Filmpodium Programmheft Januar/Febuar 2019

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1. Januar –15. Februar 2019

Stummfilmfestival 2019 Edward G. Robinson Der Frankenstein-Komplex


Geschenke fürs ganze Jahr – ein Abonnement oder ein Plakat!

Studio Geissbühler

Erhältlich an der Kinokasse

Ab 10. Januar Frankenstein Schauspielhaus Zürich


01 Editorial

Das andere «digitale Dilemma» Am 1. November fand im Filmpodium ein Anlass zum 70-jährigen Bestehen der Cinémathèque suisse statt. Deren Direktor, Frédéric Maire, gab dabei Auskunft, wie sein Archiv mit dem sogenannten «digital dilemma» umgeht: Was die Restaurierung und Verbreitung des Filmerbes angeht, ist die Digitalisierung hilfreich (auch wenn manche Cinephile an der analogen Vorführung hängen). Für die Konservierung von Filmen jedoch ist die Digitalisierung mangels verbindlicher Standards und dauerhafter Technologien weniger geeignet als unverwüstliche Polyesterkopien. Die an sich begreifliche Entscheidung der Cinémathèque, alte und seltene Filmkopien als schützenswerte Artefakte zu betrachten und sie fortan nicht mehr zu verleihen, um sie im Hinblick auf eine allfällige Digitalisierung zu schonen, stürzt allerdings Kinos wie das Filmpodium in ein anderes Dilemma: Die analoge Kopie ist nicht mehr verfügbar (von den 57 Lang- und Kurzfilmen im aktuellen Programm stammen gerade mal zwei 35-mm-Kopien aus der Cinémathèque) und eine brauchbare digitale Version meist noch nicht erhältlich. Manche Rechteinhaber untersagen zudem die Projektion von Blurays, selbst wenn diese (oft restaurierten) Versionen qualitativ besser sind als die greifbaren analogen Kopien. Ob analog oder digital, die Kopien, die wir beschaffen können und manchmal mit viel Aufwand von ausländischen Archiven kommen lassen, sind in der Regel nicht deutsch untertitelt. Die Vorführung dieser Filme stellt deshalb für einen Teil des Publikums eine sprachliche Herausforderung dar, was sich etwa bei der neulich gezeigten Blacklist-Reihe spürbar in den Eintrittszahlen niederschlug. Auch von den Edward-G.-Robinson-Filmen in diesem Programm stammen die meisten (analogen) Kopien aus britischen Quellen und haben keine Untertitel. Dass wir im Interesse des Originalwerks auf die Vorführung von Synchronfassungen verzichten, versteht sich. Als Kuratoren können wir die Auswahl der Filme aber auch nicht nur davon abhängig machen, ob diese in unter­titelter Form verfügbar sind. Die Vielseitigkeit eines Schauspielers wie Edward G. Robinson liesse sich nicht würdigen, wenn nur Filme gezeigt würden, die mit deutschen Untertiteln ausgestattet sind. Deutsche Untertitel selbst bereit- oder herzustellen, dafür reichen unsere Ressourcen nur im Ausnahmefall. Wir hoffen daher auf Ihr Verständnis – auch des Englischen. Michel Bodmer Titelbild: Les nouveaux messieurs von Jacques Feyder


02 INHALT

Stummfilmfestival 2019

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Edward G. Robinson

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Restaurierungen der Filmarchive, Wie­ derentdeckungen von internationalen Festivals und die «Jahrgangsfilme» unserer Jahrhundertfilmreihe von 1919 und 1929 bilden das Herzstück des diesjährigen, 16. Stummfilmfestivals. Zu Gast sind das «Phono-CinémaThéâtre» der Weltausstellung von 1900, zwei italienische Diven und Stars wie Louise Brooks und Lillian Gish; der bittere Kriegsfilm Behind the Door steht ebenso auf dem Programm wie Ernst Lubitschs Komödie Die ­Austernprinzessin und herausragende tschechische und schwedische Filme – das Festival bietet wiederum eine enorme Vielfalt an Themen und Stilen und glänzt mit Live-Musikbegleitung auf höchstem Niveau. Erstmals wird auch ein Familien-Komikerprogramm mit Live-Musik angeboten. Zwei frühe Tonfilme runden das Filmjahr 1929 ab.

Aus dem Film noir der 30er- und 40er-Jahre ist er kaum wegzudenken: Edward G. Robinson (1893–1973) ­ verkörperte bereits 1931 in Little Caesar den Prototyp des Gangsters als Emporkömmling und skrupelloser Machtmensch; sein Erfolg verdammte ihn dazu, noch viele weitere Übeltäter dieser Sorte zu spielen. Immerhin durfte er in John Fords The Whole Town’s Talking (1935) und anderen Komödien dieses Klischee auch parodieren. Seine schauspielerische Bandbreite demonstrierte Robinson jedoch in Charakterrollen, etwa in William Dieterles Dr. Ehrlich’s Magic Bullet (1940), Roy Rowlands Pastorale Our Vines Have Tender Grapes (1945), ­Joseph L. ­Mankiewicz’ Familiendrama House of Strangers (1949) oder Norman Jewisons The Cincinnati Kid (1965), in dem er cooler ist als Steve ­McQueen.

Bild: Broken Blossoms

Bild: Kid Galahad


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Der Frankenstein-Komplex

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200 Jahre alt ist Mary Shelleys Roman «Frankenstein», der in verschiedensten Formen verfilmt worden ist, vom stummen Gruselstreifen bis zum schrillen Musical. Als Premiere ist Haifaa AlMansours Biopic Mary Shelley zu sehen. Bild: Bride of Frankenstein

Reeditionen: Éric Rohmer

Filmpodium für Kinder: 36 Tortuga – Die unglaubliche Reise der Meeresschildkröte Eine Meeresschildkröte folgt ihrem inneren Kompass und ist 20 Jahre unterwegs, bis sie an ihrem Ziel ankommt, um ihre Eier zu legen. Eine aufregende und beschwerliche Reise. Bild: Tortuga

34 Einzelvorstellung 15 Dawson City: Frozen Time Drei von Éric Rohmers «Contes moraux» – La collectionneuse, Ma nuit Bill Morrison beschäftigt sich mit der chez Maud und L’amour l’après-midi – Ästhetik zerfallenden Filmmaterials. erzählen subtil und wortgewandt von In Dawson City: Frozen Time schilMännern, deren Leben von ungewöhn- dert er die Geschichte des Stummfilmlichen Frauen aus der Bahn geworfen schatzes, der im Yukon gehoben wurde. wird.



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Stummfilmfestival 2019 Willkommen beim 16. Zürcher Stummfilmfestival mit neuen Restau­ rierungen der Filmarchive und Wiederentdeckungen von internationalen Festivals. Einen Schwerpunkt bilden Filme aus den Jahren 1919 und 1929 als Jahresauftakt zur Reihe «Das erste Jahrhundert des Films». Alles bereichert mit Live-Musik von herausragenden Spezialisten der Stummfilmbegleitung. «Nach jahrzehntelanger Vernachlässigung und Geringschätzung beginnen heutige Filmschaffende, Kritiker und Zuschauerinnen die Wunder des Stummfilms wieder zu schätzen und zu erkennen, wie viel mehr dieser war als Tonfilme ohne Worte.» In den fünf Jahren, seit Ian Christie dies in der britischen Filmzeitschrift «Sight & Sound» geschrieben hat, hat sich dieser Trend bestätigt und noch verstärkt. Je ferner die ersten Jahrzehnte des Films uns zeitlich rücken, desto deutlicher tritt zutage, dass der Film ohne synchronen Ton nicht unvollkommen war, sondern eine Kunstform eigener Prägung, oft näher bei der Oper oder dem Ballett als bei der Realitätsimitation und -illusion des heutigen Kinos. Musikbegleitung auf höchstem Niveau Wesentlich beigetragen zur neuen Beliebtheit der Stummfilmaufführungen hat, wie Christie bemerkt, eine veränderte Aufführungspraxis. Während früher Archive und Filmclubs diese Filme in andächtiger Stille zu zelebrieren pflegten, wurde dieser Purismus aufgegeben zugunsten der Darbietung mit musikalischer Begleitung. Damit sind weniger die Grossanlässe mit riesiger Orchesterbesetzung gemeint, die in den meisten Fällen so wenig wie die absolute Stille der einstigen Aufführungspraxis entsprechen. Den Durchbruch zu neuer Beachtung verdanken die «stummen» Filme vielmehr einer Reihe von Pianisten, Musikerinnen mit anderen Instrumenten oder kleinen Ensembles, die sich darauf spezialisiert haben, mit improvisierter oder eigens neu komponierter Musik diese Werke zur Geltung zu bringen. Ahistorisch an dieser Art der Aufführung dürfte, nach den zeitgenössischen Zeugnissen zu schliessen, nur das erheblich höhere Niveau dieser Musiken sein im Vergleich zur einstigen Praxis, die weitgehend auf der Kompilation gängiger klassischer (weil tantiemenfreier) Melodien beruhte. Wir freuen uns deshalb, einige der besten Stummfilmbegleiter aus dem In- und Ausland einmal mehr im Rahmen des Festivals zu begrüssen: Frank < >

Souverän: Anny Ondra in Die Bräute des alten Gauners Ausgebeutet: Louise Brooks in Tagebuch einer Verlorenen


06 Bockius, Günter A. Buchwald, Martin Christ, André Desponds, Stephen Horne, Maud Nelissen, Alexander Schiwow, Richard Siedhoff, Bruno Spoerri und Gabriel Thibaudeau. Dazu kommen erstmals der Klarinettist Helmut Eisel, der Pianist John Sweeney und der Posaunist Marc Roos. Vielfalt an Themen und Stilen Mit 1919 und 1929 stehen zwei besondere Jahre im Fokus des Programms: das erste Friedensjahr nach dem Ersten Weltkrieg und das in Westeuropa letzte Jahr der Stummfilmkunst. 1919 brachte den Höhepunkt der in den Kriegsjahren zu Weltgeltung aufgestiegenen schwedischen Produktion; sie ist deshalb gleich mit zwei Filmen in unserer Auswahl vertreten. Thematisch präsentiert sich 1919 extrem kontrastreich: von einem der auf Jahre hinaus letzten und zugleich bittersten Filme über den Grossen Krieg bis zur vom Foxtrott-Fieber geschüttelten «besseren» Nachkriegsgesellschaft. 1929 erscheint im Rückblick vielen als Kulmination stummer Filmkunst. Das ist sicher richtig im Sinne einer Entwicklung, deren Abbildungs-Realismus – wie er etwa in Tagebuch einer Verlorenen oder in Erotikon zu bewundern ist – nahtlos in den Tonfilm übergehen sollte. Daneben stehen aber auch Werke wie Trümmer eines Imperiums, deren nicht minder reiche ästhetische Konzeption zeigt, dass sich der Film auch in ganz andere Richtungen hätte entwickeln können. Dass es eben nicht den Stummfilm gab, sondern eine breite Palette unterschiedlicher gestalterischer Konzepte, macht die Beschäftigung mit diesen ersten, «tonlosen» Jahrzehnten der Filmgeschichte so anregend. Martin Girod Martin Girod war von 1993 bis 2005 Koleiter des Filmpodiums der Stadt Zürich. Für die Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» können alle Personen in Ausbildung im Kalenderjahr 2019 von einem Spezial-Abo profitieren: Für 50 Franken erhalten sie freien Zutritt zu den über 60 Filmen dieser Reihe, einschliesslich der Stummfilme von 1919 und 1929 mit Live-Begleitung. Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 w ­ egweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2019 sind Filme von 1919, 1929, 1939 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1919 Blind Husbands Erich von Stroheim, USA Das Kloster von Sendomir Victor Sjöström, Schweden J’accuse Abel Gance, Frankreich Madame Dubarry Ernst Lubitsch, Deutschland Nerven Robert Reinert, Deutschland Praesidenten Carl Theodor Dreyer, Dänemark The Red Lantern Albert Capellani, USA True Heart Susie David Wark Griffith, USA Unheimliche Geschichten Richard Oswald, Deutschland When the Clouds Roll By Victor Fleming, USA Weitere wichtige Filme von 1929 A Cottage on Dartmoor Anthony Asquith, GB Asphalt Joe May, Deutschland Blackmail Alfred Hitchcock, GB

Das neue Babylon (Nowy Wawilon) Grigori Kosinzew/Leonid Trauberg, UdSSR Der Mann mit der Kamera (Tschelowjek s kinoapparatom) Dziga Wertow, UdSSR Die Generallinie (Das Alte und das Neue; Generalnaja linija/ Staroje i nowoje) Sergej M. Eisenstein, UdSSR Drifters John Grierson, GB Fräulein Else Paul Czinner, Deutschland Gardiens de phare Jean Grémillon, Frankreich Lucky Star Frank Borzage, USA Mutter Krausens Fahrt ins Glück Piel Jutzi, Deutschland Piccadilly E. A. Dupont, GB Queen Kelly Erich von Stroheim, USA Rotaie Mario Camerini, Italien The Informer Arthur Robison, GB


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Stummfilmfestival 2019

PHONO-CINÉMA-THÉÂTRE Frankreich 1900 «Die lange Geschichte des Tonfilms begann schon mit Edisons Kinetoscope, machte aber einen erstaunlichen Sprung vorwärts während der Pariser Exposition Universelle von 1900, als sprechende und farbige Filme in verschiedenen Formen zu sehen waren. Unter den Vorstellungen, die an der Exposition liefen, war Phono-Cinéma-Théâtre eine der erfolgreichsten sowohl in technischer als auch in künstlerischer Hinsicht. (…) Die Cinémathèque française und die Gaumont-Pathé-Archive haben zusammengearbeitet, um dieses wunderbare Pro­ jekt zu vollenden, das uns erlaubt, beinahe wie um 1900 eine der schönsten Kinoattraktionen der Exposition Universelle zu geniessen. (…) Der Ton ist, was er am Anfang war, alles andere als perfekt! Aber Sie haben das Vergnügen, die grössten Künstlerinnen und Künstler jener Ära wiederzusehen, manchmal in Farbe: Sarah Bernhardt, Jeanne Hatto, Coquelin aîné (…) etc. – die Elite des Tanzes, des Theaters, der Pantomime und der ­Music Hall der Belle Époque.» (Laurent Mannoni, Giornate del cinema muto, Pordenone 2012) Das Programm bestand aus Szenen im Playback-Verfahren: Zu vorhandenen Tonaufzeichnungen (etwa einer Opernarie) wurde die Bildebene gedreht und bei der Vorführung möglichst synchron abgespielt. Dazu kamen Tanz- und Pantomimeszenen, bei denen die Musik live spielte. Für letztere hat John Sweeney die damalige Musik recherchiert. Die Aufführung vereint wie 1900 Konserventon und Live-Begleitung mit den erhaltenen Kurzfilmen. Vorangestellt ist ein kurzer Dokumentarfilm über das Phono-Cinéma-Théâtre. 82 Min / Farbe + sw / DCP / Stummfilme ohne Dialog // REGIE UND KAMERA Clément Maurice // MIT Sarah Bernhardt, Zambelli, Coquelin aîné, Footit, Chocolat, Réjane, Mily Meyer.

Malerei als bewegte Fotografie, setzt sie in statueskem oder frenetischem Pathos die zeitgenös­ sische Imagination um, die Bilderwelten von Böcklin, Klinger und Gustav Klimt.» (Mariann Lewinsky, Programm Filmpodium, Jan. 1995)

MARIUTE Italien 1917 «Der Film verfolgt zwei Handlungslinien: Die eine zeigt Bertini in ihrem Alltagsleben, die andere im Traum als friulanische Bäuerin und Mutter. (…) Die Darstellung des luxuriösen Tages der Schauspielerin, ihres Despotismus, ihrer Launen liefert uns nebenbei einen Einblick ins römische Dolce Vita.» (Giornate del cinema muto, Pordenone 2009)

MALOMBRA Italien 1917 «Eine junge Frau kommt in ein düsteres Schloss und verfällt der Vergangenheit und dem Irrsinn. Diskontinuierlich, suggestiv und prächtig, ist dieser Film ein Höhepunkt der Inszenierungskunst der Zehnerjahre und eine grandiose Wahnsinns­ arie der Borelli.» (Mariann Lewinsky)

MARIUTE 28 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, i Zw’titel // REGIE Edoardo Bencivenga // KAMERA Giuseppe Filippa // MIT Francesca Bertini (Mariute), Alberto Albertini (der Heimkehrer).

MALOMBRA 80 Min / tinted + toned / 35 mm / Stummfilm, i Zw’titel // REGIE Carmine Gallone // DREHBUCH Carmine Gallone, nach dem Roman von Antonio Fogazzaro // KAMERA Giovanni ­Grimaldi // MIT Lyda Borelli (Marina di Malombra), Amleto Novelli. SO, 27. JAN. | 18.15 UHR

DO, 10. JAN. | 18.15 UHR

LIVE-BEGLEITUNG: MAUD NELISSEN, DOORN (PIANO)

LIVE-BEGLEITUNG: JOHN SWEENEY, LONDON (PIANO),

EINFÜHRUNG: MARIANN LEWINSKY, ZÜRICH

GÜNTER A. BUCHWALD, FREIBURG I. BR. (VIOLINE), FRANK BOCKIUS, FREIBURG I. BR. (PERKUSSION) PRÄSENTATION: ÉMILIE CAUQUY, CINÉMATHÈQUE

BEHIND THE DOOR USA 1919

FRANÇAISE, PARIS.

ZWEI DIVEN «In der Abfolge von Posen, Gesten und Blicken modulierten die italienischen Filmdiven ihre stummen Arien, jede mit dem ihr je eigenen physischen Timbre. Francesca Bertini bewahrt stets klare Konturen und eine unreduzierbare Würde. Je nach Rolle strahlt ihre Schönheit nobler oder trotziger (...). Lyda Borelli ist die unwirklichste. Mehr bewegte

«Dieser mitreissende Film (...) ist eine Story aus dem Ersten Weltkrieg, jedoch ohne Heroismus und Heldentaten.» (Pamela Hutchinson, Sight & Sound, Juli 2017) «Der Film thematisiert die Vergewaltigungen zu Kriegszeiten (in welchem europäischen Nachkriegsfilm wäre das angesprochen worden?) und stellt sie in den Zusammenhang einer allgemeinen Intoleranz und verdrängten Gewaltbereitschaft. (…) Männern in Kriegszeiten ist alles zuzutrauen – eine


> Malombra.

> Synnöve Solbakken.

> Die Austernprinzessin.

> Das alte Gesetz.

> Behind the Door.

> Phono-Cinéma-Théâtre.


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Stummfilmfestival 2019 dichte Anti-Idylle, der man sich schwer entziehen kann.» (Martin Girod, Filmbulletin, 8/2016) Der vielfach von der Zensur verstümmelte, jahrzehntelang nur in unvollständigen Kopien zugängliche Film ist 2016 vom San Francisco Silent Film Festival in Zusammenarbeit mit dem russischen Gosfilmofond restauriert worden.

GÜNTER A. BUCHWALD, FREIBURG I. BR. (PIANO),

70 Min / tinted + toned / DCP / Stummfilm, e Zw’titel // REGIE

«Im Londoner Limehouse-Viertel verliebt sich ein chinesischer Kaufmann in die Tochter eines tyrannischen, proletarischen Berufsboxers. Ihre Romanze endet für alle Beteiligten tödlich.» (Lexikon des int. Films) «Griffith macht aus diesem grobschlächtigen Melodram eine bis ins letzte kontrollierte, sehr leidenschaftliche und doch feinfühlige Tragödie.» (Buchers Enzyklopädie des Films, 1977) «Dieser Film, in dem sich alles Beschriebene dem Ausdruck unterordnet, ist (…) das unbestreitbare Meisterwerk Griffiths. Unter der Oberfläche eines Melodramas, das sich zu einem Poem, einer zauberhaften Kantilene wandelt, besitzt er die unerschütterliche Strenge einer antiken Tragödie.» (Jean Mitry: Griffith, 1965)

Irvin Willat (Supervision: Thomas H. Ince) // DREHBUCH ­Luther Reed, nach einer Story von Gouverneur Morris // KAMERA Frank M. Blount // MIT Hobart Bosworth (Oscar Krug), Jane Novak (Alice Morse), Wallace Beery (Leutnant Brandt). FR, 18. JAN. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: STEPHEN HORNE, LONDON (PIANO)

THE BUTCHER BOY USA 1917 Das Filmdebüt des 21-jährigen Buster Keaton. Regisseur und Star des Films war Roscoe «Fatty» Arbuckle, der sich gerade selbstständig gemacht hatte. Arbuckle zeigt entfesselten, keineswegs feinen Slapstick in hohem Tempo – und Keaton, hier schon mit unbeweglichem Gesicht, bildet einen erstaunlichen Kontrast zu diesem Treiben.

DIE AUSTERNPRINZESSIN

MARC ROOS, STUTTGART (POSAUNE), FRANK BOCKIUS, FREIBURG I. BR. (PERKUSSION).

BROKEN BLOSSOMS USA 1919

90 Min / tinted / DCP / Stummfilm, e Zw’titel // REGIE David Wark Griffith // DREHBUCH David Wark Griffith, nach einer Erzählung von Thomas Burke // KAMERA G. W. Bitzer // MIT Lillian Gish (Lucy Burrows), Richard Barthelmess (Cheng Huan), Donald Crisp (Battling Burrows).

Deutschland 1919 SO, 13. JAN. | 20.45 UHR

«Ein reiner Comicstrip um einen Millionär, der nicht einmal die Zigarette selbst halten muss, und um seine Tochter, die einen Prinzen heiraten will, um die Tochter des Schuhcreme-Königs zu übertrumpfen. Voller grotesker Komik und subtiler Gags, mit einem Happy End im Foxtrott-Fieber.» (Lexikon des int. Films) «Die Austernprinzessin war meine erste Komödie, die so etwas wie einen definitiven Stil hatte.» (Ernst Lubitsch, 1947) THE BUTCHER BOY 24 Min / sw / DCP / Stummfilm, e Zw’titel // REGIE Roscoe «Fatty» Arbuckle // DREHBUCH Roscoe «Fatty» Arbuckle, nach einer Story von Joe Roach // KAMERA Frank D. Williams // MIT Roscoe «Fatty» Arbuckle (Fatty, der Metzger), Al St. John (Slim, der Verkäufer), Buster Keaton (ein Kunde).

DIE AUSTERNPRINZESSIN 58 Min / sw / DCP / Stummfilm, d Zw’titel // REGIE Ernst ­Lubitsch // DREHBUCH Hanns Kräly, Ernst Lubitsch // KAMERA Theodor Sparkuhl // MIT Ossi Oswalda (Ossi), Harry Liedtke (Prinz Nucki), Victor Janson (der Austernkönig, Ossis Vater), Julius Falkenstein (Josef), Curt Bois (Kapellmeister). DO, 24. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: BRUNO SPOERRI, ZÜRICH (SAXOFON),

LIVE-BEGLEITUNG: GABRIEL THIBAUDEAU, MONTRÉAL (PIANO)

HERRN ARNES SCHATZ (Herr Arnes pengar) Schweden 1919 «Schweden im 16. Jahrhundert: Drei Anführer einer Rebellion schottischer Söldner gegen König Johann III. fliehen aus der Haft, brandschatzen ein Pfarrhaus, töten alle Bewohner und versuchen, sich nach Schottland abzusetzen. Elsalill, die als Einzige den Überfall überlebt, verliebt sich kurz darauf in Sir Archie, ohne zu wissen, dass er zur Mörderbande gehört.» (Lexikon des int. Films) «Stiller erreichte seinen Höhepunkt mit Herrn Arnes Schatz. Der Schnee, der Winter, ein im Eis eingeschlossenes Schiff beherrschen das Werk. (…) Gleichgewicht und Sparsamkeit der Mittel, das ist es, was bei Stiller ins Auge fällt.» (Georges Sadoul: Histoire du cinéma mondial, 1949) «Diese Geschichte einer aussichtslosen Liebe gehört zu den bewegendsten des ganzen schwedischen Kinos, und kein Tod ist ergreifender als jener von Elsalill.» (Peter Cowie, in: Le cinéma des pays nordiques, 1990)


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Stummfilmfestival 2019 100 Min / tinted + toned / DCP / Stummfilm, schwed + d Zw’titel // REGIE Mauritz Stiller // DREHBUCH Gustaf Molander, ­Mauritz Stiller, nach einer Erzählung von Selma Lagerlöf // KAMERA Julius Jaenzon // MIT Richard Lund (Sir Archie), Hjalmar Selander (Herr Arne), Concordia Selander (Frau Arne), Mary Johnson (Elsalill), Erik Stocklassa (Sir Filip), Bror Berger (Sir Donald), Wanda Rothgardt (Berghild). SA, 12. JAN. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: GABRIEL THIBAUDEAU, MONTRÉAL (PIANO)

SYNNÖVE SOLBAKKEN Schweden 1919 Die Jahre während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach gelten als Blüteperiode des schwedischen Films. Doch das Interesse hat sich bisher auf die beiden grossen Namen Mauritz Stiller und Victor Sjöström konzentriert. Am Stummfilmfestival in Pordenone konnte man 2017 entdecken, welch hohes Niveau auch die Filme anderer schwedischer Regisseure jener Zeit hatten. John W. Brunius hat sich für die Innenszenen von den Bildern des norwegischen Malers Adolph Tideman inspirieren lassen und die Aussenaufnahmen in Norwegen gedreht. «Es war ein grosses Vergnügen, endlich diesen Film zu sehen (…), ein Schlüsselwerk des Goldenen Zeitalters des schwedischen Films. Die Landschaftsdarstellung ist von sublimer Ästhetik. Die Morgenstimmung in den gewaltigen Fjords, die Feuer der Sommernächte, die Mitternachtssonne, die Freiheit auf den Sommerweiden und die wilden Bergbäche gehören zu den Freuden dieser Gesellschaft.» (Antti Alanen, anttialanenfilmdiary.blogspot.com) 95 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, schwed + e Zw’titel // REGIE John W. Brunius // DREHBUCH Sam Ask, John W. Brunius, nach dem Roman von Bjørnstjerne Bjørnson // KAMERA Hugo Edlund, Arthur Thorell // MIT Karin Molander (Synnöve

(wie viele der Eltern, Tanten und Grossväter). Darum bietet das Stummfilmfestival zum ersten Mal ein Programm speziell für Familien an. Die Filme sind auch ohne Lesekenntnisse verständlich: Die Kinder freuen sich an den Miss­ geschicken, die Laurel und Hardy, Charley Chase und Buster Keaton mit viel Slapstick zu bewältigen haben: Seien dies Probleme mit den Hosen, die man auf der Flucht vor der Polizei wechseln muss, sei es ein Hund, den es wider Willen zu baden gilt, oder ein Haus zum Selberbauen, das in falsch nummerierten Kisten verpackt ist. Für die Erwachsenen bieten die witzigen Zwischentitel einen zusätzlichen Reiz. ONE WEEK (1920) 18 Min / sw / DCP / Stummfilm, e + d Zw’titel // DREHBUCH UND REGIE Buster Keaton, Edward F. Cline // KAMERA Elgin Lessley // SCHNITT Buster Keaton // MIT Buster Keaton (Bräutigam), Sybil Sealey (Braut), Joe Roberts (Klavierträger).

ALL WET (1924) 10 Min / sw / DCP / Stummfilm, e + d Zw’titel // REGIE Leo McCarey // KAMERA Len Powers // MIT Charley Chase (Jimmie Jump), William Gillespie (Fahrer), Martin Wolfkeil (Garagist), Jack Gavin (Klavierträger), Martha Sleeper, Janet Gaynor.

DOG SHY (1926) 22 Min / sw / Digital SD / Stummfilm, e + d Zw’titel/f // REGIE Leo McCarey // DREHBUCH Leo McCarey, H. M. Walker // KAMERA Floyd Jackman // SCHNITT Richard C. Currier // MIT Charley Chase (Charley), Stuart Holmes (adliger Freier), Mildred June (Tochter), Josephine Crowell (Mutter), William Orlamond (Vater).

LIBERTY (1929) 20 Min / sw / DCP / Stummfilm, e + d Zw’titel // DREHBUCH UND REGIE Leo McCarey // KAMERA George Stevens // SCHNITT Richard C. Currier, William H. Terhune // MIT Stan Laurel (Stan), Oliver Hardy (Ollie), Jack Hill (Polizist), Harry Bernard (Arbeiter am Fischmarkt), Jean Harlow (Frau im Taxi), Ed Brandenburg (Taxifahrer), Sam Lufkin (Flucht­ wagenfahrer), James Finlayson (Ladenbesitzer).

Solbakken), Lars Hanson (Thorbjörn Granliden), Egil Eide ­ (sein Vater), Hjalmar Peters (Synnöves Vater), Svea Peters

SA, 5. JAN. | 15.00 UHR

(Thorbjörns Mutter), Einar Rød (Aslak, der Knecht).

LIVE-BEGLEITUNG: ANDRÉ DESPONDS, ZÜRICH (PIANO)

DO, 17. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: STEPHEN HORNE, LONDON (PIANO)

DAS ALTE GESETZ Deutschland 1923

KOMIKER-FAMILIENPROGRAMM USA 1920 –1929 Sie sind fast hundert Jahre alt, doch die klassischen amerikanischen Komiker-Filme bringen auch ein heutiges Publikum spielend zum Lachen – ob man sie zum ersten Mal entdeckt (wie das ganz junge Publikum) oder sie zum wiederholten Mal sieht

«Galizien, Mitte des 19. Jahrhunderts: Baruch, Sohn eines orthodoxen Rabbiners, will Schauspieler werden. (…) Mit seiner komplexen Darstellung von Orthodoxie und Emanzipation ist E. A. Duponts Historienfilm ein Höhepunkt jüdischen Filmschaffens in Deutschland. Mit der aktuellen Restaurierung wird die verschollene deutsche Premierenfassung in ihrer ursprünglichen


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Stummfilmfestival 2019 Länge und in einer zeitgenössischen Einfärbung erstmals wieder zugänglich.» ( Berlinale 2018) «Das Zeitkostüm hat nichts mehr von einer Verkleidung, Daguerrotypien sind lebendig geworden. (…) Der leuchtende Reichtum von sich wandelnden, verfliessenden Impressionen entzückt das Auge.» (Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand, 1975)

CUPID AND THE COMET 10 Min / tinted / DCP / Stummfilm, d Zw’titel // REGIE Alice Guy-Blaché.

DIE BRÄUTE DES ALTEN GAUNERS 108 Min / tinted / DCP / Stummfilm, tsch + d Zw’titel // REGIE Svatopluk Innemann // DREHBUCH Josef Skružný, Elmar Klos // KAMERA Otto Heller // MIT Anny Ondra (Fifi Hrazánková), Vlasta Burian (Cyril Pondělíček/Alois Kanibal), Jan W.

135 Min / tinted / DCP / Stummfilm, d Zw’titel // REGIE Ewald

Speerger (Pardon), Emilie Nitschová (Fifis Mutter).

André Dupont // DREHBUCH Paul Reno // KAMERA Theodor Sparkuhl // MIT Ernst Deutsch (Baruch), Henny Porten (Erz-

SO, 20. JAN. | 18.15 UHR

herzogin Elisabeth Theresia), Avrom Morewski (der Rabbi-

LIVE-BEGLEITUNG: MARTIN CHRIST, LIGERZ (PIANO)

ner, Baruchs Vater), Grete Berger (Baruchs Mutter).

DER LEBENDE LEICHNAM

DO, 3. JAN. | 20.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: GÜNTER A. BUCHWALD, FREIBURG I. BR. (PIANO, VIOLINE), HELMUT EISEL, SAARBRÜCKEN

(Shivoj trup) Deutschland/UdSSR 1929

(KLARINETTEN).

CUPID AND THE COMET USA 1911 «Alice Guy-Blaché war die erste Frau, die im französischen und amerikanischen Kino erfolgreich als Filmemacherin, Autorin und Produzentin arbeitete.» (Bonner Sommerkino 2018) Eine selbstbewusste junge Frau setzt ihren Willen durch und heiratet in Männerkleidung.

DIE BRÄUTE DES ALTEN GAUNERS (Milenky starého kriminálníka) Tschechoslowakei 1927 «Anny Ondra und Vlasta Burian waren die unbestrittenen Stars des tschechischen Stummfilms. In dieser turbulenten Verwechslungskomödie gibt sich Burian als Schlossherr aus, um seinem Neffen einen Freundschaftsdienst zu erweisen, und gerät an die überaus fesche Anny Ondra, die sich von niemandem etwas sagen lässt.» (Bonner Sommerkino 2014) Anny Ondra (eigentlich: Anny Ondráková) «war eine Naive mit unschuldigem Gesichtsausdruck und eine emanzipierte Frau mit einer grossen Dosis Sex-Appeal (…), einem ungewöhnlichen ­ Sinn für Humor und einer Neigung zu Streichen.» (Giornate­del cinema muto, Pordenone 2013) ­ «Dieser Stummfilm brilliert mit originellem Slapstick und besonders der Mischung von erfundenen Morden, Verfolgungsjagden und Doppelgängerszenen.» (Karlovy Vary International Film Festival 2014) Wir zeigen den Film, der während rund fünfzig Jahren eine nicht zu sehende Legende war, in der Restaurierung des tschechischen Filmarchivs von 2014 mit den rekonstruierten originalen Einfärbungen.

«Ein Mann, seine Frau, ihr Liebhaber, aber die Scheidung ist unmöglich. Es bleibt nur der qualvolle Ausweg eines vorgetäuschten Todes. Ozeps Verfilmung des Stücks von Leo Tolstoi gehört zu den besten Beispielen der hochentwickelten Stummfilmkunst am Ende der 1920er-Jahre. (…) Das klassische Melodrama über die von Kirche und Staat verhinderte Scheidung wird mit dem avantgardistischen Montagekino zu einer Sozialkritik des vorrevolutionären Russland verwoben.» (Österreichisches Filmmuseum) «Protassow erscheint hier als ruheloser Einzelgänger, der von der Gesellschaft ausgestossen wird, weil er ihr heuchlerisches Spiel nicht mitmachen will. Der Regisseur Pudowkin, der hier seine grösste Aufgabe als Darsteller zu bewältigen hatte, machte die nervöse Unrast dieses Menschen bezwingend deutlich.» (Reclams Filmführer) Neue Restaurierung des Österreichischen Filmmuseums. 121 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, d Zw’titel // REGIE Fjodor Ozep // DREHBUCH Boris Gussman, Anatoli Marienhof, Fjodor Ozep, nach dem Theaterstück von Leo Tolstoi // KAMERA ­Anatoli Golownja, Piel Jutzi // MIT Wsewolod Pudowkin (Fjodor Protassow), Maria Jacobini (Lisa), Nato Watschnadse (Mascha, Zigeunerin), Gustav Diessl (Viktor Karenin), Viola ­ Garden ­(Sascha, Lisas Schwester), Julia Serda (Anna Pawlowna, die Mutter), Boris Barnet (ein Taschendieb). SO, 6. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: RICHARD SIEDHOFF, WEIMAR (PIANO)

EROTIKON Tschechoslowakei 1929 «Der tschechische Film, fast so alt wie das Kino selbst, wurde, von einer dramatischen Ausnahme abgesehen, international bis zur Prager Schule


> Schachfieber.

> Applause.

> Erotikon.

> Thunderbolt.

> SchicksalswĂźrfel.

> TrĂźmmer eines Imperiums.


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Stummfilmfestival 2019 der 1960er-Jahre nicht beachtet. Die Ausnahme war 1933 Ekstase von Gustav Machatý. (…) Doch bereits Erotikon, vier Jahre vorher gedreht, behandelte das Thema der weiblichen Sexualität.» (Margarita Landazuri, San Francisco Silent Film Festival 2009) «Der Schritt einer jungen Frau vom Mädchen zur Wissenden, vom Land in die Stadt, von sentimentaler Leichtgläubigkeit zu einer bewussteren, klugen Sensibilität. (…) Was den Film bemerkenswert macht, ist sein Reichtum an poetischen Details, seine kühne, unverhohlene Erotik, am deutlichsten im leuchtenden Weiss und den eksta­tischen Zuckungen in der Anfangssequenz der sexuellen Initiation der jungen Frau.» (Nick Bradshaw, Time Out Film Guide) 85 Min / sw / DCP / Stummfilm, tsch + d Zw’titel // REGIE ­Gustav Machatý // DREHBUCH Gustav Machatý, Vítezslav Nezval (ungenannt) // KAMERA Václav Vích // MIT Ita Rina (Andrea), Karel Schleichert (ihr Vater), Olaf Fjord (der Verführer), Luigi Serventi (Autofahrer), Theodor Pištěk (eifersüch­ tiger Ehemann), Charlotte Susa (seine Frau). MI, 9. JAN. | 20.45 UHR LIVE-BEGLEITUNG: JOHN SWEENEY, LONDON (PIANO)

LES NOUVEAUX MESSIEURS Frankreich 1929 «Eine Primaballerina der Oper schwankt zwischen einem karrieristischen Gewerkschafter und einem reichen Rechtspolitiker. Die Zensur sah in dem satirischen Sittenbild der Politik eine ‹Verletzung der Würde des Parlaments und der Minister›.» (Jean-Luc Douin: Dictionnaire de la censure au cinéma, 1998) «Hinter der Fassade einer liebenswürdigen Komödie verbarg sich eine Gesellschaftssatire, die dem Film eine weit grössere Bedeutung verlieh. Er überzeugte vor allem durch einen ironischen, zwischen Drama und Komödie ausbalancierten Ton und die Flüssigkeit seiner Inszenierung.» (Jean Mitry: Histoire du cinéma, 1973) «Feyder hat die oft antiparlamentarische Haltung des Boulevardstücks abgeschwächt, (…) aber er hat die politische Szene sehr präzise und mit realistischen Anspielungen an Zeitgenössisches geschildert.» (Dictionnaire du cinéma français des années vingt, 2001) In Zusammenarbeit mit der Cinémathèque française

MO, 7. JAN. | 18.15UHR LIVE-BEGLEITUNG: RICHARD SIEDHOFF, WEIMAR (PIANO)

SCHACHFIEBER (Shakhmatnaya goryachka) UdSSR 1925 Ein Jahr bevor Pudowkin Die Mutter drehte, seinen berühmten ersten Langspielfilm, entstand diese witzige Anwendung der Montage-Theorien seines Lehrers Kuleschow: Aufnahmen eines internationalen Schachturniers in Moskau sind mit einer inszenierten Spielhandlung so verwoben, dass die berühmten Schachgrössen – darunter Weltmeister Capablanca – zu Darstellern der Fiktion werden. Aus der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums

SCHICKSALSWÜRFEL (A Throw of Dice/Prapancha Pash) Indien/GB/Deutschland 1929 «Indiens alte schöne Mahabharata-Legende ‹Nala und Damajanti› von dem würfelbesessenen königlichen Spieler, der Weib und Reich verliert, wird – von Dämonen- und Göttereinwirkung befreit – auf das rein Menschliche gebracht.» (Lotte H. Eisner, Filmkurier, 17.8.1929) «Franz Osten hatte ein Auge für spektakuläre Bilder, und die dramatische Handlung ist vor eindrücklichem Hintergrund und in feudaler Palastarchitektur prachtvoll inszeniert.» (B. D. Garga: Silent Cinema in India, Collins 2012) «Osten filmte das Wunderland Indien wie keiner zuvor. (…) Wie herrlich, heute eine Kopie zu sehen, die wirkt, als wäre sie gestern entstanden.» (Satyajit Ray, 1980) Restaurierung: British Film Institute 2006.

SCHACHFIEBER 20 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, russ + d Zw’titel // REGIE Wsewolod Pudowkin, Nikolai Schpikowski // DREHBUCH Nikolai Schpikowski // KAMERA Anatoli Golownja // SCHNITT Wsewolod Pudowkin // MIT Wladimir Fogel (der Held), Anna Semzowa (die Heldin), José Raúl Capablanca (der Weltmeister), Jakow Protasanow (Apotheker).

SCHICKSALSWÜRFEL 75 Min / DCP / Stummfilm, e Zw’titel // REGIE Franz Osten // DREHBUCH Niranjan Pal, W. A. Burton, Max Jungk // KAMERA Emil Schünemann // MIT Seeta Devi (Sunita), Himansu Rai (König Sohat), Charu Roy (König Ranjit), Modhu Bose

124 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f Zw’titel // REGIE Jacques

(Kirkbar, König Sohats Handlanger), Sarada Gupta (Kanwa,

Feyder // DREHBUCH Charles Spaak, Jacques Feyder, nach

Sunitas Vater), Tinkary Chakrabarty (Kanzler Raghunath)

dem Theaterstück von Francis de Croisset, Robert de Flers // KAMERA Georges Périnal, Maurice Desfassiaux // MIT Albert

MO, 21. JAN. | 20.45 UHR

Préjean (Jacques Gaillac), Gaby Morlay (Susanne Verrier).

LIVE-BEGLEITUNG: ANDRÉ DESPONDS, ZÜRICH (PIANO)


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Stummfilmfestival 2019

TAGEBUCH EINER VERLORENEN Deutschland 1929 «Die Kamera weidet sich an Brooks’ strahlender Schönheit, wenn Pabst dem Abenteuer der Apothekerstochter Thymian folgt, die ihre Unschuld verliert. Ihre Entwicklung vom Augapfel des Vaters über ihren sexuellen Fehltritt und das Erziehungsheim zum Liebling eines teuren Bordells und schliesslich zur verwitweten Gräfin gibt Pabst Gelegenheit, schonungslos das Deutschland der Weimarer Republik darzustellen im Kontrast zu Brooks’ Verkörperung einer überschäumenden, gleichsam unschuldigen Vitalität.» (Ruth Baumgarten, Time Out Film Guide) «Pabst umschifft in seinem letzten Stummfilm die Klippen des kolportagehaften Sujets geschickt und erzählt in sehr dynamischen Bildern. Der im September 1929 der Zensur vorgelegte Film bekam zunächst Schnittauflagen, wurde dann zwischenzeitlich als ‹entsittlichend› ganz verboten. Schliesslich durfte er, abermals gekürzt, wieder auf die Leinwand. (…) Die rekonstruierte Version ist etwas länger als die Uraufführungsfassung.» (Ursula von Keitz, Programm Filmpodium, Jan. 2004) 113 Min / sw / DCP / Stummfilm, d Zw’titel // REGIE Georg Wilhelm Pabst // DREHBUCH Rudolf Leonhard, nach einem Roman von Margarete Böhme // KAMERA Sepp Allgeier // MIT Louise Brooks (Thymian), Edith Meinhard (Erika), Fritz Rasp (Provisor Meinert), Josef Rovensky (Apotheker Henning), Andrews Engelmann (der Vorsteher), Valeska Gert (seine ­ Frau), André Roanne (Graf Osdorff), Arnold Korff (sein Onkel), Vera Pawlowa (Tante Frida), Kurt Gerron (Dr. Vitalis). SA, 26. JAN. | 20.45 UHR

ment (…). Das Resultat sind fast surreale Bildkompositionen, die die Schrecken des Krieges auf suggestive Weise reflektieren.» (Fred Gehler, in: Sonntag, 1966) 108 Min / sw / DCP / Stummfilm, russ + e Zw’titel // REGIE Friedrich Ermler // DREHBUCH Katerina Winogradskaja, Friedrich Ermler // KAMERA Jewgeni Schneider // MIT Fjodor Nikitin (Filimonow), Ljudmila Semjonowa (Natascha), Waleri Solowzow (ihr zweiter Mann), Jakow Gudkin (verletzter Soldat, Sergej Gerassimow (Offizier der Weissen Armee). MI, 23. JAN. | 18.15 UHR LIVE-BEGLEITUNG: ALEXANDER SCHIWOW, ZÜRICH (PIANO)

SHIRAZ – DAS GRABMAL EINER GROSSEN LIEBE Indien/GB/Deutschland 1928 Als «Dreingabe» ein weiterer vom BFI restaurierter Indien-Film von Frank Osten, diesmal mit der Musik der Sitarspielerin Anoushka Shankar. «Erzählt wird in eindrucksvollen Bildern, die an Originalschauplätzen mit indischen Darstellern entstanden sind, die Legende des Taj-Mahal, eine unglückliche Liebesgeschichte, die mit dem Bau des berühmten Wahrzeichens endet. Unter dem Titel Shiraz war Das Grabmal einer grossen Liebe selbst in den USA ein grosser Erfolg, der Indien als Filmland international bekannt machte.» (Bonner Sommerkino 2004) 97 Min / sw / DCP / Stummfilm mit Musik, e + d + f Zw’titel // REGIE Franz Osten // DREHBUCH W. Burton, nach einem ­Theaterstück von Niranjan Pal // KAMERA Emil Schünemann, H. Harris // MUSIK Anoushka Shankar // MIT Himansu Rai (Shiraz), Seeta Devi (Dalia), Charu Roy (Prinz Khuram).

LIVE-BEGLEITUNG: MAUD NELISSEN, DOORN (PIANO)

TRÜMMER EINES IMPERIUMS (Oblomok imperii) Sowjetunion 1929 «Erstaufführung einer neuen Rekonstruktion von Friedrich Ermlers bildgewaltigem Filmklassiker. Ein Arbeiter verliert als Soldat im Ersten Weltkrieg durch einen Schock sein Gedächtnis. Zehn Jahre später erkennt er am Zugfenster seine Frau – und kann sich plötzlich wieder an früher erinnern. Auf der Suche nach ihr reist er durch ein neues Land und erkennt staunend, was sich seit 1917 alles verändert hat.» (Bonner Sommerkino 2018) «Eine originelle Fabel, die Ermler mit hoher künstlerischer Meisterschaft umzusetzen versteht. (...) Die Assoziationsmontagen des Films sind für den damaligen Stand der filmischen Entwicklung ein höchst beachtenswertes Experi-

FRÜHE TONFILME VON 1929 APPLAUSE USA 1929 «Applause basierte auf einem Roman über eine alternde Varieté-Königin, die sich in bester Tra­ dition von Mutterliebe und Show-must-go-on-­ Melodramatik für ihre Tochter opfert. Von Anfang an beharrt Mamoulian darauf, seine Geschichte vor allem (und das war ein Novum zur Zeit der primitiven Tonkameras, die in plumpen Gehäusen eingeschlossen waren) mit einer beweglichen Kamera zu erzählen. (…) Während des ganzen Films mit seinem schmutzigen, düsteren Realismus der Hinterbühnenatmosphäre, dem diskre-


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Das erste Jahrhundert des Films: Tonfilme 1929 ten Einsatz von ausdrucksvollen Schatten, die für Mamoulian fast ein Markenzeichen werden sollten, und der brillanten schauspielerischen Leistung von Helen Morgan, gelang es Mamoulian, aus einer konventionellen Geschichte eine ergreifende Tragödie zu machen.» (Tom Milne, in Antje Goldau/H. H. Prinzler, Hg.: Rouben Mamoulian, 1987) 78 Min / sw / 35 mm / E // REGIE Rouben Mamoulian // DREHBUCH Garrett Fort, nach dem Roman von Beth Brown // KAMERA George J. Folsey // MUSIK Billy Rose, Harry Link, «Fats» Waller u. a. // SCHNITT John Bassler // MIT Helen

niert, fesselt Sternbergs erster Tonfilm nicht nur durch die künstlichen Licht- und Schattenspiele, sondern auch durch den Einsatz von Musik und Geräuschen und die Schauspielerführung.» (Lexikon des int. Films) «Die Behandlung des Tons bleibt der erstaunlichste Aspekt dieses Films. Anders als andere Filmemacher sah Sternberg nicht eine eigentliche Revolution, die den grundlegend ‹visuellen› Charakter des Kinos gefährden konnte. Der Realismus, den der Dialog bringen sollte, änderte seine Konzeption nicht.» (Pascal Mérigeau: Josef von Sternberg, 1983)

Morgan (Kitty Darling), Joan Peers (April Darling), Fuller Mellish jr. (Hitch Nelson), Henry Wadsworth (Tony), Jack ­

95 Min / sw / 35 mm / E // REGIE Josef von Sternberg //

­Cameron (Joe King), Dorothy Cumming (Mutter Oberin).

­DREHBUCH Charles Furthman, Jules Furthman, Herman J. Mankie­wicz, Josef von Sternberg // KAMERA Henry W. Gerrard

THUNDERBOLT USA 1929 «Eine New Yorkerin trennt sich von einem Gangsterkönig und wendet sich einem Bankangestellten zu. Weil er sich ‹sein› Mädchen nicht wegnehmen lassen will, inszeniert der inzwischen zum Tode verurteilte Gangster einen Bankraub mit Totschlag, der zur Verurteilung des unschuldigen Nebenbuhlers führt. (…) Virtuos durchkompo-

// MUSIK Karl Hajos, Sam Coslow // SCHNITT Helen Lewis // MIT George Bancroft (Thunderbolt Jim Lang), Fay Wray (Ritzie­), Richard Arlen (Bob Moran), Fred Kohler («Bad Al»). Filmauswahl und Kurztexte, wenn nicht anders vermerkt: Martin Girod (meg).

Für die Unterstützung des Stummfilmfestivals danken wir

BILL MORRISON UND DAWSON CITY: FROZEN TIME

EINZELVORSTELLUNG FR, 25. JAN. | 18.00 UHR

Bill Morrison hat sich in Decasia (2002) und anderen Werken mit der Ästhetik zerfallenden Filmmaterials beschäftigt. Dawson City: Frozen Time (2016) und Dawson City: Postcript (2017) erzählen die bizarre wahre Geschichte einer Sammlung von 533 Filmen aus den 1910er- bis 1920er-Jahren, die über 50 Jahre lang verschollen waren, bis sie – teilweise gut erhalten – tief im Yukon-Territorium wiedergefunden wurden. «It is a story that is told using these same films from the collection. It is both a cinema of mythology, and mythologizing of cinema.» (Bill Morrison). Um einer Mythologisierung von Bill Morrisons filmischem Meister­werk vorzubeugen, bringt das Doktoratsprogramm «Epistemologien ästhetischer Praktiken» den Filmemacher für ein Gespräch nach Zürich. Valentina Zingg

DAWSON CITY: FROZEN TIME / USA 2016 120 Min / Farbe + sw / DCP / E // REGIE, DREHBUCH, SCHNITT Bill Morrison // MUSIK Alex Somers // MIT Kathy Jones-­ Gates, Michael Gates, Sam Kula, Bill O’Farrell, Chris «Mad Dog» Russo, Bill Morrison.

DAWSON CITY: POSTSCRIPT / USA 2017 10 Min / Farbe + sw / DCP / E // REGIE, DREHBUCH, SCHNITT Bill Morrison // MUSIK Alex Somers // MIT Kathy Jones-­ Gates, Michael Gates. Veranstaltet in Kooperation mit dem Collegium Helveticum, der ZHdK und der Universität Zürich, gefördert durch Swissuniversities. Vorführung mit freundlicher Genehmigung von Hypnotic Pictures und Picture Palace Pictures.



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Edward G. Robinson Edward G. Robinson (1893–1973) war kein klassischer «leading man» des Hollywoodkinos. Seine Erscheinung – knapp eins sechzig gross und mit einem Knautschgesicht gesegnet – prädestinierte ihn eher für un­ansehnliche Bösewichte und Charakterrollen. Neben unzähligen zigarrenbewehrten Gangstern verlieh er auch differenzierten und gar heldenhaften Figuren seine enorme Präsenz und mauserte sich schon früh zum Anti-Star. Das Filmpodium zeigt fünfzehn seiner wichtigsten Filme. Welch unerhörte Erfahrung im Leben eines armen rumänischen Einwanderers! Er kann es nicht fassen, als er seinen Namen in meterhoher Leuchtschrift über den Strassen von Manhattan sieht: Edward G. Robinson. Zwar heisst er nicht wirklich so, aber seit ein Gangster namens Little Caesar ihn da hinauf zu den Sternen von Hollywood katapultiert hat, wird die Welt ihn nur mehr als Edward G. Robinson alias EGR kennen. Wo er sich doch in Wirklichkeit noch immer hier unten zu Hause fühlt, in den Gassen der Bronx, und Emanuel Goldenberg heisst. Einer von fünf Söhnen jüdischer Immigranten aus Bukarest, die aus Geldnot gestaffelt nach Amerika kamen. Dass der zweitjüngste Schauspieler werden würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Schon gar nicht der Ruhm, die Ehre und der damit verbundene Reichtum (diesen wird der leidenschaftliche Kunstliebhaber, der sich als Kind Ansichtskarten vom Mund absparte, in einer hochkarätigen Gemäldesammlung anlegen). Aber nun steht er da, der kleine Manny, über Nacht zum Star geworden. Dabei hält er nichts vom Kino und alles von der Bühne. Ausserdem ist er schon fast vierzig, erst wenige Jahre zuvor von zu Hause ausgezogen, und «after forty plays and a couple of movies» habe er noch immer in New York herumlaufen können, ohne je von irgendjemandem erkannt zu werden. Doch nun: «Face it, Manny – you are a movie star!» Das Staunen ist immer noch spürbar, wenn EGR vier Jahrzehnte später – und kurz vor seinem Tod – in seiner Autobiografie «All My Yesterdays» (1973, zusammen mit Drehbuchautor und Freund Leonard Spigelgass, Hawthorn Books) zurückblickt auf dieses Jahr 1931. Er wird nach seinem Tod sogar auf die Liste der 25 Superstars des klassischen Hollywood gelangen. Noch so etwas Unerhörtes, denn

< >

Skrupelloser Gangster in Little Caesar von Mervyn LeRoy Ahnungsloses Opfer in The Woman in the Window von Fritz Lang


18 dahin passt er wie ein Frosch unter lauter Prinzen, unter diese attraktivsten Mannsbilder des Kinos wie Cary Grant, Gary Cooper, Clark Gable, Gregory Peck, Henry Fonda und James Stewart. Kein schöner Prinz, aber ein starker Frosch Er war wohl der hässlichste Stern an Hollywoods Firmament, erst recht seit Mervyn LeRoy in Little Caesar sein unvorteilhaftes Aussehen mit der Fratze der sadistischen Gangster-Hybris überlagert hatte: eine gedrungene, aufgedunsene Gestalt, ein vierschrötiger Kopf, ein breiter Mund, ein Froschgesicht eben, vom Klischee her viel zu weich für einen Gangster. Die feucht glänzenden Lippen zeugten von einer weinerlichen Triebhaftigkeit, einer hemmungslosen Gier, die riesige Zigarre dazwischen von verzweifelter Grossspurigkeit. Als Frau hätte er unter diesen Bedingungen nicht den Hauch einer Chance gehabt, als Mann legte er sich den Spruch zu: «No face value, but when it comes to stage value I will deliver.» Nichts zum Anschauen, tatsächlich, aber bringen tat er es – schon auf der Bühne auch zu einigem Erfolg. Erst recht vor der Kamera, die den Frosch wachküsste. Nicht zu einem Prinzen, aber zu einem Psychopathen, der die Pervertierung des American Dream im Gangsterfilm der 30er-Jahre verkörperte wie kein Zweiter – vielleicht noch James Cagney, ein Bruder im Geiste der filmischen Mafioso-Feiern, der seinerseits 1931 mit The Public Enemy berühmt wurde und mit dem er im selben Jahr in Smart Money auftrat. Er war das männliche Pendant zu Aschenbrödel, mit dem pubertären Traum vom Aufstieg aus der Masse der Anonymen: der tumbe Kleinkriminelle, der nach Höherem strebt, der kleine Gangster, der die Welt beherrschen will, auch wenn es nur die Gosse ist. Als er sich um die Rolle von Little Caesar bewarb, schien ihm das Repräsentative der Figur durchaus bewusst: Der clevere, belesene Robinson sah in der Romanvorlage von William R. Burnett eine griechische Tragödie vom Aufstieg und Fall des kleinen Mannes, der durchaus Gemeinsamkeiten mit seinem eigenen Ehrgeiz als Schauspieler aus einem bildungsfernen Milieu aufwies. Trotzdem ist es wohl eine Ironie des Schicksals, dass er mit seiner beängstigenden Darstellung pathologischer Männlichkeit dann jahrelang widerwillig auf mehr oder weniger kranke Gangsterrollen im dominierenden Film noir oder im freundlichsten Fall auf komische Verbrecher in Gangsterkomödien abonniert war: von Two Seconds (1932) bis zu The Last Gangster (1937). Und viel später, als er längst in anderen Genres den Reichtum seines Könnens bewiesen hatte, noch einmal, fast wie eine Referenz auf sich selbst, als Vater aller obszönen Unterweltsfiguren, in John Hustons Klassiker Key Largo (1948) an der Seite von Humphrey Bogart (mit dem er schon verschiedentlich gespielt hatte).


19 Jenseits des Gangster-Klischees Dieses Typecasting als Bösewicht schien nämlich unvereinbar mit dem Menschen dahinter, einem Schauspieler, den seine Zeitgenossen als Ausbund von Anstand charakterisierten, als einen «Aristokraten unter uns». In zwei späteren Kultfilmen, The Woman in the Window (1944) und Scarlet Street (1945), entlockte Fritz Lang ihm diese sanfte Seite seines Könnens besonders eindrücklich: Die Verkörperung zivilisierter, (selbst-)zufriedener Bürgerlichkeit, vor der sich eines Tages plötzlich ein Abgrund auftut, gelang Robinson so meisterhaft wie das kriminelle Gegenstück. Zu diesem Zeitpunkt hatte EGR sich bereits weitgehend vom einengenden Image freigekämpft, oft unter den aufsteigenden und renommierten Regisseuren seiner Epoche. In John Fords Komödie The Whole Town’s Talking (1935) konnte er in einer Doppelrolle als braver Angestellter, der einem Bankräuber zum Verwechseln ähnlich sieht, gleich beide Seiten der Medaille zeigen. Oder in Billy Wilders Noir-Klassiker Double Indemnity (1944) als schlauer Versicherungsagent, der sich von einem Kollegen an der Nase herumführen lässt. Ebenso in Anatole Litvaks Confessions of a Nazi Spy (1939) als FBI-Agent, der mit dem Gusto echten Engagements gegen Hitlers fünfte Kolonne in den USA ermittelt. Robinson, ein politischer Kopf und aktiv engagiert in diversen AntiNazi-Organisationen (die er auch mit beträchtlichen Geldsummen unterstützte), geriet Ende der 40er-Jahre in den Fokus der Kommunistenjäger. Vor deren schwarzer Liste mit Berufsverbot rettete er sich schliesslich, indem er 1952 den Linken in einem Artikel vorwarf, sie hätten ihn getäuscht («How the Reds Made a Sucker out of Me»), und einige Namen von Kommunisten nannte. Die Rollenangebote blieben trotzdem aus, tröpfelten auch später nur spärlich. Seine grosse Zeit war vorbei, obschon er auf attraktive Weise alterte und noch jeder seiner späteren Auftritte ein sicherer Gewinn war: Sei es im Kostümschinken The Ten Commandments (1956), im Spieler-Drama The Cincinnati Kid (1965) oder in seiner bewegenden letzten Rolle kurz vor seinem Tod in der Science-Fiction-Dystopie Soylent Green (1973). Einen Oscar erhielt er – man mag es kaum glauben – nie, einen EhrenOscar erst postum. Wie schrieb doch ein Fan? «Tom Hanks won two Oscars, and this man none – that’s why Hollywood sucks!» Pia Horlacher


> The Whole Town’s Talking.

> Tiger Shark.

> Dr. Ehrlich’s Magic Bullet.

> Confessions of a Nazi Spy.

> The Sea Wolf.


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Edward G. Robinson

LITTLE CAESAR USA 1931 Der Aufstieg eines Gangsters vom Kleinkrimi­ nellen zum mächtigen Unterweltkönig von Chicago. Die Wiederbegegnung mit einem Jugendfreund, der auf die Seite des Gesetzes gewechselt ist, besiegelt seinen Untergang. «Erstes grosses Werk des amerikanischen Gangsterfilmkinos der 30er-Jahre. Die herausragende Gestaltung der Titelrolle, der wache Blick für soziale Hintergründe und der temporeiche, sachlich-knappe Inszenierungsstil machten den Film zum Prototyp eines Genres, in dem die gesellschaftlichen Umbrüche zur Zeit der Weltwirtschaftskrise beispielhaft zum Ausdruck kommen.» (filmdienst.de) «Einer der grössten Erfolge seiner Zeit und Durchbruchsfilm für das Gangster-Genre wie für einen (klein gewachsenen) Cäsaren des Hollywood-Schauspiels: Edward G. Robinsons mitreissende Darstellung – eitel und eifersüchtig, brutal und bösartig – besticht bis zum berühmten Grössenwahn-Abgang: ‹Mother of mercy, is this the end of Rico?› Der unvergessliche Inbegriff des ‹gangster as tragic hero›.» (Christoph Huber, Österreichisches Filmmuseum, 05/2016) 79 Min / sw / 35 mm / E/f // REGIE Mervyn LeRoy // DREHBUCH Robert N. Lee, Francis Edward Faragoh, Darryl F. Zanuck, ­Robert Lord, nach einem Roman von William R. Burnett // KAMERA Tony Gaudio // MUSIK Erno Rapee // SCHNITT Ray ­Curtiss // MIT Edward G. Robinson (Rico), Douglas Fairbanks

bleibt er ein anständiger Kerl, und wir können nicht anders, als ihm den Daumen zu drücken. Ein zusätzlicher Bonus: Halten Sie Ausschau nach Boris Karloff vor seiner Rolle in Frankenstein; er ist in einer frühen Szene als Spieler zu sehen.» (dvdinfatuation.com, 7.6.2015) 81 Min / sw / 35 mm / E // REGIE Alfred E. Green // DREHBUCH Kubec Glasmon, John Bright, Lucien Hubbard, Joseph Jackson // KAMERA Robert Kurrle // MUSIK Jack Killifer // MIT Edward G. Robinson (Nick «The Barber» Venizelos), James Cagney (Jack), Evalyn Knapp (Irene Graham), Ralf Harolde (Sleepy Sam), Noel Francis (Marie), Margaret Livingston (Freundin des Staatsanwaltes).

TIGER SHARK USA 1932 An der US-Pazifikküste: Ein Thunfischfänger, der bei einem Haifisch-Angriff eine Hand verloren hat, heiratet die verwaiste Tochter eines alten Kollegen. Die junge Frau verliebt sich aber schon bei der Hochzeit in den besten Freund des Fischers. «Tiger Shark ist eine Dreiecksgeschichte, aber auch einer der für Howard Hawks typischen Filme über eine Männerfreundschaft. Es wurde weitgehend an Originalschauplätzen gedreht, was dem Film eine ungewöhnliche atmosphärische Dichte verleiht.» (deutsches-filminstitut.de, Jan. 2014) «Edward G. Robinson ist grossartig als Fischer, er lässt die Figur je nach Situation sowohl sympathisch als auch furchterregend werden.» (Mordaunt Hall, New York Times, 23.9.1932)

jr. (Joe Massara), Ralph Ince (Diamond Pete Montana), Glenda Farrell (Olga Strassoff), William Collier jr. (Tony Passa),

77 Min / sw / 35 mm / E/f // REGIE Howard Hawks // DREH-

George E. Stone (Otero), Thomas E. Jackson (Lt. Tom F ­ laherty),

BUCH Wells Root, nach einer Erzählung von Houston Branch

Stanley Fields (Sam Vettori), Armand Kaliz (DeVoss), Sidney

// KAMERA Tony Gaudio // MUSIK Leo F. Forbstein // SCHNITT

Blackmer (Big Boy), Landers Stevens (McClure).

Thomas Pratt // MIT Edward G. Robinson (Mike Mascarenhas), Zita Johann (Quita Silva), Richard Arlen (Pipes Boley), Vince

SMART MONEY

Barnett (Fishbone), J. Carroll Naish (Tony), William Ricciardi (Manuel Silva), Leila Bennett (Muggsey), Edwin Maxwell (Arzt).

USA 1931 Nick, ein Friseur aus der Provinz, der leidenschaftlich gern spielt, erhält die Chance, in der Stadt sein Glück zu versuchen. Seine Schwäche für Blondinen kommt ihm aber in die Quere. Alfred E. Greens Pre-Code-Film Smart Money war der erste und einzige Film, in dem Edward G. Robinson und James Cagney zusammen auftraten. Während Robinson soeben mit Little Caesar einen grossen Erfolg gefeiert hatte, war Cagneys Durchbruchfilm Public Enemy noch nicht in den Kinos, und so ist er nur in einer Nebenrolle zu sehen, die er allerdings brillant verkörpert. «Mit Nick bekam Edward G. Robinson die Chance, einen sympathischeren Gangster zu spielen als Rico in Little Caesar (…). Grösstenteils

THE WHOLE TOWN’S TALKING USA 1935 Ein braver Büroangestellter muss mit Entsetzen feststellen, dass er einem gefürchteten, skrupellosen Gangsterboss auffallend ähnlich sieht. Während der Bürolist dafür engagiert wird, die Autobiografie des Gangsters zu fälschen, will ihm dieser seine Untaten in die Schuhe schieben. John Fords Gangsterfilmparodie lässt Edward G. Robinson in einer hinreissenden Doppelrolle glänzen. «Robinson gibt den schüchternen Büroangestellten, der durch die Verwechslung mit dem Gangsterboss ins Rampenlicht der Öffentlichkeit


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Edward G. Robinson gerät, und den Gangster, der durch die gestresste und hysterische Umwelt durchaus die Sympathien des Publikums gewinnt. (…) Eine amüsante Gesellschaftssatire, die Bürgertum und Polizei auf die Schippe nimmt und deren subversiver Humor auch heute noch zu unterhalten weiss.» (filmdienst.de) 93 Min / sw / Digital SD / E // REGIE John Ford // DREHBUCH Jo Swerling, Robert Riskin, nach dem Roman von William R. Burnett // KAMERA Joseph H. August // SCHNITT Viola Lawrence // MIT Edward G. Robinson (Arthur Ferguson/Killer Mannion), Jean Arthur (Wilhelmina «Bill» Clark), Arthur Hohl (Inspektor Mike Boyle), Wallace Ford (Healy), Arthur Byron (Staatsanwalt Spencer), Donald Meek (Hoyt), Paul Harvey (J.  G. Carpenter), Edward Brophy (Bugs Martin), Etienne Girardot (Seaver), James Donlan (Inspektor Pat Howe).

KID GALAHAD USA 1937 Der ehrgeizige Boxmanager Nick Donati glaubt einen erfolgversprechenden Kämpfer gefunden zu haben, als der Hotelpage Ward Guisenberry den amtierenden Schwergewichtsweltmeister McGraw k. o. schlägt, weil dieser Donatis Geliebte Fluff Phillips beleidigt hat. McGraws Manager, der skrupellose Turkey Morgan, lässt seinen Rivalen Donati den naiven Ward zur neuen BoxHoffnung Kid Galahad aufbauen, aber er und McGraw sinnen auf Rache im Ring. Fluff verknallt sich in Ward, doch der hat nur Augen für Donatis jüngere Schwester Marie. In Michael Curtiz’ Drama um Korruption im Boxsport tritt Robinson als schillernder Boxpromoter neben zwei weiteren «monstres sacrés» auf: Humphrey Bogart gibt den knallharten Gangster Morgan, während sich Bette Davis als Fluff hier eher von der sanften Seite zeigt. (mb) 102 Min / sw / 35 mm / E // REGIE Michael Curtiz // DREHBUCH Seton I. Miller, nach der Geschichte von Francis Wallace // ­KAMERA Tony Gaudio // MUSIK Heinz Roemheld, Max Steiner // SCHNITT George Amy // MIT Edward G. Robinson (Nick Donati), Bette Davis (Louise «Fluff» Phillips), Humphrey ­ ­Bogart (Turkey Morgan), Wayne Morris (Ward Guisenberry/Kid Galahad), Jane Bryan (Marie Donati), Harry Carey (Silver ­Jackson).

CONFESSIONS OF A NAZI SPY USA 1939 Verbündete der Nationalsozialisten in den USA versuchen, das Vertrauen in die amerikanische Demokratie zu untergraben, bis ihnen das FBI das Handwerk legt.

«Anti-Nazi-Propagandafilm von Warner Brothers, mit Edward G. Robinson (der – wie James Cagney – eine Kehrtwende vom Gangster zu respektableren Figuren macht) als FBI-Agent auf der Jagd nach Angehörigen der fünften Kolonne in Amerika. Kurz nach mehreren Anti-Nazi-Prozessen im Jahr 1938 hatte der Film in Amerika sowohl beim Publikum wie auch bei den Kritikern grossen Erfolg (…). Der still entschlossene Robinson, der finstere George Sanders (als Nazi-Bösewicht) und Francis Lederer verleihen dem Film eine Wucht, die ihn auch heute noch sehenswert macht.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) «Als Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie lebte Robinson den ‹American Dream›. Seine jüdische Herkunft liess ihn nie los. In Hollywood kämpfte Robinson gegen den Faschismus und nahm deshalb die Rolle des FBI-Agenten gerne an. Er erzählte einem Reporter, dass er Amerika mit diesem Film genauso gedient hätte, als wenn er mit einer Waffe in den Krieg gezogen wäre.» (Alexa Brogli, srf.ch, 4.7.2016) 104 Min / sw / 35 mm / E+D // REGIE Anatole Litvak // DREHBUCH Milton Krims, John Wexley, nach den Artikeln von Leon G. Turrou // KAMERA Sol Polito, Ernest Haller // MUSIK Max Steiner // SCHNITT Owen Marks // MIT Edward G. Robinson (Edward Renard), Francis Lederer (Schneider), George ­Sanders (Schlager), Paul Lukas (Dr. Kassell), Henry O’Neill (Anwalt Kellogg), Dorothy Tree (Hilda Kleinhauer).

DR. EHRLICH’S MAGIC BULLET USA 1940 Dr. Paul Ehrlich erforscht mit Unterstützung seines Freundes Emil von Behring die Tuberkulose und steckt sich dabei selbst an. Nach einer Kur kehrt Ehrlich nach Frankfurt zurück und erhält dort ein eigenes Institut. Auf der Suche nach einem Syphilis-Mittel entdeckt der inzwischen ­ mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Arzt die Chemotherapie. Als Todesfälle infolge der Behandlung mit seinem Mittel Salvarsan auftreten, wird Ehrlich von missgünstigen Kollegen des Mordes beschuldigt. «Eine packende Filmbiografie, die dank Edward G. Robinsons Darstellung ein faszinierendes Persönlichkeitsbild zeichnet. William Dieterle setzt hier einem Wissenschaftler ein Denkmal, der in Deutschland zur NS-Zeit aus rassistischen Gründen totgeschwiegen wurde.» (filmdienst.de) «Robinson als Dr. Ehrlich ist nicht nur besser als je zuvor, sondern er zeigt auch die beste schauspielerische Leistung, die je auf der Leinwand zu sehen war.» (The Nation, zit. in Robert Beck: The Edward G. Robinson Encyclopedia, McFarland 2002)


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Edward G. Robinson 103 Min / sw / 35 mm / E // REGIE William Dieterle // DREHBUCH John Huston, Heinz Herald, Norman Burnside // KAMERA James Wong Howe // MUSIK Max Steiner // SCHNITT Warren Low // MIT Edward G. Robinson (Dr. Paul Ehrlich), Otto Kruger (Dr. Emil von Behring), Albert Bassermann (Dr. Robert Koch), Ruth Gordon (Frau Ehrlich), Donald Crisp (Minister Althoff), Maria Ouspenskaya (Franziska Speyer), Montagu Love (Prof. Hartman), Sig Rumann (Dr. Hans ­Wolfert), Donald Meek (Mittelmeyer), Henry O’Neill (Dr. Lenz), Louis Calhern (Dr. Brockdorf).

THE SEA WOLF USA 1941 Auf der Flucht vor der Polizei gerät die junge Ruth Brewster zusammen mit dem Schriftsteller ­Humphrey van Weyden als Schiffbrüchige an Bord des verrufenen Schoners «Ghost». Auf dem Schiff führt der berüchtigte Kapitän Wolf Larsen ein grausames Regiment. Er lässt seine unfreiwilligen Passagiere, darunter den aufmüpfigen Abenteurer George Leach, nicht mehr von Bord und zwingt sie zur Arbeit. «Jack Londons Roman wurde immer wieder verfilmt, doch keine Adaption reicht an die atmosphärische, actiongeladene und antifaschistische Version von Michael Curtiz heran. (…) The Sea Wolf spiegelte das Zeitgeschehen wider. Der Bösewicht Larsen war sowohl das Produkt als auch das Opfer eines unerbittlichen Wirtschaftssystems. (…) Robinson, der zu einem Star geworden ist, der Gangster porträtiert, ist so hart wie nie zuvor; sein Schiff ist eher ein schwimmendes Konzentrationslager als ein Piratenschiff. (…) Robinson, ein unverblümter Antifaschist, nannte seinen Larsen ‹a Nazi in everything but name›.» (Jim Hoberman, nytimes.com, 20.10.2017) Drehbuchautor Robert Rossen, ein Mitglied der Kommunistischen Partei, verweigerte zunächst vor dem HUAC die Aussage und landete auf der schwarzen Liste. 1953 knickte er ein und sagte aus. 100 Min / sw / DCP / E // REGIE Michael Curtiz // DREHBUCH Robert Rossen, nach dem Roman von Jack London // KAMERA Sol Polito // MUSIK Erich Wolfgang Korngold // SCHNITT George Amy // MIT Edward G. Robinson («Wolf» Larsen), Ida Lupino (Ruth Brewster), John Garfield (George Leach), Alexander Knox (Humphrey Van Weyden), Gene Lockhart (Dr. Prescott), Barry Fitzgerald (Cooky), Stanley Ridges (Johnson), David Bruce (junger Matrose), Francis McDonald (Svenson), Howard Da Silva (Harrison), Frank Lackteen (Smoke).

THE WOMAN IN THE WINDOW USA 1944 Ein Professor für Kriminalpsychologie sieht seine lebhaftesten Fantasien und Ängste wahr werden, als seine Frau und seine Kinder in die Ferien verreisen und er allein mit der bösen grossen Stadt fertig werden muss. Nachdem er der Frau seiner Träume begegnet ist, deren Porträt er bis dahin nur im Schaufenster bewundert hatte, wird er zuerst in einen Mord, dann in eine Erpressung verstrickt. «Ein klassischer Noir-Thriller mit Edward G. Robinson in Topform als sympathischer Professor (…). Joan Bennett als Titelheldin und Dan Duryea als Erpresser sind grossartig, Milton Krasners Kameraarbeit stimmungsstark, doch ist der Film nicht nur ein blendendes Spannungsstück, ­sondern auch ein typisch harsches Beispiel für Langs Glauben an die Unausweichlichkeit des Schicksals: Robinsons Figur, im Grunde ein guter Mensch, macht in einem unachtsamen Moment einen kleinen Ausrutscher, und schon ist er dem Untergang geweiht.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) 107 Min / sw / 35 mm / E // REGIE Fritz Lang // DREHBUCH Nunnally Johnson, nach einem Roman von J. H. Wallis //

­KAMERA Milton Krasner // MUSIK Arthur Lange, Hugo Friedhofer // SCHNITT Marjorie Johnson, Gene Fowler jr. // MIT Edward G. Robinson (Richard Wanley), Joan Bennett (Alice Reed), Raymond Massey (Frank Lalor), Dan Duryea (Heidt/ Türsteher), Edmond Breon (Dr. Michael Barkstone), Thomas E. Jackson (Inspektor Jackson), Arthur Loft (Mazard), Dorothy Peterson (Mrs. Wanley), Frank Dawson (Steward).

OUR VINES HAVE TENDER GRAPES USA 1945 Martinius Jacobson und seine Frau Bruna ziehen während des Zweiten Weltkriegs im ländlichen Wisconsin ihre siebenjährige Tochter Selma auf. Selma und ihr bester Freund, der fünfjährige Arnold, verleben zwar eine recht idyllische Kindheit, werden aber auch mit allerlei Schicksalsschlägen konfrontiert, die sie schnell heranreifen lassen. «Kurz bevor er vom HUAC auf die Schwarze Liste gesetzt wurde, schrieb Dalton Trumbo diese poetische, oft schonungslose Sicht auf das Leben einer norwegisch-amerikanischen Bauernfamilie in Wisconsin (...). Die auffälligste Besonderheit ist vielleicht die Besetzung von Robinson in der Hauptrolle als sanfter skandinavischer (!) Vater anstelle der ihm üblicherweise angebotenen ‹tough guy›-Rollen.» (filmfanatic.org)


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> House of Strangers.

> Our Vines Have Tender Grapes.

> Key Largo.

> Two Weeks in Another Town.

> The Cincinnati Kid.

> Soylent Green.


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Edward G. Robinson «Edward G. Robinson genoss es, diesen Film zu drehen, da er bei Martinius die Möglichkeit hatte, etwas anderes als einen Gangster zu spielen. Als Martinius ist er warmherzig, grosszügig und völlig vernarrt in seine Tochter.» (journeysinclassicfilm.com) 105 Min / sw / 35 mm / E // REGIE Roy Rowland // DREHBUCH Dalton Trumbo, nach dem Roman von George Victor Martin // KAMERA Robert Surtees // MUSIK Bronislau Kaper // SCHNITT Ralph E. Winters // MIT Edward G. Robinson (Martinius Jacobson), Margaret O’Brien (Selma Jacobson), Agnes Moorehead (Bruna Jacobson), James Craig (Nels Halverson), Frances ­Gifford (Viola Johnson), Morris Carnovsky (Bjorn Bjornson).

KEY LARGO USA 1948 Frank McCloud, ehemaliger US-Major im Zweiten Weltkrieg, kommt nach Key Largo, um James und Nora Temple, den Vater und die junge Witwe eines gefallenen Kameraden aufzusuchen. Das Hotel der Temples wird vom skrupellosen Gangsterboss Johnny Rocco mitsamt seinen dubiosen Handlangern besetzt. Frank verliebt sich in Nora und nimmt den Kampf gegen die Gangster auf. Als ein Hurrikan die Insel verwüstet, spitzt sich die Lage dramatisch zu. John Hustons packend inszenierter Gangsterfilm Key Largo gilt als Meisterwerk des Film noir. «Obwohl es sich bei den Figuren im Grunde um Stereotype handelt, werden sie von den hervor­ ragenden Schauspielern zum Leben erweckt: ­Edward G. Robinson als grausamer ‹Little Caesar›, Humphrey Bogart als verbitterter Ex-Offizier, Lauren Bacall als die Unschuldige, die ihn liebt, und vor allem Claire Trevor als desillusionierte, trunksüchtige Gangsterbraut.» (Tom Milne, Time Out Film Guide) «Unvergesslich ist die Szene, in der Robinson als Gangsterboss seine Zigarre raucht, während er genüsslich in der Badewanne liegt; John Huston meinte: ‹Er sieht aus wie ein Krustentier ohne Panzer.›» (Pauline Kael, 5001 Nights at the Movies, Marion Boyars 1993) 100 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE John Huston // DREHBUCH Richard Brooks, John Huston, nach dem Theaterstück von Maxwell Anderson // KAMERA Karl Freund // MUSIK Max Steiner // SCHNITT Rudi Fehr // MIT Humphrey Bogart (Frank McCloud), Lauren Bacall (Nora Temple), Edward G. Robinson (Johnny Rocco), Lionel Barrymore (James Temple), Claire Trevor (Gaye Dawn), Thomas Gomez (Curley Hoff), Harry Lewis (Edward «Toots» Bass), John Rodney (Clyde Sawyer), Marc Lawrence (Ziggy), Dan Seymour (Angel Garcia), Monte Blue (Sheriff Ben Wade), William Haade (Ralph Feeney). Key Largo wird auch am 31. Januar im Rahmen der «Sélection Lumière» gezeigt.

HOUSE OF STRANGERS USA 1949 «Die Geschichte eines patriarchalischen italoamerikanischen Bankiers und der wechselseitig zerstörerischen Konflikte, die aus seinen Versuchen entstehen, seine vier Söhne zu dominieren. Viel düsterer als die meisten Mankiewicz-Filme, tatsächlich beinahe ein Film noir, aber in seiner bevorzugten Rückblendentechnik erzählt, sodass er zu einer Art bekenntnishaftem Memoire wird, das die Mehrdeutigkeit von Beweggründen aus­ lotet (und Robinson einen umwerfenden ersten ­Auftritt gestattet, indem er in der Erinnerung von Contes Figur heraufbeschworen wird durch ein Porträt, eine Rossini-Arie und eine Kamera, die endlos eine prächtige Treppe in der Familienvilla emporschleicht). Grossartige Schauspielerleistungen (Conte, Robinson, Adler) und noch bessere Kameraarbeit von Milton Krasner, der Licht und Bildkomposition einsetzt, um auf der Leinwand, im Haus und in den Gruppenbildern der Familie scharf umrissene Konfliktzonen abzustecken.» (Tom Milne, Time Out Film Guide) 101 Min / sw / DCP / E/f // REGIE Joseph L. Mankiewicz // DREHBUCH Philip Yordan, nach einem Roman von Jerome Weidman // KAMERA Milton Krasner // MUSIK Daniele Amfitheatrof // SCHNITT Harmon Jones // MIT Edward G. Robinson (Gino Monetti), Susan Hayward (Irene Bennett), Richard Conte (Max Monetti), Luther Adler (Joe Monetti), Paul Valentine (Pietro Monetti), Efrem Zimbalist jr. (Tony), Debra Paget (Maria Domenico), Hope Emerson (Helena Domenico).

TWO WEEKS IN ANOTHER TOWN USA 1962 Nach dreijährigem Aufenthalt in einer Nervenklinik erhält ein einst gefeierter Schauspieler ein Rollenangebot von jenem Regisseur, unter dem er einst seine grössten Erfolge feierte. Voll Hoffnung auf ein Comeback fliegt er zu den Dreharbeiten nach Rom … «Vordergründig schildert der Plot zynisch und reisserisch die Korruption und die Intrigen im Jetset der Filmwelt, (…) doch geht es eigentlich mehr um Misserfolg, Kompromisse und Desillusionierung. Die Schauspielerleistungen sind durchwegs grossartig.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) «Die Schauspielcrew um das leicht angejahrte Trio Kirk Douglas, Edward G. Robinson und Cyd Charisse zieht hemmungslos vom Leder, und die One-Liners des grossen Szenaristen Charles Schnee jagen sich. Gleichzeitig ist dieses Biggerthan-Life-Spektakel unerhört elegant inszeniert und voller Brechungen.» (Andreas Furler, Filmpodium, Nov./Dez. 2013)


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Edward G. Robinson 107 Min / Farbe / 35 mm / E // REGIE Vincente Minnelli // DREHBUCH Charles Schnee, nach dem Roman von Irvin Shaw // ­KAMERA Milton Krasner // MUSIK David Raksin // SCHNITT Adrienne Fazan, Robert J. Kern // MIT Kirk Douglas (Jack ­Andrus), Edward G. Robinson (Maurice Kruger), Cyd Charisse (Carlotta), George Hamilton (Davie Drew), Daliah Lavi ­(Veronica), Claire Trevor (Clara), James Gregory (Brad Byrd), Rosanna Schiaffino (Barzelli), George Macready (Lew Jordan).

THE CINCINNATI KID USA 1965 Eric «Cincinnati Kid» Stoner gilt als der beste ­Pokerspieler im New Orleans der 1930er-Jahre. Er setzt alles daran, gegen Altmeister Lancey ­Howard anzutreten, doch dieser zeigt zunächst kein Interesse daran, gegen den jungen Herausforderer zu spielen. Schliesslich gelingt es jedoch Cincinnatis Freund Shooter, Howard für eine äusserst lukrative Runde gegen Cincinnati Kid an den Pokertisch zu locken. «Zu Recht geniesst Norman Jewisons The Cincinnati Kid den Ruf, der spannendste Spielerfilm aller Zeiten zu sein. Das Pokerspiel zwischen den zwei Protagonisten entwickelt sich zu einem nervenaufreibenden Psychoduell, das an Spannung und Atmosphäre kaum zu überbieten ist. (…) Mit Steve McQueen in der Hauptrolle und Edward G. Robinson als Gegenspieler standen sich ein Vertreter der neuen und der alten Hollywoodgeneration gegenüber. McQueen war am Anfang seiner Karriere und erlangte durch die Rolle des Pokertalents Cincinnati Kid weltweiten Ruhm. (…) Ihm gegenüber Gangsterfilm-Veteran Robinson, der mit seiner Aura den Altmeister hervorragend darstellte.» (Eva Fischer, srf.ch, 22.8.2015) «Ich ‹war› Lancey (…). Es war eine der besten Rollen, die ich je gespielt hatte, weil es gar keine Rolle war; sie stand symbolisch für die Darstellung meines eigenen Spiels mit dem Leben.» ­(Edward G. Robinson, zitiert bei tcm.com) 102 Min / Farbe / 35mm / E // REGIE Norman Jewison // DREHBUCH Ring Lardner jr., Terry Southern // KAMERA Philip ­Lathrop // MUSIK Lalo Schifrin // SCHNITT Hal Ashby // MIT Steve McQueen (Eric Stoner, The Cincinnati Kid), Edward G. Robinson (Lancey Howard), Ann-Margret (Melba), Karl M ­ alden (The Shooter), Tuesday Weld (Christine), Joan Blondell (Lady Finger), Rip Torn (Slade), Jack Weston (Pig), Cab Calloway (Yeller), Jeff Corey (Hoban), Theo Marcuse (Felix).

SOYLENT GREEN USA 1973 Im Jahr 2022 hat New York über 40 Millionen Einwohner, die meisten sind ohne Arbeit, ohne Wohnung und ernähren sich von synthetischen Sub-

stanzen. Natürliche Lebensmittel und sauberes Wasser kann sich nur noch die Oberschicht leisten. Polizist Thorn ermittelt in einem mysteriösen Mordfall in der Führungsetage des Konzerns, der das hochbegehrte Nahrungspräparat «Soylent Green» herstellt und kommt dabei mit seinem Partner Sol Roth einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur. Richards Fleischers Science-Fiction-Film gehört zu den schockierendsten Beispielen der filmischen Öko-Apokalypsen der 70er-Jahre. Charlton Heston brilliert als Polizist, Edward G. Robinson als sein hochkultivierter Helfer. «Die eindrucksvollste Szene findet sich gegen Schluss, als Robinson entscheidet, dass es Zeit ist zu sterben. (…) Sein Spiel ist ausserordentlich würdevoll und wirkt umso ergreifender, wenn uns bewusst wird, dass diese Todesszene seine letzte war.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 27.4.1973) Als Folge seiner Krebserkrankung war Robinson bei der Arbeit am Film schon fast taub, und er starb blosse zwei Wochen nach dem Ende der Dreharbeiten. 97 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Richard Fleischer // DREHBUCH Stanley R. Greenberg, nach einem Roman von Harry Harrison // KAMERA Richard H. Kline // MUSIK Fred Myrow // SCHNITT Samuel E. Beetley // MIT Charlton Heston (Detective Thorn), Joseph Cotten (William Simonson), Edward G. Robinson (Sol Roth), Leigh Taylor-Young (Shirl), Chuck Connors (Fielding), Brock Peters (Hatcher), Paula Kelly (Martha), Stephen Young (Gilbert), Mike Henry (Kulozik), ­ ­Lincoln Kilpatrick (Priester), Roy Jenson (Donovan).

Weitere sehenswerte Filme mit Edward G. Robinson: Double Indemnity (1944) zeigt das Filmpodium im Rahmen einer Billy-Wilder-Reihe im kommenden Sommerprogramm. Two Seconds Mervyn LeRoy (1932) The Little Giant Roy Del Ruth (1933) The Man with Two Faces Archie Mayo (1934) Dark Hazard Alfred E. Green (1934) Barbary Coast Howard Hawks (1935) A Slight Case of Murder Lloyd Bacon (1938) The Amazing Dr. Clitterhouse Anatole Litvak (1938) Blackmail H. C. Potter (1939) Brother Orchid Lloyd Bacon (1940) Manpower Raoul Walsh (1941) Scarlet Street Fritz Lang (1945) The Stranger Orson Welles (1946) All My Sons Irving Reis (1948) The Night Has a Thousand Eyes John Farrow (1948) Vice Squad Arnold Laven (1953) The Violent Men Rudolph Maté (1954) Hell on Frisco Bay Frank Tuttle (1955) The Ten Commandments Cecil B. De Mille (1956) The Prize Mark Robson (1963)


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Der Frankenstein-Komplex «It’s alive!», schreit der Titelheld in James Whales Frankenstein von 1931. Quicklebendig und faktisch unzerstörbar ist auch der Mythos Frankenstein. Das Monster und sein ehrgeiziger Schöpfer haben sich in den 200 Jahren seit der Veröffentlichung von Mary Shelleys Roman immer wieder an die Aktualität anpassen und umdeuten lassen. Schon der Zauberlehrling, ersonnen vom griechischen Satiriker Lukian und besungen von Goethe, ward die Geister, die er rief, nicht mehr los. Doch Victor Frankenstein, die Titelfigur von Mary Wollstonecraft Shelleys Roman «Frankenstein; or, The Modern Prometheus» (1818) ist keine Märchenfigur, sondern einer der ersten Protagonisten des Genres der «Science»-Fiction: Sein Schöpfungsakt beruht nicht auf Zauberei, sondern auf Wissenschaft, auch wenn er im Roman nicht näher beschrieben wird. Dieser wesentliche Unterschied verlegt die Macht der Schöpfung und die damit verbundene Verantwortung in die Hände des Menschen. Gott und Magie haben hier nichts mehr verloren. Der rationale Verstand ist das Mass aller Dinge – und erweist sich in dieser Fabel als unzulänglich. Victor Frankenstein ist der Prototyp nicht nur des «mad scientist» der Unterhaltungsliteratur und trashiger Filme, sondern auch des skrupel- bzw. rücksichtslosen Forschers in der Realität. Der Diskurs um Fortschritt und ­dessen ethische Konsequenzen nimmt immer wieder auf Shelleys Mahnmal Bezug und warnt vor den nicht absehbaren, heute oft globalen Folgen wissenschaftlicher Neuerungen, ob diese nun die Gentechnik im Ackerbau und bei der Manipulation menschlichen Erbguts betreffen, technische Erfindungen, deren Folgen zur Veränderung des Klimas und zur Verschmutzung der Umwelt führen, oder die Künstliche Intelligenz, die nicht nur in den TerminatorFilmen die Menschheit zu überflügeln droht. Die klassischen Adaptionen Erstmals verfilmt wurde der Roman 1910 von J. Searle Dawley, der die Geschichte auf gut 15 Minuten verdichtete und dabei auf Spektakel setzte – wie viele nach ihm. Umso erstaunlicher ist es, dass in James Whales Frankenstein (1931) Boris Karloff in seiner unübertrefflichen Maske ganz ohne Worte Verständnis für das missverstandene und verstossene Geschöpf zu wecken vermochte. Schon Whales genial-skurrile Fortsetzung Bride of Frankenstein (1935) ebnete aber den Weg zur Verulkung des Mythos. Als Terence Fisher 1957 in Grossbritannien The Curse of Frankenstein drehte, nahm er den Stoff wieder ernst, legte das Schwergewicht jedoch auf die Figur des Arztes, der seinem Ehrgeiz jegliche menschliche Regung opfert;



29 das Monster, verkörpert von Christopher Lee, bleibt eine bedauernswerte Nebenfigur. Farbe und teils drastische Schockeffekte verschoben die Wirkung des Films vom abstrakten Schauder, den der klassische Gruselfilm erzeugte, in Richtung Ekel. Zahlreiche Fortsetzungen und Verhunzungen führten das Frankenstein-Motiv aber schon bald erneut ad absurdum, sodass in den 70erJahren die Zeit reif war für neue Parodien: Mel Brooks verbindet in Young Frankenstein (1974) witzige und vulgäre Gags mit einer äusserlich liebevoll gestalteten Hommage an Whales Filme. The Rocky Horror Picture Show (1975) drehte den Frankenstein-Topos samt allen Abklatschfilmen, Teeniedramen und Space Operas der 50er-Jahre durch den Wolf und deutete den von Hybris geplagten Wissenschaftler um zum genderfluiden Hedonisten, der sich einen Muskelmann als Lustobjekt erschafft. Moderne Wiederbelebungen Francis Ford Coppola, der sich 1992 bemüht hatte, mit der Grossproduktion Bram Stoker’s Dracula dem Vampirfilm wieder zu Respekt zu verhelfen, produzierte 1994 Kenneth Branaghs Versuch, mit Mary Shelley’s Frankenstein das Gleiche für diesen klassischen Gruselstoff zu tun. Die Kritik würdigte ­Robert De Niros Darstellung des Geschöpfs als adäquate Interpretation der Figur, wie sie die Autorin ersonnen hatte: als zunächst unschuldiges Wesen, das von seinem Schöpfer im Stich gelassen wird, ohne sein Zutun von der menschlichen Gemeinschaft angefeindet und misshandelt wird und sich schliesslich dafür rächt. Weniger Beifall ernteten Branaghs Inszenierung und seine persönliche Verkörperung des arroganten Frankenstein. Die Entstehung des Romans und die Produktion der Filme wurden ihrerseits zum Filmstoff. Ken Russell (Gothic, 1986) und Ivan Passer (Haunted Summer, 1988) widmeten sich den sagenumwobenen Umständen, unter denen die 18-jährige Mary in der dubiosen Gesellschaft Shelleys und Byrons ihre Geschichte ersann; mit der saudi-arabischen Filmemacherin Haifaa ­Al-Mansour packte 2017 erstmals eine Frau die Biografie der Autorin und ­ihrer literarischen Schöpfung an und machte das schwierige ­Dasein der an­ gehenden Schriftstellerin und Feministin in einer von Männern dominierten Gesellschaft einfühlbar. In Gods and Monsters (1998) wiederum verquickt Bill Condon die Vita des einsamen alternden Schwulen James Whale mit den Motiven seiner Frankenstein-Filme, was nicht nur Whales künstlerisches Schaffen würdigt, sondern auch durchaus zu bewegen vermag. Michel Bodmer

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Das Monster als Kind: Frankenstein von James Whale Der Mythos als Klamauk: Young Frankenstein von Mel Brooks


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Frankenstein FRANKENSTEIN

FRANKENSTEIN USA 1910 «Die erste Verfilmung des Romans von Mary ­Shelley ist eine Edison-Produktion von 1910. (...) Heute existiert nur noch eine einzige Kopie. Die Kopien dieser Kopie sind leider in schlechtem Zustand, aber sie lassen uns immerhin erkennen, dass dieser Film für seine Zeit recht ausgeklügelt war. Der Film ist dem Roman treu, mit einem eher mystischen Schluss. (...) Die höchst aufwendige Maske des Monsters war das Werk seines Darstellers, Charles Ogle, eines Bühnenschauspielers. (...) Mehr als jedes andere Werk kennzeichnete er auch die Geburt eines neuen Genres: des Gruselfilms.» (L’œil sur l’écran, films.blog.lemonde.fr, 9.4.2012) Gezeigt wird eine Version, die im Rahmen der Activités culturelles der Universität Genf digital bearbeitet worden ist.

FRANKENSTEIN USA 1931 «Ein schlichter, solider, beeindruckend stilvoller Film, der (etwas zu Unrecht) im Schatten der nachfolgenden Explosion von Whales Witz im rauschhaften Bride of Frankenstein steht. Karloff bietet eine der grössten schauspielerischen Leistungen aller Zeiten als Monster, dessen Wandel von Liebenswürdigkeit zu eiskalter Mordlust sich nur in seinen klaren Augen spiegelt. Der geniale Einfall des Films besteht darin, das ‹Heranwachsen› des Monsters in allzu menschlichen Begriffen zu zeigen. Zuerst ist es das unschuldige Baby, das nach Sonnenstrahlen hascht. (...) Dann ist es das fröhliche Kind, das spielerisch Blumen in den Teich wirft. (...) Und schliesslich, als es mehr und mehr missverstanden wird, wird es zum brutalen Mörder, ebenjenem Stereotyp, das man ihm angehängt hat. Der Film ist in Whales Werk einzigartig, weil das Grauen hier durchwegs ernst in Szene gesetzt wird, und er hat eine sonderbare märchenhafte Schönheit an sich, die kein anderer Film erreichte, bis Cocteau La belle et la bête drehte.» (Tom Milne, Time Out Film Guide) «Frankenstein» wird ab dem 10. Januar im Schauspielhaus aufgeführt, bildgewaltig adaptiert von Autor Dietmar Dath und Regisseur Stefan Pucher. FRANKENSTEIN 16 Min / tinted / Digital HD / Stummfilm, e + d Zw’titel // R ­ EGIE J. Searle Dawley // DREHBUCH J. Searle Dawley, nach dem Roman von Mary Shelley // MUSIK Donald Sosin // MIT Mary Fuller (Elizabeth), Charles Ogle (das Monster), Augustus Phillips (Frankenstein; alle ungenannt).

70 Min / sw / DCP / E/d // REGIE James Whale // DREHBUCH Garrett Fort, Francis Edward Faragoh, John Balderston, ­Robert Florey, nach dem Roman von Mary Shelley // KAMERA Arthur Edeson // MUSIK David Broekman // SCHNITT ­Maurice Pivar, Clarence Kolster // MIT Boris Karloff (das Monster), Colin Clive (Henry Frankenstein), Mae Clarke ­(Elisabeth, seine Verlobte), John Boles (Viktor), Edward Van Sloan (Dr. Waldmann), Dwight Frye (Fritz).

BRIDE OF FRANKENSTEIN USA 1935 Nach einem Prolog mit Lord Byron und Mary Shelley entspinnt Whale eine Fortsetzung zu Frankenstein, wobei er sich von der Romanvorlage bald entfernt. Das Monster hat überlebt und ist einsam. Frankenstein wiederum findet im exzentrischen Dr. Pretorius einen Gesinnungsgenossen. «‹Auf eine neue Welt der Götter und Monster!› So prostet Dr. Pretorius Dr. Frankenstein zu. (...) ‹Du›, meint er zu Frankenstein, ‹hast einen Menschen erschaffen. Gemeinsam werden wir nun seine Gefährtin erschaffen.› Ihr Ziel bildet die Inspiration von James Whales Bride of Frankenstein, dem besten aller Frankenstein-Filme – ein schlaues, subversives Werk, das schockierenden Stoff an der Zensur vorbei­ schmuggelte, indem es diesen mit dem Brim­ borium eines Horrorfilms tarnte. Manche Filme altern, andere reifen. Aus heutiger Sicht ist ­Whales Meisterwerk noch verblüffender als zu seiner Ent­stehungszeit, weil das heutige Publikum mehr Sinn hat für die darin versteckten Andeutungen von Homosexualität, Nekrophilie und Sakrileg.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 1.3.1999) 75 Min / sw / DCP / E/d // REGIE James Whale // DREHBUCH William Hurlbut, John Balderston, nach dem Roman «Frankenstein» von Mary Shelley // KAMERA John J. Mescall // ­MUSIK Franz ­Waxman // SCHNITT Ted J. Kent // MIT Boris Karloff (das Monster), Colin Clive (Henry Frankenstein), Elsa Lanchester (Mary Shelley/Braut des Monsters), Valerie Hobson (Elizabeth Frankenstein), Ernest Thesiger (Dr. Pretorius), Gavin Gordon (Lord Byron), Douglas Walton (Percy Shelley).

THE CURSE OF FRANKENSTEIN GB 1957 Der einfluss- und erfolgreichste britische Horrorfilm der Nachkriegszeit erweckte auch die britische Filmindustrie zu neuem Leben. «Peter Cushings Baron Frankenstein ist ein Beispiel für Wissenschaft ohne Gewissen und ein Bösewicht, der mit Mord, Diebstahl und Täuschung seine Ambitionen verwirklicht. Letztend-


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Frankenstein lich ist sein Frankenstein ein weitaus groteskeres Ungeheuer als die erbärmliche Kreatur, die er in seinem Labor bastelt. (...) Christopher Lees Maske wurde so gestaltet, dass sie realistischer wirkt und mit den Beschreibungen des Monsters im Roman übereinstimmt. (...) Terence Fisher wurde einmal zitiert: ‹Wir wollten etwas, das aussah wie eine umherirrende, verzweifelte Mons­ trosität, ein Wesen aus Fetzen und Flicken.›» ­(Felicia Feaster, tcm.com) 82 Min / Farbe / 35 mm / E // REGIE Terence Fisher // DREHBUCH Jimmy Sangster, nach dem Roman «Frankenstein» von Mary Shelley // KAMERA Jack Asher // MUSIK James Bernard // SCHNITT James Needs // MIT Peter Cushing (Victor Frankenstein), ­ ­ Hazel Court (Elizabeth), Robert Urquhart (Paul Krempe), Christopher Lee (die Kreatur), ­ ­Melvyn Hayes (junger Victor), Valerie Gaunt (Justine).

YOUNG FRANKENSTEIN USA 1974 «Seit jeher hat der junge Frederick Frankenstein die medizinischen Experimente seines Gross­ vaters als unmöglich abgetan. Nach der Lektüre von ‹Wie ich es geschafft habe› von Victor Frankenstein ändert er jedoch seine Meinung. Nun braucht’s nur noch etwas Totengräberei und einen Ausflug zum praktischen Hirn-Lagerhaus im Dorf, und die Familie Frankenstein ist wieder im Geschäft. (...) Young Frankenstein ist wirklich so komisch, wie wir es von einem Mel-Brooks-Film erwarten, und darüber hinaus belegt er eine künstlerische Weiterentwicklung: Der Regisseur, der früher um jeden Preis die Leute zum Lachen bringen wollte, geht nun sicherer mit seinem Stoff um, selbstbewusster, weniger atemlos. (...) Der Film parodiert den Stil, nicht bloss den Stoff des Genres. Er sieht aus wie Whales Originale, was ihn noch lustiger macht. Ausserdem funktioniert er paradoxerweise auf zwei Ebenen: erstens als Komödie, darüber hinaus aber auch für sich allein als seltsam rührende Geschichte.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 1.1.1974) Das Theater am Hechtplatz führt ab Ende April eine Musical-Version von Young Frankenstein auf. 106 Min / sw / Digital HD / E/d // REGIE Mel Brooks // DREHBUCH Gene Wilder, Mel Brooks, nach dem Roman «Frankenstein» von Mary Shelley // KAMERA Gerald Hirschfeld // MUSIK John Morris // SCHNITT John C. Howard // MIT Gene Wilder (Dr. Frederick Frankenstein), Peter Boyle (das Monster), Marty Feldman (Igor), Madeline Kahn (Elizabeth), Cloris Leachman (Frau Blücher), Teri Garr (Inga), Kenneth Mars ­(Inspektor Kemp), Gene Hackman (blinder Einsiedler).

THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW USA 1975 Dr. Frank-N-Furter, ein ausserirdischer Transvestit, hat sich zwecks Triebbefriedigung einen Muskelmenschen namens Rocky Horror erschaffen. Als sich ein biederes junges Paar in sein abgelegenes Herrenhaus verirrt, bringt der wollüstige Wissenschaftler die beiden auf ganz neue Gedanken. «Warum haben die Fans die Spätvorstellungen dieses Kultfilms in ein aufwendiges Ritual verwandelt, bei dem man sich verkleidet, mitsingt, Reis wirft und Feuerzeuge schwenkt? Nun, ein Grund ist, dass der Stoff Zuneigung weckt, wenn man bedenkt, dass diese kundige Parodie von den Universal-Gruselfilmen bis zur peinlichsten Science-­ Fiction der 50er-Jahre alles durch den Kakao zieht und eine schamlos hedonistische, konsequent eigensinnige Mentalität an den Tag legt, die wohl als willkommene Abwechslung zum MainstreamSchwulst der anderen Musicals der 70er-Jahre erschien.» (Trevor Johnston, Time Out Film Guide) SA, 9. FEB. | 20.45 UHR: ROCKY HORROR PICTURE SHOW-EVENT Let’s do the Time Warp again! Kostüme will­kommen. Mehr unter www.filmpodium.ch Präsentiert in Zusammenarbeit mit

100 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Jim Sharman // DREHBUCH Jim Sharman, Richard O’Brien, nach einem ­Musical von Richard O’Brien // KAMERA Peter Suschitzky // MUSIK Richard O’Brien // SCHNITT Graeme Clifford // MIT Tim Curry (Dr. Frank-N-Furter), Susan Sarandon (Janet Weiss), Barry Bostwick (Brad Majors), Meat Loaf (Eddie), ­Peter Hinwood (Rocky Horror), Patricia Quinn (Magenta), Richard O’Brien (Riff Raff), Jonathan Adams (Dr. Everett Scott).

MARY SHELLEY’S FRANKENSTEIN GB/USA 1994 Victor Frankenstein ist besessen von der Idee, Leben erhalten zu können. Während seines Medizinstudiums lernt er einen obskuren Professor kennen, der einst den gleichen Traum hatte. Als sein Mentor stirbt, bemächtigt sich Frankenstein seiner Notizen und seines Gehirns und erweckt aus weiteren menschlichen Teilen eine «Kreatur» zum Leben. Kenneth Branagh hielt sich bei seiner epischen, bildgewaltigen Verfilmung der klassischen Horrorgeschichte von Mary Shelley eng an die Vorlage, setzte dabei aber vor allem auf die psychologischen Aspekte und auf die Zerrissenheit des Wissenschaftlers. (th)


> The Rocky Horror Picture Show.

> Mary Shelley’s Frankenstein.

> Frankenstein (1910).

> Gods and Monsters.

> The Curse of Frankenstein.

> Mary Shelley.


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Frankenstein «De Niros Erscheinung ist faszinierend bizarr, unterstützt von erstaunlichen Make-up-Effekten und der eigenen körperlichen Verwandlung des Schauspielers in einen trauernden, schwerfälligen Aussenseiter. Beeindruckend ist auch die Laborsequenz vor der Geburt des Geschöpfs, bei der Branagh sein Hemd auszieht, um sich in Gebärlaune zu bringen. Befreit von den Anforderungen einer gekünstelten, nicht überzeugenden Liebesgeschichte, bringt der Film hier etwas von jenem furchterregenden Hochgefühl herüber, mit dem ‹Frankenstein› normalerweise in Verbindung gebracht wird.» (Janet Maslin, The New York Times, 4.11.1994) 123 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Kenneth Branagh // DREHBUCH Steph Lady, Frank Darabont, nach dem Roman von Mary Shelley // KAMERA Roger Pratt // MUSIK Patrick Doyle // SCHNITT Andrew Marcus // MIT Robert De Niro (die Kreatur), Kenneth Branagh (Victor Frankenstein), Tom Hulce (Henry Clerval), Helena Bonham Carter (Elizabeth), Ian Holm (Baron Frankenstein), Richard Briers (Grossvater), John Cleese (Professor Waldman).

GODS AND MONSTERS USA/GB 1998 James Whale, der schwule Regisseur der legendären Frankenstein-Filme mit Boris Karloff, droht im Alter zu vereinsamen. Der stramme Gärtner Clayton weckt in ihm noch einmal (Lebens-)Lust und erinnert ihn an seine berühmteste filmische Schöpfung. «Regisseur Bill Condons bemerkenswerter Leistung setzt Hauptdarsteller Ian McKellen eine ebenbürtige entgegen. Er zeichnet ein eindringliches, faszinierendes Porträt von Whale, einem mausarmen Jungen aus einem Bergarbeiterkaff, der die Vision entwickelte, aus sich eine Person von weltgewandtem Witz zu machen, um besser mit dem Leben in einem Gefangenenlager im Ersten Weltkrieg sowie mit den Leiden eines abgehalfterten Regisseurs in Hollywood fertigzuwerden. Whales Einsamkeit und die Kühnheit seiner Kunst sind das, worauf der Gärtner Clayton anspricht. ‹Allein schlecht – Freund gut›, sagt Karloff als Monster in Bride of Frankenstein. Auf ein Foto für Clay schreibt Whale ‹Freund?›. Das unvergesslichste Bild des Films ist Clay im Regen, wie er mit einem steif schwankenden Gang eine Art Frankenstein-Tanz vollführt, bei dem sein Geist das erhascht, was Whale, dem verblassten Gott, und seinem Monster nur flüchtig vergönnt war: reine Freude.» (Peter Travers, Rolling Stone, 4.11.1998) 105 Min / Farbe + sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Bill Condon // DREHBUCH Bill Condon, nach dem Roman «Father of

­Frankenstein» von Christopher Bram // KAMERA Stephen M. Katz // MUSIK Carter Burwell // SCHNITT Virginia Katz // MIT Ian McKellen (James Whale), Brendan Fraser (Clayton Boone), Lynn Redgrave (Hanna), Lolita Davidovich (Betty), ­David Dukes (David Lewis), Kevin J. O’Connor (Harry).

MARY SHELLEY (PREMIERE) GB/Luxemburg/USA 2017 Mary, die Tochter des politischen Denkers W ­ illiam Godwin und der Frühfeministin Mary Wollstonecraft, verliebt sich in den bereits berühmten (und verheirateten) Dichter Percy Bysshe Shelley. Gemeinsam mit ihrer Stiefschwester Claire Clairmont brennen die 16-jährige Mary und Shelley durch. Zu Besuch in der Genfer Villa Diodati beim verrufenen Dichter Byron, der Claire zu seiner Geliebten gemacht hat, beschliessen die vier und der befreundete Arzt Polidori, sich Schauergeschichten auszudenken. Mary verarbeitet die Ängste, Sehnsüchte und Schrecknisse ihres noch jungen Lebens zu «Frankenstein». «Mary Shelley ist ein üppig gestaltetes Schauspiel, durchtränkt mit den Farben und eindringlichen Empfindungen der Natur, der Sinnlichkeit junger Liebender, der leidenschaftlichen Enttäuschung über Verlust und Verrat. In erster Linie aber ist es ein Film über Ideen, der (...) den Geist jener aussergewöhnlichen Frau auslotet, die mit 18 Jahren den Gruselklassiker ‹Frankenstein oder Der moderne Prometheus› geschrieben hat. Indem sie Mary zu einer Frau macht, die ihr Leben und ihre Entscheidungen im Griff hat und nicht ein Opfer grausamer und unsensibler Männer ist, zeigt Haifaa Al-Mansour, wie die Kämpfe in Marys Jugend ihr Verständnis von der Stellung der Frauen in der Welt schnell reifen liessen.» (Deborah Young, The Hollywood Reporter, 9.9.2017) 120 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Haifaa Al-Mansour // DREHBUCH Emma Jensen, Haifaa Al-Mansour // KAMERA David Ungaro // MUSIK Amelia Warner // SCHNITT Alex ­Mackie // MIT Ben Hardy (John Polidori), Elle Fanning (Mary Shelley), Bel Powley (Claire Clairmont), Maisie Williams (Isabel Baxter), Douglas Booth (Percy Shelley), Stephen ­ ­Dillane (William Godwin).

DI, 29. JAN. | 18.15 UHR GESPRÄCH: FRANKENSTEIN IM FILM Im Anschluss an die Vorstellung von Bride of Frankenstein diskutieren Elisabeth Bronfen und Johannes Binotto aus kulturwissenschaftlicher Sicht über den Frankenstein-Topos im Film.


34 Reeditionen

Éric Rohmer Fast alle Filme des ehemaligen Cahiers-du-Cinéma-Kritikers, Drehbuchautors und Regisseurs Éric Rohmer (1920–2010) handeln von Liebe – wobei nicht nur geliebt, sondern immer auch intensiv über die Liebe reflektiert und geredet wird. Neben ausufernden Dialogen sind aber auch eine verblüffende Leichtigkeit, ja spielerische Mühelosigkeit ebenso wie die konsequente Aus­ einandersetzung mit moralischen Fragen Rohmers Markenzeichen. Der ­Ausgang dieser Debatten ist oft überraschend – und damit umso erhellender. Seinen ersten, sechs Filme umfassenden Zyklus hat Rohmer mit Contes moraux überschrieben. In den drei Filmen, die wir daraus als Reeditionen präsentieren, werden Männer durch Begegnungen mit unkonventionellen Frauen in ihrem Zynismus (La collectionneuse), ihren vorgefassten Meinungen (Ma nuit chez Maud) und in ihrer Sattheit und Langeweile (L’amour l’après-midi) nachhaltig erschüttert.

LA COLLECTIONNEUSE Frankreich 1967 «La collectionneuse führt einen jungen Mann ein, der aus seiner Perspektive die Phase einer Irri­ tation im Zusammenleben mit einer Frau protokolliert. Die Szenerie ist ein hochsommerliches Ferienhaus an der Côte d’Azur. Adrien, der vier Wochen der Leere, des völligen Abschaltens erleben möchte und notgedrungen die Abreise seiner Freundin aus beruflichen Gründen über sich ergehen lässt, gerät in den Sog des bizarren, sehr jungen Mädchens Haydée. (…) Haydée wechselt die Beziehungen zu jungen Männern, sammelt Bekanntschaften. Aber nicht in erotomaner Ma-

nier, sondern (…) weil sie ‹normale und vernünftige Beziehungen zu den Menschen will›. Der erste Farbfilm Rohmers, sonnig, lichtdurchflutet, mit dezenten und diskreten Bildern. Haydée, die vermeintliche ‹Sammlerin›, die im Blicke des Zynikers enthemmte Erotomanin, ist – auch wenn sie landläufiger Moral zu widersprechen scheint – die eigentliche Moralistin.» (Film-Korrespondenz 1985) 90 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT Éric Rohmer // KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Blossom Toes, Giorgio Gomelsky // MIT Patrick Bauchau (Adrien, der Erzähler), Haydée Politoff (Haydée), Daniel Pommereulle (Daniel), Mijanou Bardot (Mijanou), Seymour Hertzberg (Sam, der Sammler).


35

Reeditionen: Éric Rohmer

MA NUIT CHEZ MAUD

L’AMOUR L’APRÈS-MIDI

Frankreich 1969

Frankreich 1972

Jean-Louis kehrt «nach längerer Abwesenheit in seine Heimatstadt Clermont-Ferrand zurück. Hier beschliesst er bald zu heiraten, und eigentlich hat er auch schon ein ‹Opfer› im Auge, eine junge Frau, die es ihm angetan hat, obwohl er sie kaum kennt. Bevor es zur erwünschten Annäherung kommt, verbringt der heiratswillige Jung­ geselle ganz zufällig noch eine Nacht bei Maud, der Bekannten eines Freundes, mit Gesprächen über Gott und die Moral vor allem. (…) Hier setzt sich eine Figur selbst ins Abseits. Wie sie das tut, ganz zielgerichtet und immer bewusst, das ge­hört zu den faszinierendsten Momenten an allen Arbeiten des filmischen Gefühlschirurgen Rohmer.» (Walter Ruggle, Tages-Anzeiger, 4.6.1987) «Dass in der ‹Nacht bei Maud› tatsächlich nur geredet wird und eben nichts ‹passiert›, hat wesentlich zu Rohmers Ruf als ‹Sprechregisseur› beigetragen (...). Tatsächlich gibt es kaum einen besseren Film als Ma nuit chez Maud, um zu begreifen, welche Rolle das Reden bei Rohmer spielt, genauer gesagt, mit wie viel Raffinesse und Feingefühl der Dialog sich in die Textur des Films einwebt, wo er ebenso sinnlich funktioniert wie das Licht, der Ton, die Ausstattung und die Kameraarbeit.» (Barbara Schweizerhof, Film­ ­ podium, Feb./März 2012)

Das Leben von Frédéric plätschert angenehm dahin. Er ist mit der Frau, die er liebt, verheiratet, hat ein entzückendes Töchterchen; die Wirtschaftskanzlei, die er mit Gérard aufgebaut hat, blüht. Da platzt eines Tages Chloé, eine Bekannte aus seinen Jugendjahren, herein, schrill, freigeistig und aufmüpfig, und macht sich in seinem Leben breit. «Rohmer zeichnet ein eindrückliches Stimmungsbild der erfolgreichen Pariser Vororts-Aufsteiger der siebziger Jahre und reflektiert über den schmalen Grat zwischen materieller Sicherheit und emotionaler Verarmung, auf dem sich diese bewegen.» (Xenix, Sept. 2016) «L’amour l’après-midi, die letzte von Éric Rohmers Contes moraux, ist die beste, die ich kenne. (...) Es ist, wie wenn er die Töne, die er in den früheren Filmen angeschlagen hatte, jetzt zu einem Akkord vereinte; die Schlussszene ist sein letzter Kommentar zur Serie, und Rohmer fordert uns auf, um Gottes Willen keine Spielchen mehr zu spielen, sondern offen und ehrlich miteinander umzugehen. (...) Das vielleicht Interessanteste an Rohmers Figuren ist, dass sie sich anscheinend den freien Willen bewahren konnten. Sie sind beispielsweise nicht dazu verurteilt, am Schluss des Films miteinander ins Bett zu gehen, nur weil das üblicherweise passiert. Wie Ma nuit chez Maud handelt L’amour l’après-midi von einem ausgedehnten Flirt, der nirgends hinführt, und von der Wiederbestätigung einer ursprünglichen Liebe.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 28.12.1972)

113 Min / sw / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric Rohmer // KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Wolfgang Amadeus Mozart // SCHNITT Cécile Decugis // MIT JeanLouis Trintignant (Jean-Louis), Françoise Fabian (Maud), ­Marie-Christine Barrault (Françoise), Antoine Vitez (Antoine Vidal), Marie Becker (Marie, Mauds Tochter), Anne Dubot (die

97 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Éric

blonde Freundin), Léonide Kogan (der Violinist).

Rohmer // KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Arié ­Dzierlatka // SCHNITT Cécile Decugis // MIT Bernard Verley (Frédéric Carrelet), Françoise Verley (Hélène Carrelet), Zouzou (Chloé), Daniel Ceccaldi (Gérard).


36 Filmpodium für Kinder

Tortuga – Die unglaubliche Reise der Meeresschildkröte Eine Meeresschildkröte durchschwimmt während 20 Jahren die ­Weltmeere, um schliesslich an ihren Geburtsort zurückzukehren und dort selbst wieder Eier zu legen. Woher nur kennt sie den Weg?

TORTUGA – DIE UNGLAUBLICHE REISE DER MEERESSCHILDKRÖTE (Turtle: The Incredible Journey) / Deutschland/GB/Österreich 2009 81 Min / Farbe / Digital HD / D / ab 6 // REGIE Nick Stringer // DREHBUCH Melanie Finn // KAMERA Rory McGuiness // MUSIK Henning Lohner // SCHNITT Sean Barton, Richard Wilkinson // MIT Hannelore Elsner (Erzählerin).

«Geboren an einem Strand im amerikanischen Staat Florida, begibt sich eine kleine Meeresschildkröte auf eine aufregende Reise. Grosses Glück, wenn sie es bis ins Wasser schafft. (…) Es ist eine gefährliche Reise für die Meeresschildkröte, denn nicht nur vor Raubtieren, auch vor Hochseefischern und Plastikmüll muss sie sich in Acht nehmen. (…) Die herrlichen Naturaufnahmen unter Wasser und die vielen Nahaufnahmen der Land- und Meerestiere faszinieren – und lassen die Zuschauer darüber nachdenken, wie man respektvoll mit der Natur umgehen kann.» (kinderfilmwelt.de) KINDERFILM-WORKSHOP Im Anschluss an die Vorstellungen bietet die Filmwissenschaftlerin Julia Breddermann (www.fifoco.ch) einen Film-Workshop an. Die Kinder erleben eine Entdeckungsreise durch die Welt der Filmsprache und werden an einzelne Szenen und Themen des Films herangeführt. Dauer: ca. 45 Min. Das Angebot ist gratis, keine Voranmeldung nötig.


37 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde PRAKTIKUM Andri Erdin // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 412 31 25 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Ascot Elite Entertainment Group, Zürich; British Film Institute, London; Ciné-Club UNIGE, Genf; La Cinémathèque française – Musée du cinéma, Paris; Cineteca di Bologna; Cineteca nazionale, Rom; Cohen Film Collections LLC, Columbus; Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin; EYE Film Institute Netherlands, Amsterdam; Filmmuseum München; Flicker Alley, Los Angeles; Gaumont Pathé Archives, Saint-Ouen; Jupiter-Film GmbH, Wien; Lobster Films, Paris; Look Now!, Zürich; Nadine Luque, London; Bill Morrison, New York; Friedrich-Wilhelm-MurnauStiftung, Wiesbaden; NFA, Prag; Österreichisches Filmmuseum, Wien; Park Circus, Glasgow; Prokino Filmverleih GmbH, ­München; Svenska Filminstitutet, Stockholm; Thomas Sessler Verlag, Wien; trigon-film, Ennetbaden; UCLA Film & Television Archive, Santa Clarita; Warner Bros. Entertainment Switzerland GmbH, Zürich; Warner Bros. UK, London. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS, Zürich // KORREKTORAT Nina Haueter, Daliah Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 6000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // JahrhundertAbo: CHF 50.– (für alle in Ausbildung; freier Eintritt zu den Filmen der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Simone Signoret

Shi Hui

Simone Signoret (1921–1985), als Simone

Im Shanghai der 1940er-Jahre wurde der

Kaminker in Wiesbaden geboren, begann

Schauspieler, Regisseur, Autor und Kritiker

nach dem Zweiten Weltkrieg als Statistin

Shi Hui (1915–1957) als «Kaiser der Bühne»

beim Film und erhielt zunächst vor allem

gefeiert. Bereits in seiner ersten Filmrolle

Rollen als gutherzige Prostituierte oder

im Shanghaier Exilfilm Kinder der Welt

blondes Flittchen, etwa in Dédée d’Anvers

(Shijie ernü; 1941) der österreichischen Film-

unter der Regie ihres ersten Ehemanns Yves

pioniere Luise und Jakob Fleck war seine

Allégret. In Max Ophüls’ La ronde (1950) und

Leinwandpräsenz spürbar. Shi Hui spielte in

Jacques Beckers Casque d’or (1952) erlebte

über 20 Filmen mit und führte Bühnen- und

sie ihren Durchbruch, und an der Seite ihres

Filmregie, bis er 1957 der «Anti-Rechts-

zweiten Gatten Yves Montand reifte sie zur

Kampagne» zum Opfer fiel. Seine Filme ge-

politisch engagierten Charakterdarstellerin,

ben Einblick in das Filmschaffen und das po-

in Filmen wie René Cléments Le jour et

litische Klima im Shanghai der 40er- und

l’heure (1963), Jean-Pierre Melvilles L’armée

50er-Jahre; Mein Leben (Wo zhe yi beizi; 1950)

des ombres (1969) und Costa-Gavras’ L’aveu

ist heute ein Klassiker der chinesischen

(1970).

Film­geschichte.


AB 31. JANUAR IM KINO

WANU RI KAH I U • KENIA

Jung und rebellisch Erfrischender Groove aus Afrika


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