Filmpodium Programmheft April/Mai 2023

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CINEMA SEEN THROUGH

THE EYES OF: CYRIL SCHÄUBLIN

TIMOTHÉE CHALAMET

ALAIN TANNER

1. April–15. Mai 2023

Filmpodium-Highlights April/Mai

GLOBAL SCIENCE FILM FESTIVAL

1.–2. APRIL: SIEHE SEPARATES PROGRAMM UNTER SCIENCEFILM.CH

CYRIL SCHÄUBLINS KURZFILM-PARK S. 16

Cyril Schäublin präsentiert fünf Kurzfilme, die ihn begeistern MO, 3. APRIL | 18.30 UHR

KINO-KONZERT: DER MANN MIT DER KAMERA (DSIGA WERTOW, UDSSR 1928) S. 11

Live Musik: Trio Nail. Michel Doneda (Saxofon), Alexander Frangenheim (Bass), Roger Turner (Schlagzeug). In Kooperation mit dem dem IOIC DI, 4. APRIL | 20.45 UHR

KINO-KONZERT: LE RÉVÉLATEUR (PHILIPPE GARREL, FRANKREICH 1968) S. 50

Live Musik: Radwan Ghazi Moumneh (Stimme, Laute, Elektronik) und Réka Csiszér (Stimme, Elektronik, Cello). In Kooperation mit dem IOIC SA, 15. APRIL | 20.45 UHR

KINO-KONZERT: MENSCHEN AM SONNTAG (ROBERT SIODMAK, EDGAR G. ULMER, D 1930) S. 11

Live Musik: Günter A. Buchwald, (Piano, Violine) DI, 18. APRIL | 20.45 UHR

PODIUMSDISKUSSION: ALAIN TANNER S. 40

18.15 UHR: Kurzfilme über Alain Tanner von Jacob Berger und Studierenden der HEAD

19.15 UHR: Podiumsdiskussion mit Nicolas Wadimoff (Filmemacher und Leiter Filmbereich der HEAD), Jacob Berger (Filmemacher und Schauspieler in Tanners La vallée fantôme) und anderen Gästen. Moderation: Marcy Goldberg DO, 20. APRIL

FOGO-FÁTUO (JOÃO PEDRO RODRIGUES, PORTUGAL/FRANKREICH 2022) S. 48 Premiere in Anwesenheit des Regisseurs. In Zusammenarbeit mit Pink Apple SA, 22. APRIL | 18.30 UHR

RE:VISION: LADY BIRD (GRETA GERWIG, USA 2017) S. 27

Vortragsreihe von und mit Thomas Binotto. In Kooperation mit der Volkshochschule Zürich MI, 26. APRIL | 18.30 UHR

PINK APPLE: GOLDEN APPLE AWARD 2023 S. 47

Preisverleihung an Marco Berger und Premiere seines Films Los agitadores (Argentinien 2022) SO, 30. APRIL | 18.00 UHR

DAS KINO DURCH DIE AUGEN VON CYRIL SCHÄUBLIN S. 09

Kulturredaktor Pascal Blum im Gespräch mit dem Schweizer Filmemacher DI, 2. MAI | 20.30 UHR

ALAIN TANNER & MYRIAM MÉZIÈRES S. 34

18.15 UHR: Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000 (Alain Tanner, Schweiz/Frankreich 1976)

21.00 UHR: Une flamme dans mon cœur (Alain Tanner, Frankreich/Schweiz 1987) in Anwesenheit der Schauspielerin Myriam Mézières. Moderation Marcy Goldberg DO, 11. MAI

MUSIKPODIUM: CONSTRUCTED MEMORIES & DW 16 «SONGBOOK I» S. 51

Multimediale Projekte von Martin Jaggi / Adrian Kelterborn und Bernhard Lang mit dem Ensemble Soyuz21 und Sarah Maria Sun SA, 13. MAI | 20.45 UHR

Weltkino aus der Schweiz

Ein junger Schweizer Cineast wirft seinen scharfen Blick auf die Aktualität der Schweiz und interessiert sich gleichzeitig für helvetische Utopien und die im Jura gewachsenen anarchistischen Ideen. Seine Filme foutieren sich um das bisherige Schweizer Kino und beschreiten neue formale Wege, was ihm internationale Anerkennung beschert.

Ja, die Rede ist von Alain Tanner. Und auch von Cyril Schäublin. Zwar trennen die beiden 55 Jahre (und der Röstigraben), aber es gibt durchaus stimmige Berührungspunkte. Schildert Schäublin in Unrueh in entschleunigten Bildern den Fabrikalltag von Arbeiter:innen, die mit der Stoppuhr überwacht werden, so erinnert dies an den ausgestiegenen Uhrenfabrikanten Dé in Tanners Charles mort ou vif ebenso wie an Rosemonde an der Wurstmaschine in La salamandre. In Dene wos guet geit übt Schäublin auf abstraktpoetische Weise Kritik an jenem Kapitalismus, den Tanner schon in den 1960er-Jahren denunzierte.

Wir erweisen beiden Cineasten die Ehre, in unterschiedlicher Form: Cyril Schäublin wird im Filmpodium Werke der älteren und neueren Filmgeschichte zeigen, die ihn beeinflusst haben oder die er für wegweisend hält; mit Kulturredaktor Pascal Blum wird er live im Filmpodium darüber und über sein eigenes Schaffen sprechen. Dem am 11. September 2022 verstorbenen Alain Tanner widmen wir eine Retrospektive seiner Filme. Vor einer Podiumsdiskussion über Tanner zeigen wir sechs Kurzfilme von 2021, in denen sich Studierende der HEAD mit seinem Œuvre auseinandersetzen, sowie eine Kurz-Hommage des schweizerisch-britischen Filmemachers Jacob Berger, der mit Tanner gedreht hat und der das Filmpodium ebenso besuchen wird wie die Schauspielerin Myriam Mézières, die Tanners Spätwerk mitgeprägt hat.

Das aktuelle Weltkino kommt in zweierlei Form zur Geltung: Timothée Chalamet, genderfluide Galionsfigur des internationalen Filmschaffens, wird in zehn sehr unterschiedlichen Filmen zu sehen sein (darunter in der Kinopremiere des Netflix-Epos The King von David Michôd). Das Pink Apple Festival präsentiert im Filmpodium nicht nur eine Auswahl von Filmen des diesjährigen Pink-Apple-Preisträgers Marco Berger, sondern auch dessen neusten Film Los agitadores als Premiere sowie als weitere Erstaufführung FogoFátuo, ein queeres, antikolonialistisches Klimaschutz-Musical des Portugiesen João Pedro Rodrigues.

Für die eher klassisch Gesinnten sind zudem zwei Seelenwärmer im Programm: Love Affair (1939) und Zorba the Greek (1964).

Titelbild: Bones and All von Luca Guadagnino

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Bones and All © 2022 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved © 2022 METRO-GOLDWYN-MAYER PICTURES INC. all rights reserved Editorial

INHALT

Cinema Seen Through the Eyes of: Cyril Schäublin 04

Dene wos guet geit und Unrueh – zwei Langfilme haben gereicht, um allen klarzumachen, dass Cyril Schäublin ein Ausnahme-Filmemacher mit Vision und Haltung ist. Wir wollten von ihm wissen, wie sein persönlicher Filmkanon aussieht: Was hat ihn geprägt, welche aktuellen Filme hält er für zukunftsweisend? – Seine Filmliste hat uns begeistert und spiegelt den Regisseur und sein Werk: kämpferisch, zeitgeistig, humanistisch, existenziell, mit hintergründigem Humor und einem unbedingten Glauben an die Kraft der filmischen Form. Von Ozu über Altman zu Mati Diop, Wang Bing und Valeska Grisebach. Im ausführlichen Gespräch mit Pascal Blum – in diesem Heft und bei uns im Kino – erzählt Schäublin, was ihn an diesen Filmen berührt und begeistert hat.

Unicorn Timothée Chalamet 18

Ein Einhorn hat ihn Regisseurin und Freundin Greta Gerwig genannt, die Verschmelzung von Christian Bale, Daniel Day-Lewis und Leonardo DiCaprio. Und ihm eine grosse Zukunft vorausgesagt. Wie recht sie hatte! Mit dem sensiblen Coming-ofAge-Drama Call Me by Your Name von Luca Guadagnino hat sich Timothée Chalamet aus dem Nichts in die oberste Liga gespielt. Seither wechselt er mühelos und überzeugend zwischen abgründigen Rollen in Arthousefilmen – etwa als todessehnsüchtiger Junkie in Beautiful Boy – und galaktischen Hollywood-Grossproduktionen wie Denis Villeneuves Dune. Glamourös, abgründig, genderfluid. Eine Hommage inklusive Schweizer Kinopremiere von David Michôds The King und Christopher Nolans Interstellar auf 35mm!

Bild: Call Me by Your Name

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Bild: Cyril Schäublin Foto: Florian Bachmann

Alain Tanner (1929–2022) zählte mit Claude Goretta und Michel Soutter zur Groupe 5, die dem neuen (West-) Schweizer Film zum internationalen Durchbruch verhalf, und trug auch viel zur Schaffung einer Schweizer Filmförderung bei. Sein Erstling

Charles mort ou vif errang 1969 den Goldenen Leoparden; La salamandre lief 1971 in Cannes, und Light Years

Away wurde dort preisgekrönt. Tanner hinterfragte das Selbstverständnis der Schweiz, beschäftigte sich mit dem Verlust der Utopien (Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000, 1976; Messidor, 1979; Jonas et Lila, à demain, 1999), mit Rassismus (La femme de Rose Hill, 1989) und immer wieder mit der Liebe (Le milieu du monde, 1974; Une flamme dans mon cœur, 1987). Bild: Messidor

Pink Apple verstärkt seine Zusammenarbeit mit dem Filmpodium: Von Marco Berger, dem diesjährigen Gewinner des Ehrenpreises «Golden Apple 2023», ist neben einer Retrospektive auch sein neuster Film Los agitadores als Premiere zu sehen sowie als weitere Erstaufführung Fogo-Fátuo, das queer-schräge neue Werk des Portugiesen João Pedro Rodrigues. Beide

03 Alain Tanner 28
42
Pink Apple Award: Marco Berger
sind
Kino
Bild: Plan B Filmpodium Premiere 48 Fogo-Fátuo Filmpodium Classics 49 Love Affair Einzelvorstellungen Sélection Lumière: 52 Zorba the Greek Musikpodium 51 IOIC-Soiree: Le Révélateur 50
Cineasten
im
zu Gast.

Cinema Seen Through the Eyes of:

Cyril Schäublin

Nach der britischen Regisseurin Joanna Hogg bitten wir mit dem Schweizer Filmemacher Cyril Schäublin zum zweiten Mal einen Filmschaffenden um seinen ganz persönlichen Filmkanon: fünf Filme, die Cyril Schäublin für filmhistorisch relevant hält und die für ihn als Person oder für sein Werk wegweisend waren. Und fünf aktuelle Filme, in denen er visionäres Potenzial sieht, die eine Richtung vorgeben, in die sich die Filmkunst seiner Meinung nach entwickeln sollte. Die Regeln sind natürlich wie immer da, um gebrochen zu werden … Im Interview mit Pascal Blum verrät Schäublin, was ihm diese Filme bedeuten. Das Gespräch hat beiden so viel Spass gemacht, dass sie es am 2. Mai im Filmpodium fortsetzen werden. Sie sind eingeladen, mitzudiskutieren.

«Mich interessieren die «Hä?»-Impulse»

Interview mit Cyril Schäublin

Herr Schäublin, Sie haben für «Cinema Seen Through the Eyes of …»

elf lange und sechs kurze Filme ausgewählt, die für Sie wegweisend waren. Keine einfache Aufgabe. Wo haben Sie angefangen?

Schon oft haben mich Freunde gefragt, ob ich ihnen eine Filmliste geben könne. Ich fand dies immer eine schöne Aufgabe, und es ist lustig zu sehen, wie sich die Listen über die Jahre verändert haben. Ich hatte also schon einige Listen als Ausgangspunkt. Auf vielen war zum Beispiel

Mrs. Fang von Wang Bing drauf, ein Film, der eigentlich allen Leuten, die ich kenne, sehr gut gefallen hat.

Es braucht aber schon eine gute Portion Geduld? Gerade für Wang Bing, der den Abschied von einer sterbenskranken Frau zeigt. Oder für die Zugbeobachtungen von James Bennings RR, das ist auch eher langsam. Ich erinnere mich immer wieder gerne an ein Interview, das Fritz Lang in den 60er-Jahren gegeben hat und das man auch auf Youtube findet. Er sagt darin, dass es, als er Ende der 1910erJahre zu arbeiten begonnen habe, noch keine Genres gegeben habe und dass er Mitleid mit den jungen Filmschaffenden der 1960er-Jahre habe, die in so vielen Kanälen und Genres denken müssten. Ich glaube, es ist

↑ Die zauberhafte Beziehung zwischen Mensch und Maschine: Der Mann mit der Kamera

↓ Klassengesellschaft innerhalb der Klassengesellschaft: Gosford Park

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wichtig, die heutigen Definitionen des Kinos und die Vorstellungen, wie es genau aussehen sollte, nicht so ernst zu nehmen. Das betrifft Menschen, die Filme machen, aber es betrifft auch das Publikum. Wir können uns immer noch in einen Anfangszustand des Kinos der 1910er- und 1920er-Jahre hineinversetzen. Wang Bing und James Benning bewegen sich in ihren Filmen in diesem geheimnisvollen Zustand, aber eigentlich tun dies meiner Ansicht nach alle Filme dieser Auswahl. Mir selber dämmert es jedenfalls auch oft, dass das Kino noch so viele Möglichkeiten beinhaltet, sodass ich eigentlich immer noch gar nichts darüber weiss. Das ist doch etwas kokett? Sie haben ja schon zwei Kinofilme gedreht. Es stimmt aber wirklich. Wenn ich zum Beispiel in einem Hotelzimmer bin und jemand neben mir durch die Fernsehkanäle zappt, bin ich immer wieder erstaunt, denn sogar eine «Tagesschau» kommt mir experimentell vor. Am Ende ist doch eigentlich jeder Film ein Experimentalfilm und tut irgendetwas, das dürfen wir nicht vergessen. Trotzdem gibt es in der Film-Liturgie so etwas wie Zentren, wo Nachrichtensendungen und Nestlé-Werbungen entstehen, wo Standards reproduziert und zementiert werden. Und es gibt die Randgegenden, wo Ungewisses geschehen kann. Dort wird es spannend. Dene wos guet geit und Unrueh lassen uns Zeit, um auch einfach mal zu schauen. Ist es das, was Sie am geduldigen Kino von James Benning fasziniert?

Die Filme von James Benning können uns sicher dazu verleiten, die Organisation unseres eigenen Blicks im Kino zu erforschen und uns zu fragen, warum wir eigentlich in diesen Einstellungen in ein Dahin und nicht in ein Dorthin schauen. Diese Fragen kann man sich auch jenseits des Kinos stellen, wo es um den eigenen Blick geht. In vielen Filmen Ihrer Auswahl spielt die Ökonomisierung der Beziehungen eine Rolle. Von Man with a Movie Camera, wo die modernen Maschinen auftauchen, bis hin zu den Klassenfragen in Saint Omer. Trifft die Beobachtung zu?

Klar, dieser Moment, wenn das Kapital seinen phantomhaften Einfluss auf unsere Beziehungen ausübt, scheint mir immer noch traumhaft, schrecklich und irgendwie auch komisch. Diesen Kapital-Druck auszuhalten, wie machen wir das alle? In den Anfängen der Industrialisierung, in der ja auch das Kino als neue Technologie erfunden wurde, ist in dieser Hinsicht sicher viel geschehen. Und wenn man selber Filme macht, steckt man ja schon mitten in diesem Feld drin, muss Kapital, Zeit, Menschen und Maschinen irgendwie miteinander arrangieren.

Da passt auch The Only Son von Yasujiro Ozu dazu: Eine Mutter verarmt, weil sie ihrem Sohn eine bessere Ausbildung ermöglichen möchte.

Auf jeden Fall. Wenn ich mich richtig erinnere, spielt die Ökonomisierung der Familienbeziehungen in fast allen seinen Filmen eine Rolle. Die Frage, wie die Menschen dies aushalten, diese Angst, zu verarmen, es nicht zu

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schaffen, nicht zu bestehen in diesem ökonomischen Spiegelkabinett oder wie auch immer man das bezeichnen möchte. Es ist äusserst erstaunlich, wie viele Produktionen in der Filmgeschichte diese Versprechen der kapitalistischen Ordnungssysteme, also Situationen der Belohnung oder eines erfüllten Träumchens, bis heute immer wieder umsetzen und filmisch reproduzieren.

Sie suchen etwas anderes. Wenn wir von ökonomischen Verstrickungen reden, sind das ja Erzählungen, die sich uns als Wirklichkeiten präsentieren: Wenn du eine gewisse Zeit pro Woche arbeitest, kriegst du einen entsprechenden Lohn und kannst das Geld für bestimmte Dinge ausgeben. Das ist aber keine Wirklichkeit, sondern ein konstruiertes Spielchen. Und das Kino trägt die Möglichkeit in sich, die illusorischen Regeln oder Gewinnversprechen des Spielchens zu zementie-

ren und zu bebildern – oder das Spielchen als solches sichtbar zu machen. Wenn das Kino uns diese konstruierten Mechanismen zeigt und darstellt, wie oft wir ihnen ausgeliefert sind, dann kann es das kapitalistische Phantom sichtbar machen. Und dann kann in einem Film jene Magie oder Poesie beginnen, die uns daraus herausführt. Es können neue Spielchen und Erzählungen erfunden werden, im Kino oder auch darüber hinaus.

Etwas überraschend fand ich in diesem Zusammenhang, dass Robert Altmans Gosford Park auf Ihrer Liste steht. Funktioniert der Film nicht nach Standards der Gesellschaftssatire? Gegen solche Normen wollen Sie doch angehen.

Gosford Park ist für mich ein Film über Zentren und Ränder, aber einmal umgekehrt. Wir erfahren jetzt zum Beispiel, was die marginalen Bediensteten erleben. Es kommt ja auch

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→ Cyril Schäublin Foto: Florian Bachmann

zu einem Mord, aber dafür scheint sich Robert Altman nicht zu interessieren. Sondern er begibt sich in diese äusserst seltsame Zone, in der verschiedene Klassen aufeinandertreffen, wo sie untereinander ihre Arbeits- oder Liebesbeziehungen oder Angestelltenverhältnisse verhandeln. In dieser Zone stehen auf sehr lustige und auch verwunderliche Weise alle irgendwie am Rand, weil es das Zentrum hier vielleicht gar nicht gibt. So wie es klare Ordnungen oder verortbare Zentren auch im Leben gar nicht wirklich gibt. Gosford Park ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme und passt für mich da sehr gut hinein, weil der Film so dezentralistisch und gleichzeitig unglaublich präzise gebaut ist und trotzdem diese «Hä?»Impulse vermittelt, die mich interessieren.

Diese was?

Die «Hä?»-Impulse, die uns antreiben können, in ein Noch-nicht-Verstehen zu gelangen. In einen Zustand des Erst-noch-herausfinden-Könnens. Also auch zu jenen Momenten, in denen nicht alles durch Figurenpsychologie erklärt werden kann. Sie haben überhaupt keine Filme ausgewählt, in denen ein Held seine Hindernisse überwinden muss. Wieso nicht?

Die sogenannte Figurenpsychologie ermöglicht es, dass Menschen diagnostizierbar werden und dadurch leichter einzuordnen sind. Sie werden damit natürlich auch verort- und kapitalisierbar, auch ausserhalb des Kinos. Man kann dann mit ihnen arbeiten. Figurenpsychologie ist unbedingt auf Konflikte, auf Hindernisse ange-

wiesen, die sich den Figuren in den Weg stellen. Es gibt einen schönen Essay von Ursula K. Le Guin dazu, «The Carrier Bag Theory of Fiction», in dem sie schreibt, dass Geschichten möglicherweise ohne «strugglende»

Helden, ohne Kampf, ohne «Konflikt» auskommen können. Und wir unsere Erzählungen, Filme und vielleicht auch unser Leben mit ganz anderen Umgängen, Tricks und Zuwendungen organisieren können. Wir müssen unbedingt noch über Meet Joe Black sprechen, die einzige grössere Hollywoodproduktion, die Sie ausgewählt haben. Wieso ausgerechnet dieses Drama, in dem Brad Pitt den Tod spielt?

Ich muss immer wieder an den Satz aus dem Interviewbuch von Hitchcock und Truffaut denken: Es ist besser, beim Klischee anzufangen, als beim Klischee aufzuhören. Meet Joe Black arbeitet mit zahlreichen Normen und Klischees und Reproduktionen von bestehenden Strukturen, und trotzdem entführt der Film uns aus all dem und landet in einem völlig seltsamen Gebiet. Da Martin Brest Regie sowie Produktion gemacht hat, wurde der Film auch für eine amerikanische Produktion dieses Ausmasses ungewöhnlich lang, fast drei Stunden. Die Dialoge zwischen Claire Forlani und Brad Pitt sind fast schon experimentell langsam geschnitten. Das ist nicht nur lustig, sondern es ist auch einfach ein sehr schöner und bewegender Film.

Der Aufstand gegen die Zustände ist etwas, was Sie immer wieder thematisieren, zuletzt mit Ihrem Spielfilm

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Unrueh, der von einer anarchistischen Bewegung handelt. Kann das Kino überhaupt den Umsturz zeigen? Das ist eine schöne Frage. Was ist ein Umsturz genau? Im Film Chute von Nora Longatti kommt es meiner Meinung nach genauso zu einem Umsturz, denn die Menschen in Chute ändern ihr Verhalten, nachdem jemand in Biel auf der Strasse eingeschlafen ist. Ein anderes Beispiel ist Western von Valeska Grisebach, worin zwei Menschen in zwei unterschiedlichen Sprachen miteinander zu sprechen beginnen und sich trotzdem alles mitteilen können. Ich weiss noch, wie nach der Unrueh-Premiere in Bern eine ehemaligen Nationalrätin im Publikum sagte, sie habe die heftigen Emotionen der anarchistischen Bewegung vermisst. Ich fragte mich dann: Wer bestimmt eigentlich, was emotional ist? Wer hat das monopolisierte Anrecht auf die Bedeutung dieses Begriffs? Es ist doch sehr geheimnisvoll, wie unterschiedlich die Gefühle der Menschen funktionieren und sich zeigen. Gefühlsmässig aufgeladene Revolutionsfilme,

KINO DURCH DIE AUGEN VON

CYRIL SCHÄUBLIN

wie sie ja schon endlos gemacht wurden, mögen vermarktbar sein. Aber gleichzeitig diskreditieren sie wirkliche politische Umstürze und Transformationen.

Was müsste man stattdessen zeigen? Wenn ich das so genau wüsste! Vielleicht den Versuch selbst, mit Filmen unsere Wirklichkeiten auf die Leinwand zu bringen? Und darin unsere schöne Hilflosigkeit, weil das ja eigentlich gar nicht geht? Filme bedienen sich wie Gesellschaftsordnungen oder politische Systeme ja auch einfach nur bestehender Technologien, um unser Wissen, unsere Gesichter, unsere Sprache zu organisieren. Aber indem Filme dies tun, wird eben genau dies, das Erzeugen von Strukturen, irgendwie sichtbar. Das heisst auch, dass es immer nur ein Versuch bleibt und es keine absolut gültige Wirklichkeit gibt. Und damit kann das Kino zu einem Ort werden, wo wir beginnen können, Erzählungen neu zu organisieren.

Cyril Schäublins Kino ist anders. Das gilt für seine zwei eigenen Spielfilme Dene wos guet geit und Unrueh. Es sind Filme über Begegnungen und über Systeme. Filme, in denen Menschen versuchen, einen Umgang miteinander zu finden – wenn da nur nicht die Strukturen wären, in denen sie festhängen. Es gilt aber auch für die Filme, die dem Schweizer Regisseur wichtig sind. Was er uns in seiner Filmauswahl fürs Filmpodium zeigt, ist ein freies Kino. Eines, das nichts wissen will von fixen Vorstellungen, weil es sich nicht in vordefinierten Formen bewegt. Man erkennt in diesen Filmen viele Elemente von Schäublins eigenem Schaffen. Aber was zum Geier findet er an Meet Joe Black so toll? Im Gespräch mit dem Kulturredaktor Pascal Blum kommentiert Schäublin die Filme, die ihn prägen. (blu)

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Pascal Blum
DI, 2. MAI
20.30 UHR
Pascal Blum ist Kulturredaktor beim «Tages-Anzeiger». DAS
|
→ Menschen am Sonntag
→ The Only Son

KINO-KONZERT: DER MANN MIT DER KAMERA

(Tschelowjek s kinoapparatom)

UdSSR 1928

«Ein wegweisendes Experiment: Dsiga Wertow dokumentiert den Tagesablauf einer grossen sowjetischen Stadt, montiert aus Moskau, Kiew und Odessa. (…) Wertows Meisterwerk ist ein begeisterndes Zeugnis des modernen Lebens und eine Ode an die Macht des Films. Die brillante Mischung aus Dokumentarfilm und Avantgarde-Techniken ist eine radikale Neudefinition der Grenzen des Kinos. Ein Klassiker, der auch viele Jahre später noch bahnbrechend bleibt.» (mubi.com)

«Die konstruktivistische Dichtergruppe um Sergei Tretjakow rief in der frühen Sowjetunion Ende der 1920er-Jahre dazu auf, dass nicht mehr Menschen in den Zentren der Erzählungen sein, sondern Maschinen die Rolle der Protagonist:innen einnehmen sollten. Zur selben Zeit dreht Dsiga Wertow diesen strahlenden Film und begibt sich auf Erkundungstour mitten in das zauberhafte Feld der Beziehung zwischen Mensch und Maschine, in diesem Fall einer Kamera.» (Cyril Schäublin)

Eine Kooperation mit dem IOIC

DI, 4. APRIL | 20.45 UHR

LIVE-MUSIK: TRIO NAIL (FREIE IMPROVISATION/JAZZ)

MICHEL DONEDA (SAXOFON), ALEXANDER FRANGENHEIM (BASS) UND ROGER TURNER (SCHLAGZEUG)

66 Min / sw / 35 mm / Stummfilm ohne Zw´titel // DREHBUCH

UND REGIE Dsiga Wertow // KAMERA Michail Kaufman // SCHNITT Elisaweta Swilowa.

KINO-KONZERT:

MENSCHEN AM SONNTAG

Deutschland 1930

«Eines der zauberhaftesten ‹Kollektivdebüts› der Filmgeschichte: Edgar G. Ulmer, Fred Zinnemann, Robert Siodmak und sein später als Szenarist hervortretender Bruder Curt führten zu unterschiedlichen Anteilen Regie, die SiodmakBrüder zeichneten zusammen mit dem 23-jährigen Billie (später: Billy) Wilder für das Drehbuch. Beschrieben wird die wunderbare Leichtigkeit eines Berliner Sonntags im Hochsommer, an dem zwei Freunde und zwei Freundinnen, von Kopf bis Fuss auf Vergnügen eingestellt, zum Baden an den Wannsee fahren. Die Kamera beobachtet die Techtelmechtel (und vieles mehr) mit dokumentarischer Lust, die Stimmung ist bald ausgelassen, bald melancholisch. Die lebenslustigen Bur-

schen, die das alles mit impressionistischer Leichtigkeit hintupften, setzten sich alle vor der braunen Flut nach Amerika ab und machten in Hollywood ausnahmslos Karriere.» (Andreas Furler, Filmpodium, April/Mai 2007)

«Während die Berliner Laiendarsteller:innen Freizeit imitieren, driftet der Film in fragile und wunderbare Momente ab, wobei Blicke, Schlaf und Wasser vielleicht zu den eigentlichen Protagonist:innen werden. In seinem ebenfalls 1930 erschienenen Buch ‹Die Angestellten›, einer Studie über das Alltagsleben von Büroangestellten in Berlin, schrieb der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer: ‹Die Wirklichkeit ist ein Mosaik, eine Konstruktion. Das Leben muss beobachtet werden, damit sie entsteht.›» (Cyril Schäublin)

DI, 18. APRIL | 20.45 UHR

LIVE MUSIK: GÜNTER A. BUCHWALD, FREIBURG I.BR (PIANO, VIOLINE)

74 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, dt. Zwʼtitel // REGIE Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Curt Siodmak, Fred Zinnemann // DREHBUCH Billy Wilder // KAMERA Eugen Schüfftan // SCHNITT Robert Siodmak // MIT Erwin Splettstösser (Taxifahrer), Brigitte Borchert (Schallplattenverkäuferin), Wolfgang von Waltershausen (Weinhändler), Christl Ehlers (Mannequin), Annie Schreyer (Annie, die Daheimgebliebene), Kurt Gerron, Valeska Gert, Ernö Verebes, Heinrich Gretler (Passanten).

THE ONLY SON

(Hitori musuko)

Japan 1936

«Der erste Tonfilm von Yasujiro Ozu, der ungemein ergreifende The Only Son, gehört zu den grössten Werken des japanischen Regisseurs. In seiner einfachen Geschichte über eine gutherzige Mutter, die alles aufgibt, um Ausbildung und Zukunft ihres Sohnes zu sichern, berührt Ozu universelle Themen wie Aufopferung, Familie, Liebe und Enttäuschung. Der Film erstreckt sich über viele Jahre und ist ein Familienporträt im Kleinformat, realisiert mit der gewohnt exquisiten Kontrolle des Regisseurs.» (criterion.com)

«So etwas wie eine filmische Entführung in ein Gebiet, in dem die Kapitalisierung von menschlichen Beziehungen ihren eigenen Raum gewinnt, wo Geld, Gehälter und Einkommen beginnen, Einfluss auf Körper, Handlungen, Erzählungen und familiäres Zusammenleben auszuüben. Ozu nähert sich diesem brutalen Gebiet geheimnisvoll und vorsichtig, indem die Menschen mit ihren Stimmen, Händen und Blicken diese kapitalisierten Drucksituationen – miteinander oder mit sich allein – irgendwie aushalten müssen und genau dadurch umso zugänglicher, wärmer, fassbarer werden.» (Cyril Schäublin)

Cyril Schäublin
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MEET JOE BLACK USA 1998

«Als Susan Parrish in einem Café einem attraktiven Fremden über den Weg läuft, ist die Anziehungskraft auf Anhieb hoch. Doch als die beiden sich trennen, stehen die Chancen auf ein Wiedersehen schlecht, schliesslich haben sie nicht einmal die Namen ausgetauscht. Umso grösser ist die Überraschung, als sie ihm bei einem Essen mit ihrem Vater William wieder gegenübersteht und er als Joe Black vorgestellt wird. Doch irgendwie ist sein Verhalten seltsam, aus gutem Grund: In Wahrheit handelt es sich bei ihm um den Tod, der vorübergehend den Körper des kürzlich verstorbenen jungen Mannes angenommen hat, um mit Hilfe von William die Welt der Menschen näher kennenzulernen.» (Oliver Armknecht, filmrezensionen.de, 8.4.2020)

«Ungewöhnlich für eine amerikanische Produktion dieses Ausmasses, zeichnete Martin Brest für die Regie sowie für die Produktion dieses Films verantwortlich, woraus sich wohl die für Hollywood unüblich langsam geschnittene, dreistündige Dauer des Films ergibt und wobei die künstlerische Haltung anscheinend über die Produzentenhaltung die Überhand gewonnen hat. Der Film zeigt, dass eigentlich alle Filme experimentell sein können: Er bewegt sich ebenso nahe an den zentralisierten Standards wie an den risikobehafteten Rändern des Kinos. Und dann verleitet der von Brad Pitt personifizierte Tod einen Businessmagnaten (Anthony Hopkins) dazu, von seinen üblen Machenschaften abzulassen, was insgesamt alles auch sehr lustig ist.» (Cyril Schäublin)

178 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Martin Brest // DREHBUCH Bo Goldman, Ron Osborn, Jeff Reno, Kevin Wade

// KAMERA Emmanuel Lubezki // MUSIK Thomas Newman

// SCHNITT Joe Hutshing, Michael Tronick // MIT Brad Pitt (Joe Black), Anthony Hopkins (William Parrish), Claire Forlani (Dr. Susan Parrish), Jake Weber (Drew), Marcia Gay Harden (Allison), Jeffrey Tambor (Quince), June Squibb (Helen).

GOSFORD PARK

GB/USA 2001

«England, 1932. Auf dem ländlichen Anwesen Gosford Park hat sich eine illustre Gesellschaft eingefunden. Die Anwesenden sind einer Einladung des ebenso wohlhabenden wie eigenwilli-

gen Sir William McCordle und seiner Frau Lady Sylvia gefolgt. Die zahlreichen Bediensteten, darunter die strenge Hausdame Mrs. Wilson, der überhebliche Butler Henry Denton und der geheimnisvolle Robert Parks, leben derweil in einer Art Parallelwelt. Hinter den Kulissen durchschauen die Diener und Zofen so manches Ränkespiel der feinen Herrschaften, pflegen untereinander aber ähnliche Hierarchien wie ihre aristokratischen Arbeitgeber: eine Klassengesellschaft innerhalb der Klassengesellschaft. So nimmt ein feudales Wochenende der englischen Upperclass seinen Lauf, bis ein dramatischer Zwischenfall die Anwesenden aus ihrer selbstgefälligen Lethargie reisst.» (ndr.de)

«Ein Mord in einem englischen Landhaus liefert diesem Film sein Alibi, um in alle möglichen Richtungen und Erzählungen auszuufern, welche mit dem Mord eigentlich gar nichts zu tun haben. Während das mit Berühmtheiten besetzte CastKollektiv eine amüsierende Beiläufigkeit zur Schau stellt und alle wunderbar neben den Schuhen zu stehen scheinen, kreist der Film um jene merkwürdige Begegnungszone, in der sich Klassenunterschiede in ihrer ganzen feinen Gewaltsamkeit abzeichnen.» (Cyril Schäublin)

136 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Robert Altman // DREHBUCH Julian Fellowes, nach einer Idee von Robert Altman, Bob Balaban // KAMERA Andrew Dunn // MUSIK Patrick Doyle // SCHNITT Tim Squyres // MIT Maggie Smith (Constance, Countess of Trentham), Helen Mirren (Mrs. Wilson), Michael Gambon (William McCordle), Kristin Scott Thomas (Sylvia McCordle), Ryan Phillippe (Henry Denton), Charles Dance (Lord Raymond Stockbridge), Bob Balaban (Morris Weissman), Stephen Fry (Inspektor Thompson), Kelly Macdonald (Mary Maceachran), Emily Watson (Elsie), Clive Owen (Robert Parks), Richard E. Grant (George).

RR USA 2007

«Der Film besteht aus 43 Aufnahmen unterschiedlicher Güterzüge in den USA. Die Länge der einzelnen Einstellungen richtet sich nach der Zeit, die der jeweilige Zug benötigt, um das Filmbild zu durchqueren. Benning inszeniert überwältigende Landschaftspanoramen und spielt in jeder fixen Einstellung mit visuellen Reizen, die durch den permanenten Wechsel zwischen Enthüllung und Kaschierung des Raums hervorgerufen werden. Die Landschaft scheint überwiegend als Hintergrund für Bennings lebenslange Leidenschaft für die Eisenbahn zu dienen. Auch in diesem Film gelingt es ihm, die Bilder des Films mit der geografischen, sozialen und politischen Geschichte in Verbindung zu bringen. Sechs Ton-

Cyril Schäublin 12
82 Min / sw / 35 mm / Jap/e // REGIE Yasujiro Ozu // DREHBUCH Tadao Ikeda, Masao Arata // KAMERA Shojiro Sugimoto // MUSIK Senji Ito // SCHNITT Eiichi Hasegawa, Hideo Mohara // MIT Choko Iida (Tsune Nonomiya), Shinʼichi Himori (Ryosuke Nonomiya), Masao Hayama (Ryosuke Nonomiya als Kind).

fragmente, die aus der Umgebung der Einstellung zu stammen scheinen, ziehen sich durch den Film: Ein Mormonenchor singt ‹The Battle Hymn of the Republic›, man hört die Übertragung eines Baseballspiels von 1992 zusammen mit einem Coca-Cola-Werbejingle aus dem Jahr 1972, Gregory Peck liest aus der Offenbarung des Johannes, Woody Guthrie singt ‹This Land Is Your Land›, es folgt Eisenhowers Abschiedsrede aus dem Jahre 1962, (…) und zum Schluss hört man ‹Fuck tha Police› der Hip-Hop-Band N.W.A.» (Barbara Pichler, Claudia Slanar (Hrsg.): James Benning. FilmmuseumSynemaPublikationen, Vol. 6. SYNEMA-Publikationen, Wien 2007)

«In statischen Einstellungen transportieren Güterzüge Waren durch amerikanische Landschaften, gleiten scheinbar endlos in die Bilder hinein und irgendwann wieder hinaus. Eine Einladung, sich selbst im Kino vielleicht in einen Zug zu verwandeln, seine Gedankenflüsse in Warenflüsse umzuleiten, oder sich damit zu beschäftigen, wie es den Grashalmen am unteren Rand der Einstellung eigentlich geht, welche ja auch irgendeine Beziehung zu den vorbeifahrenden Zügen pflegen. James Benning sagt dazu: ‹We find looking and listening to be a political act, our differences in perception reflecting our individual prejudices.›» (Cyril Schäublin)

MRS. FANG (Fang Xiuying)

Hongkong/Frankreich/Deutschland 2017

«Der Film verfolgt die letzten zehn Tage im Leben der chinesischen Bäuerin Fang Xiuying, einer 68-jährigen Frau, die an Alzheimer erkrankt ist. Sie kehrt zum Sterben in ihren kleinen Heimatort am Flussufer in der südöstlichen Provinz Zhejiang zurück. Dort liegt sie, umgeben von ihrer Familie, von Verwandten und Freunden. Bing zeigt das Leben der Leute, wie sie in der Nacht mit Stromstangen illegal fischen gehen, den Alltag bewältigen, sich um die alte Frau kümmern und über sie und ihr Leben diskutieren.» (Kunsthalle Zürich, Februar 2019)

«In einem der vielleicht schönsten Filme der Geschichte des Kinos bewegt sich die Kamera von Wang Bing wie ein äusserst Anteil nehmendes, filmendes Phantom durch eine Strasse und ein Haus in einer Stadt im Südosten Chinas. Der Film lässt uns Nachbarschaftsgesprächen über alles Mögliche lauschen, während Mrs. Fang sich in ihrem Bett liegend langsam, aber sicher jenem (un-

13 Cyril Schäublin
→ Meet Joe Black 111 Min / Farbe / 16 mm / E // DREHBUCH, REGIE, KAMERA, SCHNITT James Benning.
→ A Long Journey Home
→ Mrs. Fang → Saint Omer → RR. → Western.

möglich filmisch festzuhaltenden) Moment nähert, welcher uns alle irgendwann ereilen wird.»

86 Min / Farbe / DCP / Chin/e // DREHBUCH UND REGIE Wang Bing // KAMERA Wang Bing, Shan Xiaohui, Bihan Ding // SCHNITT Wang Bing, Dominique Auvray.

WESTERN

Deutschland 2017

«Ein Trupp deutscher Bauarbeiter macht sich auf den Weg, um in Bulgarien in einsamer Berglandschaft ein Wasserwerk zu bauen. Fern der Heimat ist die bunt zusammengewürfelte Truppe auf Montage in einem fremden Land, in dem sich die Männer nicht einmal sprachlich verständigen können. Hoch auf dem Berg bauen sie sich eine Art deutsche Burg und hissen die Fahne. Nur Meinhard sucht den Kontakt mit den Einheimischen im Dorf und wird nach ungeschickten Versuchen der Annäherung auch wirklich angenommen. Nicht nur deshalb gelangt er in die Rolle des Aussenseiters.» (Hannelore Heider, deutschlandfunkkultur.de, 24.8.2017)

«Inmitten von Hügeln an der griechisch-bulgarischen Grenze nimmt diese in keiner Weise vorhersehbare Erzählung ihren Lauf: Deutsche Bauarbeiter aus Brandenburg leiten einen Fluss um, um ein EU-gesponsertes Wasserkraftwerk zu errichten, und beginnen hier mit den lokalen Menschen in Kontakt zu treten. All dies mündet in einen weiten filmischen Ozean, in welchem Grenzen von Sprachen und Territorien zu verschwimmen beginnen, und in eine der allerschönsten Szenen des Kinos, wenn Meinhard (Meinhard Neumann) und Adrian (Syuleyman Alilov Letifov) einander bei Schnaps und Mondlicht plötzlich alles mitteilen können, obwohl sie beide eine für den anderen unbekannte Sprache sprechen.» (Cyril

119 Min / Farbe / DCP / D+Bulg/d/f // DREHBUCH UND REGIE Valeska Grisebach // KAMERA Bernhard Keller // SCHNITT Bettina Böhler // MIT Meinhard Neumann (Meinhard), Reinhardt Wetrek (Vincent), Syuleyman Alilov Letifov (Adrian), Veneta Fragnova (Veneta), Vyara Borisova (Vyara), Kevin Bashev (Wanko), Aliosman Deliev (Mancho), Momchil Sinanov (Manchos Grossvater).

A LONG JOURNEY HOME

(Wu kou zhi jia)

China 2022

«Nach ihrem Filmstudium in Chicago kehrt Zhang Wenqian nach China zurück und filmt sich und ihre Eltern bei einem frühsommerlichen Famili-

enbesuch in ihrer Heimatstadt Taizhou. In den Situationen, die sich dabei entfalten, wird geschrien und geflüstert, geweint und gelacht. Mit einer grossen Zugewandtheit eröffnet der Film zahlreiche Zugänge, um sich zwischen den Wänden einer kleinen Wohnung auf die monumentale Vielschichtigkeit der chinesischen Gegenwart einzulassen.» (Cyril Schäublin)

«Der Film unternimmt eine Beziehungs-, Zeitund Filmreise und hinterfragt generationsübergreifende Familienmodelle in China von Innen heraus. Die Filmemacherin lässt ihre Kamera in festen Einstellungen laufen. (...) Dramen und Streitigkeiten trüben die Stimmung im Haus und entwickeln sich zu vorübergehenden, aber zyklischen Stürmen. Aus dem Hintergrund erscheint die jüngere chinesische Geschichte, die rasante Entwicklung der 1990er-Jahre, die die ganze Gesellschaft geprägt hat. A Long Journey Home ist eine beeindruckende Emanzipationsgeschichte auf der Suche nach einem Platz unter den eigenen Leuten.» (Alice Riva, Visions du Réel, 2022)

SAINT OMER Frankreich 2022

«In der französischen Gemeinde Saint Omer findet ein Gerichtsprozess statt: Laurence Coly wird des Mordes an ihrer 15 Monate alten Tochter angeklagt. Während die Richterin versucht Motive und Beweggründe aus Coly hervorzuholen, wird die Szenerie von der eigentlichen Protagonistin, der Schriftstellerin Rama beobachtet. Sie möchte das Geschehen in einen Medea-Roman umwandeln und spürt als werdende Mutter selbst zunehmend eine ambivalente Befangenheit. Als die Aussagen der Angeklagten sich mehr und mehr widersprechen, wird die Geschichte immer brüchiger, statt auf herkömmliche juridische und emotionale Eindeutigkeiten eines Gerichtsdramas zuzusteuern.» (Bianca Jasmina Rauch, kinozeit.de, 2022)

«Die Nachstellung eines Gerichtfalls lässt die Vorstellungswelten der französischen Staatlichkeit und Jurisdiktion in seltsam konkreter Form in Erscheinung treten. Während die Menschen im Film das uneditierte Gerichtsprotokoll originalgetreu rezitieren, schleicht sich ein albtraumhaft reales, metallisches Wirklichkeitsgefühl der französischen und europäischen Gegenwart ein. Dabei stellt sich vielleicht die Frage, wie man dieser Stimmung begegnet, wie man sich ausdrückt, wenn man dem Staat sein Gesicht herhalten muss, und was es für Auswege aus diesem Labyrinth geben könnte.» (Cyril Schäublin)

15 Cyril Schäublin
123 Min / Farbe / DCP / Chin/e // DREHBUCH, REGIE, KAMERA Zhang Wenqian // SCHNITT Huang Yue.

122 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Alice Diop // DREHBUCH

Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaya // KAMERA Claire Mathon // SCHNITT Amrita David // MIT Kayije Kagame (Rama), Guslagie Malanda (Laurence Coly), Valérie Dréville (vorsitzende Richterin), Aurélia Petit (Maître Vaudenay), Xavier Maly (Luc Dumontet), Robert Cantarella (Staatsanwalt), Salimata Kamaté (Odile Diata), Thomas De Pourquery (Adrien).

CYRIL SCHÄUBLINS KURZFILM-PARK

«In diesem Park aus Lieblingskurzfilmen liegen Schlüssel zu mehreren Welten: Das gespenstische Innere eines Leuchtturms am Atlantik, Kriminalistik und Comedy in einem Genfer Altersheim, pissende und dichtende Körper auf einem Hochhausdach in Buenos Aires, das plötzliche Eintreten gegenseitiger Hilfssysteme aufgrund eines narkoleptischen Anfalls in einer Migros in Biel, oder eine um sich selbst drehende, magische Kreiskamerabewegung in einem Schlafzimmer, in dem Blicke rotieren und sich auflösen können.» (Cyril Schäublin)

CHUTE

Schweiz 2021

«Inmitten einer anonymen Stadt bricht eine Person zusammen. Unbekannte gehen an ihr vorbei oder beugen sich über sie. Chute ist eine intime Recherche über Resonanz in einer Welt aus Vorbeigehenden.» (noralongatti.com)

PUDE VER UN PUMA Argentinien 2012

Eine Gruppe Jungs hängt auf Hausdächern rum. Ein Unfall geschieht. Die Jungs schlendern durch zerstörte Häuser, wechselnde Landschaften, bis sie die Erde verschluckt. (pm)

CHAMP DE MARS

Schweiz 2019

«In einem Altersheim versucht ein Filmteam, einen Thriller zu drehen, in dem eine Ernährungsberaterin beschliesst, Schokolade zu verbieten, was drei Bewohner:innen dazu bringt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.» (Swiss Films)

LA CHAMBRE Belgien 1972

«Langsame 360-Grad-Schwenks erfassen Akerman in ihrem Schlafzimmer in New York bei verschiedenen Tätigkeiten; am Ende ist sie aus dem Raum verschwunden und hinterlässt Leere.» (arsenal-berlin.de)

ATLANTIQUES

Senegal/Frankreich 2009

«Mati Diop versammelt in ihrem Video drei junge Männer um ein Lagerfeuer, wo diese sich über Gott und das Meer austauschen. Einer von ihnen, Serigne, ist ums Leben gekommen, als er den Atlantik überqueren wollte. Das klingt nur so lange paradox, bis man das Gespräch als Poem und das Lagerfeuer als Zwischenreich zu verstehen beginnt, in dem Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod, Geschichte und Mythos ineinander schmelzen. Ein Gedicht von einem Film.» (Viennale 2010)

CHUTE

20 Min / Farbe / DCP / F/e // DREHBUCH UND REGIE Nora Longatti // KAMERA Carlos Tapia Gonzàles // MUSIK Anuk Schmelcher, Nora Longatti // SCHNITT Maxence Tasserit // MIT Fhunyue Gao, Barbara Kurth, Agathe Lecomte, Jeff Nsingi Ambassi, Julian Gyphens, Yevgenia Korolow.

PUDE VER UN PUMA

18 Min / Farbe / Digital HD / Port/e // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Teddy (Eduardo) Williams // KAMERA Manuel Bascoy // MUSIK Teddy (Eduardo) Williams, Alex Del Río.

CHAMP DE MARS

14 Min / Farbe / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Rokhaya Marieme Balde // KAMERA Raphaël Harari // MUSIK Elephant Troop // SCHNITT David Nguyen // MIT Armand Bury (Ismaël), Colette Antoniotti, Gilberte Gianoli, Camille Bouzaglo.

LA CHAMBRE

11 Min / Farbe / DCP / ohne Dialog // DREHBUCH UND REGIE Chantal Akerman // KAMERA Babette Mangolte // SCHNITT Geneviève Luciani.

ATLANTIQUES

16 Min / Farbe / DCP / Wolof/e // DREHBUCH UND REGIE Mati Diop // KAMERA Mati Diop, Assymby Coly // SCHNITT Nicolas Milteau // MIT Alpha Diop, Cheikh M’Baye, Ouli Seck, Serigne Seck.

 am Montag, 3. April um 18.30 Uhr in Anwesenheit von Cyril Schäublin

16 Cyril Schäublin
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Unicorn Timothée Chalamet

Er ist einer der gefragtesten Schauspieler seiner Zeit und in den unterschiedlichsten Rollen zu Hause. Stets umgibt ihn dabei etwas Unfassbares und absolut Eigenständiges. Timothée Chalamet ist eines jener Ausnahmetalente, die in der Filmwelt nur alle paar Dekaden einmal auftauchen. Dabei steht er erst am Anfang seiner Karriere.

Das erste Mal aufgefallen ist mir dieser schlaksige Junge 2014 in dem ScienceFiction-Film Interstellar von Christopher Nolan. Damals war er noch kein Wuschelkopf, sondern trug seine schwarzen Haare kurz und glatt. Timothée Chalamets Auftritt ist nur kurz – und dennoch blieb mir die Szene im Kopf, in der er sich von seinem Vater vor dessen Weltraummission verabschiedet. Irgendetwas war in seinem Blick, eine besondere Mischung aus Melancholie und Verzweiflung.

Denselben verletzlichen Blick sah ich drei Jahre später in dem Film wieder, der dem amerikanisch-französischen Schauspieler den Durchbruch und gleichzeitig seine erste Oscarnominierung bescherte: Call Me by Your Name. In Luca Guadagninos hinreissend schönem Film, der Anfang der 80er-Jahre in Norditalien spielt, ist Chalamet das erste Mal in einer Hauptrolle zu sehen. Als frühreifer 17-Jähriger verliebt er sich in einen Studenten, der seinen Vater bei wissenschaftlichen Recherchen unterstützt. Die Sommerromanze ist durchdrungen von poetischer Leichtigkeit, raffinierter Sinnlichkeit und tief empfundenem Schmerz. Bewegt hat mich der Moment, als der Vater den Sohn davor warnt, seinen Kummer zu vergessen. «Wir reissen so viel aus uns heraus, um schneller geheilt zu werden, und jedes Mal haben wir danach weniger zu bieten.» In der Schlussszene kumulieren alle Gefühle in Chalamets ausdrucksstarkem Gesicht. Man sieht, wie sein Herz zerbricht, und spürt die Verletzung, als ob es sich um die eigene handeln würde.

Seine beeindruckendste Darstellung lieferte Timothée Chalamet für mich jedoch als Crystal-Meth-Süchtiger in Beautiful Boy. Dort trägt er den zerstörerischen Narzissmus seiner Figur mit seiner ganzen Mimik und Gestik direkt nach aussen und wechselt dabei mühelos zwischen Verletzlichkeit, Angst, Aggression und Verzweiflung. Mit der ihm ganz eigenen MillennialJames-Dean-Attitude ist er weit entfernt von diversen Junkie-Klischees und bringt uns dazu, uns wirklich für seine Figur zu interessieren. Die traurigen Teenagerseelen, die Einsamen und Verlassenen, die Unverstandenen und auf

↑ Coming of Age eines Messias: Dune: Part One

↓ Im Regen auf Abwegen: A Rainy Day in New York

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ihre Art Rebellischen – genau die spielt der inzwischen 27-jährige Timothée

Chalamet mit Bravour. Stets wirkt er verloren in einer Welt, die ihn nicht ganz fassen kann. Stets tanzt er mit einer rohen, authentischen Kraft trotzigrockig auf dem Rand eines inneren Abgrunds. Ob als junger englischer König Henry V. in The King, der buchstäblich im Morast der Machtspiele versinkt, oder als komplexer Kannibale in Bones and All, der mit einem Trauma zu kämpfen hat.

Der suchende Kämpfer

Es scheint, dass Chalamet dabei viel aus seinen eigenen, persönlichen Erfahrungen zieht. Gross geworden in einer Schauspielerfamilie, äusserte er sich selbst schon einige Male dazu, dass seine Kindheit in New Yorks Hell’s Kitchen keine einfache gewesen sei – ohne nähere Details zu nennen. Besonders als Teenager – hier noch mit dem Ziel, Profi-Fussballer zu werden – habe er mehrmals mit seinem Verhalten angeeckt, mit seiner «Ich-gegen-alle-Mentalität». Das führte auch zu einigen Anlaufschwierigkeiten bei seiner Schauspielkarriere. An die renommierte LaGuardia High School of Music & Art and Performing Arts schaffte er es aufgrund seiner Auffälligkeiten in der Mittelschule erst im zweiten Anlauf. Einmal dort angekommen, blühte er auf, bekam eine wiederkehrende Rolle in der Serie Homeland, und dann ging es für ihn in Hollywood relativ schnell und steil nach oben. Die Schauspielerei, sagte er dazu, sei seine Leiter gewesen, um aus dem Loch herauszuklettern. Es sei das Einzige, was ihn erfülle. Das zeigt er nicht nur im Film, sondern auch regelmässig auf Theaterbühnen.

Für manche ist Chalamet der neue Leonardo DiCaprio, und in Bezug auf Werdegang und schauspielerische Qualitäten ist das nicht so weit hergeholt. Doch Chalamet steht erst am Anfang seiner Reise. Er wartet noch auf den Film, der für ihn das tut, was Titanic für Leonardo DiCaprio geleistet hat: ihn als Alphastar zu definieren – als jemand, der jede Filmszene zu einer Bühne für seine besondere Aura macht. Die Voraussetzungen dazu hat Chalamet, der über eine ungemein grosse schauspielerische Bandbreite verfügt, zweifellos. Er kann auf der Leinwand nicht nur ernst, sondern auch sehr witzig sein. Wie in Greta Gerwigs Lady Bird (2017) als abgeklärter Highschool-Lover oder in The French Dispatch (2021), wo er als studentischer Revolutionär durch die Skurrilität von Wes Andersons Welt wirbelt. Er überzeugt in Arthousefilmen genauso wie in Mega-Blockbustern à la Dune (2021). Seine facettenreiche Persönlichkeit, seine Ecken und Kanten ermöglichen diese Vielfalt.

Anziehende Ambivalenz

Nicht zuletzt spiegelt sich das auch in seinem selbstbewussten, futuristischsurrealen Modebewusstsein wider, das irgendwo zwischen Haider Ackermann und Gustav Klimt pendelt. Er war der erste Mann auf dem Cover der

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britischen «Vogue» und unterstrich damit seinen Status als Stilikone. Auf diversen Events zeigt er sich mit Anzügen in Fuchsia, metallischem Silber und mit Blumenmustern – dann wieder in Glitzer, Grunge und im Hip-Hop-Style, rückenfrei oder mit blankem Oberkörper. Diese androgyne Breitseite krempelt die gängige Vorstellung von männlichem Stil derart um und definiert ihn neu, dass regelmässig über Chalamets sexuelle Präferenzen gemunkelt wird. Ist er nun hetero, schwul, bi oder pan? Es scheint fast, als würde ihn dieses Rätselraten amüsieren. Als würde er gern und so lange wie möglich ein wandelnder Widerspruch bleiben. Schaden tut das seinem Image jedenfalls kein bisschen. Im Gegenteil. Es vergrössert nur seine Fangemeinde. Und es macht ihn zu einem Schauspieler, der sowohl ein Produkt seiner Zeit ist als auch aus ihr herausfällt.

Chalamet ist weit mehr als der gut aussehende Posterboy, dem alles egal ist. Er ist einer, der sich Gedanken macht und sich der Verantwortung bewusst zu sein scheint, die der Erfolg mit sich bringt. Auf dem letztjährigen Venedig Film Festival äusserte er sich bei der Bones and All-Pressekonferenz zu Isolation und Ausgrenzung. «Ich kann mir kaum vorstellen, wie schlimm es für Teenager heute ist, in dieser Social-Media-Bubble, in der man ständig bewertet wird, aufzuwachsen und herauszufinden, wohin man gehört. Ich glaube, der gesellschaftliche Zusammenbruch liegt in der Luft. Deshalb sehe ich meine Rolle als Künstler auch darin, ein Licht auf das zu werfen, was vor sich geht.» Vielleicht liegt darin das Geheimnis seines Erfolgs. Die hollywoodsche Extravaganz verzeiht man einem Timothée Chalamet eher als anderen Nachwuchshoffnungen seiner Generation. Weil er trotz all des Glamours geerdet scheint und irgendwie nahbar in all seiner Unnahbarkeit. Weil er sich seinen Ängsten und Fehlern stellt und daran wachsen will. Ich wünsche ihm, dass er den schwierigen Balanceakt meistert, der hellste Stern am derzeitigen Filmhimmel zu sein und sich – ganz Unicorn – trotzdem selbst treu zu bleiben.

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Sarah Stutte ist Filmjournalistin und Autorin.
→ Lady
Beautiful
→ Interstellar
Bird →
Boy

INTERSTELLAR

USA/GB/Kanada 2014

Erstmals in der Schweiz auf 35 mm.

«Was Wissenschaftler, Politiker und Aktivisten seit Jahrzehnten prophezeien, ist eingetreten: Die Menschheit steht kurz davor, an einer globalen Nahrungsknappheit zugrunde zu gehen. Die einzige Hoffnung der Weltbevölkerung besteht in einem geheimen Projekt der US-Regierung, das von dem findigen Wissenschaftler Professor Brand geleitet wird. Der Plan sieht vor, eine Expedition in ein anderes Sternensystem zu starten, wo bewohnbare Planeten, Rohstoffe und vor allem Leben vermutet werden. Der Ingenieur und ehemalige NASA-Pilot Cooper und Brands Tochter Amelia führen die Besatzung an, die sich auf eine Reise ins Ungewisse begibt: Wurmlöcher sind so gut wie unerforscht und niemand kann mit Sicherheit sagen, was die Crew auf der anderen Seite erwartet. Ebenso ist unsicher, ob und wann Cooper und Brand wieder auf die Erde zurückkehren. Coopers Kinder, Tochter Murphy und Sohn Tom (Timothée Chalamet), müssen mit Schwiegervater Donald zurückbleiben und auf seine Wiederkehr hoffen.» (filmstarts.de)

«Christopher Nolan organisierte eine Vorführung am Lincoln Square und lud ein paar Leute ein. (…) Ich habe den Film gesehen und fand ihn toll, aber dann bin ich mit meinem Vater nach Hause gegangen und habe eine Stunde lang geweint, weil ich erwartet hatte, dass meine Rolle grösser ist. Dabei haben sie nicht einmal etwas gekürzt.» (Timothée Chalamet, Variety’s Actors on Actors, 2019)

169 Min / Farbe / 35 mm / E/d // REGIE Christopher Nolan // DREHBUCH Jonathan Nolan, Christopher Nolan // KAMERA Hoyte van Hoytema // MUSIK Hans Zimmer // SCHNITT Lee Smith // MIT Matthew McConaughey (Cooper), Anne Hathaway (Dr. Amelia Brand), David Gyasi (Romilly), Wes Bentley (Doyle), Matt Damon (Dr. Mann), Michael Caine (Professor Brand), Mackenzie Foy (Murphy Cooper, 10 Jahre), Jessica Chastain (Murphy Cooper, Erwachsene), Ellen Burstyn (Murphy Cooper, 90 Jahre), Timothée Chalamet (Tom Cooper, 15 Jahre), Casey Affleck (Tom Cooper, Erwachsener).

CALL ME BY YOUR NAME

Italien/Frankreich/USA/Brasilien 2017

Norditalien, 1983: Familie Perlman verbringt den Sommer in ihrer mondänen Villa. Während der 17 Jahre alte Sohn Elio (Timothée Chalamet) Bücher liest, klassische Musik hört und keinen Flirt mit seiner Bekannten Marzia auslässt, beschäftigt sich sein Vater, ein emeritierter Professor, mit an-

tiken Statuen. Für den Sommer hat sich der auf griechische und römische Kulturgeschichte spezialisierte Archäologe mit Oliver einen Gast ins Haus geholt, der ihm bei seiner Arbeit zur Seite stehen soll. Der selbstbewusste und attraktive Besucher wirbelt die Gefühle des pubertierenden Elio ganz schön durcheinander. Während sich langsam eine Beziehung zwischen den beiden anbahnt, merkt Elio, dass er trotz seiner Intelligenz und der Bildung, die er dank seines Vaters und seiner Mutter Annella geniesst, noch einiges über das Leben und die Liebe lernen muss.» (filmstarts.de)

«Drehbuchautor James Ivory hat die Handlung der Romanvorlage (…) deutlich gestrafft, die Rahmenhandlung abgeschafft und Figuren sowohl gestrichen als auch zusammengelegt. Dennoch ist der Film nicht dicht und effizient, sondern durchlässig und flirrend geworden. Nicht alles hat hier mit der Liebesgeschichte zu tun, aber alles mit dem Leben.

Dieser Naturalismus im Schreiben findet seine Entsprechung im Spiel von Timothée Chalamet. Armie Hammer muss (…) die Aufmerksamkeit und das Begehren auf sich ziehen, damit das Liebesgeschehen in Gang kommen kann. Doch Chalamet ist es, der einen das Ziehende und Zerrende dieses Begehrens unmittelbar miterleben lässt.» (Hannah Pilarczyk, Der Spiegel, 1.3.2018)

133 Min / Farbe / DCP / E/d/f // REGIE Luca Guadagnino // DREHBUCH James Ivory, nach dem Roman von André Aciman // KAMERA Sayombhu Mukdeeprom // MUSIK Sufjan Stevens // SCHNITT Walter Fasano // MIT Timothée Chalamet (Elio Perlman), Armie Hammer (Oliver), Michael Stuhlbarg (Professor Perlman), Amira Casar (Annella Perlman), Esther Garrel (Marzia), Victoire Du Bois (Chiara).

LADY BIRD

USA 2017

«Der Alltag von Christine ‹Lady Bird› McPherson im kalifornischen Sacramento besteht aus Highschool-Routine, Familientrouble und ersten ernüchternden Erfahrungen mit Jungs. Kein Wunder also, dass die 17-Jährige davon träumt, flügge zu werden. Im echten Leben rebelliert sie mit Leidenschaft und Dickköpfigkeit gegen die Enge in ihrem Elternhaus. Doch allzu leicht macht ihre Mutter dem eigenwillig-aufgeweckten Teenager die Abnabelung natürlich nicht, und so ziehen alle beide zwischen Trotz, Wut und Resignation immer wieder sämtliche Gefühlsregister.» (epd-film.de)

«Wunderbares, grosses Kino: Lady Bird ist ein schlicht und ergreifend grandioser Film (…). Greta Gerwigs Dramödie über eine junge Rebellin ist bis in die winzigsten Details gelungen – ein Film für alle, die das Kino und das Leben lieben. Heraus-

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ragende Darsteller und ein kluges, warmherziges Drehbuch machen den Film zum Kinoerlebnis allererster Güte.» (Programmkino.de)

95 Min / Farbe / DCP / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Greta Gerwig // KAMERA Sam Levy // MUSIK Jon Brion // SCHNITT Nick Houy // MIT Saoirse Ronan (Christine «Lady Bird» McPherson), Laurie Metcalf (Marion McPherson), Tracy Letts (Larry McPherson), Lucas Hedges (Danny O´Neill), Timothée Chalamet (Kyle Scheible), Beanie Feldstein (Julie Steffans), Lois Smith (Schwester Sarah Joan), Stephen Henderson (Pater Leviatch).

BEAUTIFUL BOY

USA 2018

«David kann es kaum glauben: Er erkennt seinen eigenen Sohn Nic nicht mehr. Obwohl er und Vicki, Nics Mutter, glauben, dass sie alles richtig gemacht haben, ist ihr Ältester von der Droge Meth abhängig geworden. Noch nicht einmal im Erwachsenenalter angekommen, schleppt sich Nic von Rausch zu Rausch, von Lüge zu Betrug – und verweigert sich den Hilfeversuchen seiner Eltern. Zwischen Hoffnung und Ohnmacht schwankend, entschliesst sich David, seinen Sohn mit allen möglichen Mitteln dabei zu unterstützen, die Abhängigkeit zu überwinden. Er kann und will den fröhlichen, schönen Jungen, der er einmal war, einfach nicht aufgeben. Das neuste Werk von Regisseur Felix van Groeningen zeichnet die schmerzliche Erfahrung des jungen Nic ebenso einfühlsam nach wie die unermüdliche Liebe seines Vaters. An der Seite Steve Carells beweist Timothée Chalamet in der Rolle Nics einmal mehr, dass er zu den aufregendsten Schauspielern seiner Generation gehört.» (Zurich Film Festival, 2018)

121 Min / Farbe / DCP / E/d/f // REGIE Felix van Groeningen // DREHBUCH Luke Davies, Felix van Groeningen // KAMERA

Ruben Impens // SCHNITT Nico Leunen // MIT Steve Carell (David Sheff), Timothée Chalamet (Nic Sheff), Maura Tierney (Karen Babour-Sheff), Christian Convery (Jasper Sheff), Amy Ryan (Vicki Sheff), Oakley Bull (Daisy Sheff).

A RAINY DAY IN NEW YORK

USA 2019

«Gatsby plant mit seiner College-Liebe Ashleigh ein romantisches Wochenende in New York, doch zuvor hat Ashley noch ein Interview mit Filmregisseur Roland Pollard. Als dieser sie zum Screening seines neuesten Films einlädt, schlittert sie gemeinsam mit Pollard, dessen Autor Ted Davidoff und dem Filmstar Francisco Vega von einer unerwarteten Situation in die nächste. Auf sich allein gestellt, irrt Gatsby indes durch ein regennasses

New York, wo es zu einigen überraschenden Begegnungen kommt.» (Viennale, 2019)

«Chalamet, Fanning und Popstar Gomez sind die wohl jüngsten Stars, mit denen Allen je gedreht hat. Zugleich wird der dandyhafte Gatsby Welles schon durch seinen Namen als Sprachrohr der aus zig Filmen bekannten Vorliebe des Regisseurs für Künstler aus einer vergangenen Ära gekennzeichnet. Wie andere Allen’sche Helden gefällt sich auch Gatsby mit seiner Tweedjacke und seiner Schwärmerei für die gute alte Zeit als nonkonformistischer Aussenseiter. (Birgit Roschy, epd-film.de, 22.11.2019)

93 Min / Farbe / DCP / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Woody Allen // KAMERA Vittorio Storaro // MUSIK Ricardo Daválos // SCHNITT Alisa Lepselter // MIT Timothée Chalamet (Gatsby Welles), Elle Fanning (Ashleigh Enright), Selena Gomez (Shannon Tyrell), Jude Law (Ted Davidoff), Diego Luna (Francisco Vega), Liev Schreiber (Roland Pollard).

LITTLE WOMEN

USA 2019

«Vier junge Frauen im Amerika Mitte des 19. Jahrhunderts, die ihr Leben selbstbestimmt nach eigenen Vorstellungen gestalten wollen und dabei teils grosse gesellschaftliche Hindernisse überwinden: Little Women folgt den unterschiedlichen Lebenswegen der March-Schwestern Jo, Meg, Amy und Beth zu einer Zeit, in der die Möglichkeiten für Frauen begrenzt waren. Erzählt aus der Perspektive von Jo March, dem Alter Ego von Autorin Louisa May Alcott, und sowohl basierend auf dem Roman wie auch auf den persönlichen Schriften Alcotts. (Anke Westphal, epd-film.de)

«Timothée Chalamet als (um eine sehr moderne Formulierung zu verwenden) Fuckboy von nebenan in der Rolle von Laurie zu besetzen, war ein kluger Schachzug, und das nicht nur, weil er und Ronan durch ihre Arbeit an Gerwigs Lady Bird bereits ein gutes Verhältnis haben. Mit seinem wuscheligen Haar und seinen gefühlvollen Augen ist Chalamet auch die ideale Projektionsfläche, auf der die March-Mädchen – und damit auch das Publikum – alle möglichen Ängste und Wünsche entdecken können. Little Women stellt die romantische Liebe nicht über andere Arten von Intimität und Zuneigung, aber tut die Notwendigkeit einer solchen Liebe auch nicht als unvereinbar mit dem Dasein einer unabhängigen Frau ab.» (Katie Rife, avclub.com, 25.11.2019)

135 Min / Farbe / DCP / E/d/f // REGIE Greta Gerwig // DREHBUCH Greta Gerwig, nach dem Roman von Louisa May Alcott // KAMERA Yorick Le Saux // MUSIK Alexandre Desplat // SCHNITT Nick Houy // MIT Saoirse Ronan (Josephine March), Emma Watson (Margaret March), Florence Pugh (Amy

Timothée Chalamet 24

THE KING

USA/Australien/GB 2019

SCHWEIZER KINO-PREMIERE

«Heinrich (Timothée Chalamet) gilt als unbekümmerter, exzessiver Prinz, der keine Gelegenheit auslässt, sich seiner Freizeit zu widmen. Als sein Vater, der tyrannische König Heinrich IV. stirbt, erbt der Prinz allerdings gegen seinen Willen den Thron. Stets an seiner Seite: John Falstaff. Zusammen mit ihm feiert Heinrich erst, lässt sich später von ihm aber auch in wichtigen politischen Entscheidungen beraten (...). Als es darum geht, Frieden zwischen England und Frankreich zu erwirken, geht allerdings niemand davon aus, dass Heinrich der richtige König für diese Sache ist.» (filmstarts.de)

«Früher oder später musste Timothée Chalamet mit einer grossen Hauptrolle in einem historischen Epos auf den Thron steigen. Er gehört zu den aufregendsten Schauspielern seiner Generation und findet in David Michôds The King die perfekte Leinwand, um sein bühnenerprobtes Talent, seine gefühlvolle Gravitas und sein unbestreitbares Filmstar-Charisma zu vereinen. Als der hart feiernde, apathische und doch friedliebende Prinz Hal, der 1413 widerwillig König Heinrich V. von England wird, schafft es Chalamet, mit grüblerischem Blick und seriösem Haarschnitt gleichermassen jugendlich und reif zu wirken.» (Tomris Laffly, rogerebert.com, 11.10.2019)

140 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE David Michôd // DREHBUCH David Michôd, Joel Edgerton // KAMERA Adam

Arkapaw // MUSIK Nicholas Britell // SCHNITT Peter Sciberras // MIT Timothée Chalamet (König Heinrich V., «Hal»), Joel Edgerton (Sir John Falstaff), Sean Harris (William Gascoigne), Lily-Rose Depp (Prinzessin Catherine de Valois), Robert Pattison (Dauphin Louis), Ben Mendelsohn (König Heinrich IV.), Tom Glynn-Carney (Henry «Hotspur» Percy), Thomasin McKenzie (Philippa von England).

DUNE: PART ONE

USA/Kanada 2021

«In einer fernen Zukunft übernimmt das Adelshaus Atreides die Herrschaft auf dem Wüstenplaneten Arrakis, um den Abbau eines kostbaren Rohstoffs zu überwachen. Doch der Auftrag erweist sich als tödliche Falle, was dramatische Ereignisse in Gang setzt, in deren Zug Paul, der

junge Thronfolger der Atreides, nach seiner Bestimmung sucht. Dabei spielen die indigenen Bewohner des Wüstenplaneten, die auf die Ankunft eines Messias warten, eine wichtige Rolle. Der erste Teil einer Neuverfilmung des gleichnamigen Science-Fiction-Romans von Frank Herbert entfaltet rund um die ‹Heldenreise› seiner jugendlichen Hauptfigur ein intrigenreiches und gewaltvolles Drama mit dem Pathos einer griechischen Tragödie. Das monumentale Set-Design, der dröhnende Soundtrack und spektakuläre Kampfszenen befeuern ein megalomanisches Spektakel-Kino, in das Themen wie Kolonialismus, kapitalistische Ausbeutung und religiöse Heilssehnsucht einfliessen.» (Lexikon des int. Films)

«Timothée Chalamet behauptet sich in seiner ersten Blockbuster-Hauptrolle. In einem Film dieser Grösse besteht die Gefahr, dass er von der sandwurmartigen Grösse von allem, was ihn umgibt, verschluckt wird – aber selbst in diesem kolossalen Spektakel strahlt das magnetische Charisma, das er in kleineren Indie-Filmen gezeigt hat, durch.» (Ben Travis, empireonline.com, 3.9.2021)

155 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Denis Villeneuve // DREHBUCH Denis Villeneuve, Eric Roth, Jon Spaihts, nach dem Roman von Frank Herbert // KAMERA Greig Fraser // MUSIK Hans Zimmer // SCHNITT Joe Walker // MIT Timothée Chalamet (Paul Atreides), Rebecca Ferguson (Lady Jessica), Oscar Isaac (Herzog Leto Atreides), Josh Brolin (Gumey Halleck), Stellan Skarsgård (Baron Harkonnen), Sharon Duncan-Brewster (Dr. Liet Kynes), Jason Momoa (Duncan Idaho).

THE FRENCH DISPATCH

Deutschland/USA/Frankreich 2021

«Im fiktiven französischen Städtchen Ennui-surBlasé unterhält die Zeitschrift ‹The French Dispatch› ihre Redaktionsräume. Hier bringen ein verschrobener Verleger und seine noch verschrobeneren Autorinnen und Autoren die sonderbarsten Geschichten zu Papier. Ob malende Mörder, vergiftete Cornichons oder stürmische Studentenrevolution – die Schreiber werfen in den Texten ihren ganz eigenen Blick auf die Welt.» (Zurich Film Festival, 2021)

«Kaum ein anderer zeitgenössischer Regisseur hat in seinen Filmen einen so unkonventionellen, magischen, oft surrealen Kosmos erschaffen wie Wes Anderson. Sein Film ist eine Hommage an den Journalismus, eine bis ins Detail liebevoll ausgetüftelte filmische Komposition, mit vielen Referenzen an reale Vorbilder. Das charmante Retrodesign des Filmmagazins erinnert nicht zufällig an das vom Regisseur geliebte

25 Timothée Chalamet
March), Eliza Scanlen (Elizabeth March), Timothée Chalamet (Theodore Laurence), Laura Dern (Marmee March), Meryl Streep (Tante March), Bob Odenkirk (Herr March).
→ Bones and All
→ The French Dispatch → The King
© 2022 Warner
Ent. All Rights Reserved © 2022 METRO-GOLDWYN-MAYER PICTURES INC. all rights reserved
Little Women
Bros.

Intellektuellenheft ‹The New Yorker›. Anderson zündet ein Feuerwerk aus detailverliebten Sets, absurden Figuren und irrwitzigen Zusammenhängen.» (Bettina Peulecke, nrd.de, 28.10.2021)

108 Min / Farbe / DCP / E/d // DREHBUCH UND REGIE Wes Anderson // KAMERA Robert D. Yeoman // MUSIK Alexandre Desplat // SCHNITT Andrew Weisblum // MIT Benicio del Toro (Moses Rosenthaler), Frances McDormand (Lucinda Krementz), Jeffrey Wright (Roebuck Wright), Adrien Brody (Julian Cadazio), Tilda Swinton (JKL Berensen), Timothée Chalamet (Zeffirelli), Léa Seydoux (Simone), Owen Wilson (Herbsaint Sazerac), Mathieu Amalric (Commissaire).

BONES AND ALL

Italien/USA 2022

«Virginia in den 80er-Jahren: Maren lebt mit ihrem Vater in einer heruntergekommenen Wohnwagensiedlung. Nachdem aber die 17-Jährige einer Schulfreundin den Finger abbeisst, taucht der Vater ab. Er könne nicht mehr die Verantwortung für sie übernehmen. Mit ein paar Hundert Dollar und einem Rucksack zieht auch sie los. Bald lernt Maren, dass ihre Lust nach Menschenfleisch mit einer Gabe einhergeht: Sie kann Gleichgesinnte

riechen. Und so trifft sie in einem Supermarkt auf Lee (Timothée Chalamet). Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte, die sich quer durch die Vereinigten Staaten zieht. (Michael Bolzli, filmkult.ch, 6.12.2022)

«Dies ist die beste Leistung des 26-Jährigen seit Call Me by Your Name, der in Lee gleichzeitig die Härte eines verbrannten Ausgestossenen und die Verletzlichkeit eines von Schuldgefühlen zerfressenen 20-Jährigen verkörpert. Es ist Chalamets grosses Verdienst, dass Lee – der Kehlen aufschlitzt und Hinterwäldler verhöhnt, als ob das bald nicht mehr angesagt wäre – nicht nur äusserst glaubwürdig, sondern geradezu sympathisch ist, die Art von Kerl, mit dem man ein paar Bier unter den Sternen teilen würde. Drehen Sie ihm nur nicht den Rücken zu.» (Jack King, theplaylist.net, 2.9.2022)

131 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Luca Guadagnino // DREHBUCH David Kajganich, nach dem Roman von Camille DeAngelis // KAMERA Arseni Khachaturan // SCHNITT Marco Costa // MIT Taylor Russell (Maren Yearly), Timothée Chalamet (Lee), Mark Rylance (Sully), André Holland (Frank Yearly), Michael Stuhlbarg (Jake), David Gordon Green (Brad), Jessica Harper (Barbara Kerns), Chloë Sevigny (Janelle Kerns).

Genau hinschauen, erneut hinschauen, anders hinschauen eröffnet manchmal unerwartete Perspektiven. In Kooperation mit der Volkshochschule und dem Publizisten Thomas Binotto lädt das Filmpodium zur zweiten Staffel der Vorlesungsserie Re:vision.

Die zweite Staffel des erfolgreichen Formats startet mit der Re:vision von Greta Gerwigs Lady Bird (S. 23). Wieder schaut Filmleser Thomas Binotto genau hin und enthüllt dabei die Kunst des Unauffälligen. Stimmige Figuren, natürliches Spiel, authentische Sprache – gerade das scheinbar Schlichte ergibt sich nicht von selbst, muss bewusst gestaltet werden. Und so entdecken wir Gerwigs unaufdringlichen Stil als Signatur einer souveränen Künstlerin. Der Revisionsprozess wird zum Augenöffner und befeuert die Lust zur Vertiefung.

Bei der Volkshochschule (vhszh.ch) kann der ganze dreiteilige Kurs gebucht werden (Daten: 26. April, 24. Mai und 28. Juni); beim Filmpodium sind Eintritte zu einzelnen Vorlesungen und/ oder Filmvorführungen möglich.

Online sind Tickets zu Film und Vorlesung separat erhältlich, vergünstigte Kombitickets gibt es nur an der Kinokasse.

Eine Kooperation von Filmpodium und Volkshochschule Zürich.

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Timothée Chalamet
RE:VISION LADY BIRD MI, 26. APRIL | 18.30 UHR

Alain Tanner –

Nouveau cinéaste suisse

Alain Tanner (1929–2022) hat wie kaum ein anderer die Schweizer Filmlandschaft geprägt, als Filmautor, als Vorkämpfer neuer Förderstrukturen und als Verfechter einer Kinokultur jenseits des kommerziellen Mainstreams. Sein Werk liefert nicht nur Vorbilder für starke Frauenfiguren und eine dissidente politische Haltung, sondern auch Inspirationen für eine poetische und utopische Filmsprache.

Als Alain Tanner am 11. September 2022 mit 92 Jahren verstarb, ging ein kurzer Ruck durch den hiesigen Filmjournalismus, bis die Nachricht zwei Tage später durch die Meldung des Todes eines anderen Altmeisters der gleichen Generation, Jean-Luc Godard, abgelöst wurde. Wie beim sprichwörtlichen Propheten, der nirgendwo weniger gilt als im eigenen Land, war es in der Schweiz schon lange still um den Genfer Cineasten, der sich 2004 nach rund zwanzig Spielfilmen und mehreren Dokumentationen vom Filmemachen verabschiedet hatte. Er erhielt zwar 2010 die späte Anerkennung eines Ehrenleoparden am Filmfestival Locarno, doch im Allgemeinen schien man es ihm hierzulande nicht zu verzeihen, dass er mit seinen letzten Filmen weder Filmkritik noch Publikum im gleichen Ausmass wie bei seinen früheren Werken begeistern konnte.

Derweil bleibt Tanner aus internationaler Sicht der bekannteste und beliebteste Schweizer Vertreter eines europäischen Autor:innenkinos, das seit der Nouvelle Vague der 1960er-Jahre Poesie und Politik, Romantik und Rebellion miteinander verwebt. 2017, anlässlich einer Retrospektive in New York City, lobte ihn das Magazin «Vogue» als besonders inspirierendes Vorbild für eine kulturelle Gegenöffentlichkeit im Zeitalter von Donald Trump. Seine Filme seien nicht nur «klug, lustig und sexy», sie würden sich auch mit äusserst aktuellen Themen auseinandersetzen, wie der Suche nach Freiheit und Glück in einer von Geld geprägten Welt, oder mit der Frage, wie man in Zeiten politischer Desillusionierung weitermachen solle. Ein Nachruf in der kanadischen Zeitschrift «Cinema Scope» betonte, wie raffiniert Tanner sein intellektuelles Denkvermögen mit einer sinnlichen und radikalen Filmsprache zu verbinden vermochte. In seiner 2007 erschienenen Denkschrift

↑ Selbstfindung in der Lebenskrise: Dans la ville blanche

↓ Was ist aus 68 geworden? Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000

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«Ciné-mélanges» beschrieb Tanner seine Methode als spielerischen Umgang mit dem Publikum, «um es in die Lage zu versetzen, den Gegensatz zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, zu begreifen».

Lebenskrisen und Rebellionen

Seine ersten Spielfilme drehte Tanner unmittelbar nach dem Protestjahr 1968. Die damalige Stimmung aus utopischer Hoffnung, rebellischem Geist und Frustration gegenüber der eigenen Machtlosigkeit prägte sein Werk, und die Frage, inwiefern das Kino Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse leisten könne, liess ihn zeitlebens nicht mehr los. Nicht von ungefähr machen

Tanners Filmfiguren fast immer eine Art Lebenskrise durch. Oft sind sie auf der Flucht und bleiben schliesslich in der Kluft zwischen visionären Träumen und den Verstrickungen des Alltags hängen. Zu seinen unvergesslichen

Held:innen gehören der aussteigende Fabrikbesitzer Charles in der MidlifeKrise (Charles mort ou vif, 1969), die aufmüpfige junge Gelegenheitsarbeiterin Rosemonde (La salamandre, 1971), der sinn- und liebessuchende Schiffsmechaniker Paul (Dans la ville blanche, 1983) und die ebenfalls sinn- und liebessuchende Schauspielerin Mercedes (Une flamme dans mon cœur, 1987).

Tanner schuf eine Reihe von aussergewöhnlichen Frauenfiguren, die in der Kinogeschichte hervorstechen, allen voran die abenteuerlustigen Rebellinnen Jeanne und Marie aus Messidor (1979), einem Roadmovie, das Ridley Scotts Thelma and Louise (1991) vorwegnahm. Die meisten seiner Filme sind – unter anderem dank der Wahl der Schauplätze und der unüberhörbaren Dialekte – unverkennbar schweizerisch und gleichzeitig universell in ihrer Erzählkraft.

Ein Markenzeichen von Tanners Erzählstil ist sein Verzicht auf den traditionellen Spannungsbogen und den unsichtbaren Schnittübergang. Er setzt auf eine Dramaturgie aus Vignetten, in der die Handlung oft pausiert zugunsten einer ausführlichen Szene, die aus der Geschichte herausragt und dem Publikum erlaubt, innezuhalten und über die Zusammenhänge nachzudenken. Als Filmemacher war Tanner ein Philosoph des Alltags und des nur flüchtig greifbaren Augenblicks, in dem die Zeit kurz stillsteht. Damit stellte er sich gegen den Naturalismus des konventionellen Erzählkinos, ähnlich wie Brechts episches Theater, das die Unterhaltung durch Denkanstösse unterbricht, oft kombiniert mit literarischen und musikalischen Zitaten. Diese Balance perfektionierte Tanner mit Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 (1976), seinem erfolgreichsten und vielleicht auch gelungensten Spielfilm, der wohl am besten die erwähnte Mischung aus gescheit, humorvoll und sexy verkörpert. Das Ensemblespiel zeigt eine Gruppe mehr oder weniger engagierter Menschen, irgendwo zwischen der verlorenen Euphorie der 68er-Bewegung und einer ungewissen Zukunft. Ihre Stimmung ist eine Mischung aus Nostalgie, Ironie, Wut, Hoffnung und Resignation: die Quintessenz von Tanners Weltbild.

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Filmpolitischer Vorkämpfer

Alain Tanners Wurzeln im Dokumentarischen bleiben auch in seinen Spielfilmen spürbar. Am Anfang seiner Karriere drehte er einige Dokumentationen fürs Westschweizer Fernsehen und schärfte so sein Gespür für Alltagsbeobachtungen, fliessende Kameraarbeit und elliptische Montage. Zu diesen Anfängen kehrte er 1995 zurück mit Les hommes du port, einer Hommage an die Hafenarbeiter von Genua, wo er als junger Mann in einer Reederei gearbeitet hatte. Der Film verbindet persönliche Erinnerungen mit einem poetischen Blick auf die Gesten des Arbeitsalltags und einer präzisen politischen Analyse der Veränderungen, die der Neoliberalismus mit sich bringt.

Tanner ist auch bekannt als Miterfinder des «cinéma copain», was so viel bedeutet wie: in einem kleinen Team aus Freund:innen mit bescheidenen Mitteln und weitgehend improvisiert drehen. Schon 1957 machte er unter dem Einfluss des britischen Free Cinema seinen ersten Kurzfilm Nice Time in London gemeinsam mit seinem Landsmann Claude Goretta. Diese Vorgehensweise führte unter anderem zur Gründung der Groupe 5, der auch Goretta und weitere Westschweizer Kollegen angehörten. Die Groupe 5 war essenziell für die Entwicklung des «nouveau cinéma suisse» ab den 1960er-Jahren, das dem Schweizer Filmschaffen neues Leben einhauchte, unverbrauchte Stimmen hervorbrachte und die Aktivdienstgeneration filmisch ablöste.

Tanner spielte auch in der Schweizer Filmpolitik eine wichtige Rolle. Als Mitbegründer der Association suisse des réalisateurs (heute: Verband Filmregie und Drehbuch Schweiz) sass er in der ersten Eidgenössischen Filmkommission, die 1963 das neue Filmgesetz mitbestimmte und erstmals Fördergelder vom Bund für die Filmproduktion sicherte. 1972 war er Mitbegründer des CAC-Voltaire, heute Les Cinémas du Grütli, um eine alternative Kinokultur in Genf zu fördern. Durch diese Tätigkeiten sorgte er für ein nachhaltiges filmisches Erbe jenseits der eigenen Werke.

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Marcy Goldberg Marcy Goldberg ist selbstständige Film- und Kulturwissenschaftlerin. Das Filmpodium dankt seinem Förderverein Lumière für die Unterstützung dieser Reihe. → Charles mort ou vif → Les apprentis. → Le retour dʼAfrique → La salamandre

NICE TIME

GB 1956

1957 arbeitete Alain Tanner beim British Film Institute im Archiv und in der Dokumentarfilmabteilung, wo er Lindsay Anderson kennenlernte. Zusammen mit seinem Genfer Freund Claude Goretta drehte er den kurzen Dokumentarfilm Nice Time, in dem sie das Nachtleben um Piccadilly Circus im Stil des aufkommenden Free Cinema festhielten. Ihr impressionistisches Werk errang am Filmfestival von Venedig den Experimentalfilmpreis und bahnte den Weg für ihre cineastische Karriere. Aus heutiger Sicht besticht ihr Film auch als Zeitdokument, sowohl bezüglich der Zusammensetzung der Londoner Bevölkerung als auch hinsichtlich der Mode und des Unterhaltungsangebots von damals. (mb)

LES APPRENTIS

Schweiz 1964

Als das neue Filmgesetz, an dem Tanner mitgearbeitet hatte, in Kraft trat, beschlossen er und seine Regiekollegen Henry Brandt und Claude Goretta, mittellange Dokumentarfilme über gesellschaftliche Themen zu drehen. Tanners Projekt, Lernende zu porträtieren, wurde zwar von Institutionen und einem Industriellen teilweise vereinnahmt. Dennoch bleibt sein Porträt der damaligen Jugend in der Arbeitswelt und in der Freizeit, auf 35 mm gedreht und produziert von Reni Mertens und Walter Marti, spannend, da Tanner die Propagandaabsichten der Geldgeber unterläuft, indem er die Jugendlichen selbst zu Wort kommen lässt. Les apprentis wurde an der Expo 64 gezeigt sowie in Locarno und an den ersten Solothurner Filmtagen 1966.

«Tanner verwendet einige Methoden des Cinéma vérité, um die Situation der Jugendlichen zu zeigen, im Augenblick, da sich ihnen die Berufswahl aufdrängt. Der Film versucht, etwas zaghaft, auf die Unzulänglichkeiten der Berufslehre hinzuweisen. Und mit grösserer Eindringlichkeit bringt er die Atmosphäre zum Ausdruck, in der die Jugendlichen leben.» (Freddy Buache: Le Cinéma suisse, 1898–1998, L’Âge d’homme 1978)

NICE TIME

19 Min / sw / Digital HD / ohne Dialog // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Claude Goretta, Alain Tanner // KAMERA John Fletcher // MUSIK The Pete Ashton Quintet, Chas McDevitt Skiffle Group.

LES APPRENTIS

78 Min / sw / DCP / F/d/e // DREHBUCH UND REGIE Alain

Tanner // KAMERA Ernest Artaria // MUSIK Victor Fenigstein // SCHNITT Alain Tanner, Ernest Artaria.

CHARLES MORT OU VIF

Schweiz 1969

Beim 100-jährigen Firmenjubiläum seiner Uhrenfabrik beschliesst der 50-jährige Besitzer Charles Dé auszusteigen. Er schüttelt seinen Wohlstand ab und zieht zu einem jungen Bohémien-Paar, was seine revolutionäre Tochter freut und seinen überangepassten Sohn entsetzt.

In seinem ersten Spielfilm übt Tanner Kritik an der Konsumgesellschaft. «Den ganzen Mai 1968 verbrachte ich in Paris, wo ich für das Schweizer Fernsehen über die Ereignisse berichtete. Das Drehbuch zu Charles mort ou vif, das in den Grundzügen schon lange vor dem Mai existierte, wurde im Juni desselben Jahres geschrieben. Es ist klar, dass es darin Echos gab, wie es auch klar ist, dass ich nicht denselben Film gemacht hätte, wenn es den Mai nicht gegeben hätte. Der Mai trug einen gewissen anarchistischen Aspekt der Dinge wieder an die Oberfläche, den wir aus praktischen Gründen vergessen hatten.» (Alain Tanner, Les lettres françaises, 22.10.1969)

94 Min / sw / DCP / F/d // DREHBUCH UND REGIE Alain Tanner // KAMERA Renato Berta // MUSIK Jacques Olivier // SCHNITT Sylvia Bachmann // MIT François Simon (Charles Dé, Industrieller), Marie-Claire Dufour (Adeline), Marcel Robert (Paul, Maler), André Schmidt (Pierre Dé, der Sohn), Maya Simon (Marianne Dé, die Tochter), Jo Escoffier (Fernsehreporter), Jean-Luc Bideau und Francis Reusser (Sanitäter).

LA SALAMANDRE

Schweiz 1971

«Ein Journalist bittet einen befreundeten Schriftsteller, ihm zu helfen, schnell ein TV-Drehbuch zu verfassen, aufgrund eines Artikels in der Lokalzeitung über einen Mann, der seine Nichte beschuldigt, ihn angeschossen zu haben. Sie behauptete, die Waffe sei losgegangen, als er sie gereinigt habe. Der Fall wurde aus Mangel an Beweisen fallen gelassen und nie aufgeklärt. Der Romanautor macht sich daran, das Drehbuch aus der Fantasie heraus zu schreiben, während der Journalist den Fakten nachgeht. Doch der Film, der die instinktive Revolte feiern will, befasst sich weniger mit den Geschehnissen als mit der jungen Frau selbst; und Bulle Ogier spricht Bände in dieser Rolle, da der Film ihre Sicht auf die Gesellschaft mit deren unterschiedlicher Sicht auf sie kontrastiert. Da gibt es etwa eine Szene, in der sie als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft arbeitet und ohne Vorwarnung beginnt, die ihr hingestreckten Beine der Kunden zu streicheln: eine Geste, die gleichzeitig lustig, zutiefst erotisch, unpassend und zutiefst schockierend ist und die sowohl Rosemonde als

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Alain Tanner

auch die Welt, in der sie lebt, situiert. Ein seltenes Vergnügen, durchdrungen von einer reichhaltigen und ungezwungenen Ader leisen Humors.»

(Verina Glaessner, timeout.com)

La salamandre lief in Cannes und Berlin und wurde zu einem internationalen Erfolg mit einer Million Eintritten.

125 Min / sw / DCP / F/d // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH

Alain Tanner, John Berger // KAMERA Renato Berta, Sandro Bernardoni // MUSIK Patrick Moraz, Main Horse Airline // SCHNITT Brigitte Sousselier, Marc Blavet // MIT Bulle Ogier (Rosemonde), Jean-Luc Bideau (Pierre), Jacques Denis (Paul), Véronique Alain (Suzanne), Daniel Stuffel (Chef des Schuhgeschäfts), Marblum Jéquier (Pauls Frau), Marcel Vidal (Rosemondes Onkel), Dominique Catton (Roger).

LE RETOUR DʼAFRIQUE Schweiz/Frankreich 1973

Der Gärtner Vincent und die Galerieangestellte Françoise, seit zwei Jahren verheiratet und kinderlos, wollen für die Dritte Welt arbeiten, um ihrem Leben mehr Sinn zu verleihen. Ihre Reise nach Algerien wird aber kurzfristig abgesagt. Sie schliessen sich in ihrer leeren Wohnung ein, erkunden ihre Beweggründe und überprüfen ihre Träume anhand der Realität.

«Ihre beredte Selbsterkenntnis verhindert jene Art von instinktiver, sorgloser Revolte wie in La salamandre, macht sie aber nie zu blossen Sprachrohren wie das analoge Paar in Godards Le gai savoir. Stattdessen erkunden sie ein klaustrophobisches Umfeld von Ideen, das die Landschaft von Messidor im Kleinen darstellt, und gehen daraus hervor mit einer optimistischen Vision privater Politik, wie sie später in Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 durchgespielt wird. Überraschend warmherzige Didaktik.» (Paul Taylor, timeout.com)

106 Min / sw / DCP / F/d // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH

Alain Tanner, mit Zitaten aus Gedichten von Aimé Césaire // KAMERA Renato Berta, Carlo Varini // MUSIK Arié Dzierlatka, Johann Sebastian Bach // SCHNITT Brigitte Sousselier // MIT Josée Destoop (Françoise Silvestre), François Marthouret (Vincent Silvestre), Roger Ibanez (Emilio, Spanier im Exil), Juliet Berto (Postangestellte), Anne Wiazemsky (Postangestellte), Roger Jendly (Marcel), François Roulet (Gärtner).

LE MILIEU DU MONDE Schweiz/Frankreich 1974

Der Ingenieur und aufstrebende Provinzpolitiker Paul verguckt sich im Jura in die italienische Serviererin Adriana. Er setzt seine Ehe und seine Wahl aufs Spiel, aber Adriana will seinetwegen ihre bescheidene Freiheit nicht aufgeben.

In seinem ersten Farbfilm lösen Tanner und sein Koautor John Berger die Geschichte in rund 20 episodische Sequenzen auf, die kaum Schnitte aufweisen. Eine Off-Stimme sorgt von Anfang an für eine Brecht’sche Verfremdung und erhebt die intime Zweierkiste zur Allegorie über die Paarbeziehung. Dabei besticht vor allem Olimpia Carlisi als emanzipierte Frau, die sich den bürgerlichen Vorstellungen des sturen Schweizers Paul nicht beugen mag. Zwischen dem naturalistischen Spiel der Darsteller:innen und der schematischen Form des Films entsteht eine ungewöhnliche Spannung. (mb)

115 Min / Farbe / 35 mm / F/d/i // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH Alain Tanner, John Berger // KAMERA Renato Berta // MUSIK Patrick Moraz // SCHNITT Brigitte Sousselier // MIT Olimpia Carlisi (Adriana), Philippe Léotard (Paul), Juliet Berto (Juliette), Jacques Denis (Marcel), Denise Perron (Frau Schmidt, Wirtin), Roger Jendly (Roger, Garagist), Gilbert Bahon (Albert), Adrien Nicati (Pauls Vater).

JONAS QUI AURA 25 ANS

EN LʼAN 2000

Schweiz/Frankreich 1976

Mathieu ist arbeitsloser Schriftsetzer; seine Frau Mathilde ernährt die Familie. Da wird Mathieu vom Gemüsegärtnerpaar Marcel und Marguerite angeheuert und samt Mathilde auf dessen Hof untergebracht. Der enttäuschte Alt-68er Max schlägt sich als Korrektor durch, lebt aber auf, als er die erotische Esoterikerin Madeleine kennenlernt. Der umstrittene Geschichtslehrer Marco verguckt sich in die Supermarktkassiererin Marie. Alle acht finden im Haus von Marcel und Marguerite zusammen, wo Mathieu und Mathilde ihren Sohn Jonas zur Welt bringen wollen.

Mehr noch als zuvor arbeiten Tanner und Koautor John Berger hier allegorisch; ihre acht Figuren, deren Namen mit «Ma» beginnen, waren zwar bestimmten Schauspieler:innen auf den Leib geschrieben (die erst später davon erfuhren), aber keineswegs naturalistisch gezeichnet, sondern als «zweibeinige Metaphern» (Tanner) konzipiert. Obwohl die Autoren damit beim Publikum eine kritische Distanz zur Diskussion der Ideen von 68 und ihrer Zukunft erzeugen wollen, erfüllen die Schauspieler:innen ihre Figuren mit so viel Leben, dass der Film enormen menschlichen Charme entwickelt. (mb)

116 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH

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11. 5. in Anwesenheit
Mézières
 am
von Myriam
Alain Tanner, John Berger // KAMERA Renato Berta // MUSIK Jean-Marie Sénia // SCHNITT Brigitte Sousselier // MIT Jean-Luc Bideau (Max), Myriam Mézières (Madeleine), Rufus Alain Tanner

MESSIDOR Schweiz/Frankreich 1979

«Zwei junge Frauen begegnen sich: Die eine kehrt von einem Besuch bei ihrem Vater zurück, die andere hat beschlossen, Genf für einige Tage zu verlassen, um eine Pause einzulegen – von ihrer WG, ihrem Partner, ihrem Leben. Gemeinsam durchstreifen sie die Gegend bei Moudon, freunden sich trotz ihrer Differenzen an, trampen dann per Autostopp in Richtung Deutschschweiz – entschlossen, sich von allem zu lösen, was sie hinter sich gelassen haben.

Mit Messidor inszenierte Tanner ein feministisches Roadmovie – leise, radikal, politisch –, das möglicherweise Thelma & Louise beeinflusste. Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit, die in den 1970er-Jahren in Frankreich für Schlagzeilen sorgte. Geprägt von einer gewissen Desillusionierung baut Messidor auf dem Spiel zweier Darstellerinnen auf, die das Streben nach Freiheit und die Ablehnung der gesellschaftlichen Ordnung treffend verkörpern. Doch den allgegenwärtigen (Schweizer) Strassen- und Landschaftsszenerien scheinen sie sich nicht entziehen zu können ...» (Emilie Bujés, filmo.ch)

120 Min / Farbe / Digital HD / F/d // DREHBUCH UND REGIE

Alain Tanner // KAMERA Renato Berta // MUSIK Arié Dzierlatka, Franz Schubert // SCHNITT Brigitte Sousselier // MIT Clémentine Amouroux (Jeanne), Catherine Rétoré (Marie), Emil Steinberger, Gerald Battiaz, René Besson, Georg Janett, Werner Kuhn, René Scheibli, Hilde Ziegler, Franziskus Abgottspon, Suzanne Stoll, François Roulet.

LIGHT YEARS AWAY

Schweiz/Frankreich 1981

Der 25-jährige Barman Jonas besucht den alten Yoshka Poliakoff (Trevor Howard), der in einer abgelegenen, verlassenen Tankstelle in Irland haust und seltsame Experimente mit Vögeln macht. Yoshka sieht ungern, dass sich Jonas mit der reifen Nachbarin Betty einlässt. Er unterzieht seinen «Ziehsohn» einer Reihe von schwierigen Prüfungen.

Tanner verfilmt erstmals einen fremden Stoff, den Roman «La voie sauvage» des Genfers Daniel Odier («Diva»), und dreht auf Englisch im Ausland. Seine schräge Initiationsfabel wird in Cannes mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet.

«Poliakoff ist ein Lehrer der Sinnlichkeit, und die Prüfungen, die er seinem Schüler auferlegt,

haben nur ein Ziel: die materialistischen Lumpen der falschen Zivilisation abzuwerfen und die Logik der Empfindung zu erlangen. Light Years Away ist ein Scharnierfilm in Tanners Werk, der seine sensualistische und pessimistische Seite ankündigt, deren Meisterstück Dans la ville blanche ist.» (Frédéric Bas, in: Alain Tanner – Ciné-mélanges, Seuil 2007)

105 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH Alain Tanner, nach dem Roman «La voie sauvage» von Daniel Odier // KAMERA Jean-François Robin // MUSIK Arié Dzierlatka // SCHNITT Brigitte Sousselier // MIT Trevor Howard (Yoshka Poliakoff), Mick Ford (Jonas), Bernice Stegers (Betty), Henri Virlojeux (Notar), Odile Schmitt (Tänzerin), Joe Pilkington (Thomas).

DANS LA VILLE BLANCHE Schweiz/Portugal 1983

«Der Seemann Paul gibt während eines Zwischenhalts in Lissabon seine Stelle auf und beginnt, mit einer Kamera in der Hand durch die Gassen der Stadt zu streifen. Obwohl er seine Frau Elisa sehr liebt, die in der Schweiz geblieben ist, kann er dem Charme von Rosa, einer Angestellten des Hotels, in dem er logiert, nicht widerstehen ... Alain Tanner versucht in diesem Film, der im Zeichen des Umherirrens und der Flucht steht, einen neuen cineastischen Weg zu erkunden. Im Wechsel zwischen dem 35-mm-Format und den von seinem Helden auf Super 8 gedrehten Bildern entwirft er das Porträt eines Mannes am Scheideweg, und Bruno Ganz verleiht dieser Figur eine ergreifende Nonchalance und Melancholie. ‹Im Nachhinein wird mir klar, dass ich bei den Dreharbeiten in der weissen Stadt in Lissabon dachte, Bruno Ganz’ Figur Paul sei so etwas wie mein Alter Ego. In Wirklichkeit war er mein Geist› (Alain Tanner).» (Cinémathèque suisse)

108 Min / Farbe / DCP / E+D+Port+F/f/d // DREHBUCH UND REGIE Alain Tanner // KAMERA Acácio de Almeida // MUSIK

Jean-Luc Barbier // SCHNITT Laurent Uhler // MIT Bruno Ganz (Paul), Teresa Madruga (Rosa), Julia Vonderlinn (Elisa, Pauls Frau), José Carvalho (Chef), Francisco Baiao (Dieb mit dem Messer), Victor Costa (Wirt).

LA VALLÉE FANTÔME

Schweiz/Frankreich 1987

«Ein alternder Filmregisseur sucht nach einer unverbrauchten Schauspielerin, die ihn zu etwas Neuem, zu einer starken Geschichte inspirieren soll. Mithilfe seines neuen Assistenten wird er

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(Mathieu), Myriam Boyer (Mathilde), Roger Jendly (Marcel), Miou-Miou (Marie), Jacques Denis (Marco), Dominique Labourier (Marguerite), Raymond Bussières (der alte Charles).
Alain Tanner

→ Light Years Away

→ La vallée fantôme → Une flamme dans mon cœur. → La femme de Rose Hill → Le milieu du monde.

fündig; gemeinsam beginnt man ein Filmprojekt. Die Geschichte einer Suche, die aus dem Überdruss an verbrauchten Bildern erwachsen ist.»

(Filmpodium, Januar/Februar 2000)

Aus einer Schaffenskrise heraus machte Tanner seinen ersten selbstbespiegelnden Film La vallée fantôme. Umständehalber aber drehte er zuerst jenen Film, der dem neuen Projekt seines fiktionalen Alter Egos Paul ähnelt: Une flamme dans mon cœur, angeregt durch die Zusammenarbeit mit Myriam Mézières. Pauls Assistenten

Jean spielt John Bergers Sohn Jacob, der auch als Filmemacher reüssiert (Aime ton père, Un juif pour l’exemple) und zwei schöne Kurzfilme über Tanner gedreht hat. (mb)

105 Min / Farbe / DCP / F+I+E/d // DREHBUCH UND REGIE

Alain Tanner // KAMERA Patrick Blossier // MUSIK Arié

Dzierlatka // SCHNITT Laurent Uhler // MIT Jean-Louis

Trintignant (Paul), Jacob Berger (Jean), Laura Morante (Dara), Caroline Cartier (Madeleine), Ray Serra (Daras Vater), Jane Holzer (Jane, Frau des Vaters).

 am 20. April in Anwesenheit von Jacob Berger

UNE FLAMME DANS MON CŒUR Frankreich/Schweiz 1987

«Mit Une flamme dans mon cœur beweist der Cineast, dass man von der Welt und von Sex sprechen kann, ohne etwas von seinem persönlichen Blick einzubüssen. Myriam Mézières ist es, der Tanner diesen neuen körperlichen Horizont seines Filmschaffens verdankt: Nach einer stürmischen Beziehung mit einem tyrannischen Liebhaber stürzt sich Mercedes in eine neue Leidenschaft zu einem Journalisten; aber ihr Verlangen nach dem Absoluten stösst sich an der Normalität ihres Partners, der zu viel abwesend ist. Ihr Abdriften erinnert an dasjenige des Seemanns in der weissen Stadt. Rückblickend wirkt Une flamme dans mon cœur beinahe wie ein symmetrisches Pendant zu La salamandre: gleichfalls ein Porträt einer freien, nahezu wilden Frau, einer Maschine des Verlangens in einer Welt, die dieses nicht kennt, gleichfalls Einsamkeit am Ende. Der Unterschied zwischen den beiden Figuren, abgesehen von der genialen Präsenz des nackten Körpers von Myriam Mézières, ist, dass Rosemonde eine freudige und triumphale Freiheit verkörperte (wie man an ihrem abschliessenden Lächeln abliest), während Mercedes eine Widerstandskämpferin in einer verzweifelten Welt ist: ‹Keine Hoffnung mehr zu haben heisst, unbeschwert zu sein. Ruhig zu sein›, sagt sie im Film.» (Frédéric Bas, in: Alain Tanner – Ciné-mélanges, Seuil 2007)

 am 11. 5. in Anwesenheit von Myriam Mézières

110 Min / sw / DCP / F/d // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH Myriam Mézières, Alain Tanner // KAMERA Acácio de Almeida // MUSIK Johann Sebastian Bach // SCHNITT Laurent Uhler // MIT Myriam Mézières (Mercedes), Aziz Kabouche (Johnny), Benoît Régent (Pierre), Biana (die Freundin), Jean-Yves Berthelot (der Partner), André Marcon (Etienne), Jean-Gabriel Nordmann (der Regisseur).

LA FEMME DE ROSE HILL

Schweiz 1989

Ein allein lebender Landwirt im Kanton Waadt lässt sich über eine Agentur eine Ehefrau aus Mauritius vermitteln. Die Ehe scheitert. Die junge Afrikanerin verliebt sich in den Sohn eines Ziegeleibesitzers. Dieser versucht die Beziehung um jeden Preis geheim zu halten, da sie in seiner grossbürgerlichen Familie nicht akzeptiert würde.

«Tanner schlägt thematisch den Bogen zurück zu Le milieu du monde aus dem Jahre 1974, als es noch eine Italienerin war, die in unserem Lande unglücklich wurde, doch die Realisierung ist anders: einfach, fast spröde, ohne Zierrat und dennoch voller Liebe für den Menschen in seinen mannigfaltigen Fesseln.» (Fred Zaugg, Der Bund)

95 Min / Farbe / 35 mm / F/d // DREHBUCH UND REGIE Alain Tanner // KAMERA Hugues Ryffel // MUSIK Michel Wintsch // SCHNITT Laurent Uhler // MIT Marie Gaydu (Julie), Jean-Philippe Ecoffey (Jean), Denise Péron (Jeanne), Roger Jendly (Marcel), Louba Guertschikoff (Marcels Mutter), André Steiger (Jeans Vater), Marie-Christine Epiney (Jeans Freundin).

LES HOMMES DU PORT

Schweiz 1995

«Im Alter von 17 Jahren war der Genfer Filmemacher Alain Tanner auf der Flucht vor der Sesshaftigkeit nach Genua gereist und hatte für eine Reederei gearbeitet. In seinem traumhaft sanften Essay kehrte er vierzig Jahre später zurück und dachte über beobachtete Veränderungen im Arbeitsleben und beim Filmen nach. Entstanden ist eine Bilder-Ode an den Hafen von Genua, seine Menschen, ihre Arbeit, ihr Verhältnis zur Arbeit, ihre Solidarität – untermalt von Arvo Pärts ‹Fratres› und ‹Tabula Rasa›. Ursprünglich hoffte Tanner, den Hafen als Sprungbrett für Fahrten in die weite Welt benutzen zu können. Doch er blieb sesshaft, den Blick auf jenes Meer gerichtet, das später in mehreren seiner Filme wieder auftauchen sollte. Les hommes du port wirkt federleicht, trotz der gewichtigen Lasten, die da verschoben werden. Nicht nur Container und Frachtriesen, auch Gedanken zur Arbeitswelt, zum Klima unter den Dockern, die ihre Arbeit vom Vater zum Sohn

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Alain Tanner → Requiem → Jonas et Lila, à demain. → Fourbi → Les hommes du port

übertragen und als Freiheit empfinden. Es ist die Würde, die diese Männer ausstrahlen. Es ist ihre Schönheit, die geradezu betörend wirkt, es sind ihre Sätze, wie sie ohne grosse Worte vom Wesentlichen reden. Und wenn dies alles nicht zum nostalgischen Kitsch gerät, so ist es das Verdienst des Filmemachers, der die Erfahrung der Docker mit seiner eigenen Arbeit zu verknüpfen versteht. Auch Tanner redet in der ersten Person, spricht seinen Kommentar selber.» (Walter Ruggle, trigon-film.org)

64 Min / Farbe / DCP / F+I/d // DREHBUCH UND REGIE Alain Tanner // KAMERA Denis Jutzeler // MUSIK Arvo Pärt // SCHNITT Monika Goux.

FOURBI

Schweiz 1996

Vor acht Jahren hat Rosemonde einen Mann getötet, weil er angeblich versuchte, sie zu vergewaltigen. Jetzt interessiert sich ein Privatfernsehsender für die Story und möchte sie mit Rosemondes Hilfe verfilmen. Da sie ebenso wie der Schriftsteller Pierrot Geld braucht, lassen sich beide für das Vorhaben anheuern. Der Auftraggeber will die Wahrheit zeigen, Rosemonde wäre es lieber, der Schriftsteller würde «ihre» Geschichte erfinden ...

«Tanners fraglos bester Spielfilm seit Dans Ia ville blanche. Trotz Anklängen handelt es sich nicht etwa um ein Remake seines klassischen La salamandre von 1971, wohl aber um eine Rückkehr zu den Fragen und Antworten von damals. Nur werden sie eben neu auf die heutigen Situationen bezogen.» (Pierre Lachat, in: Cinema 42)

114 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH Alain Tanner, Bernard Comment // KAMERA Denis Jutzeler // MUSIK Michel Wintsch // SCHNITT Monica Goux // MIT Karin Viard (Rosemonde), Jean-Quentin Châtelain (Paul), Cécile Tanner (Marie), Antoine Basler (Pierrot), Robert Bouvier (Kevin), Jed Curtis (Sponsor), Maurice Aufair (Pauls Vater), Michèle Gleizer (Pauls Mutter), André Steiger (Theaterprofessor), Teco Celio (Garagist).

REQUIEM

Schweiz/Frankreich/Portugal 1998

Paul ist in Lissabon verabredet, wird aber versetzt. Er driftet durch die glühend heisse Stadt und begegnet allerlei Personen, die ihm zunehmend unwirklich vorkommen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen ebenso wie Welt und Vorstellung.

«In Requiem versucht sich Alain Tanner gewissermassen am fantastischen Film. Diese Verfil-

mung von Antonio Tabucchis ‹Lissabonner Requiem›, die um die Figur und die Themen Fernando Pessoas konstruiert ist, entspinnt eine Handlung zwischen Wirklichkeit und Einbildung, die den Protagonisten mit seinen Geistern konfrontiert, anlässlich einer verpassten Verabredung zwischen Mittag und Mitternacht. (...) Requiem ist ein Gedicht, das der portugiesischen Seele gewidmet ist und dem Unbewussten von Paul.» (Frédéric Bas, in: Alain Tanner – Ciné-mélanges, Seuil 2007)

105 Min / Farbe / 35 mm / Port+F/d/f // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH Alain Tanner, Bernard Comment, Antonio Tabucchi, nach dem Roman von Antonio Tabucchi // KAMERA Hugues Ryffel // MUSIK Michel Wintsch // SCHNITT Monica Goux // MIT Francis Frappat (Paul), André Marcon (Pierre), Myriam Szabo (Isabel), Cécile Tanner (Christine), Zita Duarte (Fahrende), Alexander Zloto (der Vater), Márcia Breia (Madame Casimira), Canto e Castro (Losverkäufer), Raul Solnado (Friedhofwärter).

JONAS ET LILA, À DEMAIN

Schweiz/Frankreich 1999

«25 Jahre nach Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 lässt Alain Tanner die Titelfigur seines erfolgreichsten Films wieder aufleben. Jonas ist Filmemacher geworden, lebt mit der im Senegal geborenen Lila zusammen in einer Altbauwohnung in Genf und verfolgt seine ersten Dokumentarfilmprojekte. Der spannungsvoll und leichtfüssig erzählte Film ist eine vielschichtige Meditation über das Filmemachen und die Frage nach dem guten Leben. (...) Wie in Tanners besten Filmen durchdringen sich Gedanken und Geschehen im Gezeigten, und wie im ursprünglichen Jonas trägt ein präziser, kunstvoller Erzählrhythmus den Film.» (Vinzenz Hediger, Film 11/99)

«Jonas et Lila, à demain ist keine Fortsetzung, eher eine musikalische Coda, eine Möglichkeit für den Cineasten, auf die Vergangenheit zurückzukommen, nicht um sich darin zu suhlen und wohlzufühlen, sondern um sie aufzukochen, wie man in der Gastronomie sagt.» (Frédéric Bas, in: Alain Tanner – Ciné-mélanges, Seuil 2007)

116 Min / Farbe / DCP / F/d // REGIE Alain Tanner // DREHBUCH Alain Tanner, Bernard Comment // KAMERA Denis Jutzeler // MUSIK Michel Wintsch // SCHNITT Monica Goux // MIT Jérôme Robart (Jonas), Aïssa Maïga (Lila), Natalia Dontcheva (Irina), Heinz Bennent (Anziano), Marisa Paredes (Maria), Jean-Pierre Gos (Jean), Cécile Tanner (Cécile)

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Alain Tanner

«Alain Tanner hat uns gezeigt, dass es möglich ist, als Westschweizer Filme zu machen. Dass es möglich ist, Geschichten von hier zu erzählen, mit Menschen von hier, gedreht an Orten von hier, und dass diese Geschichten dann als Weltgeschichten weiterreisen.

Utopie, Aufbruch, Flucht und Irrfahrt sind universell. Und das, wie auch viele andere Dinge, hat Alain Tanner auf eine so einzigartige Weise gefilmt, die gleichzeitig sehr belebt, sehr poetisch und sehr politisch ist. Seine Spuren sind für uns alle tief in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelt, aber auch zeitgenössisch. Wir hatten ihn im vergangenen Jahr mehrmals und mit grossem Vergnügen wiedergesehen, als wir mit den Studierenden des Fachbereichs Film einen Workshop über sein Kino veranstalteten. Die sechs Porträts zeichnen die Geschichte von Alain Tanners Filmen nach und wurden 2021 am GIFF gezeigt.

Alain Tanners Denken war stets rege und bissig. Seine Äusserungen, die keinerlei Zugeständnisse an den Anstand machten, waren von einer seltenen Menschlichkeit durchdrungen. Von einer Liebe zu den Menschen, die nichts oder wenig haben und die er mit Aufrichtigkeit, Respekt, Schönheit und Humor zu filmen verstand.» (Nicolas Wadimoff, Leiter des Fachbereichs Film der HEAD, hesge.ch, September 2022)

Am Donnerstag, dem 20. April, werden um 18.15 Uhr die Kurzhommage von Jacob Berger, je pense à Alain Tanner, und die sechs Kurzfilme aus dem HEAD-Workshop gezeigt. Anschliessend diskutieren Nicolas Wadimoff, Jacob Berger und andere Gäste mit Marcy Goldberg über Tanners Schaffen und seine Bedeutung für das Schweizer Kino.

40 Alain Tanner
PODIUMSDISKUSSION ÜBER ALAIN TANNER DO, 20. APRIL | 18.15 UHR → Alain Tanner bei den Dreharbeiten zu La vallée fantôme
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«FILMKULTUR» Mit Filmen die Ukraine entdecken Thomas Binotto und Dr. Tatjana Hofmann Ab Fr 26.5.2023, 13.30 – 17.00 Uhr KULTURKÜCHE Die Ukraine Esskultur kennenlernen und selbst nachkochen Dr. Tatjana Hofmann Ab Fr 26.5.2023, 2×, 17.30 – 19.00 Uhr 25.4. — 4.5.23 ZÜRICH –5.5. — 7.5.23 FRAUENFELD –QUEERES FILMFESTIVAL TICKETS AB 14.4. ERÖFFNUNG & CLOSING NIGHT 17.4. FESTIVAL
SALONREIHE

Pink Apple: Ehrenpreis Golden Apple für Marco Berger

Pink Apple verstärkt seine Zusammenarbeit mit dem Filmpodium. Von Marco Berger, dem diesjährigen Gewinner des Ehrenpreises «Golden Apple 2023» für seine Verdienste im queeren Filmschaffen, ist neben einer Retrospektive auch sein neuster Film Los agitadores als Premiere zu sehen sowie als weitere Erstaufführung Fogo-Fátuo, das queer-schräge neue Werk des Portugiesen João Pedro Rodrigues.

Das zeitgenössische lateinamerikanische Kino wird aus eurozentrischer Sicht oft als eine vermeintlich homogene Filmbewegung mit starker Verwurzelung im Erzählen indigener Lebenserfahrungen verstanden. Die filmische Überwindung postkolonialistischer Traumata von unterrepräsentierten Stimmen erlebt dieweil weltweit grosse Aufmerksamkeit. Ein lateinamerikanisches Kino per se gibt es aber nicht. Vielmehr präsentiert sich jedes der 27 Länder, die unter diesem politisch-kulturellen Begriff zusammengefasst werden, reich an unterschiedlichen filmischen Traditionen und Werten.

Der Regisseur und Drehbuchautor Marco Berger (*1977 in Buenos Aires) zeigt seine Perspektive auf die argentinische Gesellschaft und ihren Umgang mit Machismo, toxischer Männlichkeit, sexueller Unterdrückung und den vielschichtigen, komplexen Formen sexueller Orientierung. Er gilt im Kontext der queeren Filmgeschichte als eine:r der wichtigen Exponent:innen der letzten 15 Jahre und sollte auch als eine herausragende Stimme des lateinamerikanischen Kinos verstanden werden. Doch bis heute steht sein Schaffen in den nicht spanischsprachigen Regionen oft im Hintergrund. Mit einer umfangreichen Retrospektive an seiner 26. Ausgabe möchte das Festival Pink Apple dem entgegenwirken. Sieben der bisher neun Langfilme von Marco Berger können dieses Jahr am bedeutendsten queeren Filmfestival der Schweiz entdeckt werden – fünf davon im Filmpodium.

Vielfalt und Verführung

2007 schloss Berger sein Filmstudium an der Universidad de Cine in Buenos Aires ab. Sein Kurzfilm El reloj bescherte ihm 2008 Einladungen der Cinéfondation in Cannes und des Sundance Film Festival. 2009 präsentierte Berger sein Langfilmdebüt Plan B, eine romantische Komödie über zwei Männer, die

↑ Pikante Lehrer-Schüler-Affäre: Ausente

↓ Zwischen Homoerotik und Homophobie: Los agitadores

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sich über Umwege näherkommen. Der Film gilt mittlerweile als ein queerer Filmklassiker, der unaufgeregt thematisiert, dass Männer vielfältige sexuelle Orientierungen ausleben können und dürfen. Im formalen Gegensatz dazu offenbart Berger sein Talent für subtile Spannungsmomente im Umgang mit dem Thriller-Genre mit seinem zweiten Langfilm Ausente (2011). Dieser wurde an der Berlinale mit dem Teddy Award, dem wichtigsten queeren Filmpreis der Welt, ausgezeichnet. In Ausente versucht der 16-jährige Sebastián alles, um seinen Schwimmlehrer zu verführen, und treibt diesen in ein verhängnisvolles Netz aus Lügen, Schuldgefühlen und Angst. Bergers Gespür und seine filmische Stärke offenbaren sich spätestens jetzt in der Genauigkeit, mit der er das Aufkeimen von Begierden in Gesten, Blicken und anderer nonverbaler Kommunikation erforscht und zugleich Strategien zeigt, mit denen das eigene Verlangen in Schach gehalten wird.

Bergers «gay gaze»

Mariposa (2015) spielt mit dem Schicksal und der Frage «Was wäre, wenn?» und etabliert ganz selbstverständlich eine spezifisch homoerotische Lesart seiner (meist heterosexuellen) Figuren. In der Kanonisierung von Bergers Werk kann spätestens ab diesem Film von einem sogenannten «gay gaze» gesprochen werden, einem analog zu Laura Mulveys Begriff «male gaze» gedachten objektivierenden schwulen Blick auf den Männerkörper. Die subtile Andeutung homoerotischer Begierde zwischen Männern, deren sexuelle Orientierung man nicht immer kennt, bildet den Kern von Bergers filmischer Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Effekt die konstante Unterdrückung der sexuellen Freiheit auf die toxische Männlichkeit in Argentiniens Gesellschaft ausübt. In Un rubio (2019) thematisiert der Regisseur die Bisexualität einer seiner Hauptfiguren, wie das nur wenige queere Filme schaffen. Ihn fasziniert, wie männliche Sexualität funktioniert und wie klar die Grenzen zwischen homo-, bi- und heterosexuell gezogen werden können (oder eben nicht). Welchen Sprengstoff dies beinhalten kann, präsentiert Berger in Los agitadores (2022). Eine Horde junger sportlicher Kerle verbringt die Weihnachtsferien in einem Sommerhaus. Sie albern herum, imitieren obszöne Sexpraktiken und bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Homoerotik und Homosexualität – bis einer der jungen Männer sich wirklich als schwul offenbart.

Marco Berger wird Los agitadores anlässlich der Verleihung des «Golden Apple 2023» am 30. April im Filmpodium als Schweizer Premiere präsentieren.

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Andreas Bühlmann Andreas Bühlmann ist Artistic Co-Director des Pink Apple Film Festivals.

PLAN B Argentinien 2009

Ein Mittdreissiger wird von seiner Geliebten wegen eines anderen sitzengelassen. Um sie zurückzugewinnen, entwickelt er den Plan, ihren bisexuellen Liebhaber zu verführen. Doch als er diesen besser kennenlernt, ist er sich seiner eigenen Gefühle nicht mehr sicher.

«Was zunächst wie die Prämisse für eine Verwechslungskomödie im Stil des nordamerikanischen Indie-Kinos anmutet, wird später zu einer interessanten Studie über die Widersprüche, Nöte und Sehnsüchte der Menschen. Trotz seiner Höhen und Tiefen und Unentschlossenheiten ist dies ein sehr vielversprechendes Filmdebüt, das mit den Vorbildern des Neuen Argentinischen Kinos bricht (...), nicht zuletzt dank des unschätzbaren Beitrags der beiden Hauptfiguren und einer akribischen Arbeit an den Dialogen.» (Diego Batlle, otroscines.com, 3.7.2010)

106 Min / Farbe / Digital HD / Sp/d // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Marco Berger // KAMERA Tomás Pérez Silva // MUSIK Pedro Irusta // MIT Manuel Vignau (Bruno), Lucas Ferraro (Pablo), Mercedes Quinteros (Laura), Damián Canduci (Víctor), Ana Lucia Antony (Ana), Carolina Stegmayer (Verónica).

AUSENTE Argentinien 2011

«Unter allerlei Vorwänden schleicht sich Martín in die Privatsphäre seines Sportlehrers Sebastián ein und verbringt eine Nacht in dessen Wohnung. Als der Lehrer die Intentionen seines Schülers erkennt, hat dieser ihn bereits kompromittiert. Ausente handelt vom Missbrauch eines Erwachsenen durch einen Minderjährigen, der um die heikle Position seines Lehrers weiss und sie ausnutzt. Marco Bergers origineller Spielfilm erzählt vor allem mit den Blicken, die seine Protagonisten austauschen. Dem herausfordernden Blick Martíns, konterkariert durch eine entschuldigende Körpersprache, die allerdings nicht verbergen kann, dass er Tabus zu verletzen, sich Territorien anzueignen sucht. Dem ausweichenden, ängstlichen Blick Sebastiáns, der nicht wahrhaben will, welches Spiel mit ihm getrieben wird. (...) Fast wird der Film dabei zum Thriller, unterstützt von einem kunstvollen Soundtrack aus akzentuierten Geräuschen und verhaltener Musik.» (Christoph Terhechte, Berlinale, 2011)

91 Min / Farbe / Digital HD / Sp/d // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Marco Berger // KAMERA Tomas Perez Silva // MUSIK Pedro Irusta // MIT Carlos Echevarría (Sebastián),

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Marco Berger → Marco Berger.
→ Un rubio
→ Plan B → Mariposa

Marco Berger

108 Min / Farbe / DCP / SP/d // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT

Marco Berger // KAMERA Nahuel Berger // MUSIK Pedro Irusta // MIT Gaston Re (Gabriel), Alfonso Barón (Juan), Malena Irusta (Ornella), Ailín Salas (Julia), Charly Velasco (Leandro), Justo Calabria ( Brian).

MARIPOSA Argentinien 2015

Romina und Germán leben in parallelen, aber getrennten Wirklichkeiten. In einer dieser Welten wachsen sie wie Geschwister auf. Dabei bestehen zwischen ihnen eine Versuchung und ein Begehren, das sie zu entfalten versuchen, ohne jedoch sexuellen Kontakt zu haben. In der anderen Wirklichkeit treffen sie sich als junge Menschen und beginnen eine Freundschaft, ganz ohne ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.

«Der Erzählstil des Films ist sehr feinfühlig, es werden verschiedene Szenarien durchgespielt und Einblicke in die Liebesfragen einer aufstrebenden Jugend gewährt. Die fesselnde Geschichte vermischt die Liebesgeschichten mit Sensibilität und Sinnlichkeit und beschwört am Ende eine gewisse Vorstellung des Schicksals herauf, aufgrund der unausweichlichen sexuellen Orientierungen und der Art der Menschen, sich einander anzunähern.» (Olivier Bachelard, abusdecine.com)

103 Min / Farbe / DCP / Sp/d // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Marco Berger // KAMERA Tomas Perez Silva // MUSIK Pedro Irusta // MIT Ailín Salas (Romina), De Pietro Javier (Germán), Malena Villa (Mariela), Julian Infantino (Bruno), Justo Calabria (Juan Pablo), Pilar Fridman.

UN RUBIO Argentinien 2019

Ein Vorort in Buenos Aires. Der blonde Gabriel ist gerade bei seinem Arbeitskollegen Juan eingezogen. Offiziell sind beide hetero: Der stille Gabriel hat eine kleine Tochter, Draufgänger Juan bringt eine weibliche Eroberung nach der anderen nach Hause. Trotzdem gibt es zwischen ihnen von Beginn an eine intensive körperliche Anziehung.

«Marco Bergers sanfter, nachdenklicher Film erforscht, was es bedeutet, undercover in einer stolz heterosexuellen Umgebung zu leben, für das Privileg des Sportschauens und der Videospiele und der Biere und des Geplänkels zu bezahlen, indem man über Dinge schweigt, die immer wichtiger werden, neben einem geliebten Menschen zu sitzen und sich nicht berühren zu können, aus Angst, blossgestellt zu werden. Jede der Hauptfiguren erlebt dies auf unterschiedliche Weise.» (Jennie Kermode, eyeforfilm.co.uk, 5.9.2019)

PREMIERE: LOS AGITADORES Argentinien 2022

In den Weihnachtsferien verlässt Andy die Stadt, um mit seinen besten Freunden in einer Luxusvilla Zeit zu verbringen. Die Tage laden zu Ruhe, Entspannung und gelegentlichen Neckereien ein. Doch die ersten Spielchen der Männerrunde zeigen, dass jeder von ihnen unterschiedliche Grenzen hat.

«Marco Berger ist bekannt für seine provokanten Filme, in denen er die Grenzen des schwulen Begehrens auslotet. Manchmal wirkt Los agitadores wie eine tickende Zeitbombe toxischer Männlichkeit – was Bergers Absicht durchaus entspricht. Homophobie durchdringt die aufgeladene Verspieltheit zwischen den Männern, was den Film für ein bestimmtes Publikum schwierig machen könnte, aber der Regisseur weiss, dass zwischen solchen Spielchen und Homoerotik ein schmaler Grat verläuft, und an dieser Trennlinie zupft er genüsslich.» (Cameron Scheetz, queerty. com, 19.10.2022)

102 Min / Farbe / DCP / Sp/d // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT

Marco Berger // KAMERA Nahuel Berger // MUSIK Pedro Irusta // MIT Bruno Giganti (Nico), Agustín Machta (Andy), Franco Antonio De La Puente (Juanma-Poli), Iván Masliah (Artur), Facundo Mas (Luquitas), Iván Díaz Benitez (Fran, El Gordo).

Marco Berger wird vom 28. April bis 1. Mai bei allen Vorstellungen seiner Filme im Kino anwesend sein und am 30. April den Golden Apple Award entgegennehmen.

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De Pietro Javier (Martín), Antonella Costa (Mariana), Alejandro Barbero (Juan Pablo), Rocío Pavón (Analía), Luis Mango (Médico Pileta).

Filmpodium Premiere – in Kooperation mit Pink Apple

Fogo-Fátuo

Eingebettet in ein Science-Fiction-Narrativ inszeniert Regisseur João Pedro Rodrigues Coming of Age und Romantic Comedy als absurdkomisches Musical. Selbstironisch, aber sich niemals der Lächerlichkeit preisgebend, entfesselt Fogo-Fátuo mal provokativ-pornografisch, mal lakonisch-elegant einen schwulen Mittsommernachtstraum, der unweigerlich an der Realität zerbrechen muss.

Wir schreiben das Jahr 2069. Auf dem Sterbebett erinnert sich der ehrwürdige Regent Alfredo, König ohne Krone, an seine ausschweifende Jugend als Feuerwehr-Azubi. Die Begegnung mit seinem Ausbilder Afonso entzündete damals eine leidenschaftliche Liebe – und den gemeinsamen Willen, den Status quo zu verändern. Ein perfekt choreografierter Liebestanz, sexy Feuerwehrmänner in Jockstraps und ein Baum-Penis-Memory gegen den Flächenbrand.

«Der Film setzt ein Zeichen gegen Rassismus, Homophobie, Intoleranz, Hass und Diskriminierung. Des Weiteren thematisiert er immer wieder die kolonialgeschichtliche Vergangenheit Portugals, den Klimawandel sowie die globalen Naturkatastrophen, die unseren Planeten vor schier unlösbare Probleme stellen. Für all diese Botschaften und Anliegen findet der 55-jährige Regisseur ein unkonventionelles, erfrischendes Konzept, das Elemente des Musicals ebenso beinhaltet wie Versatzstücke der Folklore-Komödie, des Dramas und des queeren Liebesfilms.» (Björn Schneider, spielfilm.de, 2022)

Am Samstag, dem 22. April um 18.30 Uhr ist João Pedro Rodrigues im Kino zu Gast.

FOGO-FÁTUO

Portugal/Frankreich 2022

67 Min / Farbe / DCP / Port/d // REGIE

João Pedro Rodrigues // DREHBUCH

João Pedro Rodrigues, João Rui Guerra

da Mata, Paulo Lopes Graça // KAMERA

Rui Poças // SCHNITT Mariana Gaivão // MIT Mauro Costa (Alfredo), André Cabral (Afonso), Joel Branco (Alfredo 2069), Oceano Cruz (Afonso 2069), Margarida VilaNova (Teresa), Miguel Loureiro (Eduardo).

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Filmpodium Classics Love Affair

2018 widmete das Filmpodium Leo McCarey eine Retrospektive. Damals fehlte einer seiner wichtigsten Filme, Love Affair, der zwei Remakes zeugte: An Affair to Remember (Leo McCarey, 1957) und Love Affair (Glenn Gordon Caron, 1994). Nun zeigen wir die witzige Original-Romanze mit Charles Boyer und Irene Dunne in restaurierter Form.

Der französische Playboy Marnay und die ehemalige Sängerin Terry McKay verlieben sich auf der Überfahrt von Europa nach New York, aber beide stehen bereits in einer anderen Beziehung. Sie vereinbaren, wenn ihre Gefühle füreinander nach sechs Monaten der Trennung immer noch so stark sind, sich auf dem Empire State Building wiederzusehen. Doch ihr Plan geht schief.

«Es ist kaum zu glauben, dass dieser perfekt konstruierte Film mit seiner Ausgewogenheit von Komödie und Melodrama, seiner beiläufigen Annäherung an spirituelle Grösse durch eine Reihe scheinbar trivialer Ereignisse, kurz nach Beginn der Dreharbeiten eilig umgeschrieben werden musste (...), als die französische Regierung Einwände gegen Charles Boyers ‹losen› Charakter erhob, weil dieser kurz vor dem Krieg die französisch-amerikanische Freundschaft gefährden würde.» (Dave Kehr, Il cinema ritrovato 2015)

LOVE AFFAIR / USA 1939

88 Min / sw / DCP / E+F/d // REGIE Leo McCarey // DREHBUCH Delmer Daves, Donald Ogden Stewart, nach einer Story von Mildred Cram, Leo McCarey, S. N. Behrman // KAMERA Rudolph Maté // MUSIK Roy Webb // SCHNITT Edward Dmytryk, George Hively // MIT Irene Dunne (Terry McKay), Charles Boyer (Michel Marnay), Maria Ouspenskaya (Grossmutter), Lee Bowman (Kenneth Bradley), Astrid Allwyn (Lois Clarke), Maurice Moscovitch (Maurice Cobert).

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IOIC-SOIREE SA, 15. APRIL | 20.45 UHR

KINO-KONZERT: LE RÉVÉLATEUR

Philippe Garrel findet in Le Révélateur, einem modernen Stummfilm, traumhafte und poetische Bilder für seine Enttäuschung über die 68er-Revolution. Radwan Ghazi Moumneh und Réka Csiszér entwickeln dazu live mit Stimme, Saiten und Elektronik das passende klangliche Universum.

beschreiben lässt. Ein Film ohne Lachen und Flüstern. In einer Landschaft voller Trostlosigkeit, Feuchtigkeit und Erniedrigung ist es schliesslich das schwächste Wesen, das sich auflehnt: das Kind.» (Bernadette Lafont) Oder in den Worten des Regisseurs selbst: «Ich habe diesen kleinen, traumhaften, nomadischen Film über die Familie wahrscheinlich deshalb gemacht, weil es, da die Revolution im Eimer war, keinen Sinn mehr hatte, über Politik zu reden.»

LE RÉVÉLATEUR / Frankreich 1968

67 Min / sw / DCP / Stummfilm // DREHBUCH, REGIE, SCHNITT Philippe Garrel, // KAMERA Michel Fournier // MIT Laurent Terzieff (der Vater), Bernadette Lafont (die Mutter), Stanislas Robiolle (das Kind).

Le Révélateur ist einer der ersten Filme des französischen Schauspielers, Drehbuchautors und Filmregisseurs Philippe Garrel. Garrel, Kind der Nouvelle Vague und der 68er-Bewegung, drehte den Film kurz nach dem Mai 1968 aus dem Kater heraus, den die unerfüllten Hoffnungen des Pariser Frühlings hinterlassen hatten. Der Film funktioniert aber auch ohne Kenntnis des Kontexts auf einer rein intuitiven Ebene. Le Révélateur ist ein Stummfilm und in Schwarzweiss gedreht. «Ein Paar und sein Kind fliehen vor einer Bedrohung, die sich weder fassen noch

Das Filmpodium und das IOIC – Institute of Incoherent Cinematography – zeigen diesen Stummfilm aus der Tonfilmzeit mit einer Live-Vertonung des renommierten kanadisch-libanesischen Produzenten, Sängers, Lautenisten und Elektronikers Radwan Ghazi Moumneh, auch bekannt als Jerusalem in My Heart, und der transsylvanisch-schweizerischen Sängerin, Elektronikerin und Cellistin Réka Csiszér, ihrerseits bekannt für das experimentelle Solo-Projekt Víz, das elektronische Duo Bitter Moon und als Sängerin der Zürcher Lokalmatadoren The Pussywarmers & Réka.

 Stummfilm mit Live-Begleitung von Radwan Ghazi Moumneh (Stimme, Laute, Elektronik) und Réka Csiszér (Stimme, Elektronik, Cello)

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MEMORIES» & DW 16 «SONGBOOK I»

Die Konzertreihe Musikpodium stellt das aktuelle Schweizer Musikschaffen in den Fokus. Insbesondere Schweizer Komponist:innen präsentieren auf dieser Plattform neueste Werke. Das multimediale Projekt «Constructed Memories» des Ensembles Soyuz21 gastiert erstmals im Filmpodium, da die Projektion von Filmmaterial eine wichtige Komponente darstellt.

Martin Jaggi (*1978)

Adrian Kelterborn (*1979)

Constructed Memories (2021)

«Constructed Memories» ist ein multimediales Projekt des Contemporary-MusicEnsembles Soyuz21, das einen Komponisten mit einem Filmemacher zusammenbringt. Die Grundidee ist, dass das Künstlerpaar von Beginn weg ein ganzes Werk zusammen plant und entwickelt. Für die Ausgabe 2021 wurden der Komponist Martin Jaggi und der Filmemacher Adrian Kelterborn eingeladen.

Jaggi und Kelterborn verarbeiteten die Erfahrungen gemeinsamer Afrikareisen in sich gegenseitig ergänzenden Bild- respektive Tonsequenzen. Das ursprüngliche

Klangmaterial, das teilweise aus afrikanischen Melodien besteht, ist von Jaggi weiterentwickelt und transformiert worden. Das Bildmaterial besteht aus Momentaufnahmen von den Reisen.

Bernhard Lang (*1957)

DW 16 «Songbook I»

Bernhard Lang schrieb für Soyuz21 und die Sopranistin Sarah Maria Sun eine Neufassung seines 35-minütigen Werks «Songbook I» aus dem Jahre 2005 für Stimme, Saxofon, E-Gitarre, Klavier und Schlagzeug.

Die Texte stammen aus Popsongs, mit denen der Komponist viel an persönlicher Geschichte verbindet; sie werden zertrümmert, neu arrangiert und mit «damaged beats» und Scratchloops von Rock- und Jazzpatterns unterlegt.

Mitwirkende:

Sarah Maria Sun, Stimme

Soyuz21:

Sascha Armbruster, Saxofon

Mats Scheidegger, Gitarre, E-Gitarre

Philipp Meier, Keyboards, Piano

Isaï Angst Elektronik, Soundmaster

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MUSIKPODIUM SA, 13. MAI | 20.45 UHR «CONSTRUCTED
Constructed Memories.

Die Romanvorlage schrieb der Kreter Nikos Kazantzakis, Regie führte der GriechischZypriot Michael Cacoyannis, aber den berühmten Tanz Sirtaki erfand der Mexikaner Anthony Quinn in der Titelrolle von Zorba the Greek.

«Im Hafen von Piräus treffen zwei grundverschiedene Männer aufeinander: der englische Schriftsteller Basil und der mazedonische Bergarbeiter Alexis Sorbas. Basil, ein distanziert-vergeistigter und etwas weltfremder junger Mann, will auf Kreta sein Erbe antreten und ein altes Bergwerk wiedereröffnen. Sorbas, ein alternder Vagabund und Lebenskünstler ohne festes Ziel, aber mit einer handfesten, einfachen Lebensphilosophie, will ihn dorthin beglei-

ten. In jenem einsamen, kargen kretischen Dorf muss ihre Zweckgemeinschaft harte Bewährungsproben bestehen. (...) Anthony Quinn spielt eine Art ‹vitales Urgestein›, den Inbegriff des kraftvollen, durch keine Niederlage auf die Dauer zu entmutigenden Mannes, der dem Gast aus dem europäischen Westen nicht nur Mut, sondern auch Lebensfreude beibringt. (...) Einen deutlich folkloristischen Einschlag erhält der Film durch die ausgiebigen Landschaftstotalen und nicht zuletzt durch die Musik von Mikis Theodorakis, die vor allem durch die Tanzszenen Quinns weltberühmt wurde.» (Reclams Filmklassiker)

 Mittwoch, 10. Mai, 18.15 Uhr: Einführung von Ursula Krayenbühl

ZORBA THE GREEK / USA/Griechenland 1964

142 Min / sw / DCP / E+Gr/d // REGIE UND SCHNITT Michael Cacoyannis // DREHBUCH Michael Cacoyannis, nach dem Roman von Nikos Kazantzakis // KAMERA Walter Lassally // MUSIK Mikis Theodorakis // MIT Anthony Quinn (Alexis Zorba), Alan Bates (Basil), Irene Papas (die Witwe), Lila Kedrova (Madame Hortense), George Foundas (Mavrandoni), Eleni Anousaki (Lola), Sotiris Moustakas (Mimithos), Takis Emmanuel (Manolakas).

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SÉLECTION LUMIÈRE FR, 7. APRIL | 15.00 UHR
THE GREEK MI, 10. MAI | 18.15 UHR
ZORBA

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich

LEITUNG Nicole Reinhard (nr), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb)

WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm), Flurina Gutmann

PRAKTIKUM Dario Iannotta (di) // SEKRETARIAT Claudia Brändle

BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 412 31 25

WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 415 33 66

UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arsenal Distribution, Berlin; Ascot Elite Entertainment Group, Zürich; Asian Shadows, Hongkong; Association Alain Tanner, Genf; British Film Institute, London; CAB Productions, Lausanne; Cinemien, Frankfurt; Cineworx, Basel; Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin; EYE Film Institute Netherlands, Amsterdam; filmo, Solothurn; Frenetic Films, Zürich; Le Fresnoy, Tourcoing; Philippe Garrel; Golden Egg Production, Genf; HEAD Haute école d'art et de design, Genf; Jupiter Communications, Paris ; Erich Langjahr, Root; Netflix, Los Gatos; Park Circus, Glasgow; Praesens-Film, Zürich; Raluwa, Zürich; RTS, Genf; Salzgeber Medien, Berlin; Shochiku International, Tokio; Sister Distribution, Genf; Sony Pictures Releasing Switzerland, Zürich; Trembling Flame Films, Shanghai; trigon-film, Ennetbaden; Universal Pictures International, Zürich; Wildstar Sales, Okehampton.

DATABASE PUBLISHING BITBEE Solutions AG, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich

GESTALTUNG TBS, Zürich // KORREKTORAT Nina Haueter, Daliah Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 4500

ABONNEMENTE & VERGÜNSTIGUNGEN Filmpodium-Generalabonnement: CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // alle unter 25 Jahre & Kulturlegi: CHF 9.– // Programm-Pass: CHF 60.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen einer Programmperiode) // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU MAI/JUNI

Frauen filmen Freiheit –Iranische Regisseurinnen im Widerstand «Frau, Leben, Freiheit» – mit diesem kurdischen Slogan setzen sich mutige Protestierende im Iran gegen ein brutales, undemokratisches Regime zur Wehr. Speerspitze des Widerstandes: die Frauen! Ihr Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Gefängnismauern aus Angst, Strafe und Repression hat eine weit zurückreichende Geschichte, und das iranische Kino vor und nach der Revolution gibt davon Zeugnis. Unser Programm lässt iranische Filmgeschichte als Frauenrevolutionsgeschichte neu entdecken: Filme von iranischen Regisseurinnen mehrerer Generationen werden zu einem Kaleidoskop schöpferischer Formen des Widerstandes gegen systematische Unterdrückung.

Preziosen eines Perlentauchers

Kein Job ist nur ein Traum, aber wer als Kurator:in dafür bezahlt wird, sich Filme anzuschauen und aus den besten ein Programm zu machen, geniesst allemal ein Privileg, und ich wusste dies sehr zu schätzen. Seit meinem Antritt als stellvertretender Leiter dieses Kinos Anfang 2014 habe ich ungezählte Filme gesehen, aber beeindruckt haben mich manche freilich mehr als andere. Zum Abschied vor meiner Pensionierung Ende Mai möchte ich nochmals einige meiner schönsten Entdeckungen mit dem Publikum teilen, vom Stummfilm bis zum aktuellen arabischen Kino, von Japan bis Hollywood, vom packenden Dokumentarfilm bis zur absurden Komödie.

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IMPRESSUM

«Gespickt mit wundervollen surrealen Einfällen, vermittelt Nezouh auf tragikomische Weise das Dilemma der Entscheidung, ob man bleiben oder gehen soll.»

CINEUROPA

AB 13.APRIL IM KINO

SOUDADE KAADAN ∙ SYRIEN

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