Filmpodium Programmheft Februar/März 2019

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16. Februar – 24. März 2019

Simone Signoret Retrospektive Shi Hui


Die Reise des Bashô Der neue Film von Richard Dindo

Februar 2019 / Nuovo cinema italiano

www.filmcoopi.ch

Ab 7. März 2019 iM Kino


01 Editorial

Fussball und Sommer zum Trotz Es ist ja nicht so, dass Eintrittszahlen unser höchstes Gut oder unser einziges Erfolgskriterium wären. Helles Kindergelächter an einer Stummfilm-Vorführung für Familien, angeregte Diskussionen mit Filmschaffenden am 4th Arab Film Festival oder begeisterte Rückmeldungen von einzelnen Kinogästen zu wiedergesehenen und neu entdeckten Filmjuwelen sind für uns als Kuratorinnen und Kuratoren eine mindestens so willkommene Bestätigung. Dennoch sind Eintrittszahlen für das Kino im Allgemeinen und für das unsere im Besonderen auch ein Gradmesser für die im Digitalzeitalter nicht mehr garantierte Attraktivität dieses Mediums und unseres Programms. Als öffentliche, von Steuergeldern getragene Institution muss das Filmpodium die Verwendung dieser Gelder rechtfertigen, indem es für sein Service-public-Angebot ein Publikum findet. Es freut uns darum sehr, dass wir unsere Eintrittszahlen im dritten Jahr nacheinander halten konnten, umso mehr als die «gewerbliche» Kinobranche in der Schweiz schmerzhafte Einbussen verzeichnet. 2018 zeigte das Filmpodium in insgesamt 949 Vorstellungen 340 Filme und Kurzfilmprogramme. Besonders erfolgreich liefen die Retrospektiven zu den Schauspielerinnen Jeanne Moreau, Claudia Cardinale und Maggie Smith und «sichere Werte» wie die Hitchcock-Klassiker The Lady Vanishes und ­Rebecca. Auf grosses Echo stiess auch das Stummfilmfestival mit durchschnittlich 80 Zuschauerinnen und Zuhörern, ebenso die Anlässe, mit denen wir ein Publikum ausserhalb des Kreises unserer Stammgäste erreichen wollten, etwa der Big Lebowski-Abend im Februar zur Lancierung unseres JahrhundertfilmAbos für Leute in Ausbildung oder auch das Filmbuff-Quiz. Den Kreis der «usual suspects» zu erweitern gelang uns auch mit dem 4th Arab Film Festival. Umgekehrt machte unserem Publikum erwartungsgemäss bei mehreren Reihen die Tatsache zu schaffen, dass wir praktisch nicht mehr auf die alten, deutsch/französisch untertitelten Verleihkopien der Cinémathèque suisse zurückgreifen können und oft nicht untertitelte Originalversionen präsentieren mussten, was natürlich einen Teil des interessierten Publikums ausschliesst. Umso mehr freuen wir uns, mit der Shi-Hui-Retro im aktuellen Programm nicht nur kaum bekannte Raritäten zu zeigen, sondern diese mit deutschen Untertiteln präsentieren zu können. Nutzen Sie die Gelegenheit und ­tauchen Sie ein in die Filmwelt des Shanghai der 1940er- und 1950er-Jahre. PS: Wegen einer Umbau-Pause dauert dieses Programm nur bis zum 24. März. Corinne Siegrist-Oboussier & Michel Bodmer Titelbild: La ronde von Max Ophüls


02 INHALT

Simone Signoret

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Shi Hui

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Simone Signoret (1921–1985), als ­Simone Kaminker in Wiesbaden geboren, begann nach dem Zweiten Weltkrieg als Statistin beim Film und erhielt zunächst vor allem Rollen als gutherzige Prostituierte oder blondes Flittchen, etwa in Dédée d’Anvers unter der Regie ihres ersten Ehemanns Yves Allégret. Mit Max Ophüls’ Schnitzler-Adaption La ronde (1950) und Jacques Beckers Casque d’or (1952) erlebte sie ihren Durchbruch, und an der Seite ihres zweiten Gatten Yves Montand reifte sie zur politisch engagierten Charakterdarstellerin, in Meisterwerken wie Raymond Rouleaus Les sorcières de Salem (1957), Jean-Pierre Melvilles L’armée des ­ombres (1969) und Costa-Gavras’ L’aveu (1970).

Der vielseitig talentierte Schauspieler, Regisseur und Autor Shi Hui (1915– 1957) war einer der beliebtesten, aber auch umstrittensten Künstler Shanghais. Er spielte in über zwanzig Filmen mit und führte Bühnen- und Filmregie. Nach der Machtübernahme der Kommunistischen Partei 1949 erlitt seine Laufbahn einen Einbruch. 1957 wurde er Opfer der «Anti-Rechts-Kampagne» und nahm sich in der Folge im Alter von 42 Jahren das Leben. Obwohl er 1979 rehabilitiert wurde und sein Film Mein Leben (1950) zu den Klassikern der chinesischen Filmgeschichte gehört, tritt sein Werk erst in den letzten Jahren wieder vermehrt in Erscheinung. Die vorliegende Retro­ spektive ist bisher ausschliesslich im deutschsprachigen Raum zu sehen.

Bild: Room at the Top

Bild: Brief mit Feder


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Das erste Jahrhundert des Films: 1939

22 Filmpodium für Kinder: Der Zauberer von Oz

In prachtvollem Technicolor verzaubern MGM und Victor Fleming das Publikum mit The Wizard of Oz und lassen mit Gone with the Wind den ­alten Süden wiedererstehen. Schwarzweiss, aber ein neuer Star ist John Wayne in John Fords Stagecoach, während Marcel Carné mit Le jour de lève und Jean Renoir mit La règle du jeu Meisterwerke des poetischen Realismus vorlegen. Kenji Mizoguchi erzählt The Story of the Last Chrysanthemum. Bild: Gone with the Wind

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Von Kansas nach Oz und via die gelbe Pflastersteinstrasse wieder zurück – die kleine Dorothy, unterwegs mit der Vogelscheuche, dem Löwen und dem Zinnmann, auf der Suche nach dem Glück. Ein ewiger Familienfilmklas­ siker. Bild: Der Zauberer von Oz

Einzelvorstellungen Francis Reusser: Vive la mort, Seuls IOIC-Soireen: Intolerance, The General CINEMA Buchvernissage Sélection Lumière: Maboroshi no hikari

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Simone Signoret Schön, stark und etwas verrucht – Simone Signoret hatte schon in jungen Jahren eine Ausstrahlung, die sie für Rollen im Halbweltmilieu zu ­prädestinieren schien. Erst allmählich vermochte sie sich von diesem Stereotyp zu befreien, nicht zuletzt mit Projekten, in denen sie ihr ­politisches Engagement einbrachte. Noch im Alter, dessen Spuren sie nie vertuschte, verkörperte sie unvergessliche Filmfiguren. Eine wahre Idylle herrscht in der Eröffnungsszene von Casque d’or (1952): eine sonntägliche Bootspartie, ein Stimmungsbild wie aus alten Zeiten – Belle Époque. Wenn dann aber Simone Signoret auf der Leinwand erscheint, beginnt eine neue Zeitrechnung. Ihr selbstbewusstes Auftreten, ihr amüsierter Blick, ihre Chuzpe – sie ist keine, die sich lange herumkommandieren lässt; schon hat sie sich den Nächsten ausgeguckt und zum Tanz aufgefordert. So fängt eine grosse Liebe an, die zum Scheitern verurteilt ist: die «Hure mit Herz» und der Ex-Gauner, der sich als braver Handwerker bewähren will. «Ein kleiner Mann und eine grosse Frau», schrieb François Truffaut noch Jahre später über das ungleiche Liebespaar Serge Reggiani und Simone Signoret, «ein kleiner, sehniger streunender Kater und eine schöne fleischfressende Pflanze». Misogyne Untertöne waren damals an der Tagesordnung, auch bei den jungen Wilden der Nouvelle Vague. Regisseur Jacques Becker hatte hingegen eine «elegische Abhandlung über sexuelle Gleichberechtigung» im Sinn, ein Novum im konservativen Nachkriegsfrankreich, das im Kino dem «schwarzen Realismus» huldigte und für Frauen lediglich Rollen als Prostituierte übrig hatte. Auch Simone Signoret hatte keine Wahl, aber ihr Charisma war stärker. Dass Casque d’or ihr «schönster» Film gewesen sei, wissen wir spätestens seit Signorets Memoiren («La nostalgie n’est plus ce qu’elle était», dt.: «Ungeteilte Erinnerungen»): Hier konnte die Charakterschauspielerin endlich alle Register ziehen, und das kühn aufgetürmte Blondhaar, der «Goldhelm», setzte ihrer blendenden Schönheit die Krone auf. Zum Glück stand ihr der grosse «kleine Mann» zur Seite, der – zum Entsetzen der französischen Filmwelt – ein neues Männerbild aus dem Ärmel schüttelte: den «Anti-Macho». Zu modern für Kritik und Publikum, die sich noch lange Jahre für verschworene Männerbünde und virile Stars wie Lino Ventura, Paul Meurisse, Jean Gabin, Alain Delon begeistern liessen. Casque d’or, heute ein Klassiker, war nach vier Tagen aus den französischen Kinos verschwunden; im Ausland hin< >

Strahlende Schönheit: Casque d’or Starke Altersrolle: Les granges brûlées


06 gegen, in Rom, Berlin und London, überschlug man sich vor Begeisterung. Der British Film Academy Award, der englische Oscar, war Signorets erster internationaler Preis: die Eintrittskarte zur Weltkarriere. Verführung und Erfahrung Simone Signoret hat einmal gesagt, dass sie zu jenen Schauspielern gehöre, die «keine Methode» hätten, sondern aus ihrem Erfahrungsschatz schöpften. Da gab es Stoff zuhauf. Statt eines Jurastudiums brachen für die 1921 in Wies­ baden geborene Halbjüdin im besetzten Frankreich schwere Zeiten an. Der katholische Name ihrer Mutter half ihr bei der Suche nach Arbeit, um die ­Familie zu ernähren. Der Vater mit dem jüdisch-polnischen Familiennamen Kaminker verbrachte die Kriegsjahre im Londoner Exil. Das Pariser Café de Flore, damals Treffpunkt verarmter Linksintellektueller, wurde für Signoret zur neuen Heimat. Dort traf sie auf Gleichgesinnte wie den Filmemacher Yves Allégret, den sie später heiratete. Ihre erste Hauptrolle in seinem Film Dédée d’Anvers (1948) war ihr gleichsam auf den Leib geschrieben: eine französische Rita Hayworth in einem tiefschwarzen Film, der mit einem erbarmungslosen Showdown im Morgengrauen endet. Bis zu ihrem Oscar-Film Room at the Top (Jack Clayton, 1959) bestimmten schwarze Rollen und fatale Verhältnisse ihre Filmarbeit, aber alle beförderten nur ihren Starruhm. Erst nach ihrer Heirat mit Yves Montand 1951 trat sie stärker als politische Person an die Öffentlichkeit. Für Thérèse Raquin (Marcel Carné, 1953) wurde Emile Zolas Roman so umgeschrieben, dass der Wandel von der züchtigen, duldsamen Krämersfrau zur kämpfenden Liebenden und Mordkomplizin Signorets sinnliche Qualitäten richtig ins Bild setzen konnte, sie jedoch nie als verwerfliche Gestalt erscheint. Selbst im Welterfolg Les diaboliques (Henri-Georges Clouzot, 1955) mit über drei Millionen Eintritten allein in Frankreich, in dem sie mit cooler Sonnenbrille, Etuikleid, schneidender Stimme und abgrundtiefer Boshaftigkeit als Femme fatale auftritt, scheint im Umgang mit ihrer Rivalin ein eher versöhnlicher, erotischer Unterton auf, wogegen das ehebrecherische Liebesverhältnis zugunsten der Horroreffekte in den Hintergrund tritt. Ganz anders die grosse Liebende im englischen Klassendrama Room at the Top, eine unglücklich verheiratete Frau mit zweifelhaftem Ruf, die sich in einen Aufsteiger aus der Arbeiterklasse verliebt. Es heisst, dass Regisseur Clayton im ganzen Land keine britische Aktrice aufspüren konnte, die in die Rolle der älteren, aber klugen und glamourösen Verführerin hätte schlüpfen können. Verführerischer war Simone Signoret tatsächlich nie: ihre erblühte Schönheit und Sinnlichkeit in Grossaufnahme, ihr hingebungsvoller Blick, ihr in jeder Faser sichtbares Begehren. Einmal mehr überzeugt die Schauspielerin mit einer Ausdruckskraft, die sie mit ihrem nuancierten minimalistischen Spiel hervorbringt: Jede Geste zählt, jeder Blick spricht Bände. Dialoge sind Zutat.


07 S­ imone Signoret ist immer authentisch, versteckt nie ihr wahres Alter, auch hier nicht. Ende dreissig, das war damals ihr Lebensalter. Mut zur Hässlichkeit Simone Signoret war immer gross. Ihre Leinwandpräsenz liess auch im Alter nicht nach, als die strahlende Schönheit verblasste und ihre Figur fülliger wurde. Sie benutzte, zelebrierte geradezu ihren körperlichen Verfall bis zur Hässlichkeit. Sie drehte mehr Filme als je zuvor, spielte bedeutende Rollen und achtete vermehrt auf die politische Botschaft der Stoffe, die oft einen Bezug zu ihrem Leben hatten. Eine «Condesa», die Gewehre an die ausgebeuteten Landarbeiter verteilt und zur Rebellion aufruft: Die Romanverfilmung Ship of Fools (Stanley Kramer, 1965) nach dem Welterfolg von Katherine Anne Porter wirkt in ihrer episodischen Erzählweise zwar veraltet, nicht aber mit dem ungewöhnlichen Aussenseiterpaar Oskar Werner und Simone Signoret. Auch hier, wie in so gut wie jeder Rolle, spielt sie die Verlassene, die Verzichtende, die Verliererin, ohne jemals die Haltung aufzugeben. Sie stellte sich sogar einer Rolle wie La veuve Couderc (Pierre Granier-Deferre, 1971) an der Seite des wesentlich jüngeren Alain Delon, der ihr erst in der Sterbeszene, als von Kugeln durchlöcherter jüdischer Märtyrer, die Show einer immer noch sexuell aktiven Frau stehlen kann. Wenig beachtet wurde dagegen ihr kurzer Auftritt in L’aveu (Costa-Gavras, 1970) als Ehefrau des inhaftierten und ­beinahe zu Tode gefolterten tschechischen Politikers Artur London (Yves Montand), für Signoret wohl eher ein «Solidaritätsbeitrag» – die Rolle einer Frau, die sich öffentlich von ihrem Mann lossagt, hätte sie sonst kaum übernommen. Zu ihren umstrittenen Filmen gehört auch La vie devant soi ­(Moshé Mizrahi, 1977) mit einem Plot, der alle nur denkbaren melodramatischen ­Register zieht, mittendrin eine Matrone, ein Ungetüm von Frau, eine «alte Hure», die alle Verletzungen ­einer jüdischen Existenz im 20. Jahrhundert überlebt hat und doch wieder lächeln kann. Es ist der befremdliche Zauber ­einer Unverwüstlichen, die sich zuletzt in die Groteske gerettet hat. Simone Signoret hat von Film zu Film immer wieder dem Tod ins Auge geschaut. Wie eine Heldin vor der Kamera gestorben ist sie jedoch nur in ihrer vielleicht bedeutendsten Rolle als Résistancekämpferin Mathilde in L’armée des ombres (Jean-Pierre Melville, 1969), Aug’ in Auge mit ihrem engsten Vertrauten, der zum Vollstrecker wird. Ein Gnadenschuss? Ihr angstvoller oder doch vor Ungläubigkeit, in völliger Überraschtheit sich weitender Blick aus grossen blauen Augen sagt etwas anderes. Marli Feldvoss Marli Feldvoss, Filmkritikerin und Publizistin aus Frankfurt am Main, schreibt seit über dreissig Jahren über Film, Literatur und Kulturereignisse, lange Jahre bei FAZ und NZZ, epd Film und Filmbulletin u. v. a. und arbeitet auch für Radio und Fernsehen.


> Adua e le compagne .

> Dédée d’Anvers .

> Macadam .

> Les sorcières de Salem .


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Simone Signoret

MACADAM Frankreich 1946 In Montmartre führt die schillernde Madame Rose das schäbige Hotel Bijou und lässt ihre Tochter Simone als Zimmermädchen schuften. Simone verguckt sich in den Strassenhändler François, aber der hat nur Augen für die Lebedame Gisèle. Doch diese ist eine Komplizin des eiskalten Ganoven Victor, der mit Rose schon ­einige Dinge gedreht hat. Als Gisèle sich in François verliebt und Rose versucht, Victor übers Ohr zu hauen, spitzen sich die Dinge mörderisch zu. Altmeister Jacques Feyder übernahm bei diesem Film noir die künstlerische Leitung; Regie führte Marcel Blistène. «Mit seinem derben, geradewegs burlesken Humor erinnert Macadam teils noch an den französischen Vorkriegsfilm und weist mit seiner neuen Generation aufstrebender Schauspieler – namentlich Meurisse und Signoret als skrupelloses Betrügerpaar – bereits in die 50er-Jahre. (...) Die junge Simone Signoret spielt die Rolle der vollends abgebrühten Edelprostituierten Gisèle mit dem auch später für sie so typischen unverkrampften Esprit.» (Matthias Merkelbach, der-filmnoir.de) «Ich hatte in Macadam mitgespielt, weil die Rolle der Hure unbesetzt war: Hätte es darin eine Rolle als Laborantin oder Nonne gegeben, hätte ich versucht, mir die Laborantin oder die Nonne zu schnappen! Zufällig war ich in der Rolle als Hure sehr gut.» (Simone Signoret: Ungeteilte ­Erinnerungen, Heyne 1979) 100 Min / sw / Digital SD / F // REGIE Marcel Blistène, Jacques Feyder // DREHBUCH Jacques Viot // KAMERA Louis Page // MUSIK Marguerite Monnot, Jean Wiener // SCHNITT Isabelle Elman // MIT Françoise ­Rosay (Madame Rose), Andrée Clément (Simone), Simone ­ Signoret (Gisèle), Paul Meurisse (Victor Ménard), Jacques Dacqmine (François), Félix Oudart (L’Hertier).

DÉDÉE D’ANVERS Frankreich 1948 Das Animiermädchen Dédée verliebt sich in einer Hafenkneipe von Antwerpen, wo ihr Zuhälter Marco als Portier arbeitet, in den italienischen Kapitän Francesco, der sich mit Waffenschmuggel beschäftigt. Dédée und Francesco beschliessen, die Stadt gemeinsam zu verlassen, aber Marco will seine Einnahmequelle nicht verlieren. «Die Prostituierte, eine Schlüsselfigur des französischen Kinos, ist wohl als einzige nie von der Leinwand verschwunden. Dazu gehören diejenigen in Macadam und insbesondere in Dédée

d’Anvers, verkörpert von Simone Signoret. Die Hure symbolisiert das ‹glücklose Mädchen›, das vom Schicksal gebrandmarkt ist, im Gegensatz zu den bürgerlichen Ludern (wie in Manèges, ebenfalls Simone Signoret), die sich mit Herz und Geist prostituieren.» (François Guérif: Le cinéma policier français, Henri Veyrier 1981) «Was ich nicht verstand – es kam mir überhaupt nicht in den Sinn –, war, dass die Leute Dédée deswegen so gerne hatten, weil die Arme so viel Pech hatte, so sanftmütig und grosszügig war, letztendlich ein pures Opfer der Gesellschaft. Wenn ich das verstanden hätte, hätte ich nur noch sympathische Rollen gespielt. Und damit hätte ich mich um grosse Freuden ge­ bracht.» (Simone Signoret) 85 Min / sw / Digital SD / F // REGIE Yves Allégret // DREHBUCH Jacques Sigurd, Yves Allégret, nach dem R ­ oman von Ashelbé // KAMERA Jean Bourgoin // MUSIK J ­ acques Besse // SCHNITT Léonide Azar // MIT Bernard Blier (Monsieur René), Simone Signoret (Dédée), Marcello Pagliero (Francesco), Marcel Dalio (Marco), Marcel Dieudonné (Drogenhändler), Mia Mendelson (flämische Prostituierte).

LA RONDE Frankreich 1950 «Schnitzlers Bühnenstück (1900), skandalum­ wittert nicht nur bei der szenischen Uraufführung – von Ophüls zu einem morbid-zynisch-fröhlichen Film der ‹Untergangsstimmung› geformt. Der ‹Reigen› der sich treffenden und wieder verlassenden Partner in der Wiener Bourgeoisie an der Wende zum 20. Jahrhundert ist atmosphärisch dicht und überzeugend in einem Bild lächelnder Leichtigkeit und koketten Charmes inszeniert. Die Musik von Oscar Straus unterstreicht den ­musikalischen Charakter der Dramaturgie. Auch sprachlich ein aussergewöhnliches Kunstwerk. Selten zuvor oder nachher sind so viele heraus­ ragende Schauspieler zusammengekommen.» (Filmpodium, Juli 1993) «Ophüls’ Ringelreihen um Liebe und Verführung ist unwiderstehlich. Er schmückt Schnitzlers Text mit Metaphern aus, die ganz und gar von ihm stammen (ein Karussell; ein allwissender Erzähler/­ Zeremonienmeister, den man manchmal tatsächlich dabei sieht, wie er die Zelluloidgeschichten zusammenfügt; und jener perfekte Ausdruck des Ophüls’schen Kreises, der Walzer).» (Rod Mc­Shane, Time Out Film Guide) 110 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Max Ophüls // DREHBUCH Jacques Natanson, Max Ophüls, nach dem Theaterstück von Arthur Schnitzler // KAMERA Christian Matras // MUSIK ­Oscar Straus // SCHNITT Léonide Azar // MIT Anton Walbrook


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Simone Signoret [=Adolf Wohlbrück; der Spielleiter), Simone Signoret (Léocadie, die Dirne), Serge Reggiani (Franz, der Soldat), Simone ­Simon (Marie, die Zofe), Daniel Gélin (Alfred, der junge Mann), Danielle Darrieux (Emma Breitkopf), Fernand Gravey (Charles Breitkopf, ihr Ehemann), Odette Joyeux (Anna, die Grisette), Jean-Louis Barrault (Robert Kuhlenkampf, der Poet), Isa Miranda ­(Charlotte, die Schauspielerin), Gérard Philipe (der Graf), Jean Clarieux (der Brigadier).

CASQUE D’OR Frankreich 1952 Marie gefällt dem Tischler Georges, aber der ­Ganove Leca und der Zuhälter Roland wollen sie nicht freigeben. «Simone Signorets beste Rolle (bis zu Room at the Top) war eine Gigolette mit einem prachtvollen Helm aus goldenem Haar in Jacques Beckers lustvollem poetischen Porträt der Pariser Unterwelt von 1900. Ihre Darbietung ist ein Triumph der Sinnlichkeit: Mit ihrem sanften Lächeln strahlt sie eine so intensive, reife Körperlichkeit aus, dass sie die Leinwand dominiert. Becker stellt uns eine Welt voller Halsabschneider, Apachen und Gangsterbräute vor und erzeugt dann auf subtile Weise eine Atmosphäre, die ihren Rivalitäten und Intrigen Bedeutung und Leidenschaft – und eine Überdosis Unheil – verleiht. Die Liebesszenen zwischen ­Signoret und Reggiani sind ungewöhnlich schlicht und zärtlich; vielleicht wirkt deswegen der grimmige Schluss fast unerträglich schmerzhaft.» (Pauline Kael: 5001 Nights at the Movies, Marion Boyars 1993) 96 Min / sw / Digital HD / F/d // REGIE Jacques Becker // DREHBUCH Jacques Becker, Jacques Companéez // K ­ AMERA Robert Lefebvre // MUSIK Georges Van Parys // SCHNITT Marguerite Renoir // MIT Simone Signoret (Marie, «Casque d’or»), Serge Reggiani (Georges Manda), Claude Dauphin ­(Félix Leca), Raymond Bussières (Raymond), Gaston Modot (Danard), Loleh Bellon (Léonie, seine Tochter), William Sabatier (Roland Dupuis), Paul Barge (Inspektor Juliani).

LES DIABOLIQUES Frankreich 1955 «Ort der Handlung ist eine französische Provinzschule für Knaben; die Frau des Schulleiters und seine Mätresse verschwören sich, um ihn zu ermorden. Das klingt simpel, aber die Figuren wirken furchtbar hintergründig und man spürt Untertöne von seltsamen, verdorbenen Genüssen und Strafen. Laut dem Regisseur Henri-Georges Clouzot ‹wollte ich nur mich selbst amüsieren und das kleine Kind, das in unser aller Herzen schläft – jenes Kind, das den Kopf unter der Bettdecke versteckt und bettelt: Papa, Papa, mach mir Angst!›

Das tut Clouzot allerdings.» (Pauline Kael) «Les diaboliques dient Clouzot als Vehikel, um im Rahmen eines beliebten Genres – in dem Exzesse erlaubt sind, da die Transgression darin als Ausgangspunkt gilt – ein rabenschwarzes Werk weiterzuspinnen, das die Absurdität und die Grausamkeit einer Welt spiegelt, die von der Gewalt in gesellschaftlichen Beziehungen geprägt ist.» (François Guérif) 110 Min / sw / Digital HD / F/d // REGIE Henri-Georges ­Clouzot // DREHBUCH Henri-Georges Clouzot, Jérôme ­Géronimi, René Masson, Frédéric Grendel, nach dem Roman «Celle qui n’était plus» von Pierre Boileau, Thomas Narcejac // KAMERA Armand Thirard // MUSIK Georges Van Parys // SCHNITT Madeleine Gug // MIT Simone Signoret (Nicole ­Horner), Véra Clouzot (Christina Delassalle), Paul Meurisse (Michel Delassalle), Charles Vanel (Kommissar Alfred Fichet), Pierre Larquey (Monsieur Drain), Michel Serrault (Monsieur Raymond, der Aufseher), Jean Brochard (Plantiveau).

LES SORCIÈRES DE SALEM Frankreich/DDR 1957 In Salem, Massachusetts, wird eine Gruppe junger Mädchen der Hexerei verdächtigt. Um sich selbst zu retten, denunzieren sie andere Mitglieder der Gemeinde. Abigail Williams, die mit dem Bauern John Proctor eine Affäre hatte, dann aber von ihm verschmäht wurde, bezichtigt aus Rachsucht seine fromme Frau Elizabeth der Hexerei. Arthur Millers Stück «The Crucible» beruht auf den historischen Salem Witch Trials von 1692, wurde von ihm aber als Allegorie auf die anti­ kommunistische Hexenjagd der McCarthy-Zeit gestaltet – so tragen die fiktionalisierten Proctors Vornamen mit den gleichen Initialen wie Julius und Ethel Rosenberg, die 1953 als angebliche Spione hingerichtet wurden. Yves Montand und Simone Signoret hatten das Ehepaar Proctor ­ schon lange und mit Erfolg in einer von Marcel Aymé adaptierten Fassung des Stücks auf der Bühne gespielt; der Regisseur dieser Inszenierung, Raymond Rouleau, wurde daraufhin verpflichtet, eine Verfilmung zu drehen, aufgrund eines Drehbuchs, das Jean-Paul Sartre in Absprache mit Arthur Miller verfasst und politisch zusätzlich geschärft hatte. (mb) 146 Min / sw / DCP / F/e // REGIE Raymond Rouleau // DREHBUCH Jean-Paul Sartre, Marcel Aymé, nach dem Bühnenstück «The Crucible» von Arthur Miller // KAMERA Claude Renoir // MUSIK Hanns Eisler, Georges Auric // SCHNITT Marguerite Renoir // MIT Simone Signoret (Elizabeth Proctor), Yves Montand (John Proctor), Jean Debucourt ­ ­(Pfarrer Parris), Alfred Adam (Thomas Putnam), Pierre Larquey (Francis Nurse), Mylène Demongeot (Abigail Williams).


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Simone Signoret

ROOM AT THE TOP GB 1959 «Joe ist ein aggressiver junger Emporkömmling, ein Mann aus den Slums, der die Klassenstruktur durchbrechen und ins Establishment aufsteigen will. Der Film hat geholfen, Erwachsene zurück ins Kino zu locken – zum Teil zweifellos wegen der ungewöhnlich intelligenten Darstellung von Joes Trieben und den ungewöhnlich unverblümten Dialogen, vor allem aber wegen der grossartigen Liebesszenen zwischen Laurence Harvey und ­Simone Signoret. Sie ist wunderbar als die ältere Frau, die er liebt, aber seinem Ehrgeiz opfert. Ihre Sinnlichkeit steht im Kontrast zu der jungfräulichen Oberflächlichkeit von Heather Sears in der Rolle des Mädchens, das er heiratet.» (Pauline Kael) «Der Film hat einen wichtigen Pluspunkt: ­Simone Signoret, die für diese Rolle in Cannes den grossen Preis für die beste Darstellerin bekam. Schöner denn je, spielt sie mit ungeheurer Intelligenz. Es genügt zu sehen, wie sie vor dem Spiegel ängstlich die Falten unter ihrer Schminke erahnt oder verzweifelt und sprachlos in der Ecke einer Kneipe sitzt, um zu verstehen, dass wir es hier mit einer jener aussergewöhnlichen Kreaturen zu tun haben, die von Asta Nielsen über Greta Garbo und Marlene Dietrich bis zur Magnani die Geschichte der siebten Kunst prägen.» (Freddy Buache: Le cinéma anglais, L’Age d’Homme 1978) 117 Min / sw / DCP / E // REGIE Jack Clayton // DREHBUCH Neil Paterson, nach dem Roman von John Braine // KAMERA Freddie Francis // MUSIK Mario Nascimbene // SCHNITT Ralph Kemplen // MIT Simone Signoret (Alice Aisgill), Laurence Harvey (Joe Lampton), Heather Sears (Susan ­ Brown), Donald Wolfit (Mr. Brown), Ambrosine Phillpotts (Mrs. Brown).

ADUA E LE COMPAGNE Italien 1960 1958 tritt in Italien das sogenannte Merlin-Gesetz in Kraft: Die staatlich lizenzierten Bordelle müssen schliessen, und die Prostituierten sollen fortan – angeblich mit polizeilich bereinigtem Leumund – anständige Berufe ausüben. Die reifere Dirne Adua und ihre Kolleginnen Marilina, Lolita und Milly beschliessen, gemeinsam eine Trattoria aufzumachen. Der Wechsel ihres Lebens­ wandels geht nicht problemlos vonstatten, zumal ein windiger Geschäftsmann und ein skrupelloser Anwalt die Frauen auszunützen versuchen. Aufgrund eines Drehbuchs, an dem Ettore Scola und Tullio Pinelli mitgearbeitet haben, schildert Antonio Pietrangeli nüchtern, aber nicht

ohne Humor, wie die Versuche des Prostituiertenquartetts, als brave Bürgerinnen ein Leben aufzubauen, an der Bigotterie der Gesellschaft, der Verlogenheit der Staatsgewalt und dem Machtgebaren der Männer scheitern. Neben Simone ­Signoret, die trotz italienischer Synchronstimme brilliert, überzeugen auch Emmanuelle Riva, Sandra Milo und Gina Rovere als unterschiedliche Frauen, die sich neu zu erfinden versuchen; ­Marcello Mastroianni versucht als smarter Windhund Piero, Adua den Kopf zu verdrehen. (mb) 119 Min / sw / DCP / I/f // REGIE Antonio Pietrangeli // DREHBUCH Ruggero Maccari, Ettore Scola, Antonio Pietrangeli // KAMERA Armando Nannuzzi // MUSIK Piero Piccioni // SCHNITT Eraldo Da Roma // MIT Simone Signoret (Adua ­Giovannetti), Sandra Milo (Lolita), Emmanuelle Riva ­(Marilina), Gina Rovere (Caterina Zellero, «Milly»), Marcello Mastroianni (Piero Salvagni), Claudio Gora (Ercoli), Ivo Garrani (Anwalt), Gianrico Tedeschi (Stefano).

LE JOUR ET L’HEURE Frankreich/Italien 1963 Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Thérèse ­Dutheil, eine grossbürgerliche Pariserin, deren Mann in deutscher Kriegsgefangenschaft sitzt, sieht sich gezwungen, den abgestürzten ameri­ kanischen Piloten Morley bei sich zu verstecken, und begleitet ihn auf der Reise nach Toulouse, wo er hofft, ausser Landes zu kommen. Auf der Flucht vor der Gestapo kommen sich die beiden näher. «Schritt für Schritt zeigt Le jour et l’heure die visuelle Zauberkunst des Regisseurs, René Clément. Allein als Thriller betrachtet (...) ist der Film verblüffend solide und brillant gemacht. (...) Unter Einsatz einer komplexen Galerie von Nebenfiguren, pro-Nazi und anti-Nazi, gestalten Clément und ein grossartiger Kameramann eine ungewohnt vielfältige und prickelnde Verfolgungsjagd.» (Howard Thompson, The New York Times, 20.2.1964) «Simone Signoret überzeugt als teilnahmslose, desillusionierte Frau, die endlich von wachsender Liebe wachgerüttelt wird.» (Gene Moskowitz, ­Variety, 27.3.1963) 110 Min / sw / 35 mm / F + E // REGIE René Clément // DREHBUCH André Barret, René Clément, Roger Vailland, Clement Biddle Wood // KAMERA Henri Decaë // MUSIK Claude ­Bolling // SCHNITT Fedora Zincone // MIT Simone Signoret (Thérèse Dutheil), Stuart Whitman (Capt. Allan Morley), ­Geneviève Page (Agathe Dutheil), Michel Piccoli (Antoine), Reggie Nalder (Gestapo-Mann), Billy Kearns (Pat Riley), ­Marcel Bozzuffi (Inspektor Lerat), Pierre Dux (Kommissar Marboz).


> Le jour et l’heure.

> L’armée des ombres.

> Ship of Fools.

> Police Python 357.

> L’aveu.

> La vie devant soi.


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Simone Signoret

SHIP OF FOOLS USA 1965 Ein deutsches Kreuzfahrtschiff fährt 1933 von Veracruz nach Bremerhaven. In Kuba liest es eine grosse Schar spanischer Landarbeiter auf, die ­repatriiert werden sollen, und La Condesa, eine spanische Gräfin, die sich für die Unterdrückten engagiert hat und nun nach Teneriffa verbannt wird. Der Schiffsarzt Schumann, der die politischen Entwicklungen in seiner Heimat, die auch auf die Besatzung und die Passagiere des Schiffs abgefärbt haben, mit Sorge betrachtet, nimmt sich der drogensüchtigen Gräfin an und verliebt sich in sie. Katherine Anne Porters Romansatire über einen Mikrokosmos von lebensuntauglichen Menschen zur Zeit des aufkeimenden Nationalsozialismus ist von Stanley Kramer als Ensemble-Stück inszeniert worden, mit Stars von Vivien Leigh (in ihrer letzten Rolle) bis zu Heinz Rühmann. Signoret und ihr Partner Oskar Werner wurden für ihre einfühlsame Darstellung eines ungewöhnlichen Liebespaars für den Oscar nominiert. (mb) 149 Min / sw / Digital HD / E/d // REGIE Stanley Kramer // DREHBUCH Abby Mann, nach dem Roman von Katherine Anne Porter // KAMERA Ernest Laszlo // MUSIK Ernest Gold // SCHNITT Robert C. Jones // MIT Vivien Leigh (Mary Treadwell), Simone Signoret (La Condesa), José Ferrer (Siegfried Rieber), Lee Marvin (Bill Tenny), Oskar Werner (Dr. Wilhelm Schumann), Elizabeth Ashley (Jenny), George Segal (David), Heinz Rühmann (Julius Löwenthal).

L’AVEU Frankreich/Italien 1970 1952 wird der tschechoslowakische Untersekre­tär für auswärtige Angelegenheiten Artur London im Zuge des sogenannten Slansky-Prozesses vor Gericht gestellt. Die stalinistischen Kräfte haben ihn und ein Dutzend andere führende Kommunisten zu Verrätern erklärt. «L’aveu, in dem Yves Montand Artur London spielt und Simone Signoret dessen Frau Lise, handelt von einem Gläubigen, der endgültig von seinem Glauben verraten wird, von unerträglicher körperlicher Folter und psychologischer Quälerei (London wird dazu gedrängt, Verbrechen zu gestehen, die er nicht begangen hat, um seine Loyalität gegenüber der Partei zu beweisen) und schliesslich vom Überleben. Es ist ein erschütternder Film über intellektuelle und emotionale Qual, dramatisiert mit den atemlosen Mitteln des Melodramas.» (Vincent Canby, The New York Times, 10.12.1970)

«Costa-Gavras’ wunderschön detaillierte Demonstration, wie die Häftlinge der stalinistischen Schauprozesse in der Tschechoslowakei 1952 gezwungen wurden, fiktive Verbrechen zu gestehen. Ein grossartiger, vernachlässigter Filmstoff, intelligent präsentiert.» (Pauline Kael) «L’aveu ist ein antistalinistischer Film. Wenn man darin am Ende Aufnahmen von Panzern in den Strassen Prags sieht, so ist das kein Regieeinfall, sondern es sind Wochenschauaufnahmen; wenn man auf einer Leinwand liest: ‹Lenin, wach auf, sie sind verrückt geworden›, ist das keine Erfindung des Drehbuchautors, sondern die ­ Übersetzung einer Inschrift in den Strassen von Prag.» (Simone Signoret) 139 Min / Farbe / DCP / F // REGIE Costa-Gavras // DREHBUCH Jorge Semprún, nach dem Buch von Artur L ­ ondon, Lise London // KAMERA Raoul Coutard // MUSIK G ­ iovanni Fusco // SCHNITT Françoise Bonnot // MIT Yves Montand (Gérard), Simone Signoret (Lise), Gabriele Ferzetti (Kohoutek), Michel Witold (Smola), Jean Bouise (Fabrik­leiter), László Szabó (Geheimpolizist).

L’ARMÉE DES OMBRES Frankreich/Italien 1969 Frankreich, 1942. Philippe Gerbier, Anführer einer Résistance-Truppe, wird in ein KZ gesteckt, kann aber seinen Häschern entkommen. In der Folge versuchen die Widerstandskämpfer, Verräter in den eigenen Reihen zu eliminieren und inhaftierte Kampfgefährten zu befreien, wobei sie sich selbst in Lebensgefahr begeben. Melville, einst selbst Mitglied der Résistance, schildert deren Aktivitäten in seiner Verfilmung des Buchs von Joseph Kessel mit Nüchternheit und Lakonie. Selten waren wahre Helden menschlicher, fehlbarer und einfühlsamer. «Frauen spielen in dieser Welt keine grosse Rolle, mit wenigen Ausnahmen. (...) Sich auf ­Melvilles möglichen Sexismus zu fixieren, hiesse aber, die Frauen, die doch in seinen Filmen auftauchen, zu ignorieren, wie etwa die entschlossene Widerstandskämpferin, die Simone Signoret in L’armée des ombres verkörpert.» (Manolah Dargis, The New York Times, 28.4.2006) «Und dann ist da Mathilde, die Tapferste von allen. Sie ist von mittlerem Alter und trostlos gekleidet und hat einen unerschütterlichen Willen, der einer Äbtissin gut anstünde.» (Anthony Lane, The New Yorker, 8.5.2006) 143 Min / Farbe / 35 mm / F + E + D/d/f // REGIE Jean-Pierre Melville // DREHBUCH Jean-Pierre Melville, nach dem Roman von Joseph Kessel // KAMERA Pierre Lhomme // MUSIK Eric de Marsan // SCHNITT Françoise Bonnot // MIT Lino


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Simone Signoret ­Ventura (Philippe Gerbier), Simone Signoret (Mathilde), Paul Meurisse (Luc Jardie), Jean-Pierre Cassel (Jean-François Jardie), Serge Reggiani (Friseur), Paul Crauchet (Félix), Claude Mann (Claude Ullmann, genannt «Le Masque»), ­Christian Barbier (Guillaume Vermeer, genannt «Le Bison»).

LES GRANGES BRÛLÉES Frankreich/Italien 1973 Die Leiche einer jungen Frau wird in der winterlichen Region Doubs gefunden, unweit des Gehöfts «Les granges brûlées» von Rose, einer Bäuerin, die ihre Familie fest im Griff hat. Die Ankunft des Untersuchungsrichters Larcher, der Roses Sohn Paul der Tat verdächtigt, lässt ihre Welt aus den Fugen geraten. Als Roses Tochter Françoise ist Signorets ­eigene Tochter Catherine Allégret zu sehen. «Das prachtvolle Leinwandpaar Alain Delon und Simone Signoret, durch den ausgezeichneten La veuve Couderc unsterblich gemacht, trifft vor der Kamera wieder in einer Geschichte zusammen, die gut bodenständig riecht und auf halber Strecke zwischen Psychodrama und Krimi anzusiedeln ist. (...) Simone Signoret bestätigt einmal mehr ihre magnetische Präsenz in dieser massgeschneiderten Rolle: Als wahres Familienoberhaupt von gestählter Persönlichkeit verdrängt sie alle anderen Darsteller mit ihrem umwerfenden Spiel. Nebenbei behandelt der Film mit einigem Scharfsinn das Phänomen der Landflucht. (...) Die sehr spezielle Musik von Jean-Michel Jarre, die in völligem Gegensatz zur schlichten Inszenierung steht, dient als moderner Kontrapunkt.» (Virgile Dumez, avoir-alire.com, 16.8.2010) 95 Min / Farbe / 35 mm / F // REGIE Jean Chapot // DREHBUCH Jean Chapot, Sébastien Roulet, nach einer Idee von Franz-André Burguet, Jean Chapot // KAMERA Sacha Vierny // MUSIK Jean-Michel Jarre // SCHNITT Hélène Plemiannikov // MIT Alain Delon (Untersuchungsrichter Pierre Larcher), Simone Signoret (Rose), Paul Crauchet (Pierre), Bernard Le Coq (Paul), Christian Barbier (Gendarm), Pierre Rousseau (Louis), Miou-Miou (Monique), Jean Bouise (Journalist), ­Catherine Allégret (Françoise).

POLICE PYTHON 357 Frankreich/BRD 1976 Der einzelgängerische Polizeiinspektor Ferrot begegnet der jungen Fotografin Sylvia und beginnt mit ihr eine Affäre, ohne zu wissen, dass sie die Geliebte seines Chefs, Kommissar Ganay, ist. Als Ganay merkt, dass er einen Nebenbuhler hat, bringt er Sylvia um und betraut Ferrot mit den Ermittlungen in diesem Mordfall, ohne zu ahnen, dass der Inspektor sein Rivale war. Ferrot, der in Sylvias

Wohnung Spuren hinterlassen hat, muss erleben, wie er selbst unter Verdacht gerät und sich die Schlinge um ihn immer enger zusammenzieht. Kenneth Fearings Roman «The Big Clock», 1948 mit Ray Milland verfilmt, diente 1987 auch als Grundlage für Roger Donaldsons Thriller No Way Out mit Kevin Costner. In Alain Corneaus Adaption verkörpert Simone Signoret die gelähmte, schwerreiche Frau des Mörders Ganay, die dessen Untreue akzeptiert und ihn vor seiner gerechten Strafe zu bewahren sucht – nicht unähnlich der Lady Macbeth, die Signoret 1966 in London auf der Bühne gespielt hatte. (mb) 128 Min / Farbe / 35 mm / F/d // REGIE Alain Corneau // DREHBUCH Daniel Boulanger, Alain Corneau, nach dem ­Roman «The Big Clock» von Kenneth Fearing // KAMERA ­Étienne Becker // MUSIK Georges Delerue // SCHNITT MarieJosèphe Yoyotte // MIT Yves Montand (Inspektor Marc Ferrot), François Périer (Kommissar Ganay), Simone Signoret (Thérèse Ganay), Stefania Sandrelli (Sylvia Leopardi), Matthieu Carrière (Inspektor Ménard), Vadim Glowna (Inspektor Abadie).

LA VIE DEVANT SOI Frankreich 1977 Madame Rosa, eine alte jüdische Ex-Prostituierte, kümmert sich in ihrer Wohnung um die ­Kinder anderer Huren und gibt ihre Schützlinge nach und nach ab. Einzig Momo, ein Moslemjunge, bleibt ihr erhalten und wächst zu ihrem Freund und Vertrauten heran. Doch er will das Geheimnis seiner Herkunft wissen, und dessen Enthüllung stellt das Verhältnis der beiden Aussenseiter auf eine schwere Probe. «Wie Simone Signoret sie spielt, ist Madame Rosa eine umwerfende Figur, ein überwältigender Berg von ausgelatschtem Fleisch, dessen Arterien verkalken, dessen Fussknöchel einknicken und dessen Lungen weniger verlässlich sind als ein Paar uralte Luftschläuche. Madame Rosa ist müde. Sie ist kurz davor, zu sterben, und sie hat Angst, nicht vor dem, was nach dem Tod kommt – sie ist zäh genug, dem zu trotzen, bis auf einige Augenblicke in der Nacht –, sondern vor dem, was aus ihrem letzten Pensionsgast werden wird, dem ernsten, vorzeitig reifenden Araberjungen Momo.» (Vincent Canby, The New York Times, 19.3.1978) Signoret gewann für diese Rolle den César. 105 Min / Farbe / 35 mm / F + E/d // REGIE Moshé Mizrahi // DREHBUCH Moshé Mizrahi, nach dem Roman von Émile Ajar // KAMERA Néstor Almendros // MUSIK Dabket Loubna, ­Philippe Sarde // SCHNITT Sophie Coussein // MIT Simone ­Signoret (Madame Rosa), Michal Bat-Adam (Nadine), Samy Ben-Youb (Momo), Gabriel Jabbour (Monsieur Hamil), Geneviève Fontanel (Maryse), Bernard Lajarrige (Louis Charmette).


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Retrospektive Shi Hui In Shanghai wurde Shi Hui (1915–1957) als «Kaiser der Bühne» gefeiert: Er spielte in über zwanzig Filmen, führte Regie in Film und Theater und engagierte sich in verschiedenen Funktionen in der Shanghaier Theaterund Filmwelt. Die Retrospektive im Filmpodium präsentiert Shi Hui sowohl als Regisseur wie als herausragenden Schauspieler und gibt gleich­zeitig einen Einblick in das Shanghaier Filmschaffen der 1940er- und 1950erJahre. Shi Hui (Shi Yutao) wurde 1915 in Tianjin als viertes von fünf Kindern geboren. In seinem Leben spiegeln sich die Unruhen und Veränderungen, die Kriege und die politische Willkür, die damals die chinesische Gesellschaft prägten. Seine verarmte Familie übersiedelte 1916 nach Peking. Nach dem frühen Tod des Vaters arbeitete Shi Hui bereits als 15-Jähriger als Zugbegleiter im Nordosten Chinas, der nach 1931 unter japanischer Besatzung stand. Hier lernte er alle Facetten menschlichen Leids kennen: Brände, Raub, Vergewaltigung, Mord. 1932 fand er in einem Theater einen Job als Budenverkäufer. In seiner Freizeit vertiefte er sich in die Kunst der Peking-Oper, sah sich Theaterstücke und Filme an und lernte Englisch. Weil ihm dort täglich drei Mahlzeiten zugesichert wurden, wechselte er zu einer anderen Theatergruppe: Zu oft hatte er Hunger gelitten. Der Lohn der Lernfähigkeit Seine Karriere als Amateurschauspieler entwickelte sich rasant. Im Oktober 1941 kam Kinder der Welt heraus, in dem Shi Hui seine erste Filmrolle spielte. Regie führten die österreichischen Filmpioniere und Flüchtlinge Luise Fleck (1873–1950) und Jakob Fleck (1881–1953) gemeinsam mit dem chinesischen Regisseur Fei Mu (1906–1951). Im gleichen Jahr gründete Shi Hui die Theatergruppe Kugan (wörtlich: harte Arbeit) mit, die sich bis 1946 grösster Popularität­erfreute. Shi Hui wurde als «Kaiser der Bühne» umjubelt. 1947 begann das Wen Hua Film Studio, einige der erfolgreichsten Theaterproduktionen zu verfilmen, so auch die Adaption von Maxim Gorkis Nachtasyl. Shi Hui spielte in fast allen Wen-Hua-Filmen mit; er war einer der wenigen Schauspieler, die problemlos von der Bühne auf Film umstellen und die ganze Bandbreite filmischer Rollen abdecken konnten. Shi Huis Darstellungskunst lebt von Mimik und Gestik. Das Element der Stilisierung entstammt der klassischen chinesischen Oper, Shi Huis Spiel aber erreicht eine Natürlichkeit, die aus den mimischen, sprachlichen und stimm­ lichen Mitteln entsteht. Als oberstes Gebot galt für ihn das optimale Spannungsverhältnis zwischen Publikum und Schauspieler. Shi Hui vertrat die Auf-


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4th Arab Film Festival Zurich


17 fassung, dass die Zuschauenden gleich beim ersten Auftritt in Bann gezogen werden müssten, und diese Spannung dürfe im Laufe der Szene nicht nachlassen. Dazu müsse der Schauspieler immer das richtige Mass an Ausdruck finden und das Versteckte, Zurückgehaltene deutlicher und tiefer erscheinen lassen als das Gezeigte. Beim Abgang solle der Schauspieler das Publikum in gespannter Erwartung des nächsten Auftritts zurücklassen. Shi Hui soll die Bühne dermassen beherrscht haben, dass das Publikum selbst dann seine Augen nicht abwenden konnte, wenn er ihm den Rücken zukehrte. Der Preis der Offenheit Neben seiner schauspielerischen Tätigkeit war Shi Hui ein reger Autor: Er verfasste theoretische Abhandlungen zu Schauspiel und Drama, nahm zu Fragen der Behandlung von Schauspielern Stellung und veröffentlichte meinungsbildende Artikel zur Tagespolitik: Nahezu zweihundert von ihm verfasste Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sind erhalten. Im Oktober 1949 übernahm die Kommunistische Partei Chinas in der neu gegründeten Volksrepublik die Macht. Alle Sparten der Kunst mussten nun den Grundsätzen des Parteivorsitzenden Mao Zedong entsprechen und den Arbeitern, Bauern und Soldaten dienen. Von 1949 bis 1952 wurden alle Filmproduktionsfirmen in die staatlichen Filmstudios eingegliedert. Obwohl Wen Hua erst 1952 in das Shanghai Film Studio überging, zeigte sich bereits ab 1949 in ihren Werken der Einfluss der neuen Machthaber. Shi Huis zweite Regiearbeit Mein Leben, nach dem Roman von Lao She, fällt in diese Zeit. Das Buch erzählt in einem tragikomischen Monolog über mehrere Jahrzehnte hinweg das Leben eines einfachen Chinesen. In der filmischen Adaption zeigt sich Shi Huis dramatische Begabung. Der neuen Ideologie entsprechend wurde ein kommunistischer Revolutionär eingefügt, und das Ende des Films weist auf den Anbruch einer neuen Zeit. Shi Hui soll versucht haben, sich gegen diese Änderungen zu wehren. Jedenfalls wurde der Film immer wieder aus politischen Gründen kritisiert. Der Held seines nächsten Films Kompanieführer Guan war ein Mitglied der Volksbefreiungsarmee. Shi Hui verbrachte dafür zwei Monate mit einer Kompanie. Da jedoch die Hauptfigur in ihrer natürlichen Unkultiviertheit dem offiziellen Bild des Soldaten in keiner Weise entsprach, wurde der Film verurteilt. So wurde auch Shi Hui 1951 ein Opfer der ersten Runde öffentlicher ­Kritik gegen Filmschaffende.

< >

Asiaten spielen Westler (in der Mitte Shi Hui): Amerika im Visier Realismus trotz Propaganda-Eingriffen: Mein Leben


18 Danach erhielt er nur noch wenige Arbeitsgelegenheiten. Seine beiden un­ politischen Regiewerke Brief mit Feder und Himmlische Hochzeit erreichten jedoch aufgrund ihres hohen künstlerischen Niveaus und ihres Unterhaltungswerts sehr gute Besucherzahlen. In den 1950er-Jahren ging die Filmproduktion Chinas stark zurück. Im Zuge der «Hundert-Blumen-Kampagne», die 1956 zu öffentlicher Meinungsäusserung aufrief, erschienen Artikel ­namhafter Filmschaffender, unter ihnen Shi Hui, die nach einem kreativen Freiraum für die Kunst verlangten. In dieser Zeit der politischen Öffnung gründete Shi Hui die «Fünf-Blumen-Werkstatt», eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Filmstoffen. In den wenigen Monaten ihrer Existenz entstanden einige der bemerkenswertesten Produktionen der 1950er-Jahre, so auch Shi Huis letzter Film Nächtliche Schiffsfahrt auf nebligem Meer. Der Weg eines Kompromisslosen Im August 1957 begann die «Anti-Rechts-Kampagne», die der Aufbruchsstimmung der «Hundert-Blumen-Kampagne» ein jähes Ende setzte. Ziel war es, die chinesische Gesellschaft von «rechtsgerichteten» Personen, darunter viele Künstlerinnen, Künstler und Intellektuelle, zu säubern. Nach einer ­«Kritiksitzung» im November 1957 verschwand der damals 42-jährige Shi Hui. Einige Zeit später wurde seine Leiche gefunden. Mein Leben gilt als Shi Huis Meisterwerk, erzählt es doch in eindring­ licher Form auch von seinem persönlichen Dilemma: Trotz herausragenden künstlerischen Leistungen und einem grossen Engagement für die Gesellschaft endete er wie sein Protagonist elendiglich mit «einer Leere im Herzen». Seine Filme aber zeugen immer noch von seinem künstlerischen Talent, seinem ­Humor und seinem kritischen Blick. Isabel Wolte

Isabel Wolte kam über ihre Mutter Ursula Wolte, die 1991 die erste Retrospektive mit 40 chinesischen Filmen nach Wien gebracht hatte, zum chinesischen Film. Sie doktorierte 2009 an der Beijing Film Academy über Adaptionen von Weltliteratur im chinesischen Film und lebt heute in Wien und Peking. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie als Beraterin für österreichischchinesische Koproduktionen tätig. Isabel Wolte hat die Shi-Hui-Retrospektive kuratiert, die Kurztexte verfasst und die deutschen Untertitel erstellt. Sie wird am 21. Februar vor der Aufführung von Mein Leben eine Einführung in Shi Huis Schaffen geben und am 21. und 22. Februar drei weitere Filme präsentieren. Details siehe Programm­übersicht.


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Shi Hui

NACHTASYL (Ye Dian)

MEIN LEBEN (Wo zhe yibeizi)

China 1947

China 1950

Verschiedene verarmte Gestalten fristen eingepfercht im Nachtasyl ihr Dasein, nur der junge Yang Qi, angefacht von seiner Liebe zur hübschen Xiao Mei, fasst den Mut, sein Schicksal zu ändern – bis durch die Bosheit und Gier der Besitzer des Nachtasyls Wen Taishi (Shi Hui) und Sai Guanyin die Tragödie ihren Lauf nimmt. Bereits während der japanischen Besetzung zählte das nach Maxim Gorki bearbeitete Stück zu den erfolgreichsten der Zeit. Das Publikum identifizierte sich mit den tragischen, heruntergekommenen Figuren. Nachtasyl gehört zu den zahlreichen Verarbeitungen und Sinisierungen russischer und sowjetischer Literatur in der chinesischen Filmgeschichte.

Das Leben eines einfachen Pekinger Polizisten im politischen Wandel der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Film beschreibt schonungslos ­Korruption und Karrierismus im China nach der Revolution von 1911, enttäuschte Erwartungen der Bewegung des 4. Mai und die Ver­ werfungen durch den sino-japanischen Krieg. Sprache, Kleidung, Manierismen gehören alle­ samt zur typischen ­Pekinger Kultur, die humoristischen Einschübe kommen aus der Tradition der anspielungs­reichen nordchinesischen Xiangsheng-Wortgefechte. Ein Meisterwerk der chinesischen Filmkunst, beeindruckend, humorvoll, berührend und weise. Shi Hui ist hier in seiner Lebensrolle als Regisseur, Hauptdarsteller und einfacher Bürger zu erleben. Trotz seines ungeheuren Erfolges im Kino wurde dieser Film aufgrund seines zu schwachen politischen Bekenntnisses zur neuen kommunistischen Regierung wiederholt kritisiert.

108 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Huang Zuolin // DREHBUCH Ke Ling, nach dem Theaterstück von Maxim Gorki // KAMERA Xu Qi // MUSIK Wu Renzhi // MIT Shi Hui (Wen ­Taishi), Tong Zhenglin (Sai Guanyin), Zhang Fa (Yang Qi), Zhou Xuan (Xiao Mei), Shi Yu (Quan Laotou), Wei Wie (Lin Daiyu).

FREUD UND LEID IN DER MITTE DES LEBENS (Aile zhongnian)

108 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Shi Hui // DREHBUCH Yang Liuqing, nach dem Roman von Lao She // ­KAMERA Ge Weiqing, Lin Fa // MUSIK Huang Yijun // MIT Shi Hui (Wo), Wei Heling (Zhao Laojing), Wang Min (Wo Qi), Li Wei (Haifu).

China 1949

KOMPANIEFÜHRER GUAN

Nach dem Tod seiner Frau hat der liebenswürdige Schuldirektor Chen Shaochang (Shi Hui) allein die Erziehung seiner drei Kinder übernommen und sich trotz der Bemühungen seiner Nachbarn geweigert, wieder zu heiraten. Als sein Sohn dann in der Bank Karriere machen will und die Tochter des Bankdirektors heiratet, geniert er sich für seinen Vater und drängt ihn in die Pension. Chen Shaochang überlässt seinen Direktorenposten der klugen Tochter seines Freundes Liu Minhua, mit der ihn seit ihrer Kindheit eine väterliche Zuneigung verbindet. Allerdings langweilt ihn die frühzeitige Pension bald, und die Beziehung zu Liu Minhua entwickelt sich in eine ganz andere Richtung, als es seine Kinder wollen. Diese leichte Komödie ist eine der sehr erfolgreichen Kooperationen des jungen Regisseurs Sang Hu mit der modernen, in England ausgebildeten Schriftstellerin Eileen Chang (1920–1995), die mit Humor und Einfühlungsvermögen das ­Leben der Mittelklasse in Shanghai aufs Korn nimmt.

Unter Anleitung eines «Kulturausbilders» soll die Kompanie von Führer Guan (Shi Hui) ihr Bildungsniveau erhöhen. Lebenserfahrung und angelerntes Wissen stehen im Konflikt zueinander. Bis endlich der Angriffsbefehl kommt: Die Kommandozentrale der Feinde muss innerhalb von drei Stunden vernichtet werden. Die Zentrale befindet sich allerdings in einem überfüllten Waisenheim. Um eine realistische Darstellung des Lebens in der Kompanie gewährleisten zu können, verbrachte Shi Hui mit seinem Team zwei Monate in einer Kompanie der Volksbefreiungsarmee. Da sich jedoch das im Film präsentierte Bild nicht mit dem geschönten Bild der offiziellen Kriegspropaganda deckt, wurde Shi Hui für seinen «bürgerlichen Humanismus, der das Bild des Befreiungssoldaten verzerrt», aufs Schärfste kritisiert.

105 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Sang Hu // DREH-

108 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Shi Hui // DREH-

BUCH Zhang Ailing // KAMERA Huang Shaofen // MUSIK

BUCH Yang Liuqing, nach einem Roman von Zhu Ding //

(Guan lianzhang) China 1951

­Huang Yijun // MIT Shi Hui (Chen Shaochang), Zhu Jiachen

­KAMERA Huang Shaofen // MUSIK Huang Yijun // MIT Shi Hui

(Liu Minhua), Cui Chaoming (Liu Zhiquan), Han Fei (Chen

(Kompanieführer Guan), Yu Zhongying (Ausbildner), Cheng

­Jianzhong).

Zhi (Lao Tong), Cao Zhaoming (Tuan Zhang).


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> Nachtasyl .

> Nächtliche Schiffsfahrt auf nebligem Meer .

> KompaniefĂźhrer Guan .

> Freud und Leid in der Mitte des Lebens .


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Shi Hui

AMERIKA IM VISIER (Meiguo zhichuang)

HIMMLISCHE HOCHZEIT (Tian xianpei)

China 1952

China 1955

Mr. Butler (Shi Hui), Aktienmakler in New York, wittert anhand eines Fensterputzers, der seinen Selbstmord vorbereitet, neue Einnahmequellen, indem er dessen Tod medial zu vermarkten versucht. Herrliche Karikatur der amerikanischen kapitalistischen Gesellschaft, die zur Gänze in Shanghai gedreht wurde und in der die «Amerikaner» ausschliesslich von Chinesen dargestellt werden. Nach grossem Erfolg als Bühnenaufführung entstand dieser letzte Streifen der privaten Filmproduktion Wen Hua vor der Verstaatlichung und Eingliederung in das Shanghai Film Studio Ende 1952. Er markiert auch für längere Zeit das Ende der Filmkomödie in China. Aufgrund seiner aussergewöhnlichen Thematik gelang dieser Film kaum zur Aufführung und wurde eigens für diese Retrospektive restauriert.

Verfilmung im Stil der Huang-Mei-Oper des Märchens von der siebten Tochter des Jade-Kaisers, des Herrschers des Himmels: Auf ihrem ErdenSpaziergang entdeckt sie den armen Dong Yong, verliebt sich in ihn und entscheidet sich, gegen das Verbot des Jade-Kaisers und mit Unterstützung ihrer Schwestern, auf Erden zu bleiben. Als der Jade-Kaiser davon erfährt, verlangt er in ­seiner Wut, dass sie sofort in den Himmel zurückkehre. Dieses Märchen der Liebe zwischen Himmelswesen und Mensch ist in vielen Formen in der ­chinesischen Tradition erhalten. Aufgrund seiner besonderen Schönheit, einschliesslich der damals innovativen Kameraführung und animierten Szenen, löste dieser Film nach dem Publikumserfolg in Hongkong eine richtige Welle von HuangMei-Opernverfilmungen aus.

67 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Huang Zuolin, Shi

100 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Shi Hui // DREH-

Hui, Ye Ming // DREHBUCH Huang Zuolin, nach einem Theater­

BUCH Sang Hu // KAMERA Luo Congzhou // MUSIK Shi ­Bailin

stück von Wladimir Dychowitschni, Moris Slobodskoi //

// MIT Yan Fengying (siebte Tochter), Wang Shaofang (Dong

­KAMERA Huang Shaofen, Zhang Xiling, Xu Yi // MIT Shi Hui

Yong), Zhang Yunfeng (Bo Yuanwai), Hu Lulin (Zhao Gui), Ding

(Mr. Butler), Lin Zhen (Miss Peggy), Yu Fei (Kent).

Zichen (Erde).

BRIEF MIT FEDER (Ji mao xin) China 1954

NÄCHTLICHE SCHIFFSFAHRT AUF NEBLIGEM MEER (Wuhai yehang) China 1957

Dem zwölfjährigen Hai Wa gelingt es mit List, Mut und seiner Schafherde, wichtige Informationen rechtzeitig den Widerstandskämpfern der AchtenRoute-Armee zu überbringen und noch dazu die japanische Armee in die Falle zu locken. Dieser charmante Streifen war der erste Kinderfilm nach der Gründung der Volksrepublik. Trotz dem damals vorherrschenden belehrenden Filmstil versuchte Regisseur Shi Hui bewusst, aus der Warte des Kindes die Geschichte sich entwickeln zu lassen und den Film leicht und lebendig zu halten. Er schuf mit seiner Darstellung die mittlerweile klassische Karikatur des japanischen Soldaten mit kleinem Oberlippenbart. Brief mit Feder ist bis heute sehr populär und wurde auch ausserhalb Chinas gespielt. Es ist einer der wenigen Filme, die auch während der Kulturrevolution noch gezeigt wurden. Im Jahr 1955 erhielt er beim Edinburgh International Film Festival den Preis als Bester Film.

Angelehnt an eine wahre Begebenheit geht es in diesem Film um ein Schiffsunglück, bei dem ein Passagierdampfer in Nebel und Sturm auf ein Riff auffährt und zu sinken beginnt. Schuld an der ­Katastrophe ist der Kapitän selbst, der sich weigert, rechtzeitig den Anker zu setzen. Mit Unterstützung von Mitgliedern der Volksbefreiungs­armee gelingt es, alle Personen zu retten. Dieses letzte Werk Shi Huis war als Gesellschaftsbild gedacht, das Hauptaugenmerk legten Buch und Regie zunächst auf die Beschreibung der einzelnen Passagiere auf dem Schiff und deren persönlichen Schicksale. Aufgrund der ­ ­politischen Situation wurde der Film nach dem Tod Shi Huis vom Produktionsstudio neu geschnitten und abgeändert: Der freie menschliche Geist Shi Huis ist nur mehr in Ansätzen erkennbar, der Film bleibt Zeugnis der komplexen Realität chinesischer Kunstschaffender.

68 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Shi Hui // DREHBUCH

90 Min / sw / DCP / Mandarin/d // REGIE Shi Hui // DREHBUCH

Zhang Junxiang // KAMERA Luo Congzhou // MUSIK Huang

Shi Hui // KAMERA Shen Silin // MIT Mu Hong (Kapitän), Fan

Yijun // MIT Cao Yuanyuan (Hai Wa), Shu Shi (Vater), Ma Li (Gui

Xueming (Lao Taitai), Guan Hongda (Pang Zi), Jian Renghua

Niu), Jiang Rui (Zhang Lianzhang), Cheng Zhi (Wai Zui).

(Xiao Xiao).


22 Das erste Jahrhundert des Films

1939 Während die Welt am Vorabend eines weiteren Krieges in Europa stand, wurde in Hollywood gezaubert. Mit The Wizard of Oz erstrahlte ein Märchen auf der Leinwand, das bis heute zum festen, unzählige Male zitierten Bestandteil des popkulturellen Inventars gehört, dessen Requisiten Fetischcharakter haben und bis heute für Schlagzeilen sorgen: Erst kürzlich wurden Judy ­Garlands rote Glitzerschuhe, die vor Jahren gestohlen worden waren, von FBIAgenten sichergestellt. MGM produzierte 1939 einen weiteren Film, der zu einem Mythos werden sollte, wiederum unter der Regie von Victor Fleming (u. a.) und wiederum in «glorious Techni­color»: Das opulente Südstaatenepos Gone with the Wind faszinierte über Generationen hinweg die Zuschauer und bleibt einer der grössten Kassen­erfolge der Filmgeschichte. John Fords Stagecoach, der dritte legendäre ­US-amerikanische Film aus diesem schicksalhaften Jahr, lancierte die Renaissance des Western und machte John Wayne zum Star. In Frankreich herrschte vor dem nahenden Krieg eine fatalistische, ­pessimistische Stimmung. Zwei Meilensteine liefern präzise atmosphärische Abbilder dieser Vorkriegszeit – und beide wurden bei Kriegsausbruch verboten: Marcel Carnés Meisterwerk des poetischen Realismus, Le jour se lève, und Jean Renoirs Opus magnum La règle du jeu, das bei seinem Kinostart ­kommerziell ein Desaster war und bei einem Bombenangriff zerstört wurde. In den Fünfzigerjahren rekonstruiert, zählt Renoirs Geniestreich heute zu den wichtigsten Filmen überhaupt. In Japan, wo das militärische Regime Filmemacher immer mehr unter Druck setzte, propagandistische Stimmung zugunsten Japans zu machen, wich Kenji Mizoguchi auf historische Stoffe aus und bot in The Story of the Last Chrysanthemum einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen des KabukiTheaters. Ihm gelang damit einer der grossen Triumphe des ­japanischen Kinos. Tanja Hanhart Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 weg­ weisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, ­woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der a ­ ktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2019 sind Filme von 1919, 1929, 1939 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1939: Destry Rides Again George Marshall, USA Die Liederschlacht der Mandarinenten (Oshidori Utagassen) Masahiro Makino, Japan Four Feathers Zoltan Korda, GB Goodbye, Mr. Chips Sam Wood, USA Gunga Din George Stevens, USA Midnight Mitchell Leisen, USA Mr. Smith Goes to Washington Frank Capra, USA

Ninotchka Ernst Lubitsch, USA Of Mice and Men Lewis Milestone, USA Only Angels Have Wings Howard Hawks, USA The Roaring Twenties Raoul Walsh, USA The Women George Cukor, USA Young Mr. Lincoln John Ford, USA Wachtmeister Studer Leopold Lindtberg, CH Wuthering Heights William Wyler, USA


Das erste Jahrhundert des Films: 1939

THE WIZARD OF OZ USA 1939 Ein Wirbelsturm katapultiert die kleine Dorothy mit ihrem Hund Toto ins Zauberland Oz. Verzweifelt macht sie sich auf den Weg zur Smaragdstadt, wo der geheimnisvolle Zauberer Oz lebt – nur er kennt den Weg nach Hause. Eine Vogelscheuche, ein Zinnmann und ein Löwe helfen Dorothy, die Abenteuer auf dem Weg zum Zauberer zu bestehen. Dieser unsterbliche Klassiker gehört zu den schönsten Filmmärchen überhaupt. Als einer von nur vier Spielfilmen wurde er auf die Liste des Weltdokumentenerbes der UNESCO aufgenommen und erst kürzlich zum einflussreichsten Film aller Zeiten gekürt. Die Dreharbeiten jedoch waren chaotisch: Anfangs übernahm Richard Thorpe die Regie, doch MGM ersetzte ihn durch Victor ­Fleming, der aber kurz vor Ende des Drehs die ­Regie von Gone with the Wind übernehmen musste und The Wizard of Oz an George Cukor (der seinerseits bei Gone with the Wind entlassen worden war) abgab; die Szenen in Kansas, mitsamt «Over the Rainbow», wurden von King Vidor inszeniert. «Jedes Mal, wenn die Musik anschwillt und Judy Garland ein paar Zeilen von ‹Over the Rainbow› singt, bin ich ein emotionales Wrack (...). The Wizard of Oz enthüllt unsere Kindheitsängste vor Verlassenheit und Ohnmacht und zeigt die Spannung zwischen der repressiven Geborgenheit der Heimat und den befreienden Schrecken des Unbekannten, die unser ganzes Erwachsenenleben prägen. (...) Die Produktion taumelte von Krise zu Krise. Es folgte Regisseur auf Regisseur (...), zudem war Toto zwei Wochen lang verletzt, weil jemand auf ihn getreten war, die böse Hexe erlitt durch eine Rauchwolke schwere Verbrennungen und der erste Zinnmann landete mit einer Aluminiumver-

giftung im Krankenhaus. Was sie alle uns jedoch hinterlassen haben, ist höchstwertige ZelluloidAlchemie. Kinder werden diesen Film weiterhin lieben, aber vielleicht bekommen ihn nur Erwachsene wirklich mit. (...) Entdecken Sie die Kraft des wirklich grossen Geschichtenerzählens wieder, um sich selbst zu verstehen. Folgen Sie einfach der gelben Ziegelsteinstrasse ...» (Trevor Johnston, timeout.com, 12.12.2006) 102 Min / Farbe + sw / DCP / E/d // REGIE Victor Fleming, George Cukor (ungen.), Mervyn LeRoy (ungen.), Richard Thorpe (ungen.), King Vidor (ungen.) // DREHBUCH Noel Langley, Florence Ryerson, Edgar Allan Woolf, nach dem Kinderbuch von Lyman Frank Baum // K ­ AMERA Harold Rosson // MUSIK Herbert Stothart // SCHNITT Blanche Sewell // MIT Judy Garland (Dorothy Gale), Frank Morgan (Zauberer von Oz/ Prof. Marvel), Ray Bolger (Vogelscheuche/Hunk), Bert Lahr (Löwe/Zeke), Jack Haley (Zinnmann/Hickory), Billie Burke (Glinda, die gute Hexe des Nordens), Margaret Hamilton (böse Hexe des Westens/Miss Almira Gulch).

Im Kalenderjahr 2019 führen Mitarbeitende, Studierende und Gäste des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Z ­ ürich einzelne Filme der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» ein. Neben dem filmhistorischen Kontext werden ­formale und thematische Aspekte genauer betrachtet.

✶ am Dienstag, 12. März, 20.45 Uhr: Einführung von Prof. Dr. Jörg Schweinitz (Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich) The Wizard of Oz läuft auch im Kinderprogramm, siehe S. 28.

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Das erste Jahrhundert des Films: 1939

GONE WITH THE WIND USA 1939 1861, kurz vor Beginn des Sezessionskrieges: Scarlett O’Hara ist in Ashley Wilkes verliebt. Als der sich mit seiner Cousine Melanie verlobt, heiratet Scarlett aus Trotz Melanies Bruder, der jedoch bald schon im Krieg umkommt. Allein der Abenteurer Rhett Butler weiss von Scarletts heimlicher Liebe. Dennoch wirbt er um sie. Da fällt Atlanta in die Hände der Nordarmee … Gone with the Wind war nach The Wizard of Oz Victor Flemings zweite Regiearbeit, die die Zeiten überdauerte und jahrelang als das kommerziell erfolgreichste Werk der Filmgeschichte galt. «Gone with the Wind – ein Mythos, ein Koloss von Film. (…) Es ist ein Melodram über Liebe und Krieg, dessen Botschaften über die schiere Überwältigung des Zuschauers hinausgehen und bis heute überdauern. Das nationale Trauma des amerikanischen Bürgerkriegs hat schon den 1936 erschienenen Roman von Margaret Mitchell zum Bestseller gemacht. Auf der Leinwand erblüht Scarlett O’Haras Liebe zum Land ihrer Vorväter, verkörpert in dem herrschaftlichen Anwesen Tara. In herrlichstem Technicolor erinnert es an die verschwenderisch-sorglose Lebensart des amerikanischen Südens und übertüncht beinahe den Makel der Sklavenhaltergesellschaft. Im

­ ürgerkrieg unterlag der Süden dem rational B merkantilen Norden, aber er verkörpert bis heute die Seele des Kontinents. Die beispiellose Erfolgsgeschichte des Films ist umso erstaunlicher, als das Thema ‹Bürgerkrieg› in Literatur wie Film als ‹Kassengift› galt. Entscheidend scheint die Wirkung des ausdrücklich von Produzent David O. Selznick verordneten ‹weiblichen Blicks›. Er verzichtet auf Kriegshandlungen, zeigt stattdessen die Opfer. Er entfacht auch den unerbittlichen Geschlechterkrieg der Gutsherrin Scarlett mit dem Kriegsgewinnler Rhett Butler, gespielt von Vivien Leigh und Clark Gable. Sein modernes Liebes-Geplänkel macht das Paar zu einem Arche­ typ des amerikanischen Kinos.» (Marli Feldvoss, deutschlandfunkkultur.de, 15.1.2018) 238 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Victor Fleming, George Cukor (ungen.), Sam Wood (ungen.) // DREHBUCH Sidney ­Howard, Oliver H.P. Garrett (ungen.), Ben Hecht (ungen.) u. a., nach dem Roman von Margaret Mitchell // KAMERA Ernest Haller // MUSIK Max Steiner // SCHNITT Hal C. Kern, James E. Newcom // MIT Vivien Leigh (Scarlett O’Hara), Clark Gable (Rhett Butler), Olivia de Havilland ­(Melanie Hamilton), Leslie Howard (Ashley Wilkes), Hattie McDaniel (Mammy), Barbara O’Neil (Ellen O’Hara), Thomas Mitchell (Gerald O’Hara), Laura Hope Crews (Tante «Pittypat» Hamilton), Harry ­Davenport (Dr. Meade), Ona Munson (Belle Watling), Victor Jory ­(Jonas Wilkerson), Jane Darwell (Dolly Merriwether).


Das erste Jahrhundert des Films: 1939

STAGECOACH USA 1939 Trotz eines Apachenaufstandes bricht eine Postkutsche Richtung Lordsburg auf. Unter den Passagieren befinden sich neben dem Sheriff, einer hochschwangeren Offiziersgattin und einem schüchternen Schnapsvertreter auch ein trunksüchtiger Arzt, ein Glücksspieler, eine Prostituierte und ein korrupter Bankier. Unterwegs stösst Ringo dazu; er ist aus dem Gefängnis ausge­ brochen, um mit den Mördern seines Vaters und seines Bruders abzurechnen. Bald wird die fahrende Gemeinschaft von den Apachen angegriffen. John Fords Stagecoach machte den Western wieder salonfähig und gilt als einer der einflussreichsten Filme des Genres überhaupt – Orson Welles etwa soll ihn sich vor Citizen Kane über vierzigmal angeschaut und alles übers Kino von diesem Film gelernt haben. «Ein Zeit- und Zivilisationsporträt an der Grenze zur Subversion. Und unter der mitreissend dargebrachten Abenteuererzählung: ein auch metaphorisch fesselndes visuelles Gedicht über den Fortschritt – von einer sterbenden Stadt durch die Wildnis zur Neugeburt.» (Christoph ­Huber, Österreichisches Filmmuseum, 11/2016) John Wayne wurde durch diesen Film zum Star. «Neu war sein Auftritt. Ein Kerl, für den das Kino erfunden wurde. Wortkarg. Zielsicher. Bescheiden. Höflich gegenüber gefallenen Mädchen. (...) In Stagecoach ist John Wayne ein Darsteller von atemberaubender männlicher Schönheit.» (Michael Naumann, zeit.de, 16.6.2005)

THE STORY OF THE LAST CHRYSANTHEMUM (Zangiku monogatari) Japan 1939

Tokio, 1885: Kikunosuke, der adoptierte Sohn eines berühmten Kabuki-Schauspielers, lebt vom Status seines Vaters, ohne selbst etwas zu leisten. Die Kinderschwester Otoku sagt ihm ins Gesicht, dass er ein schlechter Schauspieler sei. Kikunosuke verliebt sich in sie, verlässt die hochtrabende ­Familie, die ihn zur Trennung zwingen will, und geht mit der Geliebten in die Provinz, wo er seinen Beruf von Grund auf erlernen muss. «The Story of the Last Chrysanthemum ist einer der wichtigsten Filme von Kenji Mizoguchi, ein Werk von unglaublicher Eleganz und grossem Formbewusstsein, und eine machtvolle Attacke auf die sozialen Strukturen, die Frauen stets in die Opferrolle drängen. Mizoguchi entfaltet die unausweichliche Logik der Ereignisse in ruhigen, langen Einstellungen.» (Chris Fujiwara, in: 1001 Filme, Ed. Olms, 2012) «Mizoguchi nutzte diesen Film zur völligen Perfektionierung seiner Methode des ‹one scene, one cut›. (…) Vielen gilt dieser Film als einer von Mizoguchis grössten – und tatsächlich: Die Gegen­ überstellung von Leben und Kunst (in gleichen Kamerawinkeln und Reaktionen) sowie das ­Beharren auf der Länge einer Einstellung, um nichts von der Interaktion zwischen den Figuren auf­ zugeben, zeigen Mizoguchi in Vollendung.» ­(Christoph Huber, allesfilm.com) 143 Min / sw / Digital HD / Jap/e // REGIE Kenji Mizoguchi //

95 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE John Ford // DREHBUCH

DREHBUCH Yoshikata Yoda, Matsutaro Kawaguchi, nach

Dudley Nichols, Ben Hecht, nach der Erzählung «Stage to

einem Roman von Shofu Muramatsu // KAMERA Yozo Fuji,

Lordsburg» von Ernest Haycox // KAMERA Bert Glennon //

Minoru Miki // MUSIK Shiro Fukai, Senji Ito // SCHNITT Koshi

MUSIK Richard Hageman, William Franke Harling u. a. //

Kawahigashi // MIT Shotaro Hanayagi (Kikunosuke Onoe),

SCHNITT Dorothy Spencer, Walter Reynolds // MIT John

Kokichi Takada (Fukusuke Nakamura), Gonjuro Kawarazaki

Wayne (Ringo Kid), Claire Trevor (Dallas), John Carradine

(Kikugoro Onoe, der Vater), Kakuko Mori (Otoku), Tokusaburo

(Hatfield), Thomas Mitchell (Dr. Josiah Boone), Andy Devine

Arashi (Shikan Nakamura), Yoko Umemaru (Osata).

(Buck), Donald Meek (Samuel Peacock).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1939

LA RÈGLE DU JEU Frankreich 1939 Pilot André Jurieux stellt nach seinem Rekordflug über den Atlantik entrüstet fest, dass seine Geliebte Christine nicht auf ihn gewartet hat. Er möchte sie zurückgewinnen, doch Christine bleibt ihrem Ehemann, dem Marquis de la Cheyniest, treu – ohne jedoch zu wissen, dass dieser sie mit einer anderen betrügt. An einem Jagdwochenende auf dem Landsitz von Christine und ihrem Mann eskaliert die Situation. Jean Renoirs La règle du jeu ist eine bissige ­Milieustudie, die zwischen Drama und Komödie oszilliert. Renoir betrachtete diesen Film als sein Meisterstück und steckte als Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und sogar als Darsteller all seine Energie in das Projekt. Bei seiner Premiere löste das Werk indes heftige Proteste aus, es wurde gekürzt, dann wegen «demoralisierenden» Einflusses verboten. Das Originalnegativ wurde im Krieg zerstört, erst knapp 20 Jahre später wurde der Film unter Renoirs Anleitung rekonstruiert und wird heute als eines der grössten Meisterwerke des Kinos gefeiert; so belegt er auf der «Greatest Films of All Time»-Liste von «Sight & Sound» den 4. Platz. La règle du jeu ist François Truffauts Lieblingsfilm: «Er ist das Credo der Cinephilen, der Film der Filme (...) und mit Citizen Kane bestimmt der

Film, der am meisten junge Leute veranlasst hat, sich dem Beruf des Regisseurs zuzuwenden.» (François Truffaut: Die Filme meines Lebens, Hanser 1976) «Wenn es einen einzigen Film gibt, in dem das ganze Kino enthalten ist, dann ist das La règle du jeu. Er brilliert in jedem Bereich: Die Kamera ist innovativ, aber zugleich Teil der Erzählung. Die Exposition ist hervorragend. Acht Figuren werden in Bewegung versetzt, jede von ihnen ist einzig­ artig und interagiert auf ihre Weise mit den anderen. Die Dialoge sind geschliffen, subtil (...). Die ­Details, die Ausstattung, die Kostüme – alles hat einen Sinn. (...) Das ist Handwerkskunst auf höchstem Niveau. Aber vor allem ist La règle du jeu zutiefst humanistisch.» (Paul Schrader, ­criterion.com) 106 Min / sw / DCP / F/d // REGIE Jean Renoir // DREHBUCH Jean Renoir, Carl Koch // KAMERA Jean Bachelet // MUSIK Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Strauss, Camille SaintSaëns, Frédéric Chopin, arrangiert von Roger Désormières und Joseph Kosma // SCHNITT Marguerite Renoir // MIT ­Marcel Dalio (Marquis Robert de la Cheyniest), Nora Grégor (Christine, seine Frau), Roland Toutain (André Jurieux), Jean Renoir (Octave), Mila Parély (Geneviève de Marrast), Odette Talazac (Charlotte de la Plante), Pierre Magnier (der General), Paulette Dubost (Lisette, die Kammerzofe), Gaston Modot (Schumacher, der Wildhüter), Julien Carette (Marceau, der Wilderer), Claire Gérard (Mme la Bruyère).


Das erste Jahrhundert des Films: 1939

LE JOUR SE LÈVE Frankreich 1939 Als der Tag anbricht, ist er für François bereits gelaufen. Um der Polizei zu entkommen, hat sich der Fabrikarbeiter in seiner kleinen Wohnung in einem Industrievorort von Paris verbarrikadiert. In Rückblenden wird von seiner unglücklichen Liebe zur Blumenverkäuferin Françoise, seiner zwischenzeitlichen Affäre mit Clara und seiner Abrechnung mit dem durchtriebenen Valentin erzählt. Marcel Carnés Le jour se lève, nach einer Drehbuchvorlage von Jacques Prévert, gilt als einer der einflussreichsten französischen Filme der Vorkriegszeit und als Meilenstein des poetischen Realismus. Das Drama spiegelt die Stimmung der Ausweglosigkeit kurz vor dem Krieg und wurde nach dessen Ausbruch als «demoralisierend» verboten.

«Kein anderer französischer Star wird so oft am Ende seiner Filme getötet wie Jean Gabin. ­Historisch ist es nicht ganz korrekt, gleichwohl ist man versucht zu glauben, dass für ihn die Rückblende erfunden wurde: Zum ersten Mal im französischen Kino erzählt in Le jour se lève ein ­Todgeweihter rückblickend von den Ereignissen, die ihn in die Isolation und den Freitod treiben.» (Gerhard Midding, Stadtkino Basel, Jan. 2012) 93 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Marcel Carné // DREHBUCH Jacques Prévert, Jacques Viot // KAMERA Philippe Agostini, André Bac, Curt Courant, Albert Viguier // MUSIK Maurice Jaubert // SCHNITT René Le Hénaff // MIT Jean Gabin (François), Arletty (Clara), Jules Berry (Valentin), ­ ­Jacqueline Laurent (Françoise), Jacques Baumer (Kommissar), Bernard Blier (Gaston), Marcel Pérès (Paulo), René ­Génin (Concierge), Mady Berry (seine Frau).

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28 Filmpodium für Kinder

Der Zauberer von Oz Ein unzählige Male zitierter Urtext des amerikanischen Kinos und einer der ersten Technicolor-Filme – das berühmte Filmmusical für die Kinder in der deutschen Synchronfassung.

DER ZAUBERER VON OZ (The Wizard of Oz) / USA 1939 102 Min / Farbe + sw / DCP / D / ab 6 // REGIE Victor Fleming // DREHBUCH Noel Langley, Florence Ryerson, Edgar Allen Woolf, nach dem Kinderbuch von Lyman Frank Baum // KAMERA Harold Rosson // MUSIK Herbert Stothart // SCHNITT Blanche ­Sewell // MIT Judy Garland (Dorothy Gale), Frank Morgan (Zauberer von Oz/Prof. Marvel), Ray Bolger (Vogelscheuche/Hunk), Jack Haley (Zinnmann/Hickory), Bert Lahr (Löwe/Zeke), Billie Burke (Glinda, die gute Hexe des Nordens), Margaret Hamilton (böse Hexe des Westens/Miss Almira Gulch), Clara Blandick (Tante Emily), Charley Grapewin (Onkel Henry). The Wizard of Oz läuft in der Originalversion in der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films», siehe S. 23.

Die kleine Dorothy wird aus den Sepiatönen des ländlichen Kansas von einem Wirbelsturm ins Technicolor-bunte Märchenland Oz geschleudert. Dort trifft sie auf gute und böse Hexen und findet neue Freunde: Zusammen mit einer hirnlosen Vogelscheuche, einem mutlosen Löwen und einem herzlosen Zinnmann macht sich Dorothy auf die Suche nach dem grossen Zauberer von Oz. Dieser soll ihre sehnlichsten Wünsche erfüllen und Dorothy wieder nach Hause bringen. Doch auch hinter dem Regenbogen bleibt das Finden des Glücks eine persönliche Aufgabe. (pm) KINDERFILM-WORKSHOP Im Anschluss an die Vorstellungen vom 2. und 9. März bietet die Filmwissenschaftlerin Julia Breddermann (www.fifoco.ch) einen Film-Workshop (ca. 45 Min., gratis, keine Voranmeldung nötig) an. Die Kinder erleben eine Entdeckungsreise durch die Welt der Filmsprache und werden an einzelne Szenen und Themen des Films herangeführt.


29 FRANCIS REUSSER

SO, 24. FEB. | 15.00 UND 17.30 UHR

ZWEI FRÜHWERKE 1942 in Vevey geboren, war Francis Reusser mehr als die älteren Cineasten der Groupe 5 ein Angehöriger der 68er-Generation, der sich offen und laut gegen die herrschenden Verhältnisse auflehnte und explizit politische Themen ansprach.

sen die Alten sterben. Da liegen sie in ihrem Blut (...) und die jungen ­Elternmörder schreien: ‹Ce n’est qu’un début.› Das hatte man ein Jahr zuvor in den Strassen von Paris gehört und gelesen.» (Martin Schaub in: Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films 1896–1987, Schweizerisches Filmzentrum 1987)

✶ am Sonntag, 24. Februar, 15.00 Uhr: in Anwesenheit des Regisseurs

Aus Anlass des Kinostarts von Reussers ­filmischer Rückschau auf sein Leben und sein Werk, La séparation des traces (2018), zeigt das Filmpodium in Anwesenheit des Regisseurs zwei seiner Frühwerke, Vive la mort (1969) und Seuls (1981), jüngst restauriert von der Cinémathèque suisse.

SEULS / Schweiz 1981 100 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Francis Reusser // DREHBUCH Francis Reusser, Christiane Grimm // KAMERA Renato Berta // MUSIK Louis Crelier, Michael Galasso // SCHNITT Francis Reusser, Elisabeth Waelchli // MIT Niels Arestrup (Jean), Michael Lonsdale (Ludovic), Bulle Ogier (Lucienne), Olimpia Carlisi (Marlène), Andrée Tainsy (Tante), Walo Lüönd (Laval), Catherine Le Dall (Marie, Jeans Mutter). «Einmal mehr schuldet die Hauptfigur alles der Einbil-

VIVE LA MORT / Schweiz 1969 79 Min / Farbe / DCP / F + Dialekt/d // REGIE Francis Reusser // DREHBUCH Patricia Moraz, Francis Reusser // KAMERA Renato Berta // MUSIK Patrick Moraz // SCHNITT Françoise Lenoir, Francis Reusser // MIT Françoise Prouvost (Virginie), Édouard Niermans (Paul), Erika Dentzler, André Schmidt,

dungskraft des Autors, der sich anhand der Marotten dieses Protagonisten Jean einer Art Selbstanalyse unterzieht. Eine zufällig erblickte Fotografie erinnert diesen an seine für immer verlorene Mutter, die er wiederzufinden hofft, z­ umindest im Traum, indem er die Liebe von ­Carole gewinnt, die er durch ein nonkonformistisches Künstlerpaar kennenlernt.

Jean Mars.

Am Ende dieser Suche des Herzens findet er jedoch den klei-

«In Reussers erstem Spielfilm, Vive la mort, verlassen zwei

wiedererkennen will in Antoine, einer F ­ igur von Ramuz’

Junge, Paul und Virginie, die Welt der Eltern und flüchten immer höher hinauf, aus dem Flachland des eifersüchtigen und besinnungslosen Konsums in die ‹reinen› Höhen der Berge. Paul liebt seinen bürgerlichen Vater ebenso w ­ enig wie ­Virginie ihren sozialistischen. Sie improvisieren den schönsten Abenteuerroman, aber im Verlaufe dieses Romans müs-

nen elternlosen Jungen wieder, der er einst war und den er 1984 erschienenem Roman ‹Derborence›». (Freddy Buache: Trente ans de cinéma suisse, 1965–1995, Centre Georges Pompidou 1995)

✶ am Sonntag, 24. Februar, 17.30 Uhr: in Anwesenheit des Regisseurs


30 IOIC-SOIREE

KRIEG UND FRIEDEN IM STUMMFILM Das IOIC – Institute of Incoherent Cinema-

Love’s Struggle Throughout the Ages, ver-

tography – macht mit neuartigen Live-Ver-

weist auf den ewigen und unauflöslichen

tonungen die frühe Stummfilmkunst nicht

Streit der menschlichen Leidenschaften,

zuletzt auch einem jüngeren Publikum zu-

welche die Weltgeschichte im Guten wie im

gänglich. In der Saison 2018/19 ist das IOIC

Bösen vorantreiben.

wiederum im Filmpodium zu Gast, diesmal mit einer Reihe zu Krieg und Frieden.

Vertonung: Billy Roisz & Dieb13 Vertont wird der monumentale Stummfilm von zwei namhaften Musikern der Wiener Avantgarde-Szene, nämlich der

Donnerstag, 28. Februar, 20.15 Uhr: INTOLERANCE / USA 1916

Video- und Performance-Künstlerin Billy Roisz an Elektronik und E-Bass und dem Improvisationsmusiker und TurntableVirtuosen Dieb13. Bettina Roisz (Elektronik & E-Bass) & Dieter Kovačič ­(Plattenspieler) billyroisz.klingt.org / dieb13.klingt.org 168 Min / tinted + toned / Digital HD / Stummfilm, e + d Zw’titel // DREHBUCH, REGIE UND SCHNITT David Wark Griffith // KAMERA G. W. [Billy] Bitzer, Karl Brown // MIT ­Lillian Gish (die Frau an der Wiege), Mae Marsh (das Mädchen), Fred Turner (ihr Vater), Robert Harron (der Junge), Howard Gaye (der Nazarener), Lillian Langdon (Maria), Olga Grey (Maria Magdalena), Margery Wilson («Brown Eyes»), Eugene Pallette (Prosper Latour), Spottiswoode Aitken («Brown Eyes»’ Vater), Constance Talmadge (das Mädchen aus den Bergen), Elmer Clifton (der Rhapsode).

Prägnant zeichnet David Wark Griffith in

Donnerstag, 14. März, 21.00 Uhr:

­seinem mitten im Ersten Weltkrieg erschie-

THE GENERAL / USA 1926

nenen Meisterwerk Intolerance das Treiben der menschlichen Intoleranz und ihre Folgen von der Antike bis zur Gegenwart. Sein Film besteht aus vier ineinander verwo­ benen, in verschiedenen Zeitaltern spielenden Geschichten, welche die schrecklichen ­Folgen von Hass und Missgunst im Wandel der Zeiten aufzeigen. Kontrovers rezipiert wurde der Film nicht zuletzt deshalb, weil Griffith – ähnlich wie etwa Sigmund Freud – den Krieg als ein nicht vom Menschen zu

Der Sezessionskrieg ist eines der trauma-

trennendes Übel verstand. Auch Griffith re-

tischsten und dadurch mythologisch am

det einer unauflöslichen Verschränkung von

meisten aufgeladenen Ereignisse der US-

Eros und Thanatos, von Liebes- und Todes-

amerikanischen Geschichte. Der Bürger-

trieb das Wort. Der Untertitel des Films,

krieg zwischen den Süd- und Nordstaaten


31 ist das Thema epischer Meisterwerke von Birth of a Nation (1915) bis Gone with the Wind (1939; siehe auch S. 24). Buster Keatons The

Vertonung: Los Dos Vertont wird der seinerzeit erfolglose und heute als Höhepunkt von Buster Keatons Werk geltende Film von Los Dos, dem Boogie-Trash-Duo aus dem Limmat-Delta, das mit

General (1926) nimmt als epische Komödie

­Gitarre und Schlagzeug bewaffnet bereits zahlreiche Filme

eine einzigartige Stellung in der Filmge-

Han Sue Lee Tischhauser (Stimme, Gitarre) & Andreas

schichte des Krieges ein. Die ungewöhnliche Dreiecksbeziehung in Kriegszeiten zwischen

dieses stummsten aller Stummfilmkomiker vertont hat. Wettstein (Schlagzeug) losdos.ch

dem Lokomotivführer Johnnie, seinem

76 Min / sw / DCP / Stummfilm, e + d + f Zw’titel // REGIE

Mädchen Annabelle und seiner Lokomotive

Buster Keaton, Clyde Bruckman // DREHBUCH Al Boasberg,

«General» kommt ins Rollen, als seine geliebte Maschine entführt wird. Erst von dem Moment an verwandelt sich Johnnie im Laufe der männlichen Bewährungsgeschichte vom Zivilisten zum Soldaten, bis sich am Ende alle heroischen Gebärden

Charles B. Smith, nach der Erzählung «Daring and Suffering: A History of the Great Railroad Adventure» von William ­Pittenger // KAMERA Bert Haines, Devereaux Jennings // SCHNITT Buster Keaton, J. Sherman Kell // MIT Buster ­Keaton (Johnnie Gray), Marion Mack (Annabelle Lee), Charles Henry Smith (Annabelles Vater), Frank Barnes (Annabelles Bruder), Glen Cavender (Union Captain Anderson, Chefspion), Jim Farley (General Thatcher).

durch endlose Wiederholung in ihr Gegenteil verkehren.

MI, 20. FEB. | 18.15 UHR

BUCHVERNISSAGE CINEMA #64

QUALITÄT Was macht einen guten Film aus? Was ei-

alter des Internets dar, der mit der aktu-

nen missglückten? Sind die Kriterien bei

ellen Ausgabe erstmals auf Deutsch vor-

einem Schweizer Film andere als bei einem

liegt.

aus Österreich oder aus Hollywood? Die

Bereichert wird die Buchvernissage mit

diesjährige Ausgabe des CINEMA-Film-

zwei starken Schweizer Kurzfilmen: Lenny

jahrbuchs untersucht das Thema Qualität

(2009) von Cyril Schäublin und Fast alles

und Film mit Fokus auf den Journalismus-

(2017) von Lisa Gertsch. Die beiden Film-

film, die Filmästhetik, die Filmkritik, die

schaffenden sind für eine anschliessende

Filmprogrammation und die digitale Wende

Diskussion anwesend.

im Kino. Besonders spannend sind die Statements von Vertreterinnen und Vertre-

LENNY / D 2009

tern der Schweizer Filmbranche, Filmför-

17 Min / Farbe / Digital SD / E // DREHBUCH UND REGIE C ­ yril

derung und Filmkritik, die ihre Erfahrungen mit Filmprojekten sowie Höhe- und Tiefpunkten in ihrem Schaffen pointiert nacherzählen. Ein Highlight von CINEMA #64 stellt zudem der wegweisende Essay «In Verteidigung des ärmlichen Bildes» von Hito Steyerl über Filme und Bilder im Zeit-

Schäublin // KAMERA Mario Krause // SCHNITT Karsten Weissenfels, Cyril Schäublin // MIT Lilith Stangenberg (Lenny), Anton Ambrosino (Anton).

FAST ALLES / Schweiz 2017 25 Min / Farbe / DCP / OV/e // DREHBUCH UND REGIE Lisa Gertsch // KAMERA Simon Bitterli // MUSIK Dimitri Käch // SCHNITT Florian Geisseler, Lisa Gertsch // MIT Oriana Schrage (Leandra), Michael Neuenschwander (Paul), Jan Pezzali (Hotelboy), Lorenzo Lisato (Receptionist).


32 SÉLECTION LUMIÈRE

MABOROSHI NO HIKARI Hirokazu Kore-eda hat 2018 mit seinem

verloren hat, lebt mit seiner Tochter in einem

jüngsten Film Shoplifters in Cannes die

Fischerdorf. Für die Eheleute beginnt ein

­Goldene Palme gewonnen, ein Höhepunkt

neues Leben, aber die Rätsel der Vergan-

in seinem weltweit bejubelten Schaffen.

genheit suchen Yumiko auch weiterhin heim.

Im Rahmen der Sélection Lumière zeigt

Hirokazu Kore-eda, 1962 geboren, drehte

das Filmpodium den beeindruckenden

mehrere Dokumentarfilme, bevor er 1995

Spiel­filmerstling des Japaners, Maboroshi

mit der Romanverfilmung Maboroshi no

no ­hikari aus dem Jahre 1995, eine subtile

­hikari zum Spielfilm wechselte. Schon in

­Meditation über Leben, Tod und Verlust.

diesem Erstling erwies er sich als würdiger Schüler von Yasujiro Ozu und Kenji Mizo­

Die junge Yumiko heiratet Ikuo, den sie für

guchi, indem er mit einer ruhigen, sorgfältig

die Reinkarnation ihrer geliebten, zu früh

komponierten Bildgestaltung das Innen­

verstorbenen Grossmutter hält. Das ehe­

leben seiner komplexen Figuren einfühlbar

liche Glück, dem ein Sohn entspringt, währt

machte. Familienbeziehungen, Verlust und

nicht lange: Plötzlich wird Yumiko gemeldet,

dessen Überwindung sind Themen, die

dass Ikuo unter einen Zug gekommen ist; es

Kore-eda auch in mehreren seiner späteren

sieht nach Selbstmord aus. Nach fünf Jah-

Filme erkundet hat. (mb)

ren der Trauer und der Ratlosigkeit über den Grund für Ikuos Tod heiratet Yumiko zum

✶ am Mittwoch, 13. März, 20.45 Uhr:

zweiten Mal: Tamio, der seine erste Frau

Einführung von Martin Girod

MABOROSHI NO HIKARI (Das Licht der Illusion) / Japan 1995 110 Min / Farbe / DCP / Jap/d/f // REGIE Hirokazu Kore-eda // DREHBUCH Yoshihisa Ogita, nach einer Erzählung von Teru Miyamoto // KAMERA Masao Nakabori // MUSIK Ming Chang Chen // SCHNITT Tomoyo Oshima // MIT Makiko Esumi (Yumiko), Takashi Naito (Tamio), Tadanobu Asano (Ikuo), Midori Kiuchi (Michiko, Yumikos Mutter), Gohki Kashiyama (Yuichi, Yumikos Sohn), Naomi Watanabe (Tomoko, Tamios Tochter), Akira Emoto (Yoshihiro, Tamios Vater).


33 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 412 31 25 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: China Film Archive, Beijing; Cinémathèque Municipale de Luxembourg; CNC, Bois D’Arcy; DFFB, Berlin; Éditions René Chateau, Paris; The Festival Agency, Paris; Les Films du Camélia, Paris; Les Films Montfort, Paris; Lisa Gertsch, Zürich; Les Grands Films Classiques, Paris; Impex Films, Saint-Sauveur-d’Aunis; KG Productions, Montreuil; Kinemathek Le Bon Film, Basel; Park Circus, Glasgow; Roissy Films, Paris; Studiocanal, Berlin; ­Tamasa Distribution, Paris; TF1 International, Boulogne; trigon-film, Ennetbaden; Warner Bros. Entertainment Switzerland GmbH, Zürich; ZHdK, Zürich DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS, Zürich // KORREKTORAT Nina Haueter, Daliah Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 5000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // JahrhundertAbo: CHF 50.– (für alle in Ausbildung; freier Eintritt zu den Filmen der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Francis Ford Coppola zum 80. Geburtstag

Joe May und der frühe deutsche Tonfilm

Francis Ford Coppola hat sich vom Hand­

Joe May (1880 –1954) war einer der wichtigs-

langer Roger Cormans und Mitbegründer

ten Filmschaffenden des Weimarer K ­ inos. Er

des New Hollywood schnell zum Schöpfer

trat nicht nur als Regisseur, Produzent, Ate­

ehrgeiziger und unvergesslicher Blockbus-

lierbetreiber und Pionier zahl­reicher popu-

ter emporgeschwungen. Zu seinem 80. Ge-

lärer Filmgenres auf, sondern war auch

burtstag am 7. April würdigt das Film­podium

Entdecker von Talenten wie Fritz Lang und

den grossen Cineasten mit einer Retrospek-

Thea von Harbou. Vor allem bekannt wurde

tive. Die Godfather-Trilogie, The Conversa-

er durch Monumentalfilme und exotische

tion, Apocalypse Now, Bram Stoker’s Dracula

Grossfilme wie Das indische Grabmal (1921);

– viele von Coppolas Werken kreisen um die

Asphalt (1928/29) gilt als Meisterwerk der

Themen Macht, Wahn und Gewalt, aber er

Stummfilmzeit. In der Frühzeit des Tonfilms

kann auch anders: Subtile Psychogramme

war May an Mehrsprachenversionen betei-

wie The Rain People, Milieustudien wie The

ligt, bevor er von den Nazis ins Exil gezwun-

Outsiders und Rumble Fish und romantische

gen wurde und in Hollywood Fuss zu fassen

Komödien wie Peggy Sue Got Married gehö-

versuchte. Ergänzt werden Mays Werke mit

ren ebenso zu seiner Filmografie.

weiteren deutschen Ton­filmen jener Zeit.


NURI BILGE CEYLAN

«Ein grossartiges Tschechow-Fresko.» TÉLÉR AMA

AB 21. FE B R UAR IM K INO


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