicht entsprechen zu müssen. Schliesslich flieht sie, versteckt unter einer Eselshaut, ins benachbarte Königreich. Die Kino-Adaption des ältesten französischen Märchens durch Jacques Demy ist «eine visuelle Feerie: Die Dekors sind prachtvoll, die Kostüme wunderbar. Demy setzt in dieser Geschichte, in der alles möglich ist, gezielt ein paar saftige Anachronismen. (…) Peau d’âne bildet ein sehr gelungenes Ganzes, das weit davon entfernt ist, ein Kinderfilm zu sein. Die Restaurierung erlaubt es, die schöne Farbpalette voll auszukosten.» (films. blog.lemonde.fr, 30.3.2015) «Perrault gebrochen durch Cocteau gebrochen durch Grimault. Ein tolldreistes Werk der Brüche und Betörungen, das sich jeder Klassifizierung widersetzt (...): die schöne Verschmelzung von Cinéma de qualité und Nouvelle Vague.» (Rui Hortênsio da Silva e Costa, Österreichisches Filmmuseum, 10/2006) 95 Min / Farbe / DCP / F/e // REGIE Jacques Demy // DREHBUCH Jacques Demy, nach dem Märchen von Charles Per­ rault // KAMERA Ghislain Cloquet // MUSIK Michel Legrand // SCHNITT Anne-Marie Cotret // MIT Catherine Deneuve (Peau d’âne/die Königin), Jean Marais (der Blaue König), Jacques ­Perrin (der Prinz), Delphine Seyrig (die Fee), Micheline Presle (die Rote Königin), Sacha Pitoëff (der Premierminister), Fernand Ledoux (der Rote König), Coluche (schimpfender Bauer).

TRISTANA Spanien/Italien/Frankreich 1970 «Keiner hat Deneuve so konsequent etwas zugemutet wie Luis Buñuel, der Meister des Makabren, Surrealen und Perversen. (…) Aber Deneuve wirkte nie weniger verschreckt als hier, weil Buñuels Attacken heimliche Machtproben waren.

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Catherine Deneuve & Françoise Dorléac. Sie standen schon im Drehbuch, und Deneuve konnte erkennen, dass sie auf sehr elegante und nachhaltige Weise anders vom Fluch und Geschenk ihrer Schönheit erzählen konnte, als das Kolleginnen vergönnt war. Deneuve war nie ätherisch schön, sie war immer die perfekte Blüte, die sich als Falle für jedes Insekt entlarven konnte, das in die Nähe ihrer zuschnappenden Blätter surrte. In Tristana tritt sie gleich zu Anfang in Sack und Asche ins Bild, in Trauerkleidung. (…) Dieses Mädchen wird seinem Onkel übergeben, einem alten, fast bankrotten Schwerenöter, der Vormundschaft und Buhlschaft nicht trennen kann. (…) Wie leicht liesse sich Tristana als Opfergeschichte von Schändung und Traumatisierung, von sexueller Ausbeutung und sozialer Einkerkerung erzählen. Aber dieser Film (...) ist viel komplexer. Als der geile alte Herr dem Mädchen den ersten Kuss aufzwingt, leuchtet etwas im Gesicht der Deneuve. Diese Tristana begreift, dass sie Tugend abgibt und Macht gewinnt. Immer wieder wird sie sich bei anderen als angeekelt und unglücklich beschreiben. (...) Aber so, wie Tristana den herrschsüchtigen Gockel nach und nach zum hohltönenden Wicht macht, geht sie auch selbst kaputt. Sie wird ein Bein verlieren, und wie Buñuel die Schönheit an Krücken zeigt, das ist ein perfekter Ausdruck für die Hassliebe des Kinos zu den aussergewöhnlich Strahlenden. Hitchcock war, wen wundert’s, ein Bewunderer von Tristana.» (Thomas Klingenmaier, Stuttgarter Zeitung, 22.10.2013) Zurzeit sind keine französischsprachigen Kopien des Films verfügbar. Wir zeigen ihn darum in der ebenfalls originalen spanischen Fassung.

99 Min / Farbe / Digital HD / Sp/d // REGIE Luis Buñuel // DREHBUCH Luis Buñuel, Julio Alejandro, nach dem Roman von Benito Pérez Galdós // KAMERA José Fernández Aguayo // SCHNITT Pedro del Rey // MIT Catherine Deneuve (Tristana), Fernando Rey (Don Lope), Franco Nero (Horacio), Lola Gaos (Saturna), Jesús Fernández (Saturno), Antonio Casas (Don Cosme), Vicente Soler (Don Ambrosio).

UN FLIC Frankreich/Italien 1972 «Die Geschichte einer Gruppe von Bankräubern und ihres Gegenspielers, eines ebenso intelligenten wie skrupellosen Kommissars, der selbst in die kriminellen Machenschaften verwickelt ist. Ober- und Unterwelt verschmelzen zu einem mythisch überhöhten Männer-Universum, in dem sich eine schicksalsschwere Tragödie abspielt. Melvilles letzter Film, der an seine existenzialistischen GangsterEpen anschliesst.» (Lexikon des int. Films) Deneuve spielt Cathy, die Frau, die gleichzeitig vom Boss der Bande und vom Kommissar geliebt wird. Eine fatale Männerfreundschaft verbindet

die beiden, und nicht zuletzt durch die Liebe zur gleichen Frau werden sie zu spiegelbildlichen Figuren. «Catherine Deneuves Femme fatale hebt sich ab von den üblichen zynischen Film-noir-Sirenen. Deneuves Figur hat ein Herz; einfach kein treues. Sie ist reserviert und manipulativ, dabei gleich­ zeitig einladend und anschmiegsam – und im End­ effekt tödlich.» (Tim Cogshell, altfg.com, 2004) 99 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE Jean-Pierre Melville // KAMERA Walter Wottitz // MUSIK ­Michel Colombier // SCHNITT Patricia Renaut // MIT Alain Delon (Edouard Coleman), Catherine Deneuve ­ (Cathy), ­Richard Crenna (Simon), Riccardo Cucciolla (Paul Weber), Michel Conrad (Louis Costa), André Pousse (Marc ­Albouis), Paul Crauchet (Morand), Valéry Wilson (Gaby), S ­ imone Valère (Pauls Frau), Léon Minisini (Mathieu), Jean Desailly (distinguierter Herr), Henri Marteau (Inspektor).

LE SAUVAGE Frankreich 1975 «Auf der Flucht vor ihrem italienischen Verlobten und seinem Familien-Clan begegnet die Französin Nelly in Caracas ihrem Landsmann Martin, der seinerseits vom Manager-Posten eines Parfümerie-Konzerns geflohen ist und einsam auf einer Urwaldinsel Obst und Gemüse anbaut. Turbulente Komödie mit viel Action (…), in der die beiden Stars Deneuve und Montand erst einander Starrsinn und Unabhängigkeit demonstrieren, ehe sie zu dauerhaftem Glück zusammenfinden.» (Edgar Wettstein, Zoom 4/76) «Le sauvage ist der vielleicht schönste Film von Rappeneau. Alles trägt dazu bei: Yves Montand als brummbäriger und machohafter Einsiedler, Catherine Deneuve, auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit, als unausstehliche Abenteurerin (...), der Exotismus und der Charme der Südsee. (…) Rappeneau hat Sinn für Rhythmus und das ­Burleske, und Deneuve, mit ihrem Maschinen­ gewehr-Redefluss und ihren Haaren im Wind, zeigt, was für eine grossartige Komikerin sie ist.» ­(lesinrocks.com/cinema, 4.10.2011) 103 Min / Farbe / DCP / F/e // REGIE Jean-Paul Rappeneau // DREHBUCH Jean-Paul Rappeneau, Elisabeth Rappeneau, Jean-Loup Dabadie // KAMERA Pierre Lhomme // MUSIK ­Michel Legrand // SCHNITT Marie-Josephe Yoyotte // MIT Yves Montand (Martin), Catherine Deneuve (Nelly), Luigi ­Vannucchi (Vittorio), Tony Roberts (Alex), Dana Winters (­Jessie), Vernon Dobtcheff (Coleman), Bobo Lewis (Miss Mark). Mit freundlicher Unterstützung des Institut Français


27 Das erste Jahrhundert des Films

1957 An Vittorio De Sica und Pietro Germi orientiert sich Kurt Früh in Bäckerei Zürrer, seinem Porträt der Zürcher Langstrasse, das sich in der genauen Beobachtung des sozialen Milieus dezidiert von den früheren Kleinbürgerfilmen des Regisseurs abhebt. Mit Werken wie Michelangelo Antonionis Il grido und seiner stilisierten Bildsprache bahnen sich gleichzeitig in Italien bereits die Nachfolger des Neorealismus ihren Weg. Die existenzialistische Auseinandersetzung mit der Psychologie seiner Hauptfigur steht auch im Zentrum von ­Ingmar Bergmans Wilde Erdbeeren und Das siebente Siegel. Beide Cineasten gehören zu einer neuen, vielgestaltigen Autorengeneration in Europa, die ihren dominantesten Ausdruck bald darauf in der französischen Nouvelle Vague finden wird. Im Zeichen des sich damals zuspitzenden Ost-West-Konflikts drehen Stanley Kubrick und David Lean zwei Antikriegsfilme, die sich jeglichem Schlachtenpathos verweigern: Während in Paths of Glory der Angriff auf die gegnerische Stellung sofort abgewehrt wird und unzählige Opfer fordert, zeigt The Bridge on the River Kwai keine Bilder des Krieges, sondern der Gefangenschaft. Beiden Filmen gemeinsam ist ihr eindringlicher Appell gegen blinden Gehorsam und leere Prinzipientreue, die nur ins Verderben führen. Nicht weniger kritisch, wenn nicht gar zynisch ist Alexander Mackendrick in s­ einem Film noir Sweet Smell of Success: Seine Geschichte um einen Presseagenten, der mit allen Mitteln versucht, die Gunst eines einflussreichen Kolumnisten zu gewinnen, ist ein beissender Kommentar zu Karrierismus und Sensationsjournalismus und hat an Aktualität bis heute nichts eingebüsst. Marius Kuhn

Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 ­wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2017 sind Filme von 1917, 1927, 1937 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1957 12 Angry Men Sidney Lumet, USA 3:10 to Yuma Delmer Daves, USA Curse of the Demon Jacques Tourneur, GB Das Schloss im Spinnwebwald (Kumonosu-jo) Akira Kurosawa, J Das siebente Siegel (Det sjunde inseglet) Ingmar Bergman, Schweden Der 10. Mai Franz Schnyder, Schweiz Jonas Ottomar Domnick, BRD Kanal Andrzej Wajda, Polen

Le notti bianche Luchino Visconti, I Le notti di Cabiria Federico Fellini, I Les espions Henri-Georges Clouzot, F Porte des Lilas René Clair, F Pyaasa Guru Dutt, Indien The Tarnished Angels Douglas Sirk, USA Wenn die Kraniche ziehen (Letjat shurawlij) Michail Kalatosow, UdSSR Witness for the Prosecution Billy Wilder, USA


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Das erste Jahrhundert des Films: 1957.

IL GRIDO Italien 1957 Aldo, ein Fabrikarbeiter, wird von der Frau, die er liebt, verlassen. Er zieht mit seiner kleinen Tochter über die Landstrasse davon, auf der Suche nach einem neuen Leben. «Antonioni erzählt eher eine existentialistische als eine neorealistische Geschichte. (…) Dank der Intensität seiner Erzählung und der künstlerischen Konsequenz zählt Il grido zu den Meisterwerken des italienischen und europäischen Kinos der fünfziger Jahre.» (Thomas Koebner, Reclam Filmklassiker) Aldo ist der erste reine Antonioni’sche Held, der seines Lebenssinns beraubte Mensch, der die Welt nicht mehr versteht. «Ausgerechnet Steve Cochran, sein bulliger Körper von unaussprechlichen Seelenqualen gebeugt, gibt den Prototyp des existenziellen ‹drifters›, während Antonioni unbeeindruckt sein

Treiben als virtuoses Zusammenfallen von äusserer Leere und innerer Entfremdung inszeniert.» (Christoph Huber, Österreichisches Filmmuseum, 1/2007) 116 Min / sw / DCP / I/d // REGIE Michelangelo Antonioni // DREHBUCH Michelangelo Antonioni, Elio Bartolini, Ennio De Concini // KAMERA Gianni Di Venanzo // MUSIK Giovanni Fusco // SCHNITT Eraldo Da Roma // MIT Steve Cochran (Aldo), Alida Valli (Irma), Betsy Blair (Elvia), Gabriella Palotta (Edera), Dorian Gray (Virginia), Lyn Shaw (Andreina), Mirna Girardi (Rosina), Pina Boldrini (Lina, Irmas Schwester), G ­ aetano Matteucci (Ederas Verlobter).


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Das erste Jahrhundert des Films: 1957.

WILDE ERDBEEREN (Smultronstället) Schweden 1957

Ein 78-jähriger Medizinprofessor (gespielt vom schwedischen Filmregisseur Victor Sjöström) fährt für eine Auszeichnung von Stockholm nach Lund und entdeckt dabei in einer Mischung aus Träumen, Visionen und Erinnerungsbildern seine eigene Vergangenheit wieder. «Wird Bergman etwa sentimental, wundert sich vielleicht der eine oder andere voller Schrecken. Nein, das wird er nicht – solange man nicht Sentimentalität mit Gefühl gleichsetzt. (…) Das

unterscheidet ihn von der grossen Horde Unterhalter und Publikumsspekulanten: das echte ­Gefühl. (…) Sollte es unter Filmkennern immer noch Gegner von Ingmar Bergman geben, so sollten diese von Wilde Erdbeeren restlos bekehrt werden.» (Ellen Liliedahl, Svenska Dagbladet, 27.12.1957) 90 Min / sw / 35 mm / Schwed/d/f // DREHBUCH UND REGIE ­Ingmar Bergman // KAMERA Gunnar Fischer // MUSIK Erik Nordgren // SCHNITT Oscar Rosander // MIT Victor Sjöström (Prof. Isak Borg), Ingrid Thulin (Marianne Borg), Bibi Andersson (Sara), Gunnar Björnstrand (Dr. Evald Borg), Folke Sundquist (Anders), Björn Bjelvenstam (Viktor), Jullan Kindahl (Agda), Naima Wifstrand (Isaks Mutter).

DIE FILMWOCHENSCHAU ALS MAGAZIN

MI, 17. MAI | 18.15 UHR

Die Filmwochenschau gilt manchen als eine Art Tagesschau im Kinosaal. Die Analogie skizziert eine Schwierigkeit der Filmwochenschau, denn sie existierte ja noch, als es Fernsehen und Tagesschau schon gab. Was aber soll die Filmwochenschau beinhalten, wenn das Publikum aktuellere Ereignisse in Bild und Ton bereits zuhause sieht? Diese Frage begleitet die Filmwochenschau seit 1956, noch bevor der reguläre Fernseh-Sendebetrieb 1958 aufgenommen wird, bis zu ihrem Ende. Die Filmwochenschau als Magazin: filmischer und farbiger. So kann man die Anträge, Forderungen und Empfehlungen zusammenfassen, die über die nächsten 18 Jahre formuliert werden und die Filmwochenschau vor dem Fernsehen retten sollen: längere Beiträge, ­weniger Tagesaktualität, dafür längere Verwertungsdauer. Gegen Ende der 1960er-Jahre sollte die Filmwochenschau zudem auch näher am aktuellen Filmschaffen sein und ­jungen Filmemachern eine Plattform bieten. Das Programm, zusammengestellt und präsentiert von unserem Filmwochenschau-­Spezialisten ­Severin Rüegg, zeigt Magazinbeiträge aus den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren, farbig und schwarzweiss. Diesmal ist die Filmwochenschau definitiv alles andere als eine Art Tagesschau. Dauer ca. 90 Min. Für die freundliche Unterstützung der Wochenschauen danken wir


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Das erste Jahrhundert des Films: 1957.

PATHS OF GLORY USA 1957 Um nach einem gescheiterten Angriff auf die deutschen Stellungen die «Moral der Truppe» zu heben, lässt ein ehrgeiziger französischer General im Ersten Weltkrieg drei unschuldige Frontsoldaten erschiessen. Stanley Kubricks erste «Prestige-Produktion». Drei Jahre vor Spartacus realisierte er im Auftrag des Produzenten und Hauptdarstellers Kirk Douglas diese schonungslose Anklage gegen das Verbrechen des Krieges und die Ruhmsucht der Militärs. «Das in Deutschland gedrehte Kriegsdrama beruht im Kern auf historischen Ereignissen. Es attackiert, für seine Zeit ungewöhnlich schonungslos, die französischen Militärspitzen im Ersten Weltkrieg. Der wohl berühmteste, weil einzige nationale Schweizer Zensurfall der Nachkriegszeit. Die Filmzensur war eigentlich Sache der Kantone; die Bundesanwaltschaft beschlagnahmte jedoch, gestützt auf einen Bundesbeschluss von 1948 über ‹staatsgefährdendes Propagandamaterial›, alle in der Schweiz befindlichen Kopien von Paths of Glory. Mit der Begründung, er sei ‹für Frankreich in hohem Mass beleidigend›, verbot der Bundesrat den (wegen seiner antimilitaristischen Ten-

denz wohl ohnehin missliebigen) Film. Erst 1970, nachdem der Film im deutschen Fernsehen gezeigt worden war, hob der Bundesrat das Verbot auf.» (Filmpodium Programmheft, 1/2004) «Dies ist Kubricks lebendigster, emotionalster und menschlichster Film, vielleicht sogar sein bester. (…) Es ist einer der grossen Filme über ­Autorität, Rebellion und Männer unter extremem Druck. Aber er ist auch ein visuelles Meisterwerk (…) und zeigt eine der grossen Kamerafahrten des Kinos (…). Die Schlussszene in der überfüllten Bar – mit der geisterhaften Gesangsstimme von Christiane Harlan, der späteren Mrs. Kubrick – ist eine der fesselndsten, komplexesten und herzzerreissendsten Szenen der Filmgeschichte.» (Tom Huddleston, Time Out Film Guide) 88 Min / sw / Digital HD / E/d // REGIE Stanley Kubrick // DREHBUCH Stanley Kubrick, Calder Willingham, Jim Thompson, nach dem Roman von Humphrey Cobb // KAMERA George Krause // MUSIK Gerald Fried // SCHNITT Eva Kroll // MIT Kirk Douglas (Oberst Dax), Ralph Meeker (Korporal Paris), Adolphe Menjou (General Broulard), George M ­ acReady (General Mireau), Wayne Morris (Leutnant Roget), Richard Anderson (Major Saint-Auban), Joseph Turkel (Soldat ­Arnaud), Timothy Carey (Soldat Ferol), Peter Capell (Vorsitzender des Kriegsgerichts), Susanne Christian (= Christiane Harlan) (deutsches Mädchen), Bert Freed (Sergeant Boulanger), Emile Meyer (Priester).


Das erste Jahrhundert des Films: 1957.

THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI GB 1957 Mitten im Zweiten Weltkrieg im Dschungel von Burma: Der britische Oberst Nicholson gerät mit seiner Einheit in japanische Kriegsgefangenschaft und setzt fortan seinen ganzen Ehrgeiz in den Bau einer Eisenbahnbrücke, von der nur der Feind strategisch profitiert. Zur gleichen Zeit will eine Gruppe Amerikaner unter der Führung des aus dem Gefangenenlager geflohenen Major Shears diese Brücke in die Luft jagen. «David Leans erstes internationales Epos, ein Dschungeldrama voll irregeleiteter Disziplin, verfehlter Loyalität, politischer Paradoxie. (…) Souverän bewältigt Lean die für ihn damals neuen Dimensionen: Mitten in der Wildnis des Urwalds suggeriert er klaustrophobische Enge, kluge Montagen zwischen zwei aufeinander zustrebenden Handlungssträngen schaffen Suspense, und die letzten zehn Minuten des Films sind ohnehin ein Lehrbeispiel für die Manipulation der Zeit-Wahrnehmung durch Ton und Schnitt. Der formalen Virtuosität entspricht die thematische Ambivalenz: Wird britisches Offiziersethos hier gefeiert oder verdammt? Konsequenterweise lautet das letzte Wort des Films denn auch ‹Madness›.» (Hans Langsteiner, Österreichisches Filmmuseum, 2/2009)

«Die meisten Kriegsfilme sind entweder für oder gegen den Krieg. The Bridge on the River Kwai ist einer der wenigen, der seine Aufmerksamkeit nicht auf das Richtige oder Falsche, sondern auf das Individuum selbst richtet. (…) Während sich in Leans späteren Filmen eine gewisse Erhabenheit findet, die den Verlust menschlicher Details wettmacht, achtet er in The Bridge on the River Kwai noch auf die persönliche Note, etwa in Oberst Nicholsons selbstgefälligen Untersuchungen der fertiggestellten Brücke; beinahe schon KingLear-ähnlich mutet Nicholsons letzter Anflug von gesundem Menschenverstand an: ‹What have I done!›» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 18.4.1999) 161 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE David Lean // DREHBUCH Michael Wilson, Carl Foreman, nach dem Roman von Pierre Boulle // KAMERA Jack Hildyard // MUSIK Malcolm Arnold // SCHNITT Peter Taylor // MIT Alec Guinness (Oberst Nicholson), William Holden (Kommandant Shears), Jack Hawkins (Major Warden), Sessue Hayakawa (Oberst Saito), James Donald (Major Clipton), Geoffrey Horne (Leutnant Joyce), André Morell (Oberst Green), Peter Williams (Hauptmann Reeves), John Boxer (Major Hughes), Percy Herbert (Grogan), Harold Goodwin (Baker), Ann Sears (Krankenschwester).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1957.

SWEET SMELL OF SUCCESS USA 1957 Presseagent Sidney Falco umschmeichelt den monströsen Zeitungskolumnisten J. J. Hunsecker und ist dabei auf dem besten Weg, sich selbst durch seinen verbissenen Aufstiegsdrang zu ruinieren. «Eine grossartige, bittere Satire über Massenpresse und Promikult. Sweet Smell of Success hat eine herrlich rauchige Jazzmusik von Chico Hamilton und ist geprägt von der Atmosphäre im New York des Jahres 1957. Er führt uns durch die brodelnden Nachtclubs, wo die Verzweifelten die Verrückten hofieren und für ein paar Zeitungszeilen Seelen verkauft werden, auf regennasse Strassen, wo verbrecherische Cops Jazzmusikern Dope unterschieben oder J.  J.s Feinde halb totprügeln. Regisseur Alexander Mackendrick vollzieht einen grossartigen Wechsel von schrulligen Ealing-­ Komödien zu grimmigem Wahnsinn und ergänzt die zynische, beobachtende Haltung von Ernest Lehmans nüchtern-bösem Drehbuch um unheimliche Schatten. Burt Lancaster, ausgeleuchtet wie Frankensteins Monster, ist faszinierend hassenswert und Tony Curtis liefert seine beste Leistung als zitternder Speichellecker, der beim Versuch, J.  J. einen Gefallen zu tun, Übles anrichtet.» (Kim Newman, in: 1001 Filme, Ed. Olms, 2012)

«Sweet Smell of Success war Mackendricks USDebüt, ein Film wie eine Rattenfalle, in dem ein abgefeimter New Yorker Klatschagent vor seinem Mr. Big kriecht, der mit geradezu inzestuöser Inbrunst darauf aus ist, die Romanze seiner jüngeren Schwester mit einem Jazzmusiker zu zerstören – eine Figur so böse und unvergesslich wie Orson Welles in The Third Man oder Robert Mitchum in The Night of the Hunter. (…) Selten hat die Leinwand finsterer und grausamer ausgesehen.» (Chris Auty, Time Out Film Guide) 96 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Alexander Mackendrick // DREHBUCH Clifford Odets, Ernest Lehman, nach einer Kurzgeschichte von Ernest Lehman // KAMERA James Wong Howe // MUSIK Elmer Bernstein // SCHNITT Alan Crosland Jr. // MIT Burt Lancaster (J. J. Hunsecker), Tony Curtis (Sidney Falco), Susan Harrison (Susan Hunsecker), Martin Milner (Steve Dallas), Sam Levene (Frank D’Angelo), Barbara ­Nichols (Rita), Edith Atwater (Mary), Jeff Donnell (Sally), Joe Frisco (Herbie Temple).


Das erste Jahrhundert des Films: 1957.

BÄCKEREI ZÜRRER Schweiz 1957 Der alte Bäcker Zürrer ist enttäuscht über den Werdegang seiner Kinder und bricht mit ihnen. Verbittert und allein verlässt er seine geliebte ­Bäckerei. Neben dem eindringlichen Emil Hegetschweiler spielt die Zürcher Langstrasse die zweite Hauptrolle: Der Film «sollte das Porträt der ­Lieblingsstrasse meiner Jugend sein, der Lang­ strasse in Zürich. Dort hoffte ich Bilder zu finden, wie sie mich am poetischen Realismus eines De Sica so fasziniert hatten. Auch der frühe ­Fellini stand Pate. Noch ein Film sei erwähnt: Il ferroviere von Germi, welcher dann der Bäckerei Zürrer in einem solchen Masse Vorbild wurde, dass die Kritik es merkte.» (Kurt Früh, Rückblenden, 1975) «Was die Kamera zusammen mit der im Übrigen ausgezeichneten Regie aus den Darstellern herausholt, grenzt zuweilen ans Unwahrscheinliche: Hegis Charakterkopf scheint manchmal eher einer Tolstoi-Gestalt als einem Bäcker an der Langstrasse anzugehören – und Peter Brogle (als sein Sohn; Anm. d. Red.) bewegt sich in manchen Sequenzen so eindrücklich, als sei er direkt aus einem heroischen französischen oder italienischen Streifen voller dramatischer Explosiv-

und Lebenskraft übernommen worden.» (Die Tat, 1.10.1957, zit. in: Felix Aeppli, Der Schweizer Film 1929 –1964, 1981) «Auf den ersten Blick reiht sich das Werk in die Kategorie der von der Gloria propagierten ‹Kleinbürgerfilme› (…). Sehr bald aber werden wir gewahr, dass die Konflikte hier klar in einer sozialen und psychologischen Wirklichkeit wurzeln. Das Dekor ist real, geografisch präzis, kein bequemes ‹Irgendwo›. Der siebzigjährige Patriarch im Mittelpunkt des Dramas ist eine Art trockener, verkalkter, egozentrischer ‹bürgerlicher Lear›, blind für die Qualitäten, Wünsche und Schwächen seiner Kinder. (…) Dieses Porträt eines eigen- und rachsüchtigen Alten, der den Anschluss an die Zeit verloren hat und seine fixen Ideen mit Zwang durchstiert, hat mit der billigen Anbiederung eines Polizischt Wäckerli nichts mehr gemein.» (Hervé Dumont, Geschichte des Schweizer Films, 1987) 105 Min / sw / Digital SD / Dialekt/d // DREHBUCH UND REGIE Kurt Früh // KAMERA Georges C. Stilly // MUSIK Walter Baumgartner // SCHNITT René Martinet // MIT Emil Hegetsch­weiler (Bäckermeister Zürrer), Peter Brogle (Heini ­Zürrer), ­Margrit Winter (Trudi Zürrer), Ettore Cella (Renzo Pizzani), Walter ­Morath (Richard Zürrer), Ursula Kopp (Gina Pizzani), François Simon (Marcel Piboulot), Armin Schweizer (Fink), Max Werner Lenz (Kipper), Max Haufler (der Dicke), ­Ellen Widmann (Wirtin), Helen Vita (Chanteuse).

33


34 Premiere: Human

Nichts Menschliches ist fremd Der Fotograf, Cineast und Umweltaktivist Yann Arthus-Bertrand, be­rühmt für seine Luftbildaufnahmen unseres Planeten, verbindet in ­seinem jüngsten Projekt ein Mosaik von Porträts einzelner Menschen mit beeindruckenden Bildern der Welt, in der wir leben. Das Film­podium zeigt die kurze Kinoversion von Human als Premiere. In seinem jüngsten Werk, Human, verbindet der französische Filmemacher und Fotograf Yann Arthus-Bertrand die makroskopische Vogelperspektive auf unseren Planeten mit dem mikroskopischen Blick auf einzelne Erdenbürger. 60 Länder haben Arthus-Bertrand und seine Teams bereist und über 2000 Menschen interviewt – einige Prominente, vor allem aber Unbekannte, die erstmals ihre Geschichte erzählen. Arthus-Bertrand hat diese Menschen aus ihrem Umfeld herausgelöst und sich auf ihre Gesichter und Worte konzentriert. Der Film ist somit eine Reise durch natürliche und von Menschen geschaffene Landschaften, vor allem aber durch individuelle menschliche Schicksale. Human verzichtet auf einen Off-Kommentar und belässt die Äusserungen der Interviewten unverfälscht. Armut, Krieg, Migration und Homophobie sind die Schwerpunkte des Films und lassen doch eine kritische und politische Gewichtung seitens des Cineasten erkennen. Heranwachsen, Liebe und Glück zählen zu den weiteren Themen in Arthus-Bertrands Fragenkatalog, und so beeindruckt dieses filmische Mosaik mit bewegenden, aufwühlenden und amüsanten Aussagen, die sowohl das Gute als auch das Böse im Menschen belegen. (mb) * Am 6. Juni um 18.00 Uhr ist Yann Arthus-Bertrand im Film­podium zu Gast.

HUMAN / Frankreich 2015 143 Min / Farbe / DCP / OV/d // REGIE Yann Arthus-Bertrand // KAMERA Bruno Cusa, Daniel Meyer // MUSIK Armand Amar // SCHNITT F ­ rançoise Bernard, Anne-Marie Sangla.


35 Filmpodium für Kinder

Brendan und das Geheimnis von Kells Inspiriert vom «Book of Kells», einem der schönsten Zeugnisse mittelalterlicher Buchmalerei, ist dieser Fantasy-Animationsfilm von zauberhafter Schönheit. Geschickt verbindet er die keltische und christliche Geschichte mit den Legenden Irlands.

BRENDAN UND DAS GEHEIMNIS VON KELLS / THE SECRET OF KELLS Irland / Frankreich / Belgien 2009 75 Min / Farbe / Digital HD / D u. E/d / 10/6 J // REGIE Tomm Moore, Nora Twomey // DREHBUCH Fabrice Ziolkowski // MUSIK Bruno Coulais // SCHNITT Fabienne Alvarez-Giro // MIT DEN DEUTSCHEN STIMMEN VON David Kunze (Brendan), Cathlen Gawlic (Aisling), Gerald Paradies (Abt Cellach), Julius Jelinek (der erwachsene Brendan). ORIGINALVERSION MIT DEN ENGLISCHEN STIMMEN VON Evan McGuire (Brendan), Christen Mooney (Aisling), Brendan ­Gleeson (Abbot Cellach), Mick Lally (Aidan), Michael McGrath (der erwachsene Brendan). Vorstellungen der deutschen Synchronfassung jeweils samstags um 15.30 Uhr. Vorstellungen des englischen Originals mit deutschen Untertiteln, Do 25. Mai und So 11. Juni um 15.00 Uhr.

Der junge Brendan lebt bei seinem Onkel im Kloster von Kells. Angriffe der Wikinger sind eine ständige Bedrohung, fleissig wird an der Befestigung gearbeitet. Je höher die Klostermauern in den Himmel wachsen, desto enger wird es um den jungen Mönch. Doch mit der Ankunft des Buchmalers Aidan eröffnet sich eine neue Welt. Aidan und Brendan freunden sich schnell an, und der Junge darf dabei sein, wenn der Alte an seinem Buch arbeitet. Für ihn soll Brendan im Wald nach Farben suchen, die für die Illustrationen des Buches gebraucht werden. Dazu muss er das Kloster heimlich verlassen. Draussen trifft er die Waldfee Aisling und zusammen tauchen sie ein in ein faszinierendes Universum alter Legenden und Geheimnisse.


36 DI, 16. MAI | 18.15 UHR

BUCHVERNISSAGE

CLAUDE GORETTA. DER EMPATHISCHE BLICK Aus Anlass der Präsentation des Buches

Als Beispiel für Gorettas Frühwerk ist da­

«Claude Goretta. Der empathische Blick»

raufhin Le jour des noces zu sehen, ein Vor-

zeigt das Filmpodium Gorettas frühen Fern-

läufer seines Durchbruchfilms L’invitation.

sehfilm Le jour des noces, eine freie Adap-

«Claude Gorettas Le jour des noces ist

tion von Maupassants Novelle «Une partie

eine echte Entdeckung und während so

de campagne», die schon Jean Renoir ver-

ziemlich seiner ganzen, zügigen Laufzeit

filmte.

von 71 Minuten ein absolutes Vergnügen. Frei nach einer Novelle von Guy de Maupassant und stilistisch verwandt mit dem frühen, lustigen Mike Leigh, folgt der Film einer Städterfamilie, die einen Ausflug zu einem Landgasthof unternimmt und dort unter freiem Himmel auf eine ausgelassene, aber dysfunktionale mittelständische Hochzeitsgesellschaft trifft. Schnörkellos, urkomisch und strukturell gewagt, ist Le jour des noces erstaunlicherweise kaum bekannt, wenn man bedenkt, was für ein Juwel dieser Film ist.» (Neil

LE JOUR DES NOCES / Schweiz /  Frankreich / Belgien 1970

Young, jigsawlounge.co.uk, 19.12.2009) «Es interessiert mich sehr, in einer

71 Min / Farbe / 16 mm / F/e // REGIE Claude Goretta // DREH-

Gruppe zu zeigen, wie die Leute zueinander

BUCH Claude Goretta, Michel Contat, nach einer Novelle von

stehen, und gleichzeitig ihr heimliches Le-

Guy de Maupassant // KAMERA Jean Zeller // MUSIK Guy ­Bovet // SCHNITT Françoise Lenoir // MIT Arnold Walter

ben hervortreten zu lassen, ihre verborge-

­(Philippe Dufour), Dora Doll (Madame Dufour), André Schmidt

nen Verrücktheiten.» (Claude Goretta, zi-

(Armand Porchet), Martine Garrel (Henriette Ducret), JeanLuc Bideau (Fotograf), François Simon (Ducret, Brautvater).

tiert in: Télérama, Juni 1972)

Neben Alain Tanner und Michel Soutter

✶ anschliessend Apéro im Kinofoyer

steht Claude Goretta als Dritter im Bunde für den internationalen Aufbruch eines neuen Schweizer Spielfilms um 1970. Sein äusserst vielseitiges Werk neu zu entdecken, auch im Kontext eines weltoffenen Genfer Fernsehens, ist Ziel der Monografie «Claude Goretta. Der empathische Blick». Autor ist der Journalist und Filmkritiker Martin Walder, der das Buch im Filmpodium vorstellt.

Claude Goretta. Der empathische Blick Martin Walder; edition filmbulletin bei Schüren; ISBN 978-3-89472-975-2


37 SA, 20. MAI I 18.15 UHR

TWIN PEAKS RELOADED

TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME & THE MISSING PIECES Schon vor 27 Jahren zeigte David Lynch mit Twin Peaks, was sich im Medium Fernsehserie in Sachen Komplexität, absurdem ­Humor und Surrealismus erreichen liess. Zum Start der neuen Staffel der Serie zeigt das Filmpodium Lynchs Kino-Prequel Twin Peaks: Fire Walk with Me und dessen unlängst enthüllte Missing Pieces. «Who killed Laura Palmer?» war die Frage, die das Publikum von David Lynchs bahn-

TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME / USA / Frankreich 1992

brechender Fernsehserie Twin Peaks 1990

135 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE David Lynch //

und 1991 bewegte. Die Highschool-Schönheit war als Leiche in eine Plastikplane ein-

DREHBUCH David Lynch, Robert Engels // KAMERA Ronald Victor García // MUSIK Angelo Badalamenti // SCHNITT Mary Sweeney // MIT Sheryl Lee (Laura Palmer), Ray Wise (Leland

gewickelt am Flussufer angeschwemmt

Palmer), Moira Kelly (Donna Hayward), Kyle MacLachlan

worden, was den netten Ortssheriff Tru-

Chester Desmond), Pamela Gidley (Teresa Banks), Phoebe

man, aber auch den smarten FBI-Agenten Dale Cooper auf den Plan rief. Coopers Ermittlungen konfrontierten ihn mit den bi-

(Special Agent Dale Cooper), Chris Isaak (Special Agent Augustine (Ronette Pulaski), David Bowie (Phillip Jeffries), Harry Dean Stanton (Carl Rodd), Dana Ashbrook (Bobby Briggs), David Lynch (Gordon Cole), Michael J. Anderson (Mann von einem anderen Ort).

zarren Bewohnern und schaurigen Schattenseiten der scheinbar so heilen Welt von Twin Peaks. Am Ende der zweiten Staffel geriet der tugendhafte Agent selber in den

TWIN PEAKS: THE MISSING PIECES / USA / Frankreich 2014 92 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE David Lynch // DREHBUCH David Lynch, Robert Engels // KAMERA Ronald

Bann jener bösen Mächte, die zum Mord an

Victor García // MUSIK Angelo Badalamenti // SCHNITT Mary

Laura und anderen Untaten geführt hatten.

Palmer), Grace Zabriskie (Sarah Palmer), Gary Bullock

Die Serie wurde damals nicht fortgesetzt, aber Lynch schob 1992 den Kinofilm Twin Peaks: Fire Walk with Me nach, der den

Sweeney // MIT Sheryl Lee (Laura Palmer), Ray Wise (Leland (Sheriff Cable), Kyle MacLachlan (Special Agent Dale ­ Cooper), Jack Nance (Pete Martell), Joan Chen (Joyce Packard), Michael Ontkean (Sheriff Harry S. Truman).

früheren Mordfall Teresa Banks und den

ergänzt mit The Missing Pieces, den 1992

Missbrauch und Tod Laura Palmers er-

­he­raus- oder zusammengeschnittenen, aber

zählte, in einer Drastik, die der Fernseh-

2014 von Lynch selber aufbereiteten Szenen,

sender ABC nie zugelassen hätte und die

die den Film deutlich aufwerten.

viele Fans damals vor den Kopf stiess. Am 21. Mai 2017 startet (im deutschen

Ein exklusiver Abend für Twin Peaks-Fans, samt Cherry Pie, Donuts und «damn fine cof-

Sprachraum via Sky) eine dritte Staffel der

fee». (mb)

Serie, von Lynch persönlich realisiert. Ein

Präsentiert in Zusammenarbeit mit

idealer Zeitpunkt, um sich Twin Peaks: Fire Walk with Me mit frischen Augen anzusehen,


38 70 Jahre Filmfestival Locarno

7 Leoparden für 70 Jahre Das Festival del film Locarno hat 70 Jahre lang das Kino durch die Geschichte begleitet, wusste mit der Zeit zu gehen, war ihr manchmal sogar einen Schritt voraus. Immer wieder hatten die Jurys den richtigen Riecher und zeichneten herausragende Filme aus, die es sich lohnt wieder anzuschauen, auch wenn sie inzwischen allseits bekannt sind. Deshalb haben wir beschlossen, sieben goldene Pardi auszuwählen, die für die Geschichte des Festivals und des Kinos eine symbolische Bedeutung haben, die mehr durch ihre Sprache denn durch ihren Inhalt bestechen, die eine Realität nicht nur filmen, sondern sie formen, die genügend Kraft besitzen, um die Gegenwart zu überfliegen. Carlo Chatrian Carlo Chatrian ist seit 2012 künstlerischer Leiter des Festival del film Locarno.

WARUM BODHI-DHARMA IN DEN ORIENT AUFBRACH?

(Dharmaga tongjoguro kan kkadalgun?) Südkorea 1989 «In einem buddhistischen Kloster, das in der Abgeschiedenheit eines Bergwaldes liegt, leben ein alter Zen-Meister, sein Schüler und ein heranwachsender Waisenknabe. Die drei – sie können für die drei Lebensalter des Menschen stehen – befinden sich auf verschiedenen Stufen der Wahrheits- und Sinnsuche, inmitten einer beherrschenden Natur mit ihren Elementen Wasser, Feuer, Luft und Erde. In achtjähriger Arbeit geschaffenes, ästhetisch packendes Werk, das die Erfahrung einer spirituellen Suche nach innerer Harmonie vermittelt.» (Zoom 2/90)

«Die meisten Menschen pflegen heute etwas als ‹mystisch› zu bezeichnen, das sie nicht verstehen. Jedenfalls haben sie den Eindruck, dass es sich um Erfahrungen handelt, die weit weg sind vom realen Alltag. Ich bin nicht dieser Meinung, schon weil die äussere Wirklichkeit nach unseren asiatischen Empfindungen nicht das Wirklichste an der Wirklichkeit ist. Die Objekt-Subjekt-Beziehung ist eine andere. Im Unterschied zum westlichen Denken und Fühlen ist das Objekt vom Subjekt nicht abgenabelt. (...) Sie bilden vielmehr eine echte Einheit zusammen, die als Vorgang erlebbar ist. Wenn ich zum Beispiel vor einer Blume meditiere, kann ich mich verlieren, sodass ich selbst zur Blume werde. Ich bin ein Teil von ihr, und sie ist ein Teil des Universums.» (Bae Yong-kyun, zitiert in Zoom 2/90) | Goldener Leopard 1989 137 Min / Farbe / DCP / Kor/d/f // DREHBUCH, REGIE, ­KAMERA, SCHNITT Bae Yong-kyun // MUSIK Chin Kyu-young // MIT Yi Pan-yong (Hye-gok, der alte Mönch), Sin Won-sop (Ki-bong, der junge Mönch), Hae-jin Huang (Hae-jin, der Novize), Ko Su-myong (Abt), Yun Byeong-hui (Ki-bongs Mutter).

AYNEH (THE MIRROR) Iran 1997 Die kleine Mina, die einen Arm in einer Schlinge trägt, wartet nach dem Unterricht vor ihrer Schule in Teheran auf ihre Mutter. Als sie nicht abgeholt


39

70 Jahre Filmfestival Locarno.

ERÖFFNUNG DER TAGUNG

MI, 7. JUN | 18.15 UHR

«EXPLORING THE ‹TRANSNATIONAL› IN FILM STUDIES» Vom 8. bis 9. Juni 2017 führt das Seminar

konventionelleren Händen vielleicht eine

für Filmwissenschaft der Universität Zü-

harsche oder theatralische Behandlung er-

rich die internationale Tagung «Exploring

fahren hätte.» (Janet Maslin, The New York

the ‹Transnational› in Film Studies» durch.

Times, 23.9.1979)

Zur Eröffnung der Veranstaltung, die sich

✶ Einführung von Margrit Tröhler,

mit den Möglichkeiten und Grenzen des

­Wolfgang Fuhrmann und Marius Kuhn

transnationalen Ansatzes in der Filmwis-

(in engl. Sprache)

senschaft auseinandersetzt, wird Robert M. Youngs in Mexiko und den USA gedrehter Film ¡Alambrista! (1977) gezeigt.

Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich.

Am Beispiel des jungen mexikanischen Vaters Roberto, der illegal über die amerikanische Grenze nach Kalifornien gelangt, um

¡ALAMBRISTA! / USA 1977

Arbeit zu finden, behandelt ¡Alambrista!

96 Min / Farbe / Digital HD / OV/e // DREHBUCH UND REGIE

Themen wie Immigration und Nationalität,

// MUSIK Michael Martin Murphey // SCHNITT Edward Beyer,

die auch heute noch aktuell sind. «¡Alambrista! ist ein leiser, wunderschön gemachter Film über ein Thema, das in

wird, steigt sie kurzerhand allein in einen Bus und merkt nicht sofort, dass sie in die falsche Richtung fährt. Unterwegs wird sie Zeugin von Klagen und Gesprächen anderer Fahrgäste über deren Alltagsnöte. Doch plötzlich steigt das Mädchen aus – im doppelten Sinne: Die Darstellerin Mina hat das Schauspielen satt, fällt aus der Rolle, verbietet dem Regisseur zu filmen und verlässt den Bus. Panahi und sein Team müssen das Genre wechseln, um mit ihr Schritt zu halten. «Allen Widrigkeiten zum Trotz liefern sie uns nun die Geschichte von Mina, die nicht mehr im Film mitspielen will. Die Geschichte eines Widerstandskämpfers, Jafar Panahi, der immer neue Listen und Kniffe anwendet, um seinen Spiegel aufrechtzuerhalten. Die Geschichte eines Schöpfers, der bereit ist, die Fiktion aufzuheben, jede Form von Trick aufzugeben, um jenen Akt zu realisieren, der womöglich an und für sich der am wenigsten realistische überhaupt ist: die Realität zu filmen, auf ungeschönte Weise. Unschön, könnte man sagen. Aber es ist das Filmen, das zählt, als Dringlichkeit, mehr noch als das Objekt des Films. Die Tragweite dieser Geste wird dabei politisch, so sehr, dass der Bruch des Spiegels

Robert M. Young // KAMERA Tom Hurwitz, Robert M. Young Norman Buckley // MIT Domingo Ambriz (Roberto), Linda Gillin (Sharon), Trinidad Silva (Joe), Paul Berrones (Berto), George Smith (Cook), Ned Beatty (amerikanischer Schlepper), Dennis Harris (Sharons Bruder).

Anlass zu einem Lob der Fiktion gibt, einer Fiktion, die es wiederzufinden gilt, einer Fiktion, die untrennbar verbunden ist mit der schöpferischen Freiheit.» (Jean-Patrick Géraud, avoir-alire.com, 13.11.2011) | Goldener Leopard 1989 95 Min / Farbe / DCP / Farsi/e // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Jafar Panahi // KAMERA Farzad Jadat // MIT Mina ­Mohammad Khani (Mina), Aida Mohammadkhani, Kazem Mojdehi, Naser Omuni.


40 SÉLECTION LUMIÈRE

SHADOWS Mit seinem improvisierten Regieerstling

und Kanten. Die drei schleppen sich durch

Shadows schuf der Schauspieler John Cas-

ihr schäbiges Grossstadtleben (verrauchte

savetes 1959 ein Werk, das mit den Kon­

Nachtclubs, prätentiöse Partys, verhee-

ventionen Hollywoods brach und den ameri-

rende sexuelle Erlebnisse, Raufereien und

kanischen Independent-Film begründete.

bierselige

Gleichzeitig stellte seine Schilderung der

von berauschendem Bluthochdruck, wobei

Erlebnisse dreier afroamerikanischer Ge-

heute an diesem Meilenstein des Improvi-

schwister in der New Yorker Jazzszene

sationskinos überrascht, dass er oft sehr

auch eine wegweisende Auseinanderset-

komisch ist. Der sprunghafte Schnitt, die

zung mit alltäglichem Rassismus in den

schärfeunabhängige Kameraführung und

USA dar.

die naturalistischen Dialoge (im selben

Beatnik-Gespräche),

geplagt

Jahr wie Godards À bout de souffle gedreht, «Bewunderer von Mean Streets mögen sich

teilt Shadows mit diesem auch manche Im-

gefragt haben, wie Scorsese zu seiner

pulse in Richtung einer neuen Form des

schwindeligen Vision von nervösen New

­Filmemachens) mögen nicht mehr scho-

Yorker Neurotikern kam; Cassavetes’ Erst-

ckieren, aber 1959 müssen sie eine Offen-

ling könnte da einen starken Einfluss aus-

barung gewesen sein. Mit seinem melan-

geübt haben. Wie in dem späteren Film geht

cholischen, launischen Mingus-Soundtrack

es auch hier weniger um die Story – zwei

und seiner stahlgrauen Bildgestaltung ist

Brüder und eine Schwester schlagen sich

er nach wie vor eine Freude.» (Geoff An-

mit allerlei Spannungen untereinander so-

drew, Time Out Film Guide)

wie mit Freunden und Geliebten herum – als um die elektrisierende Atmosphäre und

✶ am Dienstag, 30. Mai um 18.15 Uhr:

schauspielerische Darbietungen mit Ecken

Einführung von Martin Walder

SHADOWS / USA 1959 87 Min / sw / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE John Cassavetes // KAMERA Erich Kollmar // MUSIK Charles Mingus // SCHNITT Maurice McEndree // MIT Hugh Hurd (Hugh), Lelia Goldoni (Lelia), Ben Carruthers (Ben), ­Anthony Ray (Tony), Dennis Sallas (Dennis), Tom Allen (Tom), David Pokitillow (David).


41 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Marius Kuhn (mk), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Ambassade de France en Suisse, Bern; AnanasFilms, Horgen; Françoise Caraco, Zürich; Ciné-Tamaris, Paris; Faces Distribution, Hazlet; Impex Films, Saint-Sauveur-d’Aunis; Institut Français, Paris; Kinemathek Le Bon Film, Basel; MK2, Paris; Pandastorm Pictures, Berlin; Park Circus, Glasgow; ­Praesens Film, Zürich; RTS, Genf; Screenbound, Lutterworth; SRF Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich; Studiocanal, Berlin; Swissfilms, Zürich; SWISS TXT, Biel und Zürich; Tamasa Distribution, Paris; trigon-film, Ennetbaden; UniFrance, Paris; U ­ nzero Films, Paris; Robert M. Young, Los Angeles. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Däuber // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 6000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Hongkong-Kino

Hollywoodkomödien der Nachkriegszeit

Am 1. Juli 2017 wird es 20 Jahre her sein,

Während sich die USA vom Krieg erholten

seit die einst britische Kolonie Hongkong

und ihr Wirtschaftswunder ankurbelten,

zu einer Sonderverwaltungszone Chinas

spiegelten die Komödien aus Hollywood den

wurde. Dies hat auch die einst blühende

Umbruch der Gesellschaft. Altmeister der

Filmindustrie dieser Metropole sehr verän-

Screwball Comedy wie Howard Hawks und

dert. Deshalb feiern wir diesen Sommer das

Billy Wilder schufen Spätwerke mit Katha-

stilbildende und vielfältige Hongkong-Kino

rine Hepburn, Spencer Tracy und Cary

der «Golden Years» der achtziger und neun-

Grant. Gleichzeitig setzten jüngere Regis-

ziger Jahre. Von Stanley Kwans Melodram

seure wie Frank Tashlin und Blake Edwards

Rouge über die Kult-Komödie Chicken and

und Nachwuchs-Stars wie Jack Lemmon,

Duck Talk bis zu Ann Huis Meisterwerk Boat

Jerry Lewis und Danny Kaye andere, teils

People oder Clara Laws Locarno-Gewinner

klamaukige Akzente. Mit Sexbomben wie

Autumn Moon wird das Programm reichen.

Marilyn Monroe, Zimperliesen wie Doris Day

Aber auch die Fans von Wong Kar-wai und

und Society-Damen wie Audrey Hepburn wur­-

Jackie Chan kommen auf ihre Kosten.

de zudem das Frauenbild neu verhandelt.


AB 22. JUNI IM KINO

CENTAUR AK TA N A RY M KU BAT K I R G I S I S TA N

«Leichthändig und humorvoll – wie eine frische Brise.» CineEuropa


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