Filmpodium Programmheft April/Mai 2018

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1. April – 15. Mai 2018

Claudia Cardinale Christine Vachon


Das Jahresabo für alle in Ausbildung.

RUND 60 FILME FÜR FR. 50.–. «Das erste Jahrhundert des Films» im Filmpodium.

2.5. — 10.5.18 Zürich

11.5. — 13.5.18

21.PinkAPPLE

Frauenfeld

schwullesbisches Filmfestival

VORVERKAUF AB 24.APRIL


01 Editorial

Man muss die Gäste feiern ... Dem 1986 vom Stimmvolk erteilten Auftrag gemäss ist das Filmpodium ein Ort der Unterhaltung, der Begegnungen und der Entdeckungen, der «dem ­Publikum ermöglicht, seine Lieblingsfilme (...) auf der Leinwand statt auf dem Bildschirm wiederzusehen, Filmschaffende, Künstler und Produzenten zu treffen». Es ist uns denn auch ein grosses Anliegen, über das blosse Vorführen von Filmen hinaus Veranstaltungen zu organisieren, die persönliche Begegnungen mit Gästen erlauben. Der Zugang zu Filmen ist heute dank Internet ja leichter denn je. Aber leibhaftige Menschen zu treffen, die sich mit dem Kino beschäftigen, ist ein Mehrwert, den nur ein Ort wie das Filmpodium bieten kann. Bei unseren Gästen gibt es, grob gesagt, drei Kategorien: Filmschaffende, Filmkundige und andere Kulturschaffende. Filmschaffende, die zu ihren Werken Rede und Antwort stehen, wären in der Regel am spannendsten, doch gerade bei unseren Klassikerreihen sind sie selten verfügbar: Carl ­Theodor Dreyer, Jeanne Moreau und Eliseo Subiela, die wir neulich würdigten, haben den Weg nach Zürich nicht mehr gefunden. Claudia Cardinale, die wir in diesem Programm feiern, hat als rüstige 80-jährige Diva nicht nur weiterhin Theaterengagements, sondern leider auch Gagenvorstellungen, bei denen wir passen müssen. Umso mehr freut es uns, dass sie angeboten hat, das Filmpodium-Publikum per Videobotschaft zu grüssen. Der 82-jährige William Friedkin, dem wir im Mai/Juni eine Retrospektive widmen, würde laut seinem Agenten kommen – wenn man ihm einen Lifetime Achievement Award verliehe, aber das Filmpodium verteilt nun mal keine Preise. Zum Glück gibt es Festivals wie das Pink Apple, mit denen wir zusammenarbeiten können. So wird die Produzentin Christine Vachon, der wir in diesem Programm die zweite Hauptreihe widmen, bei mehreren Veranstaltungen im Filmpodium präsent sein. Schweizer Filmschaffende beehren uns öfter, nicht nur anlässlich der eben vergangenen Woche der Nominierten für den Schweizer Filmpreis. In den kommenden Monaten bereichern zudem angehende und arrivierte Filmwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler unsere Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» mit Einführungen zu einzelnen Werken. Und selbstverständlich zeigen wir weiterhin Stummfilme, die von herausragenden MusikerInnen und Ensembles live begleitet werden. Die wichtigsten Gäste bleiben allerdings Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, und mit Ihnen lohnen sich Begegnungen ebenfalls. Unsere Bar ist auch nach den Vorstellungen geöffnet. Michel Bodmer Titelbild: Claudia Cardinale in The Professionals von Richard Brooks


02 INHALT

Claudia Cardinale

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Christine Vachons Killer Films 17

Am 15. April feiert eine grosse Diva des italienischen Kinos ihren 80. Geburtstag: Claudia Cardinale. Noch immer aktiv, wurde sie in den 1960erJahren in Filmen von Luchino Visconti (Il gattopardo), Mauro Bolognini (Il bell'Antonio), Valerio Zurlini (La ragazza con la valigia) und natürlich von Federico Fellini (Otto e mezzo) zur ­Legende. Bald trat sie auch in inter­ nationalen Produktionen auf, in Filmen von Blake Edwards und Sergio Leone über Richard Brooks und Werner Herzog bis Manoel de Oliveira. Unerreichbare Lichtgestalt und bodenständige, sinnliche Frau mit starkem Überlebenstrieb zugleich, spielte sie Prinzessinnen und Huren, Witwen und Musen. An ihrer Seite und unter ihrem Bann standen dabei männliche Stars wie Marcello Mastroianni, Jean-Paul Belmondo, Burt Lancaster, Alain Delon und Klaus Kinski.

1991 produzierte Christine Vachon mit Poison den Erstling ihres Studienkollegen Todd Haynes, der prompt in Sundance ausgezeichnet wurde. Seither hat sie zahlreiche markante Produktionen vorgelegt. Ihre Firma Killer Films steht für ein Kino, das die Grenzbereiche der US-Gesellschaft ­ ausleuchtet und das amerikanische Selbstverständnis hinterfragt. Zu Vachons wichtigsten Werken zählen Rose Troches Lesbenromanze Go Fish (1994), Larry Clarks umstrittenes Jugendporträt Kids (1995), Kimberly Peirces Oscar-gekröntes Transgender-Drama Boys Don’t Cry (1999) sowie weitere Haynes-Filme wie die Bob-Dylan-Hommage I’m Not There (2007) und die HighsmithAdaption Carol (2015). Christine Vachon wird am Pink Apple Festival 2018 preisgekrönt. Das Filmpodium widmet ihr eine Retrospektive.

Bild: Il gattopardo

Bild: Carol


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Das erste Jahrhundert des Films: 1948

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Vittorio De Sica (Ladri di biciclette) und Luchino Visconti (La terra trema) führen uns die soziale Ungerechtigkeit in Italien neorealistisch vor Augen. Kraftvoll porträtiert Akira Kurosawa (Engel der Verlorenen) das verwüstete Nachkriegs-Tokio. John Huston erzählt von Missgunst in Mexiko (The Treasure of the Sierra Madre), und Howard Hawks (Red River) nimmt uns mit auf einen strapaziösen Treck. Trost spendet ein Technicolor-Kinomärchen (The Red Shoes) von Michael Powell und Emeric Pressburger. Bild: Ladri di biciclette

Filmpodium für Kinder: Auf dem Weg zur Schule

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Der Dokumentarfilmer Pascal Plisson porträtiert vier Kinder aus aller Welt auf ihren ungewöhnlichen und beschwerlichen Schulwegen. Bild: Auf dem Weg zur Schule

Einzelvorstellungen Sélection Lumière: La femme du boulanger

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IOIC-Soiree: 44 Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki



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Claudia Cardinale Sie dreht noch immer. Zur Legende wurde sie jedoch in den 1960erJahren in Filmen von Luchino Visconti, Mario Monicelli, Valerio Zurlini und natürlich von Federico Fellini, der ihr in Otto e mezzo die vielleicht perfekte Rolle gab. Pünktlich zum 80. Geburtstag von Claudia Cardinale am 15. April zeigen wir 15 Filme der in Tunis geborenen Sizilianerin, die mit ihrer betörenden Mischung aus Naivität und Sinnlichkeit zu einem der Superstars des italienischen Kinos wurde. Claudia Cardinale reüssierte ähnlich wie ihre älteren Kolleginnen Gina ­Lollobrigida und Sophia Loren in einer Dekade, in der Diven, ganz besonders italienische, en vogue waren. In den späten 1950er- und frühen 1960er-­Jahren hatte sich das Kinopublikum in Europa vom Zweiten Weltkrieg erholt, der Wiederaufbau war weitgehend abgeschlossen; nun sehnte man sich nach ­jenem Dolce Vita, das Adriastrände, südliche Sonne und italienisches Gelato verhiessen. Als Verkörperung männlicher Sehnsüchte fungierte die grosszügig dekolletierte, glutäugige und gern auch barfüssig-bodenständige Frau mit lautem Mundwerk, die wenig Göttlich-Entrücktes hatte. Jedenfalls nicht in ihren Rollen, dafür umso mehr bei öffentlichen Auftritten: Trauben von Autogrammjägern, Fotografen und Polizisten scharten sich etwa an der Berlinale 1964 um Claudia Cardinale, die dort den Film La ragazza di Bube von Luigi Comencini repräsentierte. Der Titel «Bubes Mädchen» verweist bereits auf die Rollen, die Claudia Cardinale spielte: ein namenloses, glänzendes Prestige­ objekt für die Männer, denen sie zugeordnet ist, eben: Das Mädchen von … Die Frau in Männergeschichten Das war in den 1960er-Jahren, als Cardinale auf dem Gipfel ihres Ruhms war, üblich. Heute ist man schon eher verblüfft, dass die erzählten Geschichten sich fast ausschliesslich um Männer drehten. Die Schauspielerin schien genau das zu verkörpern, was Männer wollten: Schönheit gepaart mit Sinnlichkeit, Nahbarkeit statt Ziererei. Auf diese Eigenschaften setzte Luchino Visconti in seinem Meisterwerk Il gattopardo (1963), in dem es Cardinales Figur Angelica obliegt, den Adel mit dem aufstrebenden Bürgertum zu versöhnen. Viscontis Generationendrama kreist um die beiden männlichen Pro-

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Eine Liebe über die Klassengrenzen hinweg: Claudia Cardinale und Jacques Perrin in La ragazza con la valigia von Valerio Zurlini (1961) Der Traum vom Opernhaus im Amazonasgebiet: Claudia Cardinale und Klaus Kinski in Fitzcarraldo von Werner Herzog (1982)


06 tagonisten, den von Burt Lancaster dargestellten Fürsten Salina und dessen Neffen Tancredi, den er mit dem aufstrebenden Star Alain Delon besetzte. Dennoch hatte Visconti, der Cardinale bereits 1960 für eine kleine Rolle in Rocco e i suoi fratelli entdeckt hatte, ein Gespür für Cardinales sinnliche Ausstrahlung, die in Il gattopardo die ganze Vitalität und Prosperität der Neu­ reichen repräsentiert. Visconti inszenierte ihren ersten Auftritt im Haus der adeligen Familie wie den einer Braut: Angelica, Tochter des beflissenen Bürgermeisters, ist dem Anlass entsprechend gekleidet, ehrerbietig und bescheiden, aber ihre kecken Augenaufschläge deuten auf andere Eigenschaften hin. Ihre Antagonistin Concetta, die Tochter des Hauses, ist ein vor der Zeit gealtertes und vor Frömmigkeit zermürbtes Mädchen, das sich Hoffnungen auf den attraktiven Cousin Tancredi macht – bis sie dessen Blicke auf Angelica bemerkt. Cardinale verrät Angelicas Herkunft mit einem rauen, ordinären Lachen bei Tisch, das die Gesellschaft erstarren lässt. Dieses Lachen ist vielleicht ihr bekanntestes Markenzeichen – so berühmt, dass es sogar kopiert wurde. In Fernando Truebas Künstlerporträt El artista y la modelo (2012) spielt Cardinale die Ehefrau eines alten Bildhauers zur Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs, der in einer jungen Flüchtigen noch einmal das perfekte Modell zu finden glaubt. Die von Aida Folch dargestellte junge Spanierin lacht laut und rau, während Cardinale in ihrer Rolle als selbstlose Künstlergattin und Vermittlerin des jungen Modells wenig zu lachen hat. Nahtlos knüpft Fernando Trueba an die Besetzung der Cardinale in den 1960er-­Jahren an: Das Mädchen von … In einem weiteren Visconti-Film, Vaghe stelle dell’orsa (1965), ist ­Cardinales Part grösser, ihre Figur Sandra ist modern, selbstbewusst, chic und reich. Aber ganz offensichtlich konnte der Regisseur nicht viel mit der Figur anfangen, lag sein Augenmerk doch auf dem Hauptdarsteller Jean Sorel, der Alain Delon zum Verwechseln ähnlich sah. Wieder drehte sich die Familiengeschichte um den schönen, jungen Mann, dessen Passion und Regression. Cardinale als seine ältere Schwester ist meistens zornig, mit «feindseligem Blick und unbarmherzigem Ausdruck», wie ein Familienmitglied sie beschreibt. Ihre Darstellung ist überzeugend, aber Zorn wurde ihr später nicht mehr abverlangt. Selbstbewusst auch in marginalen Rollen Ausgerechnet in einem Italowestern, dem Klassiker Once Upon a Time in the West (1968), wird Cardinale als selbstständige, erstaunlich beherzte Frau ­besetzt und ist dabei ihren drei mächtigen Partnern Henry Fonda, Charles Bronson und Jason Robards durchaus ebenbürtig. Als Ex-Prostituierte Jill auf dem Weg zur Verbürgerlichung – ihr Mann und seine drei Kinder werden allerdings erschossen, noch bevor sie bei ihnen eintrifft – trotzt sie Drohungen


07 und Erpressungen, widersteht Erniedrigungen und Abwertung, weil sie ­diesbezüglich schon viel mitgemacht hat. Sie sehe, so sagt sie dem Gangster Cheyenne einmal, nun wirklich nicht aus wie eine arme, hilflose Witwe. Und sie wird auch nicht so behandelt: Mehr als ein Mann versucht, sie zu vergewaltigen. Was könne man ihr schon tun, sagt sie, ein heisses Bad brauche sie hinterher, das reiche. Es bleibt beim Versuch. Mit grosszügigem Dekolleté – ein weiteres Markenzeichen – bewegt sich Jill in einer weitgehend frauenlosen Welt, und es ist klar, «dass es einen Mann glücklich macht, eine Frau wie dich zu sehen». Mit diesen Worten rückt der Gangster Cheyenne sie in die Sphäre des Unerreichbaren. Dort war sie schon vorher: in Federico Fellinis aus der Zeit gefallenem Film Otto e mezzo (1963). Darin ist Cardinale das Frauenideal schlechthin, die ätherische, stets lächelnde Vision des geplagten Regisseurs Guido, der, umgeben von Frauen und gefangen in seiner Ideenlosigkeit, auf der Flucht ist vor sich selbst. Die Cardinale-Figur hält ihm den Spiegel vor, sie ist Licht­ gestalt und, wie er einmal sagt, «Kind und gleichzeitig Frau». Eine Fehl­ einschätzung, sowohl was die Figur als auch ihre Darstellerin betrifft. Ähnlich wie Sophia Loren wirkt Claudia Cardinale selbstbewusst, auch wenn sie marginale Rollen spielt. Otto e mezzo war der erste Film, in dem Cardinales Stimme zu hören war. Vorher wurde die in Tunis aufgewachsene Tochter sizilianischer Emigranten synchronisiert. Da sie mit Arabisch, Französisch und Sizilianisch aufgewachsen war, musste sie Italienisch erst lernen. Zur Schauspielerei kam sie, weil sie einen Schönheitswettbewerb und eine Reise zum Festival in Venedig gewann, was sie dazu animierte, die Schauspielschule in Rom zu besuchen. Dass sie von ihrem späteren Ehemann, dem Produzenten Franco Cristaldi, während der Ausbildung entdeckt wurde und nicht etwa als eins der zahlreichen Starlets am Festival, zeigt einmal mehr die Ernsthaftigkeit, mit der sie ihren Beruf ausübte. Claudia Cardinales grosse Zeit waren die Sechziger – ab den 1970erJahren galt ihr Frauentyp als unmodern. Dennoch dreht sie bis heute auf der ganzen Welt, weil die Schauspielerei sie jung hält, wie sie 2012 in einem ­Interview erklärte: «Man kann zwar die Zeit nicht anhalten, aber man kann aktiv bleiben, nicht aufhören zu arbeiten; dann braucht man keine Schönheitsoperation.» Daniela Sannwald Daniela Sannwald ist Filmhistorikerin. Sie arbeitet als freie Publizistin und Ausstellungs­ kuratorin. Im Herbst 2018 erscheint ihr zusammen mit Christina Tilmann geschriebenes Buch «Königinnen. Bilder der Macht». Claudia Cardinale steht auch immer noch auf der Bühne und ist oft auf Tournee – mit ein Grund, warum sie unsere Einladung nach Zürich leider ablehnen musste.


> Otto e mezzo.

> La viaccia.


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Claudia Cardinale

IL BELL’ANTONIO Italien/Frankreich 1960 Der schöne Antonio, Sprössling einer einflussreichen sizilianischen Familie, kehrt nach einigen Jahren aus Rom nach Catania zurück, wo er als vermeintlicher Frauenheld mythische Verehrung geniesst. Seine Heirat mit der hübschen Barbara wird als Königshochzeit zelebriert, doch als sich herumspricht, dass Barbara nach Monaten noch immer unberührt ist, wird Antonio zum Gespött der Stadt. «In Vitaliano Brancatis Romanvorlage diente sexuelle Impotenz als grotesker Spiegel des faschistischen Regimes, in der erdigeren Modernisierung durch Mauro Bolognini und Koautor Pier Paolo Pasolini ist sie die universale Metapher für versteinerte Geschlechterrollen – die tragische Farcen-Vorstufe zu ‹Commedia›-Hits wie Divorzio all’italiana.» (Christoph Huber, Österreichisches Filmmuseum, 2/2017) «Lobenswert ist der Mut der beiden Hauptdarsteller: Marcello Mastroianni zeigte wenige Wochen nach La dolce vita abermals keine Angst davor, seine Karriere in Gefahr zu bringen, indem er seine Rolle als gutmütiger Verführer ein zweites Mal untergrub, und Claudia Cardinale musste hier eine undankbare, eher unangenehme einnehmen.» (Erick Maurel, dvdklassik.com, 28.1.2008) 105 Min / sw / 35 mm / I/d // REGIE Mauro Bolognini // DREHBUCH Pier Paolo Pasolini, Gino Visentini, nach dem Roman von Vitaliano Brancati // KAMERA Armando Nannuzzi // MUSIK Piero Piccioni // SCHNITT Nino Baragli // MIT Marcello ­Mastroianni (Antonio Magnano), Claudia Cardinale (Barbara Puglisi), Pierre Brasseur (Alfio Magnano), Rina Morelli (Rosaria Magnano), Tomas Milian (Eduardo), Fulvia Mammi (Elena Ardizzone), Patrizia Bini (Santuzza).

LA RAGAZZA CON LA VALIGIA Italien 1961 «Marcello will die hübsche Aida loswerden – er hat seinen Spass mit dem Mädchen aus der Hotelband gehabt, sie durfte kurz schnuppern an einem Leben in besseren Verhältnissen. Womit er nicht gerechnet hat, ist die schiere Energie, Lebenslust und Findigkeit der jungen Frau. Wieder daheim, lässt er sich verleugnen von seinem Bruder – der sich in Aidas fröhliche Art verliebt. Ein Film über Klassenantagonismen, dessen Grausamkeit in seiner Achtsamkeit liegt, in der Präzision, mit der hier die Minuten und Stunden betrachtet, verzeichnet werden. Bei aller Anteil-

nahme ist Valerio Zurlinis Blick sezierend: Die Pracht des Hauses Fainardi wird genauso en détail studiert wie die ärmliche Schlafstätte Aidas.» (Olaf Möller, Österreichisches Filmmuseum, 1/2013) «Wir begegnen der jungen Claudia Cardinale in ihrer ersten Hauptrolle. Sie spielt das gefallene Mädchen, das auf die Versprechungen eines Aristokraten hereinfällt und dann von dessen jungem Bruder fast gerettet wird, differenziert und mit grossem Einfühlungsvermögen.» (Dagmar Wacker, huffingtonpost.de, 10.9.2014) 121 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Valerio Zurlini // DREHBUCH Leonardo Benvenuti, Piero De Bernardi, Enrico Medioli, Giuseppe Patroni Griffi, Valerio Zurlini, nach einer Story von Leonardo Benvenuti, Piero De Bernardi, Enrico Medioli, Giuseppe Patroni Griffi, Valerio Zurlini // KAMERA Tino ­Santoni // MUSIK Mario Nascimbene // SCHNITT Mario Serandrei // MIT Claudia Cardinale (Aida Zepponi), Jacques Perrin (Lorenzo Fainardi), Luciana Angiolillo (Lorenzos Tante), ­Renato Baldini (Francia), Riccardo Garrone (Romolo), Elsa ­Albani (Lucia), Corrado Pani (Marcello Fainardi), Gian Maria Volontè (Piero Benotti), Romolo Valli (Don Pietro Introna).

LA VIACCIA Italien/Frankreich 1961 Ende des 19. Jahrhunderts verlässt der Bauernsohn Amerigo aus materieller Not den Familien­ betrieb, um bei seinem Onkel in Florenz zu arbeiten. Dort trifft er die junge Prostituierte ­ ­Bianca – und zerbricht an der Liebe zu ihr. «Ein bildstark umgesetzter Film, der Mauro Bolognini in die Nähe von Luchino Visconti rückt.» (Jean Tulard: Guide des films, Robert Laffont, 1990) «In La viaccia spielte ich die Prostituierte Bianca, eine der besten Rollen meiner Karriere. Diese Rolle war für mich erfreulich befreiend, weil ich als Schauspielerin, ohne es zu merken, mit einem neuen Spektrum von schauspielerischen Nuancen experimentieren konnte.» (Claudia Cardinale, im Interview mit Valentino Misino, cafebabel.co.uk) 106 Min / sw / 35 mm / I/e // REGIE Mauro Bolognini // DREHBUCH Vasco Pratolini, Pasquale Festa Campanile, Massimo Franciosa, nach einem Roman von Mario Pratesi // KAMERA Leonida Barboni // MUSIK Piero Piccioni, Claude Debussy // SCHNITT Nino Baragli // MIT Claudia Cardinale (Bianca), Jean-Paul Belmondo (Amerigo), Pietro Germi (Stefano), Paul Frankeur (Ferdinando, Amerigos Onkel), Romolo Valli (Dante), Gabriella Pallotta (Carmelinda).


> The Pink Panther.

> Vaghe stelle dell’orsa.

> The Professionals.


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Claudia Cardinale

IL GATTOPARDO Italien/Frankreich 1963 Sizilien, in den 1860er-Jahren: Ein alter Fürst arrangiert sich oberflächlich mit den aufstre­ benden bürgerlich-liberalen Kräften, indem er seinen Neffen mit der Tochter des opportunistischen Bürgermeisters verheiratet. Gleichzeitig aber verweigert er seine Mitarbeit am neuen ­Königreich Italien. Luchino Viscontis Historienepos, «ein üppiges Fresko einer Welt, die in der Dämmerung aktiv ist. Der Film erklärt die grossen sozialen Veränderungen in Italien nach der Risorgimento-Bewegung anhand der Geschichte des Fürsten Salina. (...) Burt Lancasters grossartige Darstellung machte den Fürsten zu einer der emblematischen adeligen Gestalten der Kinogeschichte, aber auch Alain Delon und die atemberaubend schöne Claudia Cardinale liefern glänzende schauspielerische Leistungen.» (Dana Duma, in: 1001 Filme, Ed. Olms, 2012) «Il gattopardo war ein Qualitätssprung und eine Reifeprüfung für mich. (…) Visconti lehrte mich, mein Gesicht zweizuteilen, die Augen mussten ernsthaft bleiben und unabhängig vom Mund agieren. Er zwang mich auch – die ich zuvor Blicke mit anderen mied –, meine Gegenspieler lange anzustarren. Ich konnte ihn überzeugen, der Aufgabe gewachsen zu sein. Nach diesem Film schaute ich nicht mehr gleich.» (Claudia Cardinale, im Interview mit Carmine De Fusco, Weltwoche, 43/2007)

Otto e mezzo wurde zeitgleich mit Il gattopardo gedreht. Weder Fellini noch Visconti wollten «auf mich verzichten, und so einigte man sich, eine Woche bei einem, eine beim anderen. Für Visconti musste ich meine Haare rabenschwarz färben, der andere wünschte mich blond. Unterschiedlicher konnten sie nicht sein in ihrer Ausdrucksform, Vision und Präsenz. Auf Viscontis Set musste totale Ruhe und Konzentration herrschen, während es bei Fellini nicht laut und chaotisch genug zu- und hergehen konnte. (…) Ich verstand mich aber gut mit ihm, er bezeichnete mich als eine Art Medium mit der Gabe, in die Menschen hineinzublicken. Fellini gab mir als Erster übrigens meine tiefe, raue Stimme auf der Leinwand, die bis dahin immer synchronisiert worden war.» (Claudia Cardinale, im Interview mit Carmine De Fusco, Weltwoche, 43/2007) «Bei Fellini war Cardinale die ideale Frau, das Traumgespinst eines Regisseurs, der ‹das sichere Gefühl hat, dass dieses Mädchen die ­Lösung für alles bedeuten könnte›. Und so, wie sie bei ihrem ersten Auftritt barfuss im weissen Schwesternkittel durch den Kurpark schwebt, hält man das auch durchaus für möglich.» ­(Michael Althen, FAZ, 15.4.2008) 138 Min / sw / Digital HD / I/d // REGIE Federico Fellini // DREHBUCH Federico Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli, Brunello Rondi, nach einer Idee von Federico Fellini, Ennio Flaiano // KAMERA Gianni di Venanzo // MUSIK Nino Rota // SCHNITT Leo Catozzo // MIT Marcello Mastroianni (Guido ­Anselmi), Claudia Cardinale (Claudia), Anouk Aimée (Luisa, Guidos Frau), Sandra Milo (Carla), Barbara Steele (Gloria

185 Min / Farbe / Digital HD / I/d // REGIE Luchino Visconti //

­Morin), Rossella Falk (Rossella), Jean Rougeul (Daumier),

DREHBUCH Luchino Visconti, Suso Cecchi d’Amico, Pasquale

Caterina Boratto (die schöne Fremde), Madeleine Lebeau (die

Festa Campanile, nach dem Roman von Giuseppe Tomasi di

französische Schauspielerin), Eddra Gale (Saraghina), Guido

Lampedusa // KAMERA Giuseppe Rotunno // MUSIK Nino

Alberti (Produzent Pace), Annie Gorassini (Paces Freundin).

Rota; Walzer: Giuseppe Verdi // SCHNITT Mario Serandrei // MIT Burt Lancaster (Don Fabrizio, Fürst von Salina), Claudia Cardinale (Angelica Sedara), Alain Delon (Tancredi Falconeri, Neffe des Fürsten), Paolo Stoppa (Don Calogero Sedara),

THE PINK PANTHER

Serge Reggiani (Don Ciccio Tumeo), Rina Morelli (Maria Stella

GB/USA 1963

Salina, Frau des Fürsten), Romolo Valli (Padre Pirrone), Ottavia Piccolo (Caterina), Pierre Clémenti (Francesco Paolo), Giuliano Gemma (General der Garibaldi-Truppen), Leslie French (Cavalier Chevally), Terence Hill (Conte Cavriaghi).

OTTO E MEZZO Italien/Frankreich 1963 Genervt von Produzenten, Ehefrau und Geliebter, sucht ein Filmregisseur verzweifelt nach Inspiration für seinen neuen Film. Als er seine Kindheit, sein Verhältnis zum weiblichen Geschlecht und zur Kunst und die Missstände in der Filmbranche reflektiert, kommen seine Ängste und verdrängten Komplexe ans Licht.

Seit vielen Jahren geht ein galanter, «Phantom» genannter Juwelendieb, um. Jetzt hat er es auf den kostbarsten Diamanten der Welt, den «Pink Panther», abgesehen, der sich im Besitz der schönen Prinzessin Dala befindet. Inspektor Clouseau ist dem Dieb auf den Fersen, ahnt jedoch nicht, dass seine geliebte Ehefrau die Komplizin des Gesuchten ist. Blake Edwards gelang mit Pink Panther eine übermütige, elegant inszenierte Gaunerkomödie mit vielen absurden Situationen in der SlapstickTradition. Peter Sellers begründete als Inspektor Clouseau das Stereotyp des tollpatschigen Polizisten – eine Figur, die umgehend zu einem Klassiker der Filmkomödie wurde.


> El artista y la modelo.

> Once Upon a Time in the West.

> L’udienza.

> Il giorno della civetta.


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Claudia Cardinale «‹Ein Kätzchen, das zum Panther werden kann›, hat Visconti Claudia Cardinale genannt. Und wie sie da so auf dem Tigerfell liegt, einigermassen Champagner-beschwipst und gänzlich betörend, und mit dem massiven Schädel des Raubtiers hantiert, lässt sich Verwandtschaft erkennen. Cardinales Prinzessin Dala ist ernst, ruhig, verantwortungsbewusst, aber den Pink Panther, ‹ihren› Diamanten, den will sie nicht hergeben.» (Alexandra Seitz, stadtkinobasel.ch) 113 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Blake Edwards // DREHBUCH Blake Edwards, Maurice Richlin // KAMERA ­Philip Lathrop // MUSIK Henry Mancini // SCHNITT Ralph E. Winters // MIT David Niven (Sir Charles Lytton), Peter Sellers (Inspektor Jacques Clouseau), Claudia Cardinale (Prinzessin Dala), Capucine (Simone Clouseau), Robert Wagner (George Lytton), John Le Mesurier (Verteidiger), Colin Gordon (Tucker), Brenda De Banzie (Angela Dunning).

VAGHE STELLE DELL’ORSA (Sandra) Italien 1965

Eine junge Frau, deren Vater im KZ umgekommen ist, besucht mit ihrem amerikanischen Ehemann nach Jahren zum ersten Mal wieder ihre italienische Heimatstadt. Zunehmend wird sie von Kindheitserinnerungen überwältigt und von ihren Verwandten in Intrigen verstrickt, wobei eine inzestuöse Beziehung zum Bruder ans Licht ­ kommt. Die Stärke dieser Tragödie einer zerfallenden Familie «rührt nicht vom mysteriösen Familiengeheimnis her, sondern von seinem Drama, von der unglaublichen Leinwandpräsenz von Claudia Cardinale und Viscontis lebhaften visuellen Ideen.» (Jennie Kermode, Eye For Film, 23.3.2014) «Wenn Claudia Cardinale die Leinwand mit dem demonstrativ schönen Jean Sorel teilt, ist die Chemie zwischen den beiden so stark, dass sie kaum mehr zu ertragen ist – was natürlich, im Hinblick darauf, dass die beiden Geschwister spielen, genau der Punkt ist. (…) Visconti geht es um etwas Elementares: um die glorreiche und fatale Spannung zwischen unkontrollierbarem Verlangen und seinen notwendigen Grenzen.» (Eric Hynes, timeout.com) 105 Min / sw / DCP / I/e // REGIE Luchino Visconti // DREHBUCH Luchino Visconti, Suso Cecchi d’Amico, Enrico Medioli // KAMERA Armando Nannuzzi // MUSIK César Franck // SCHNITT Mario Serandrei // MIT Claudia Cardinale (Sandra Dawson), Michael Craig (Andrew Dawson, ihr Mann), Jean Sorel (Gianni Wald-Luzzati, ihr Bruder), Marie Bell (Sandras Mutter), Renzo Ricci (Antonio Gilardini), Fred Williams (Pietro Formari), Amalia Troiani (Fosca).

THE PROFESSIONALS USA 1966 Ein reicher Rancher heuert vier Abenteurer an, um seine von einem mexikanischen Revolutionär und Banditenführer verschleppte Frau zurückzuholen. Für eine trügerische Rettungsmission fallen die vier gut bezahlten «Professionals» wie Söldner in Mexiko ein. «Ein politisch hellwacher, grandios besetzter (der Afroamerikaner Woody Strode als selbstverständlicher Teil des Profi-Quartetts war bahnbrechend), von Conrad Hall in Breitwand-Panavision fotografierter Abenteuerwestern des unterschätzten Richard Brooks, und selbst ein unterschätztes Hauptwerk des US-Kinos.» (Christoph Huber, Österreichisches Filmmuseum, 9/2007) «Ich liebe gefährliche Situationen und war immer ganz heiss darauf, sogar die tollkühnsten Stunts höchstpersönlich zu übernehmen. Bei The Professionals liess ich mich nicht davon abbringen, mitten durch explodierende Bomben im Gebirge zu reiten, obwohl ich nie zuvor ein Pferd bestiegen hatte. Bescheuert, ich weiss.» (Claudia Cardinale, im Interview mit Marco Schmidt, Tagesspiegel, 8.9.2014) 117 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Richard Brooks // DREHBUCH Richard Brooks, nach einem Roman von Frank O’Rourke // KAMERA Conrad Hall // MUSIK Maurice Jarre // SCHNITT Peter Zinner // MIT Burt Lancaster (Bill Dolworth), Lee Marvin (Henry Rico Fardan), Claudia Cardinale (Maria Grant), Jack Palance (Capt. Jesus Raza), Robert Ryan (Hans Ehrengard), Ralph Bellamy (J. W. Grant), Woody Strode (Jacob Sharp), Joe De Santis (Ortega), Rafael Bertrand ­ ­(Fierro), Jorge Martinez de Hoyos (Padilla), Marie Gomez (Chiquita), Vaughn Taylor (Bankier).

IL GIORNO DELLA CIVETTA Italien/Frankreich 1968 In einer sizilianischen Kleinstadt wird ein Bau­ unternehmer auf offener Strasse ermordet. Ein weiterer Mann, der sich zum Zeitpunkt des Mordes in der Nähe befand, verschwindet. Als ­Capitano Bellodi, ein von Norditalien nach Sizilien versetzter Polizist, bei seinen Ermittlungen Zeugen befragt, sagen diese nichts: Für sie ist Bellodi bloss ein Fremder aus dem Norden, der die Omertà, die Schweigepflicht der Mafia, entweder begreifen und fortan respektieren oder irgendwann an seiner Uneinsichtigkeit sterben wird. Aus ähnlichen Gründen wurde auch dieser Mord begangen: Der Mann wollte einfach nicht verstehen, dass alles schon entschieden ist, wenn das organisierte Verbrechen mit einem Geschäfte machen will.


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Claudia Cardinale Claudia Cardinale spielt die Ehefrau des Verschwundenen. «Il giorno della civetta lässt uns eine Cardinale wiederentdecken, die wir seit La ragazza con la valigia und La ragazza di Bube nicht mehr gesehen haben: angespannt, wild, würdevoll und feige zugleich; Symbol für die vielen sizilianischen Witwen und Mütter und Waisen, die gelähmt sind von einem Schmerz, über den sie nicht reden können, den sie verbergen wie eine Schuld.» (Don Claudio Sorgi, L’Osservatore Romano) 100 Min / Farbe / 35 mm / I/e // REGIE Damiano Damiani //

165 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Sergio Leone // DREHBUCH Sergio Leone, Sergio Donati, Mickey Knox, nach der Story von Dario Argento, Bernardo Bertolucci, Sergio ­Leone // KAMERA Tonino Delli Colli // MUSIK Ennio Morricone // SCHNITT Nino Baragli // MIT Claudia Cardinale (Jill McBain), Henry Fonda (Frank), Charles Bronson (Harmonica), Jason Robards (Cheyenne), Gabriele Ferzetti (Morton), Paolo Stoppa (Sam), Frank Wolff (Brett McBain), Keenan Wynn (Sheriff), Jack Elam (Snaky), Woody Strode (Stony), Lionel Stander (Barkeeper), Marco Zuanelli (Wobbles).

DREHBUCH Damiano Damiani, Ugo Pirro, nach dem Roman

L’UDIENZA

von Leonardo Sciascia // KAMERA Tonino Delli Colli // MUSIK

Italien/Frankreich 1972

Giovanni Fusco // SCHNITT Nino Baragli // MIT Franco Nero (Polizeihauptmann Bellodi), Claudia Cardinale (Rosa Nicolosi), Lee J. Cobb (Don Mariano Arena), Serge Reggiani (Parrinieddu), Nehemiah Persoff (Saro Pizzuco), Gaetano ­ ­Cimaroso (Macchica), Laura De Marchi (Marianos Tochter).

ONCE UPON A TIME IN THE WEST (C’era una volta il West) Italien/USA 1968

Als die frisch verheiratete Jill bei der Farm ihres Ehemannes ankommt, findet sie ihn und seine Kinder tot vor. Ermordet wurden sie vom eiskalten Killer Frank im Auftrag eines Eisenbahnunternehmers, dem die Farm bei seinem Bauvorhaben im Weg ist. Doch Jill hat nicht vor, ihr Land aufzugeben, und setzt sich gegen Frank zur Wehr. Unterstützung erhält sie vom Outlaw Cheyenne und dem wortkargen Harmonica, der jedoch eigene Ziele zu verfolgen scheint. Im Zentrum von Sergio Leones monumentalem Spätwestern steht Claudia Cardinale, die als Jill eine starke, vielschichtige Frauenfigur ist und sich als eigentliche Hauptfigur erweist, da sie die Schnittstelle bildet, an der sich die drei männlichen Charaktere treffen. Ihre kämpferische Witwe triumphiert über alle Männer und ist in die Filmgeschichte eingegangen. «Dieser Film gehört noch immer zu meinen Lieblingsfilmen. Schon früh mochte ich starke, rebellische Frauenrollen, und Sergio Leone schenkte mir diese charakterstarke Figur. Legendär ist auch Morricones Filmmusik, die Leone am Set spielen liess, um uns bei unserer Interpretation zu unterstützen, und es funktionierte. (...) Meine erste Szene war übrigens die erotische mit Henry Fonda auf dem Bett. An diesem Tag flog extra seine Frau ein aus Amerika, die über uns wachte und dabei die knisternd-sinnliche Stimmung auf dem Set förderte.» (Claudia Cardinale, im Interview mit Carmine De Fusco, Weltwoche, 43/2007)

Amedeo verlässt seine Heimatstadt in Norditalien, um nach Rom zu kommen und beim Papst eine Audienz zu erhalten. Doch seine Beharrlichkeit und seine Weigerung, seine Motive zu offenbaren, wecken das Misstrauen der vatikanischen Behörden. Fortan wird er von der Polizei überwacht. Eine junge Prostituierte soll ihn zum Reden bringen. Für seine böse Darstellung der katholischen Hierarchie, die für Machtstrukturen ganz allgemein steht, hat sich Marco Ferreri an Kafkas «Das Schloss» inspiriert. «Ein beklemmender, faszinierender und sogar erschreckender Film. Ein verkanntes Werk Ferreris.» (Jean Tulard: Guide des films, Robert Laffont 1990) «Ferreri spart seine schönsten Szenen für Claudia Cardinale auf – er filmt sie liebevoll wie mit einem Heiligenschein aus Licht oder sinnlich entkleidet.» (François Bonini, avoir-alire.com, 14.9.2015) 112 Min / Farbe / DCP / I/f // REGIE Marco Ferreri // DREHBUCH Marco Ferreri, Dante Matelli, nach einer Story von Marco Ferreri, Rafael Azcona // KAMERA Mario Vulpiani // MUSIK Teo Usuelli // SCHNITT Giuliana Trippa // MIT Claudia Cardinale (Aiche), Enzo Jannacci (Amedeo), Ugo Tognazzi (Aureliano Diaz), Michel Piccoli (Pater Amerin), Vittorio Gassman (Prinz Donati), Alain Cuny (Jesuitenpater).

FITZCARRALDO BRD 1982 Der exzentrische Abenteurer Fitzcarraldo hat es sich in den Kopf gesetzt, mitten im Amazonas­ gebiet ein Opernhaus zu errichten. Um das Geld für den wahnwitzigen Bau zu erwirtschaften, versucht er sein Glück im Kautschukhandel. Mithilfe der Bordellbesitzerin Molly kauft er einen maroden Dampfer, um das neu erworbene Kautschukgebiet zu erschliessen. Als Stromschnellen die Weiterfahrt verunmöglichen, soll das komplette Schiff von Indigenen über einen Berg geschleppt werden.


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Claudia Cardinale Fitzcarraldo ist wuchtiges Kino – wie Fitzcarraldo alias Klaus Kinski das Schiff über den Berg ziehen lässt, spiegelt nicht nur die Besessenheit der Hauptfigur, sondern ebenso die des Regisseurs Werner Herzog. Claudia Cardinale spielt Kinskis Freundin Molly. «Kinski hat am ersten Tag erst einmal mit einem Taschenspiegel kontrolliert, ob er gut beleuchtet ist. Aber im Zusammenspiel war er ein grossartiger Partner. Ich habe wie Werner Herzog zuvor sicher nichts von dem Abenteuer geahnt, das da auf uns zukam. Der Film war wie die Wirklichkeit im Urwald eine gewaltige Strapaze. Nicht nur für den wütenden Klaus. Ich war eher die Friedenstaube, während des ganzen Drehs in einem weissen Kleid.» (Claudia Cardinale, im Interview mit Hansjörg Betschart, Tageswoche, 17.2.2015) 158 Min / Farbe / DCP / OV/d // DREHBUCH UND REGIE Werner Herzog // KAMERA Thomas Mauch // MUSIK Popol Vuh, Richard Strauss, div. Opernarien // SCHNITT Beate MainkaJellinghaus // MIT Klaus Kinski (Brian Sweeney F ­ itzgerald

ENRICO IV Italien 1984 Auf einem mittelalterlichen Kostümfest wird ein verliebter junger Mann, als Heinrich IV. verkleidet, von seinem Nebenbuhler vom Pferd gestossen und schlägt sich den Kopf an. Fortan ist er felsenfest überzeugt, wirklich der König zu sein, zieht sich auf ein Schloss zurück und kann diese Rolle 20 Jahre lang durchhalten – dann reist eine Gruppe alter Bekannter an, darunter die einstige Geliebte, um Heinrich durch Schocktherapie zur Vernunft zu bringen. Konzise filmische Bearbeitung des gleichnamigen Pirandello-Stücks von Marco Bellocchio. Wie es sich für ein Stück über Schauspielerei gehört, bringt Enrico IV zwei Stars des italienischen Kinos zusammen: «Die Hauptdarsteller Marcello Mastroianni und Claudia Cardinale als die Frau, die er einst liebte, spielen ihre Rollen mit viel Elan.» (bampfa.org)

«Fitzcarraldo»), Claudia Cardinale (Molly), José Lewgoy (Don Aquilino), Miguel Ángel Fuentes (Cholo), Paul Hittscher (Kapi-

95 Min / Farbe / 35 mm / I/d/f // REGIE Marco Bellocchio //

tän «Orinoco Paul»), Grande Othelo (Bahnhofsvorsteher),

DREHBUCH Marco Bellocchio, Tonino Guerra // KAMERA

­Peter Berling (Opernhausdirektor), Ruy Polanah (Gummiba-

­Giuseppe Lanci // MUSIK Dimitri Nicolau, Astor Piazzolla //

ron), David Pérez Espinosa (Häuptling der Campa-Indianer),

SCHNITT Mirco Garrone // MIT Marcello Mastroianni (Heinrich

Huerequeque Enrique Bohorquez (Huerequeque), Dieter Milz

IV.), Claudia Cardinale (Mathilde), Leopoldo Trieste (Psychia-

(junger Pater), Salvador Godinez (alter Pater).

ter), Paolo Bonacelli (Belcredi), Gianfelice Imparato (Di Nolli), Claudio Spadaro (Lolo).

> Enrico IV.


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Claudia Cardinale

GEBO ET L’OMBRE

EL ARTISTA Y LA MODELO

Frankreich/Portugal 2012

Spanien 2012

104 Jahre alt war der legendäre Regisseur Manoel de Oliveira, als er seinen letzten Spielfilm drehte. Portugal, Ende des 19. Jahrhunderts: Der gebrechlich gewordene Buchhalter Gebo lebt mit seiner Frau und seiner ihm ans Herz gewachsenen Schwiegertochter in einfachsten Verhältnissen. Der Sohn João ist seit Jahren verschwunden. Um seine Frau nicht zu entmutigen, erfindet Gebo Nachrichten des Sohnes. Eines Tages kehrt João überraschend zu Frau und Eltern zurück; doch angesichts der Armut wird ihm klar, dass das nicht das Leben ist, das er führen möchte, und er fällt einen folgenschweren Entscheid. «Am Anfang vermag der theatralische Minimalismus der Anordnung etwas zu irritieren, doch bald (…) lässt man sich verzaubern von diesen existenziellen Grübeleien, vorgetragen von wunderbaren Schauspielern (die fiebrige, raue Stimme von Cardinale) und von einem überwäl­ tigenden Lonsdale. Gebo et l’ombre (…) vermittelt das konkrete, einfache, unmittelbare Vergnügen, grossartige Schauspieler am Abend und auf dem Höhepunkt ihrer Kunst zu erleben.» (Serge ­Kaganski, lesinrocks.com, 25.9.2012)

Frankreich, 1943. In einem abgeschiedenen Dorf nahe der spanischen Grenze lebt der greise Bildhauer Marc mit seiner Frau Léa. Diese begegnet im Dorf der jungen Mercè und erkennt in dem Mädchen das perfekte Aktmodell für ihren Mann, dessen einziges Ziel es ist, vor seinem Tod noch eine letzte grosse Skulptur zu schaffen. «Regisseur Fernando Trueba inszeniert El ­artista y la modelo in eleganten Schwarzweissbildern, denen in jedem Landschaftsbild, jeder Aufnahme von Mercès nacktem Körper und jedem Blick von Rochefort immer eine gewisse Melancholie innewohnt.» (Thomas Abeltshauser, Die Welt, 24.12.2013) Claudia Cardinale spielt Léa, die früher die Muse des Bildhauers war. Sie ist «zwar nur während ein paar Szenen zu sehen, doch strahlt sie immer noch die gleiche Lebendigkeit und Wärme aus wie in jungen Jahren». (Steve Rose, The Guardian, 11.9.2013) 105 Min / sw / DCP / Sp+F/d // REGIE Fernando Trueba // DREHBUCH Fernando Trueba, Jean-Claude Carrière // KAMERA Daniel Vilar // SCHNITT Marta Velasco // MIT Jean ­Rochefort (Marc Cros), Aída Folch (Mercè), Claudia Cardinale

95 Min / Farbe / DCP / F/e // REGIE Manoel de Oliveira //

(Léa), Götz Otto (Werner), Chus Lampreave (María), Christian

DREHBUCH Manoel de Oliveira, Raul Brandão // KAMERA

Sinniger (Emile).

­Renato Berta // SCHNITT Valérie Loiseleux // MIT Claudia Cardinale (Doroteia), Michael Lonsdale (Gebo), Jeanne Moreau

Für die Unterstützung dieser Filmreihe danken wir dem

(Candidinha), Leonor Silveira (Sofia), Luís Miguel Cintra

­Italienischen Kulturinstitut Zürich.

­(Chamiço), Ricardo Trêpa (João).

> Il bell’Antonio.


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Christine Vachons Killer Films Das Pink Apple Festival 2018 verleiht seinen Festival Award für Verdienste um das schwullesbische Filmschaffen der New Yorker Pro­ duzentin Christine Vachon. Seit rund 30 Jahren bringt sie ebenso ­eigenwillige wie herausragende Independent-Filme hervor, darunter viele, die LGBT-Geschichte geschrieben haben. Das Filmpodium widmet Vachon eine Retrospektive, die von ihrem ersten Langfilm Poison über Publikumserfolge wie One Hour Photo und Carol bis zu Premieren neuer Werke reicht. Fragt man Christine Vachon, wie sie ihre Funktion als Produzentin definiere, spricht sie zuallererst von der Vorstellungswelt des Autors, der Autorin: Deren künstlerische Vision umzusetzen erachtet sie als ihre vordringliche Aufgabe. Entsprechend beruht für sie das Verhältnis zwischen Regie und Produktion in erster Linie auf Vertrauen. Ist sie für ein Projekt «gewonnen», wird sie das angemessene Budget mit dem richtigen Cast zusammenstellen, um daraus einen erfolgreichen Film zu machen. Wobei erfolgreich vor allem in ihren Anfangsjahren bedeutete, dass ein Film die Investitionen einspielte und am Schluss Geld übrig blieb für ein nächstes Projekt. Damit wurde sie nicht reich, auch nicht, als ihre Titel zu Kassenschlagern mutierten wie etwa ihr erfolgreichster Film, One Hour Photo (2002), doch ihr Line-up ist beeindruckend: angefangen bei Titeln mit geringen Budgets etwa für den Lesbenklassiker Go Fish (1994) mit 15 000 Dollar oder den skandalträchtigen Poison (1991) mit 250 000 Dollar bis zu zweistelligen Millionensummen für I’m Not There (2007) oder Carol (2015). Von Beginn weg engagierte Vachon sich für ein Autorenkino mit Ecken und Kanten, für Themen, die andere nur mit spitzen Fingern anfassen – gerade wenn es um schwul, lesbisch oder trans geht –, oder für Projekte, die als unverfilmbar galten: ausgefallene Biopics wie I Shot Andy Warhol (1996) über Valerie Solanas oder I’m Not There über Bob Dylan, Horrorkomödien wie Office Killer (1997) von Cindy Sherman, Epochenporträts wie Velvet Goldmine (1998) über den Glam Rock oder Kill Your Darlings (2013) über die Beat Generation, Studien über die Abgründe eines mittelständischen ­Amerika wie Happiness (1998), aber auch kühne Literaturverfilmungen wie Infamous (2006) nach George Plimptons Buch über Truman Capote oder ­Carol nach Patricia Highsmith. Seit ihrem Debüt schaffen es ihre Filme an die renommiertesten Festivals der Welt, ganz abgesehen von den zahlreichen ­Oscars und anderen Auszeichnungen, die sie errungen haben.



19 Der Sprung vom Wolkenkratzer 1962 wurde Christine Vachon als Tochter einer Französin und des amerikanischen Fotografen John Vachon in New York geboren, wo sie bis heute mit ihrer Lebenspartnerin und der gemeinsamen Tochter lebt. Bei ihrem Kunststudium lernte sie Todd Haynes kennen und gründete mit ihm – nachdem beide erfolgreiche Kurzfilme realisiert hatten – ihre erste Produktionsfirma, Apparatus. In der Folge setzte sie sich in Paris mit dem Strukturalismus und der Nouvelle Vague auseinander, kehrte nach New York zurück und verdingte sich als «Mädchen für alles» auf verschiedenen Filmsets: Von der Pike auf wollte sie lernen, wie ein Film entsteht und eine Crew funktioniert. Dass sie sämtliche Bereiche aus dem Effeff kennt, minutiös plant und aus einer riesigen Erfahrung schöpfen kann, das erfährt man aus den beiden Büchern, die die wirblige Produzentin auch noch zu schreiben Zeit fand: «Shooting to Kill» (1998) und «A Killer Life» (2007). Darin erzählt sie von ihrem persönlichen Werdegang, aber auch anekdotenreich von ihrem beruflichen Alltag. Sie listet umfangreiche Budgets auf, von den Ausgaben für Regie und Besetzung über Set Design, Kamera und Musik bis zu den Kosten für die Crew-T-Shirts, Transporte und Werbeplakate. Sie weiss, wie viele Drehbuchkopien man braucht, dass Location Manager keine Lunch-Gutscheine bekommen oder Kinder während des Drehs Schulunterricht erhalten müssen. Lehrreich ist das nicht nur für angehende Produzentinnen und Produzenten, sondern auch für Filminteressierte, die einen praxisbezogenen Blick in die komplexe Maschinerie von kleinen und grossen Filmproduktionen werfen möchten. Liest man Vachons «Tagebuch»-Einträge vom Set, wird klar, dass Produzentinnen und Produzenten sich zwar wohl ums Geld kümmern, aber vor allem um Menschen – nebst Regieführenden und Stars um die Crew – und um das einvernehmliche Zusammenarbeiten in jenen Momenten, in denen alles stimmen muss: das Make-up, die Kostüme, das Licht, der Dialog, der Ton, die Stimmung, die Atmosphäre, kurz alles, was die Intensität eines Films ausmacht. «Um Independent-Filme zu produzieren, muss man bereit sein, von Wolkenkratzern zu springen – im Wissen, dass die Landung hart sein kann», meint Christine Vachon. Ein Glück, dass bereits ihr erster Film, der von Jean Genet inspirierte Poison von Todd Haynes, eine unerwartet weiche Landung erfuhr, und das, obwohl er alles andere als gefällig ist mit seinem Genremix, den Anspielungen auf die Aids-Epidemie, der schwulen Gefängnisromanze. In Sundance ausgezeichnet, profitierte der Film von einem Eclat: Ein Pfarrer der antipornografischen Liga schrieb einen warnenden Brief an jedes einzelne Mitglied in Senat und Repräsentantenhaus. Das Resultat war eine rekord-

< >

Nuancen statt Schwarzweissmalerei: Go Fish Sozialkritik als Thriller: One Hour Photo


> Poison.

> Kids.

> I Shot Andy Warhol.


21 hohe Zahl von Eintritten am ersten Weekend und das Wissen darum, dass es manchmal gut ist, nicht zu wissen, was man tut. «Sonst wäre der Film wohl gar nicht erst entstanden», schreibt Vachon. Queer Cinema und Killer Films Poison war aber nicht nur das Fundament ihrer erfolgreichen Produzentinnentätigkeit, er war auch der Funke, der das Feuer des New Queer Cinema entfachte: Filme von LGBT-Regisseurinnen und -Regisseuren, die aus erster Hand über queere Lebensrealitäten erzählten. Die von Vachon produzierten Titel bilden dessen Essenz: Post Cards from America (1994) von Steve McLean über einen an Aids verstorbenen Performance-Künstler etwa, der kleine, feine Go Fish (1994) von Rose Troche, der authentische Einblicke in die Chicagoer Lesbenszene gewährt, I Shot Andy Warhol über das Attentat der Radikal­ feministin Valerie Solanas auf den Erfinder der Pop-Art bis hin zu dem auf Tatsachen beruhenden Trans-Drama Boys Don’t Cry (1999), das zu OscarEhren kam. 1995 gründete Christine Vachon mit ihrer Geschäftspartnerin Pamela Koffler die Produktionsfirma Killer Films und begann, das inhaltliche Spektrum auszuweiten – etwa mit Kids (1995) von Larry Clark, einer Hommage an die Jugendkultur der Neunzigerjahre, dem provozierenden Happiness von Todd Solondz oder den starbestückten Filmen One Hour Photo mit Robin Williams, Far From Heaven (2002) mit Julianne Moore, I’m Not There oder Carol, beide mit Cate Blanchett. Oft frage man sie, wie sie es schaffe, als Produzentin «relevant» zu bleiben in einer Filmindustrie, die sich ständig wandle, schreibt Vachon in «A Killer Life» und meint, ihre Strategie sei es, ein «bewegliches Ziel» zu bleiben – wach, politisch, engagiert. Ihr Spürsinn für eigensinnige Stoffe und «visionäre» Filmschaffende sind dabei ebenso wichtig wie ihr Einsatz für Projekte, die jenen Funken Magie versprühen, der «alles andere ausblendet». Das wissen all jene Cineastinnen und Autoren zu schätzen, die immer wieder mit ihr zusammenarbeiten – allen voran Todd Haynes, für den Vachon bis heute alle Filme produzierte –, aber auch Nachwuchsregisseurinnen wie jüngst Tali ShalomEzer bei ihrem Erstling My Days of Mercy (2017), einer fein gesponnenen lesbischen Liebesgeschichte vor gesellschaftspolitischem Hintergrund, mit Ellen Page in der Hauptrolle. Doris Senn

Doris Senn ist Filmwissenschaftlerin und u. a. als Filmkritikerin tätig. Seit 2001 ist sie ­Co-Kuratorin und Co-Leiterin des schwullesbischen Filmfestivals Pink Apple.


> Office Killer.

> Happiness.

> Boys Don’t Cry.


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Christine Vachon

POISON USA 1991 «Sowohl thematisch als auch formal wirkt Poison bis heute trotzig. Es ist das Werk eines jungen Filmemachers, der die Welt um sich herum betrachtete, das Schweigen der US-Regierung zur AidsKrise und den Mangel an erkennbaren Schwulen in der Kultur sah und sich diese brisante Allegorie über die damalige Zeit ausdachte. Der Film springt hin und her zwischen drei Teilen: einer fiktiven TV-Reportage über die Mutter eines Jungen aus Long Island, der seinen Vater erschossen hat; einem schwarzweissen Science-Fiction-Filmnoir-B-Movie über einen Wissenschaftler, den sein eigener Durchbruch krank macht; und einem homoerotischen Gefängnisfilm mit Abstechern in eine Fantasie über eine Knaben-Besserungs­ anstalt. Etwas überraschend gewann Poison den Grand Jury Prize in Sundance, was heute undenkbar anmutet.» (Wesley Morris, Boston ­ Globe, 7.1.2011) Viele Mitarbeiter der Produktion, darunter Christine Vachon als Regie-Assistentin und Koproduzentin, gehörten zu Apparatus, der Produktionsgesellschaft, die Todd Haynes zusammen mit Vachon Mitte der 80er-Jahre gegründet hatte. In Berlin gewann Poison, ein Pionierwerk des New Queer Cinema, «den Teddy für den besten queeren Spielfilm. Ein Publikum, das nach Film-Bildern von schwulem und lesbischem Leben hungerte, feierte den experimentellen Abgesang auf die Integration in den Mainstream – denn der sah der Community gerade beim Sterben zu. Poison hatte eine ästhetische Sprache für die neuen Ausgrenzungen durch Aids gefunden, die sich nicht mehr in Feel-Good-Movies erzählen liessen.» (Jan Künemund, Der Spiegel, 19.2.2016) 83 Min / Farbe + sw / 35 mm / E/d // REGIE Todd Haynes // DREHBUCH Todd Haynes, nach den Romanen von Jean Genet // KAMERA Maryse Alberti // MUSIK James Bennett // SCHNITT Todd Haynes, James Lyons // MIT Edith Meeks ­(Felicia Beacon), Scott Renderer (John Broom), James Lyons (Jack Bolton), John R. Lombardi (Rass), Larry Maxwell (Dr. Graves), Susan Norman (Nancy Olsen).

GO FISH USA 1994 Chicago, in den frühen 90er-Jahren: Max ist auf der Suche nach der grossen Liebe. Ihre Mitbewohnerin Kia hat diese mit Evy schon gefunden; Evy wohnt allerdings gerade bei ihrer Mutter und will ihren Ex-Ehemann loswerden. Und dann ist da noch Ely, eine ehemalige Studentin von Kia, die zu allem bereit zu sein scheint und die Wohnung

mit Daria teilt, der kein Bett fremd bleibt. Kia meint, Max würde Ely mögen; Daria findet, Ely passt zu Max – und schon werden Pläne geschmiedet. Rose Troche und Guinevere Turner hatten diese leichtfüssige Komödie zu drehen begonnen, als ihnen das Geld ausging. Sie wandten sich an Christine Vachon, die sich für das Projekt begeisterte und dazu beitrug, dass dieser erste LesbenKlassiker des New Queer Cinema fertiggestellt werden konnte. «Diese lebendige Liebeskomödie bringt frischen Wind in die verstaubten Konventionen, die für die Darstellung lesbischer und schwuler Lebensformen galten. Fünf Frauen (…) tun das, was Zwanzig- und Dreissigjährige eben tun: Sie hängen rum, kochen, trinken, reden und reden dann noch mehr. Hier sind zur Abwechslung mal Menschen, die aus einer realen Welt zu stammen scheinen. Troche sorgt dafür, dass jedes Detail minutiös und treffend beobachtet wird, und fügt ganz selbstverständlich eine moralisch-politische Dimension hinzu.» (Wally Hammond, Time Out Film Guide) 83 Min / sw / 35 mm / E/d // REGIE UND SCHNITT Rose Troche // DREHBUCH Rose Troche, Guinevere Turner // KAMERA Ann T. Rossetti, Art Stone // MUSIK Scott Aldrich, Brendan Dolan, Jennifer Sharpe // MIT V. S. Brodie (Ely), Guinevere Turner (Camille «Max» West), T. Wendy McMillan (Kia), Migdalia Melendez (Evy), Anastasia Sharp (Daria), Brooke Webster ­ (Mel), Mimi Weddell (Mimi), J ­ oAnne C. Willis (Sam), Betty Jeannie Pejko (Evys Mutter).

KIDS USA 1995 Telly ist ein New Yorker Skateboarder, dessen Hobby es ist, ohne Verhütung junge Mädchen zu entjungfern. Gemeinsam mit seinen Freunden putscht er sich auf, mit Alkohol, Drogen, Videos von halsbrecherischen Skateboard-Fahrten und mit Geschichten über sexuelle Abenteuer. Auch die Mädchen kennen kein anderes Thema als Sex. Als eine von ihnen erfährt, dass sie HIV-positiv ist, macht sie sich auf die Suche nach ihrem letzten Partner: Telly. Der Debütfilm des Fotografen Larry Clark führte zu heftigen Kontroversen: Während die einen ihn als Provokationsfilm abtaten, sahen die anderen in ihm eine authentische Dokumentation über die Jugend und zugleich eine krasse, aber notwendige Warnung vor den tödlichen Gefahren von Aids. «Kids war zweifellos eine der schwierigsten Produktionen, an denen ich je gearbeitet habe. Ich hatte schon früher mit Neulingen zu tun gehabt, aber in Kids erreichten die Herausforderungen


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Christine Vachon völlig neue Ausmasse. Es war nur schon schwer, Dutzende echter (und echt irritierender) New Yorker Teenager (…) dazu zu bringen, am Set zu erscheinen und vor Ort zu bleiben – besonders, weil Clark sie verteidigte und sich mit ihnen verschwor. (…) Manchmal erzeugt Unerfahrenheit aber das richtige Mass von Furchtlosigkeit, was wiederum die richtige Alchemie entstehen lässt, um einen grossen Film zu machen. Ich würde Kids nicht nochmals machen wollen. Aber er funktionierte. Aus dem Chaos entstand Killer Films.» (Christine Vachon: A Killer Life, Simon & Schuster 2006) 91 Min / Farbe / 35 mm / E/d // REGIE Larry Clark // DREHBUCH Harmony Korine // KAMERA Eric Alan Edwards // MUSIK Lou Barlow, John Davis // SCHNITT Christopher Tellefsen // MIT Leo Fitzpatrick (Telly), Chloë Sevigny (Jennie), Rosario Dawson (Ruby), Justin Pierce (Casper), Harold Hunter ­(Harold), Jon Abrahams (Steven).

I SHOT ANDY WARHOL USA/GB 1996 «Da das Leben in dieser Gesellschaft bestenfalls furchtbar öd ist und kein Aspekt der Gesellschaft für Frauen irgendwie von Belang, bleibt Frauen mit Bürgersinn, Pflichtbewusstsein und einem Drang nach Nervenkitzel nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Finanzsystem abzuschaffen, die vollständige Automation einzurichten und das männliche Geschlecht zu vernichten.» Also sprach die Feministin und Möchtegern-Dramatikerin Valerie Solanas, die am 3. Juni 1968 den ursprünglich von ihr verehrten Künstler Andy Warhol niederschoss. «Mary Harron gelingen in ihrem Film zwei bemerkenswerte Dinge: Sie macht Solanas fast sympathisch und manchmal anrührend und lus­ tig, und sie zeichnet ein vernichtendes und überzeugendes Porträt der ‹Factory›. Warhol erscheint als ein Mann, dessen gesamtes Wesen sich in seinem losgelösten, abwesenden Blick zu konzentrieren scheint. (…) Lili Taylor spielt Solanas als verrückt, aber nicht wirklich irrational. Sie verleiht der Figur Mumm, Ironie und einen gewissen heldenhaften Mut.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 17.5.1996) 103 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Mary Harron // DREHBUCH Mary Harron, Daniel Minahan // KAMERA Ellen Kuras // MUSIK John Cale // SCHNITT Keith L. Reamer // MIT Lili Taylor (Valerie Solanas), Jared Harris (Andy Warhol), Stephen Dorff (Candy Darling), Martha Plimpton (Stevie), ­ Lothaire Bluteau (Maurice Girodias), Danny Morgenstern ­ ­(Jeremiah Newton), Michael Imperioli (Ondine), Reg Rogers (Paul Morrissey), Coco McPherson (Brigid Berlin), Donovan Leitch (Gerard Malanga), Tahnee Welch (Viva).

OFFICE KILLER USA 1997 Die verhuschte Dorine arbeitet seit Jahren in der Redaktion des «Constant Consumer». Als man sie aus dem Büro verdrängt, damit sie per Internet von zu Hause aus arbeitet, bricht für sie eine Welt zusammen. Eines Abends verschuldet Dorine versehentlich den Tod eines Kollegen. Nach anfänglichem Schock ist sie von ihrer Tat fasziniert – fortan ist niemand mehr vor ihr sicher. «Cindy Sherman wurde von Christine Vachon gefragt, ob sie bei einem Horrorfilm mitwirken wolle. Die Künstlerin, die gewohnt war, alleine in ihrem Studio zu arbeiten, reagierte zuerst zurückhaltend, erkannte dann aber in Vachon eine ideale Mitstreiterin und willigte ein, die Regie bei diesem ‹campy slasher› zu übernehmen.» (Michelle Meagher, in: There She Goes, Wayne State Univ. Press 2009) «Ich habe dreimal geschrien, viel öfter aber gelacht. Wenn Schreien ein Zeichen für den Erfolg eines Horrorfilms ist, dann deutet Lachen darauf hin, dass Office Killer besser ist als der übliche Horrorstreifen. Der Debütfilm von Cindy Sherman, die als führende amerikanische Bildkünstlerin ihrer Generation gilt, ist eine ironische und intellektuelle Tollerei durch B-Movie-Klischees – ohne dabei an Blut und Verstümmelungen zu sparen.» (David ­Bonetti, San Francisco Examiner, 12.12.1997) 90 Min / Farbe / Digital HD / E // REGIE Cindy Sherman // DREHBUCH Elise MacAdam, Tom Kalin // KAMERA Russell Fine // MUSIK Evan Lurie // SCHNITT Merril Stern // MIT ­Carol Kane (Dorine Douglas), Molly Ringwald (Kim Poole), Jeanne Tripplehorn (Norah Redd), Barbara Sukowa (Virginia Wingate), Michael Imperioli (Daniel Birch), David Thornton (Gary Michaels), Mike Hodge (Mr. Landau), Alice Drummond (Carlotta Douglas), Doug Barron (Ted), Linda Powell (Naomi), Albert Macklin (Brad), Michelle Hurst (Kate).

HAPPINESS USA 1998 Joy, Helen und Trish sind Schwestern, leben in New Jersey und könnten unterschiedlicher nicht sein: Joy, die Jüngste, träumt vom absolut richtigen Mann für ihr Leben, Helen ist eine erfolgreiche Autorin und Trish eine perfekte Hausfrau. Was die Schwestern miteinander verbindet, ist ihre Suche nach dem Glück. Leider aber ist die Welt voller Perversion, Gewalt und Missbrauch. Todd Solondz’ brillanter zweiter Spielfilm Happiness ist verstörende Gesellschaftsstudie und grandiose Komödie in einem. «‹Wenn ein Film eine Diskussion anregt und die Leute dazu bringt, über den Status quo nach-


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Christine Vachon zudenken, denke ich stets, dass er gut ist.› Christine Vachon spricht von Happiness, ihrer ersten Zusammenarbeit mit Todd Solondz. (…) ‹Todd hatte das Gefühl, dass Happiness provozierend genug sei, um die Leute abzuschrecken, aber er wusste auch, dass das Drehbuch tatsächlich eine enorme Kraft hat – deshalb ist er meine Art von Regisseur.› (…) ‹Bei den meisten Filmen, die ich produziere, habe ich erst kapiert, worauf ich mich einlasse, als es schon viel zu spät war. Unwissenheit stärkt meine Fähigkeit, optimistisch zu bleiben. Die Produktion eines Films kann furchtbar sein. Es ist wie bei einer Geburt: Wenn du dich wirklich daran erinnertest, wie schrecklich sie war, würdest du es nie wieder tun.›» (James ­Mottram, The Independent, 3.12.1998) 134 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Todd Solondz // KAMERA Maryse Alberti // MUSIK Robbie Kondor // SCHNITT Alan Oxman // MIT Jane Adams (Joy ­Jordan), Cynthia Stevenson (Trish Maplewood), Lara Flynn Boyle (Helen Jordan), Dylan Baker (Dr. Bill Maplewood), ­Philip Seymour Hoffman (Allen), Jared Harris (Vlad), Jon ­Lovitz (Andy Kornbluth), Camryn Manheim (Kristina), Ben Gazzara (Lenny Jordan), Louise Lasser (Mona Jordan).

BOYS DON’T CRY USA 1999 Aufgewachsen in einer amerikanischen Kleinstadt, strebt Teena Brandon nach sozialer und sexueller Freiheit. Im benachbarten Kaff versucht sie als junger Mann einen Neubeginn, sie wird zu Brandon Teena, findet vor allem beim weiblichen Geschlecht schnell Anklang und verliebt sich in Lana. Brandon glaubt, sein Glück gefunden zu haben und wird unvorsichtig. Das Transgender-Drama Boys Don’t Cry beruht auf einem realen Mordfall Anfang der Neunzigerjahre, der nicht nur die sensationslüsternen Medien begeisterte, sondern auch bei vielen Menschen Anteilnahme hervorrief. «Wie eine ganze Anzahl von Christine Vachons Produktionen handelt Boys Don’t Cry von sexuellen Übergriffen und Vergeltung. Regisseurin Kimberly Peirce hält dabei ihre allzu künstlerischen Neigungen im Zaum und konzentriert sich ganz auf die Schauspieler. Angesichts von Hilary Swanks mutiger, packender und oscarprämierter Darbietung und der erschütternden Kraft der Geschichte ist das sehr sinnvoll.» (Tom Charity, Time Out Film Guide) 118 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Kimberly Peirce // DREHBUCH Kimberly Peirce, Andy Bienen // KAMERA Jim Denault // MUSIK Nathan Larson // SCHNITT Tracy Granger, Lee Percy // MIT Hilary Swank (Brandon Teena), Chloë Sevigny (Lana Tisdel), Peter Sarsgaard (John Lotter), ­

­Brendan Sexton III (Tom Nissen), Alicia Goranson (Candace), Alison Folland (Kate), Jeannetta Arnette (Lanas Mutter).

HEDWIG AND THE ANGRY INCH USA 2001 Hansel, als junger Schwuler in der DDR aufgewachsen, verguckt sich in einen US-Soldaten und will mit diesem in den Westen. Das geht nur, wenn er sich zur Frau umoperieren lässt, doch der ­Eingriff geht schief. In den USA verliebt sich die Halb-Transsexuelle Hedwig in den Generalssohn Tommy, aber dieser lässt sie sitzen und macht mit Songs, die er ihr geklaut hat, Karriere als Rockstar. Hedwig gründet eine eigene Band, The Angry Inch, und heftet sich an Tommys Fersen. Autor und Hauptdarsteller John Cameron Mitchell hat seinen Off-Broadway-Rock-Hit verfilmt und mit seinem Regiedebüt in Sundance und anderswo Preise abgeräumt. Das Ergebnis ist «eine selbstbewusste und energiegeladene Aktualisierung des Filmmusicals, die bei aller Ironie und Parodie auch echt zu berühren vermag. (...) Eine Klasse besser als The Rocky Horror Picture Show und Velvet Goldmine, mit denen der Film eine gewisse Ähnlichkeit hat.» (John Mount, Sight & Sound, September 2001) «John Cameron Mitchell elektrisiert den Film mit einer Darbietung, die nicht so sehr eine Parodie von Glam-Rock-Stars ist als eine echte GlamRock-Performance. (...) Der Film scheint laut, grell und oberflächlich zu sein und verleiht doch seinen Figuren beachtliche Tiefe.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 3.8.2001) 95 Min / Farbe / 35 mm / E+D/d/f // REGIE John Cameron ­Mitchell // DREHBUCH John Cameron Mitchell, nach dem Musical von John Cameron Mitchell, Stephen Trask // ­KAMERA Frank G. DeMarco // MUSIK Stephen Trask // SCHNITT Andrew Marcus // MIT John Cameron Mitchell (Hedwig/Hansel), Miriam Shor (Yitzhak), Michael Pitt (Tommy Gnosis), Maurice Dean Wint (Sgt. Luther Robinson), Alberta Watson (Hansels Mutter), Andrea Martin (Phyllis Stein), ­Stephen Trask (Skszp), Rob Campbell (Jacek).

FAR FROM HEAVEN USA/Frankreich 2002 In einer amerikanischen Kleinstadt der Fünf­ zigerjahre: Cathy und Frank sind ein perfektes Ehepaar mit einem schönen Haus, artigen Kindern und schwarzen Bediensteten. Als Cathy eines Tages ihren Gatten mit einem anderen Mann überrascht, bekommt ihre Welt plötzlich Risse. Sie sucht Trost bei ihrem schwarzen Gärtner und muss erfahren, wie schnell sich alle von ihr abwenden.


> Hedwig and the Angry Inch.

> Infamous.

> I’m Not There.


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Christine Vachon «Todd Haynes’ Film Far from Heaven ist ein besonderes Stück Kino. Es ist ein historischer Film über die Fünfzigerjahre – und zugleich ein Film über das Kino der Fünfzigerjahre, über eine bestimmte Form, in der dieses Kino Geschichten erzählte, ein Genre, eine filmische Gattung: das Melodram. Und über den Regisseur, der diese Gattung beherrschte wie kein anderer: Douglas Sirk. Es ist ein Film, der die Technicolor-Farben, die Lichtsetzungen, die Kostüme, Dekors und dramaturgischen Konstellationen bei Sirk wiederbelebt, von Magnificent Obsession über All That Heaven Allows bis Imitation of Life; und der zugleich mit all diesen Formen, Farben und Tönen tatsächlich Kino macht, grosses, bewegendes, physisches Kino. Es ist, mit anderen Worten, eine Doppelbelichtung der abenteuerlichsten Art: eine filmische Hommage, wie es noch keine gab.» (Andreas Kilb, FAZ, 11.3.2003) 107 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f / 12 J // DREHBUCH UND ­REGIE Todd Haynes // KAMERA Edward Lachman // MUSIK Elmer Bernstein // SCHNITT James Lyons // MIT Julianne Moore (Cathy Whitaker), Dennis Quaid (Frank Whitaker), Dennis Haysbert (Raymond Deagan), Patricia Clarkson ­ ­(Eleanor Fine), Viola Davis (Sybil), James Rebhorn (Dr. Bowman), Michael Gaston (Stan Fine), Ryan Ward (David Whitaker), Jordan Puryear (Sarah Deagan).

ONE HOUR PHOTO USA 2002 Seit Jahren arbeitet Sy unermüdlich im Fotolabor eines grossen Supermarkts. Niemand ahnt, dass der Einzelgänger über die Fotos, die durch seine Hände gehen, sehr intensiv am Leben seiner Kunden teilnimmt. Zur Familie seiner hübschen Kundin Nina Yorkin hat Sy ein besonders enges Verhältnis: Seit Jahren hat er ihre Fotos heimlich kopiert und bei sich zu Hause aufgehängt. Als ­Ninas Bilderbuch-Ehe in eine Krise gerät, reift in Sy ein mörderischer Plan. «Robin Williams’ Porträt eines gestörten Niemand, dem noch die Träume genommen werden, ist hypnotisch. (…) Dass er ein Verbrecher ist, ein sentimentaler Psychopath, steht für das Publikum sogleich fest, denn der Anfang nimmt das Ende vorweg. (…) One Hour Photo ist das Protokoll eines Amoklaufs, einer Rache an der bürgerlichen Heuchelei. Dabei bleibt Mark Romaneks Kinodebüt abstrakt, wo das – heimliche – Vorbild, Taxi Driver, einen Schlächter feierte. (…) Satirisch überspitzt der Werbefilmer Romanek den unmenschlichen Uniformismus des Kaufhauses ebenso wie den Glamour-Lifestyle im Haus der Yorkins.» (Andreas Maurer, NZZ, 6.12.2002)

96 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // DREHBUCH UND REGIE Mark Romanek // KAMERA Jeff Cronenweth // MUSIK Reinhold Heil, Johnny Klimek // SCHNITT Jeffrey Ford // MIT Robin Williams (Sy Parrish), Connie Nielsen (Nina Yorkin), Michael Vartan (Will Yorkin), Dylan Smith (Jakob Yorkin), Erin Daniels (Maya Burson), Paul Hansen Kim (Yoshi Araki), Lee Garlington (Kellnerin), Gary Cole (Bill Owens), Marion Calvert (Mrs. Von Unwerth), David Moreland (Mr. Siskind).

INFAMOUS (PREMIERE) USA 2006 Der New Yorker Autor Truman Capote liest 1959 in der Zeitung von dem sinnlosen Mord, der in Kansas an der Familie Clutter begangen wurde. Begleitet von seiner aufstrebenden Schriftstellerkollegin Nelle Harper Lee fährt Capote ins Hinterland, um eine neuartige Reportage über den Vorfall zu schreiben. Der affektierte kleine Grossstadt-Intellektuelle hat jedoch Mühe, die kernigen Provinzler für sein literarisches Projekt zu gewinnen, und zu den Mördern Perry Smith und Dick Hickock entwickelt er eine seltsam innige Beziehung. 2005 erschien Bennett Millers Film Capote, der aufgrund der gleichnamigen Biografie von Gerald Clarke die faszinierende Entstehung des wegweisenden Tatsachenromans «In Cold Blood» schilderte. Ein Jahr später startete unter dem Titel Infamous Douglas McGraths starbestückte ­Adaption von George Plimptons Enthüllungsbuch «Truman Capote», das den gleichen Stoff verarbeitete. Millers Hauptdarsteller Philip Seymour Hoffman hatte inzwischen einen Oscar gewonnen, und so erfuhr Infamous nicht mehr die Aufmerksamkeit, die diesem Film gebührt. Toby Jones ist als Capote nämlich nicht minder überzeugend und hat in Daniel Craig als Perry Smith einen ebenso charismatischen wie unheimlichen Gegenspieler, während Sandra Bullock eine absolut glaubwürdige Harper Lee abgibt. (mb) 113 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Douglas McGrath // DREHBUCH Douglas McGrath, nach dem Buch «Truman ­Capote» von George Plimpton // KAMERA Bruno Delbonnel // MUSIK Rachel Portman // SCHNITT Camilla Toniolo // MIT Toby Jones (Truman Capote), Sandra Bullock (Nelle Harper Lee), Daniel Craig (Perry Smith), Jeff Daniels (Alvin Dewey), Sigourney Weaver (Babe Paley), Peter Bogdanovich (Bennett Cerf), Isabella Rossellini (Marella Agnelli), Hope Davis (Slim Keith), Gwyneth Paltrow (Kitty Dean), Lee Pace (Dick Hickock).


> Savage Grace.

> At Any Price.

> Kill Your Darlings.


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Christine Vachon

I’M NOT THERE Deutschland/Kanada/USA 2007 Bob Dylan tritt in I’m Not There gleich sechsfach in Erscheinung: Als 11-jähriger Singer-Songwriter reist er Ende der 50er-Jahre durchs Land, mit 19 ist er ein scharfzüngiger Poet, wenig später ein erfolgreicher Folk-Troubadour im pulsierenden Greenwich Village. Kaum als Stimme einer neuen Generation gefeiert, erfindet er sich als Bandleader neu. Er reüssiert als Schauspieler, scheitert als Familienvater, gerät als christlicher Prediger in Vergessenheit und taucht als Outlaw im Hinterland von Missouri wieder auf. «Mit dem sechsfachen Dylan hat Todd Haynes nicht bloss eine bestechende Form gefunden, diesen notorisch widerspenstigen Künstler ins Kino zu übersetzen, ohne ihn auf irgendeine halbwahre Essenz zu reduzieren oder nur biografische Stationen abzuklappern. Noch beeindruckender ist, wie souverän er auf seiner Reise durch den DylanKosmos zwischen den Zeiten und Orten wechselt und dabei immer neue Stile anprobiert. (...) Ein Trip durch ein wucherndes Geflecht aus Leben, Werk und Mythos einer Ikone, die nie Ikone sein wollte.» (Florian Keller, Tages-Anzeiger, 6.9.2007) 135 Min / Farbe + sw / 35 mm / E/d/f // REGIE Todd Haynes // DREHBUCH Todd Haynes, Oren Moverman // KAMERA E ­ dward Lachman // SCHNITT Jay Rabinowitz // MIT Christian Bale (Jack/Pastor John), Cate Blanchett (Jude), Marcus Carl Franklin (Woody), Richard Gere (Billy), Heath Ledger (Robbie), Ben Whishaw (Arthur), Charlotte Gainsbourg (Claire), David Cross (Allen Ginsberg), Bruce Greenwood (Keenan Jones), ­Julianne Moore (Alice), Michelle Williams (Coco Rivington), Kris ­Kristofferson (Erzähler).

SAVAGE GRACE Frankreich/Spanien/USA 2007 Die mittellose Schauspielerin Barbara heiratet den schwerreichen Brooks Baekeland und wird in die illustren Kreise des Jetsets katapultiert. Die Ehe aber ist unglücklich; nach der Geburt des Sohnes Tony entfremden sich die beiden immer weiter voneinander. Als Brooks schliesslich mit der Freundin des Sohnes durchbrennt, entwickelt sich zwischen der psychisch labilen Barbara und Tony ein übergriffiges, latent erotisches Verhältnis, dem Tony sich nicht entziehen kann. Regisseur Tom Kalin, Vertreter des New Queer Cinema der Neunzigerjahre, schneidet diese Familientragödie, die auf der wahren Geschichte der Industriellenfamilie Baekeland beruht, «ganz auf Julianne Moore als Barbara zu, die mit ihrer furiosen Darbietung Mitstreiter wie Stephen Dillane (Brooks) und Eddie Redmayne, der mit Tony die

eigentliche Hauptfigur verkörpert, in den Schatten stellt. Die unter extremen Gefühlsschwankungen leidende Barbara spielt Moore mit einer ungeheuren Intensität. Ihre mitunter sehr theatralische Spielweise wirkt nicht nur deshalb angemessen, weil Barbara eine verhinderte Schauspielerin ist, sondern auch, weil der Film eine Welt der oberen Zehntausend inszeniert, in der es darum geht, sich gebührend in Szene zu setzen.» (Michael Kienzl, critic.de) 97 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // REGIE Tom Kalin // DREHBUCH Howard A. Rodman, nach dem Buch von Natalie Robins, Steven M. L. Aronson // KAMERA Juan Miguel Azpiroz // MUSIK Fernando Velázquez // SCHNITT Enara Goikoetxea, Tom Kalin, John F. Lyons // MIT Julianne Moore (Barbara Baekeland), Eddie Redmayne (Antony Baekeland), Stephen Dillane (Brooks Baekeland), Elena Anaya (Blanca), Hugh Dancy (Sam Green), Unax Ugalde (Black Jake Martínez), Belén Rueda ­(Pilar Durán).

AT ANY PRICE (PREMIERE) USA 2012 Die Whipples sind seit drei Generationen erfolgreiche Mais-Farmer. Mittlerweile liegt der Betrieb in den Händen von Henry, der um jedes Stück Ackerland hart kämpfen muss und seine Sorgen mit guter Laune kaschiert. Seine beiden Söhne haben keine Ambitionen, in die Fussstapfen des Vaters zu treten: Der ältere hat die Farm verlassen, der jüngere träumt davon, Rennfahrer zu werden. Als Henry in Verdacht gerät, mit gen­ manipuliertem Saatgut illegale Geschäfte zu machen, droht der finanzielle Ruin. «At Any Price ist ein mutiger, vielschichtiger Film, der das Gewinnen um jeden Preis hinterfragt. Die beiden Hauptfiguren liessen sich leicht in herkömmliche Plot-Formeln einfügen, aber Regisseur Ramin Bahrani blickt tief in ihre Seelen und findet so viel mehr. (…) Dennis Quaid und Zac Efron sind die Stars und bei der Verkörperung ­ihrer Rollen bedienen sie sich ihres Leinwand­ images und fordern dieses gleichzeitig heraus. (…) Ein grossartiger Film über eine amerikanische moralische Krise.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 25.4.2013) 105 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Ramin Bahrani // DREHBUCH Ramin Bahrani, Kahraman Memis, Hallie Elizabeth Newton // KAMERA Michael Simmonds // MUSIK Dickon Hinchliffe // SCHNITT Affonso Gonçalves // MIT Dennis Quaid (Henry Whipple), Kim Dickens (Irene Whipple), Zac Efron (Dean Whipple), Heather Graham (Meredith Crown), Patrick W. Stevens (Grant Whipple), Dan Waller (Larry Brown), Maika Monroe (Cadence Farrow), Red West (Cliff Whipple), Clancy Brown (Jim Johnson), Ben Marten (Brad Johnson).


> A Kind of Murder.

> Carol.

> My Days of Mercy.


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Christine Vachon

KILL YOUR DARLINGS (PREMIERE) USA 2013 1944 lernt der schüchterne junge Allen Ginsberg an der Columbia University den charismatischen Lucien Carr kennen. Carr führt ihn in die lebendige New Yorker Literaten- und Intellektuellenszene ein und macht ihn mit William Burroughs und Jack Kerouac bekannt. Zusammen will das Quartett gegen das Establishment kämpfen. Doch Carrs Interesse an Ginsberg wird von Luciens Mentor David Kammerer misstrauisch beäugt – Kammerer ist besessen von Lucien und wird immer fanatischer. Es kommt zu einer Bluttat, die alles verändert. «Das Kinodebüt des jungen amerikanischen Regisseurs John Krokidas zeigt die Beat Generation, bevor sie ihren Namen hatte: die wilden Tage eines Aufbruchs, der in einem seinerzeit skandalösen und bis heute nicht ganz geklärten Tod gipfelte (…). Kill Your Darlings wird dem Anspruch gerecht, die Wurzeln der Beat Generation zu zeigen und deren revolutionäre ‹New Vision› angemessen zu bebildern. (…) Der Film ist sowohl eine ‹Com­ ing of Age›-Geschichte wie auch die Zustandsbestimmung einer ganzen Generation nach dem Zweiten Weltkrieg.» (Ulrich Sonnenschein, epd-film.de, 27.1.2014) «Allen Ginsbergs Triumph scheint von vornherein festzustehen: Wir wissen, wer er war, was aus ihm geworden ist und wie sich die Welt um ihn herum verändert hat. 1944 aber war das alles noch gar nicht selbstverständlich, und die Risiken waren gewaltig und schrecklich. Kill Your Darlings gelingt es, einem heutigen Publikum diese Schrecken zu vermitteln sowie den Nervenkitzel und die Berauschung, die damit einhergingen.» (A. O. Scott, The New York Times, 15.10.2013) 104 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE John Krokidas // DREHBUCH Austin Bunn, John Krokidas, nach einer Erzählung von Austin Bunn // KAMERA Reed Morano // MUSIK Nico Muhly // SCHNITT Brian A. Kates // MIT Daniel Radcliffe ­(Allen Ginsberg), Dane DeHaan (Lucien Carr), Michael C. Hall (David Kammerer), Jack Huston (Jack Kerouac), Ben Foster (William Burroughs), David Cross (Louis Ginsberg), Jennifer Jason Leigh (Naomi Ginsberg), Elizabeth Olsen (Edie Parker), John Cullum (Professor Steeves), Erin Drake (Gwendolyn).

CAROL GB/USA 2015 New York in den Fünfzigerjahren: Die junge Fotografin Therese arbeitet in der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses, wo sie die elegante Carol kennenlernt. Therese zweifelt an der Beziehung zu

ihrem Freund, Carol steht kurz vor der Scheidung wegen ihres «unmoralischen» Lebensstils: Sie hatte eine Affäre mit einer Frau, und ihr Mann will das alleinige Sorgerecht für die kleine Tochter. «Wie schon in Far from Heaven bedient sich Todd Haynes in Carol erneut der Genrekonven­ tionen des 50er-Jahre-Melodramas. Nur sind es diesmal zwei graziös und feinfühlig von Cate Blanchett und Rooney Mara verkörperte Frauen, die wider alle gesellschaftliche Borniertheit ihre Zuneigung füreinander entdecken. (…) Was dieser Literaturverfilmung nach Patricia Highsmith ihre Anmut verleiht, ist ihre erlesene Form: ihr dichtes Spiel aus Licht und Schatten, das musikalische Sentiment, eine Ästhetik des Taktilen – einer Körperlichkeit, die auf Gesten, Blicken und Andeutungen gründet und bis zuletzt eine zauberhafte Spannung aufrechterhält.» (Björn Hayer, NZZ, 9.12.2015) 118 Min / Farbe / DCP / E/d/f // REGIE Todd Haynes // DREHBUCH Phyllis Nagy, nach dem Roman «The Price of Salt» von Patricia Highsmith // KAMERA Edward Lachman // MUSIK Carter Burwell // SCHNITT Affonso Gonçalves // MIT Cate Blanchett (Carol Aird), Rooney Mara (Therese Belivet), Kyle Chandler (Harge Aird), Sarah Paulson (Abby Gerhard), Jake Lacy (Richard Semco), John Magaro (Dannie McElroy), Cory Michael Smith (Tommy Tucker).

A KIND OF MURDER (PREMIERE) USA 2016 New York in den 60er-Jahren: Die Ehe des erfolgreichen Architekten Walter Stackhouse mit der depressiven Clara steht vor dem Aus. Er beginnt eine Affäre mit der Nachtclubsängerin Ellie und überlegt, wie er seine Frau loswerden könnte. Als Hobby-Krimiautor interessiert sich Walter für den Fall der jüngst ermordeten Helen Kimmel und spürt deren Mann Marty nach, den er für den Täter hält. Als Clara dann auch tot aufgefunden wird, sieht die Polizei in Walter prompt den Hauptverdächtigen. Je mehr er versucht, seine Unschuld zu beweisen, desto tiefer verstrickt er sich in Widersprüche. «Highsmiths Romanvorlage erinnert an ihren Erstlings-Hit ‹Strangers on a Train›, indem sie schildert, wie sich die Wege zweier mordlustiger Männer kreuzen. (...) Patrick Wilsons robuste, grundsolide Darbietung wird ergänzt von derjenigen Eddie Marsans, der einen unscheinbaren, mäuschenstillen Mann mit den Augen einer Viper verkörpert. (...) Das Finale erweitert den typischen Fatalismus des Film noir, indem es impliziert, dass das Verderben nicht nur jene heimsucht, die ihr Schicksal ändern wollen, sondern selbst diejenigen, die achtlos genug sind, dies auch nur zu erwägen.» (Nick Schager, Variety, 22.4.2016)


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Christine Vachon 95 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE Andy Goddard // DREHBUCH Susan Boyd, nach dem Roman «The Blunderer» von Patricia Highsmith // KAMERA Chris Seager // MUSIK Danny Bensi, Saunder Jurriaans // SCHNITT Jane Rizzo, Elísabet Ronaldsdóttir // MIT Patrick Wilson (Walter Stackhouse), Jessica Biel (Clara Stackhouse), Haley Bennett (Ellie Briess), Eddie Marsan (Marty Kimmel), Vincent Kartheiser (Det. Laurence Corby), Jon Osbeck (Jon Carr), Radek Lord (Tony Ricco), Christine Dye (Claudia).

MY DAYS OF MERCY (PREMIERE) GB/USA 2017 Die 22-jährige Lucy, ihre ältere Schwester Martha und ihr kleiner Bruder Benjamin ziehen von einem Gefängnis zum andern, um gegen die Todesstrafe zu protestieren. Ihr eigener Vater ist zum Tode verurteilt, weil er vor acht Jahren ihre Mutter umgebracht haben soll. Auf der Gegenseite der Demonstrationen steht Mercy, eine junge Anwältin aus religiösem Haus. Obschon sie als Tochter eines Polizisten, dessen Partner erschossen wurde, in der Todesstrafe eine Erleichterung für die Opfer sieht, freundet sie sich mit Lucy an, und bald wird aus den politischen Gegnerinnen ein leidenschaftliches Liebespaar. «Drehbuchautor Joe Barton findet Dramatik nicht nur in einzelnen Figuren, sondern in den unterschiedlich trauernden Kulturen, die im Umfeld eines brisanten politischen Themas wie der Todesstrafe entstehen. Klugerweise verzichtet er darauf, für die eine oder die andere Partei einzutreten, auch wenn die scharf beobachteten Dialoge beiden Seiten Platz für ihre Argumente einräumen. Wichtiger sind jedoch die unpolemischen Rhythmen des Lebens im mittleren Westen, die mit treffsicheren Details von der israelischen Regisseurin Tali Shalom-Ezer festgehalten werden. (...) Ellen Page liefert in einer massgeschneiderten Rolle eine ihrer besten schauspielerischen Leistungen. Kate Mara ist sehr gut als eine Figur, deren ausweichendes Verhalten nicht nur im Dienste der Handlung steht.» (Dennis Harvey, Variety, 8.9.2017) 103 Min / Farbe / DCP / E/d // REGIE Tali Shalom-Ezer // DREHBUCH Joe Barton // KAMERA Radek Ladczuk // MUSIK Michael Brook // SCHNITT Einat Glaser-Zarhin // MIT Kate Mara (Mercy), Ellen Page (Lucy), Elias Koteas (Simon), Brian Geraghty (Weldon), Amy Seimetz (Martha), Beau Knapp (Toby), Charlie Shotwell (Benjamin).

Das 21. Pink Apple Festival zeichnet Christine Vachon mit seinem Festival Award aus, den sie am Sonntag, dem 6. Mai persönlich entgegennehmen wird. Davor wird die Produzentin bei mehreren Vorstellungen im Filmpodium für Q&As zur Verfügung stehen, und am Samstag, dem 5. Mai gibt sie um 16.30 Uhr eine Master Class mit Marille Hahne (ZHdK). Weitere sehenswerte Produktionen von Christine Vachon: Beatriz at Dinner, Regie: Miguel Arteta (2017) Salma Hayek als zugewanderte holistische Therapeutin, die bei einem Dinner John Lithgow als Trump-ähnlichem ­Unternehmer die Kappe wäscht. The Notorious Bettie Page, Regie: Mary Harron (2005) Gretchen Mol brilliert als das legendäre Pin-up-Girl Bettie Page, das in den 1950er-Jahren mit S/M-Fotos die ­Moralisten entsetzte. Storytelling, Regie: Todd Solondz (2001) Rabiate und selbstreflexive Auseinandersetzung mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion, mit Rassimus, Sexismus und Fantasien. Velvet Goldmine, Regie: Todd Haynes (1998) Hommage an die Glam-Rock-Ära und die Wechselbeziehung von David Bowie und Iggy Pop, mit Jonathan Rhys Meyers und Ewan McGregor. Safe, Regie: Todd Haynes (1995) Prophetische Vision einer Gesellschaft, die an der Moderne erkrankt ist, was sich in Allergien und Unverträglichkeiten manifestiert. Stonewall, Regie: Nigel Finch (1995) Dokudrama über den legendären, wegweisenden ­Schwulenaufstand gegen eine Polizeirazzia in einem New Yorker Szenelokal 1969. Swoon, Regie: Tom Kalin (1992) Schillerndes, beklemmendes Porträt des historischen schwulen Mörderpaars Leopold und Loeb, dessen Untat Hitchcock zu Rope inspirierte.


33 Das erste Jahrhundert des Films

1948 1948 lag ein Grossteil Europas in Trümmern – gerade vor diesem Hintergrund erreicht der Neorealismus seinen Höhepunkt mit zwei Werken, die ­Filmemacher in aller Welt inspirieren werden: In Ladri di biciclette erzählt Vittorio De Sica eine ergreifend schlichte Geschichte, die das Elend im Nachkriegsitalien eindringlich festhält, und mit La terra trema zeigt Luchino ­Visconti ein Drama über den Kampf sizilianischer Fischer gegen die Ausbeutung als beispielhafte Fusion von Realismus und Opernhaftigkeit. Vom Neorealismus, aber auch dem Film noir beeinflusst wird Akira ­Kurosawa: Sein Engel der Verlorenen ist ein eindringlich inszeniertes Porträt der japanischen Nachkriegszeit, das bei aller Tragik von Menschlichkeit, warmherzigem Humor und Zuversicht getragen wird. In The Treasure of the Sierra Madre beobachtet John Huston drei ungleiche Abenteurer, wie sie in der unwirtlichen Bergwelt Mexikos nach Gold suchen, es finden und am Ende wieder verlieren – ein Klassiker des Abenteuerfilms, welcher der desillusionierten Stimmung der Nachkriegsjahre entspricht, zugleich aber nie altert. Howard Hawks erzählt in seinem grandiosen Red River die Geschichte eines strapaziösen Viehtrecks. John Wayne spielt den Prärietyrannen, der zwar 10 000 Rinder im Zaum halten kann, nicht aber den rebellischen jungen Cowboy, mit dem Debütant Montgomery Clift bereits die Rolle seines Lebens findet. Wie ein wilder Traum muss dem Publikum in der grauen Nachkriegszeit der prächtige Tanzfilm The Red Shoes vorgekommen sein: Mit leuch­ tenden Technicolor-Farben, prächtigen Dekors und leidenschaftlichen Gefühlen sorgten Michael Powell und Emeric Pressburger international für Begeisterung. Tanja Hanhart Das erste Jahrhundert des Films In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 ­wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. ­Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2018 sind Filme von 1918, 1928, 1938 usw. zu sehen. Weitere wichtige Filme von 1948 Die Gezeichneten/The Search Fred Zinnemann, CH/USA Force of Evil Abraham Polonsky, USA Germania, anno zero Roberto Rossellini, I Hamlet Laurence Olivier, GB Key Largo John Huston, USA L’aigle à deux têtes Jean Cocteau, F Letter from an Unknown Woman Max Ophüls, USA Louisiana Story John Flaherty, USA Oliver Twist David Lean, GB

Raw Deal Anthony Mann, USA Rope Alfred Hitchcock, USA The Naked City Jules Dassin, USA The Snake Pit Anatole Litvak, USA They Live by Night Nicholas Ray, USA Unfaithfully Yours Preston Sturges, USA Xiao cheng zhi chun (Frühling in einer kleinen Stadt) Mu Fei, China Yoru no onnatachi (Frauen der Nacht) Kenji Mizoguchi, J


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Das erste Jahrhundert des Films: 1948

LADRI DI BICICLETTE Italien 1948 Rom, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg: Der arbeitslose Antonio Ricci findet endlich einen Job als Plakatkleber. Kaum hat er die ersten Plakate geklebt, wird das für den Broterwerb unerlässliche Fahrrad gestohlen. Verzweifelt zieht Ricci gemeinsam mit seinem Sohn Bruno durch Rom, um sein Fahrrad zu finden. Beinahe wäre Ladri di biciclette ein Hollywoodfilm geworden, mit David O. Selznick als Produzent und Cary Grant als Hauptdarsteller. Regisseur Vittorio De Sica verfolgte in Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Cesare Zavattini jedoch schliesslich ein anderes Konzept: Sein «armes» Kino, das den ganzen Reichtum menschlicher Erfahrung zu repräsentieren vermag, wurde – zusammen mit Rossellinis Roma, città aperta – das Grundmodell für eine neorealistische Ästhetik. «De Sica schuf nicht nur einen Klassiker des Neorealismus, sondern einen der schönsten Spielfilme der Welt, bewundert gleichermassen von Orson Welles und Akira Kurosawa, Satyajit Ray und Yilmaz Güney. De Sica filmt seine Fahrraddiebe mit Laien auf den Strassen Roms und fokussiert die alltägliche Wirklichkeit in einer so einfachen wie exemplarischen Geschichte. Einem

Arbeitslosen wird jenes Fahrrad gestohlen, das die Bedingung für seinen neuen Job ist. Der banale Fall wird zur Existenzbedrohung, die Suche nach dem Fahrrad zur tragisch-modernen Odyssee durch eine Welt ohne Mitleid.» (Harry Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 2/2015) 92 Min / sw / 35 mm / I/d/f // REGIE Vittorio De Sica // DREHBUCH Cesare Zavattini, Oreste Biancoli, Suso Cecchi D’Amico, nach dem Roman von Luigi Bartolini // KAMERA Carlo Montuori // MUSIK Alessandro Cicognini // SCHNITT Eraldo Da Roma // MIT Lamberto Maggiorani (Antonio Ricci), Enzo Staiola (Bruno, sein Sohn), Lianella Carell (Maria Ricci, die Mutter), Gino Saltamerenda (Baiocco), Vittorio Antonucci (Dieb), Elena Altieri (wohltätige Dame), Giulio Chiari (Bettler).

Vor einzelnen Filmen der Jahre 1948, 1958 und 1968 werden wie bereits in den vergangenen Jahren Beiträge der Schweizer Filmwochenschau aus dem jeweiligen Jahr gezeigt (Daten siehe Programmübersicht). Die Auswahl ­besorgt Severin Rüegg, der am 17. Mai auch ein Referat zum Thema halten wird. Mit freundlicher Unterstützung von ­Lumière, Förderverein Filmpodium.


Das erste Jahrhundert des Films: 1948

LA TERRA TREMA Italien 1948 Die Familie Valestro lebt im sizilianischen Dorf Aci Trezza ausschliesslich vom Fischfang. Der älteste Sohn Ntoni will sich nicht länger von den Grosshändlern ausbeuten lassen und versucht, sich selbstständig zu machen. Anfangs hat er Erfolg, das soziale Prestige der Familie wächst – als allerdings ein Sturm sein Boot zerstört, steht die Familie vor dem Nichts. Dieses sozial engagierte, packende Epos ist ein frühes Meisterwerk Luchino Viscontis und einer der Höhepunkte des italienischen Neorealismus, auch wenn der Regisseur die Bezeichnung «neorealistisch» für sich selbst ablehnte. La terra trema sollte ursprünglich die erste Episode einer sizilianischen Trilogie werden und wurde von der kommunistischen Gewerkschaft mitfinanziert; aus finanziellen Gründen jedoch konnte nur der erste Teil realisiert werden. Visconti arbeitete mit Laiendarstellern, die ihre Dialoge selbst impro­ visierten und in ihrem Dialekt sprachen, setzte ­reale Schauplätze und zugleich hochgradig stilisierte Bildkompositionen ein und entwickelte minutenlange, nur von leichten Kameraschwenks bewegte Einstellungen.

«Mit der Präzision eines Ethnologen und dem ausgeprägten Stilwillen des künftigen Opern­ ­ regisseurs inszeniert Visconti das schicksalhafte Leben einer sizilianischen Fischerfamilie. Viscontis Film ist vieles: die unbarmherzige Schilderung menschlicher Tragödien vor imposanter Kulisse, ein kunstvoller Versuch, marxistische Gesellschaftstheorien filmisch zu verarbeiten, und ein erster Schritt in Richtung Überwindung des orthodoxen Neorealismus. Kurz: eines der ambitioniertesten Projekte der italienischen Kinogeschichte und – unbestritten – ein Klassiker.» (iffi.at) 160 Min / sw / 35 mm / I/d // REGIE Luchino Visconti // DREHBUCH Luchino Visconti, Antonio Pietrangeli, nach dem Roman «I malavoglia» von Giovanni Verga // KAMERA G. R. Aldo // MUSIK Willy Ferrero // SCHNITT Mario Serandrei // MIT Einwohnern des Dorfs Aci Trezza, Kommentar gesprochen von Luchino Visconti und Antonio Pietrangeli.

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Das erste Jahrhundert des Films: 1948

ENGEL DER VERLORENEN (Yoidore tenshi) Japan 1948 Im Tokio der frühen Nachkriegszeit praktiziert der dem Alkohol verfallene Dr. Sanada in einem Slum. Eines Tages erscheint ein junger angeschossener Gangster in seiner Praxis. Der Arzt zieht ihm eine Kugel aus der Hand, hat aber obendrein den Verdacht, dass der junge Mann an Tuberkulose leidet, was dieser nicht wahrhaben will. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, geprägt von Hass und Verachtung, aber auch gegenseitiger Abhängigkeit und widerwilliger Anerkennung. «Fünf Jahre nach dem Debüt mitten im Krieg war Engel der Verlorenen bereits Akira Kurosawas siebter Film und ein mehrfacher Durchbruch zur Grösse: Nach eigenem Bekunden fand Kurosawa hier erstmals zu genuiner Autorenschaft (und auch zur Anerkennung durch die Filmkritik). Gleichzeitig war es sein erster Film mit Toshiro Mifune, mit dem er 16 seiner nachfolgenden 17 Filme drehen sollte. (…) Das anfänglich noch eindimensionale Ringen um die psychische und physische Existenz des Angeschlagenen weitet sich zu einem kraftvoll-düsteren Porträt der japanischen Nachkriegsgesellschaft (…). Wie Kritiker Jay Carr treffend anmerkt, oszilliert Engel der Verlorenen zwischen einem Warner-Gangsterfilm der frühen dreissiger Jahre und italienischem Nachkriegsrealismus. Und doch macht Kurosawa etwas ganz anderes daraus: einen expressionistisch überhöhten Gegenwarts-quasi-Samuraifilm.» (Andreas Furler, Programmheft Filmpodium, 12/2013)

«Die Beziehung der beiden Männer ist in jedem Moment ein Duell aufs Messer, ein Drama aus wilden Blicken, explosiven Gesten, rauschenden Posen, überlebensgrossen Gebärden. Kino-Expressionismus pur, gespickt mit realistischen Details und symbolischen Filmzeichen der Vergeblichkeit.» (Harry Tomicek, Österreichisches Filmmuseum, 12/2005) 98 Min / sw / DCP / Jap/d // REGIE UND SCHNITT Akira Kurosawa // DREHBUCH Keinosuke Uekusa, Akira Kurosawa // KAMERA Takeo Ito // MUSIK Fumio Hayasaka // MIT Takashi Shimura (Sanada, Arzt), T ­ oshiro Mifune (Matsunaga, Gangster), Reisaburo Yamamoto (Okada, Gangsterboss), Michiyo Kogure (Nanae, Matsunagas Freundin), Chieko Nakakita (Miyo, Krankenschwester), ­Noriko Sengoku (Gin), Shizuko Kasagi (Sängerin).

Im Kalenderjahr 2018 führen Mitarbeitende, Studierende und Gäste des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich einzelne Filme der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» ein. Neben dem filmhistorischen Kontext werden in den Einführungen formale und thematische Aspekte der Jahrhundertfilme genauer betrachtet.

✶ am Montag, 14. Mai, 18.15 Uhr: Einführung von Emanuel Signer (Studierender am Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich)


Das erste Jahrhundert des Films: 1948

THE TREASURE OF THE SIERRA MADRE USA 1948 Im Mexiko der zwanziger Jahre brechen die beiden mittellosen Amerikaner Dobbs und Curtin mit dem alten Goldgräber Howard auf, um unter der gleissenden Sonne der Sierra Madre nach Gold zu suchen. Als sie in der gottverlassenen Einöde nach Wochen harter Arbeit tatsächlich auf eine ergiebige Goldader stossen, zerstören Misstrauen, Neid und Gier ihre Eintracht. The Treasure of the Sierra Madre war nach dem Krieg eine der ersten wichtigen US-Produk­ tionen, die vor Ort gedreht wurden. «Dreharbeiten an Originalschauplätzen waren damals für Hollywoods A-Produktionen selten, doch gegen den Widerstand des Studios bestand John Huston darauf. Seine Unnachgiebigkeit zahlte sich aus. Der Film atmet die staubige Trockenheit der mexikanischen Landschaft. Die Schauspieler, fern von der komfortablen Studioatmosphäre den Elementen ausgesetzt, wurden zu angespannten, nervösen Darstellungen getrieben. Das entsprach dem Thema des Films: wie Menschen unter Druck reagieren. (…) Hustons Entschlossenheit zahlte sich für das Studio aus. Der Film bescherte Warner Brothers nicht nur einen ­Riesenerfolg an den Kinokassen, sondern auch Triumphe bei den Oscarverleihungen. Huston gewann die Oscars für beste Regie und das beste Drehbuch, und sein Vater erhielt den Oscar als bester Nebendarsteller.» (Philip Kemp, in: 1001 Filme, Ed. Olms, 2012)

Humphrey Bogart, der als Dobbs gegen sein damaliges Image spielte, war wohl nie besser. «In The Treasure of the Sierra Madre geht es nicht wirklich um Gold, sondern um die Figuren. Unerschrocken spielte Bogart seinen Dobbs als einen erbärmlichen, verängstigten, egoistischen Mann, der so krankhaft agiert, dass man versucht wäre, ihn zu bemitleiden, wenn er denn nicht des Mitleids so unwürdig wäre.» (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 12.10.2003) 126 Min / sw / Digital HD / E/d // REGIE John Huston // DREHBUCH John Huston, nach dem Roman von B. Traven // KAMERA Ted McCord // MUSIK Max Steiner // SCHNITT Owen Marks // MIT Humphrey Bogart (Fred C. Dobbs), Walter ­Huston (Howard), Tim Holt (Curtin), Bruce Bennett (John Cody), Barton MacLane (Pat McCormick), Alfonso Bedoya (Gold Hat), A. Soto Rangel (Presidente), Manuel Donde (El Jefe), Jose Torvay (Pablo), Margarito Luna (Pancho), John ­Huston (Amerikaner im weissen Anzug).

DONNERSTAG, 12. APRIL, 18.15 UHR: BUCHVERNISSAGE UND FILMEINFÜHRUNG Der Film- und Medienwissenschaftler Henry M. Taylor (Zürich/Konstanz) präsentiert sein neues Buch über Paranoia und Verschwörung im Film und Fernsehen, Conspiracy! Theorie und Geschichte des Paranoiafilms (Schüren Verlag 2018). Seine Monografie beschäftigt sich mit dem virulenten Phänomen audiovisueller Verschwörungsfiktionen in medientheoretischer und filmhistorischer Perspektive. Anschliessend folgt eine kurze Einleitung in den nachfolgend gezeigten Film The Treasure of the Sierra Madre.

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Das erste Jahrhundert des Films: 1948

RED RIVER USA 1948 10 000 Rinder müssen Rancher Dunson und sein Ziehsohn Matt zusammen mit einer Gruppe von Cowboys von Texas nach Missouri treiben. Der autoritäre Dunson fordert seinen Männern bei diesem strapaziösen Viehtreck alles ab, und das führt zu grossem Unmut. Um das Unterfangen zu retten, muss Matt sich ebenfalls gegen Dunson stellen. Howard Hawks gelingt mit Red River, seinem ersten grossen Western, ein Meilenstein. Die legendäre Viehstampede ist durch die Bilder von Kameras, die in den Boden eingegraben und mit Panzerglas abgedeckt waren, auch heute noch spektakulär. «Formal arbeitet Hawks in der Inszenierung mit Finessen, die dem düsteren Film noir jener Jahre entlehnt scheinen: Mehr und mehr wird die Umgebung zum Spiegel der Verfassung der Protagonisten. (...) Visuell zählt Red River zu den eindrucksvollsten Westernklassikern, vor allem durch eine triumphale Totale zu Beginn: Das langsame Gleiten über die wartenden Cowboys und das zu Tausenden zusammengetrie­ bene Vieh machen auf einen Blick die ungeheure

­erausforderung dieser Unternehmung deutH lich.» (Marcus Stiglegger, in: Western, Reclam 2006) «Howard Hawks ist berühmt dafür, Wayne in Red River neu erfunden zu haben. Er hat ihn altern lassen und ihm die Rolle eines verbitterten, besessenen Patriarchen verpasst, dessen Liebesbeziehung früh gescheitert ist. (…) Hier wurde der Wayne, den wir kennen, geschaffen.» (Jonathan Lethem, Die Welt, 18.5.2007) 133 Min / sw / Digital HD / E/d // REGIE Howard Hawks // DREHBUCH Borden Chase, Charles Schnee, nach einem Roman von Borden Chase // KAMERA Russell Harlan // MUSIK Dimitri Tiomkin // SCHNITT Christian Nyby // MIT John Wayne (Tom Dunson), Montgomery Clift (Matthew Garth), Joanne Dru (Tess Millay), Walter Brennan (Nadine Groot), Coleen Gray (Fen), John Ireland (Cherry Valance), Harry Carey (Mr. Melville), Noah Beery jr. (Buster Magee), Harry Carey jr. (Dan Latimer), Paul Fix (Teeler Yacey), Hank Worden (Sims).


Das erste Jahrhundert des Films: 1948

THE RED SHOES GB 1948 Die junge Primaballerina Vicky wird in das Ensemble des berühmten Impresario Lermontov aufgenommen. Er will aus ihr den nächsten grossen Star machen und treibt sie unerbittlich an. Als die Tänzerin sich in den Komponisten des Ensembles verliebt, erregt sie Lermontovs Zorn – fortan wird sie zwischen der künstlerischen Hingabe an das Ballett und der Liebe zum Komponisten hinund hergerissen. Der Film gilt als grösster Erfolg des Autoren-, Produktions- und Regieteams Michael Powell und Emeric Pressburger. «Dass wir es bei The Red Shoes mit einem genialen Film zu tun haben, realisieren wir bereits in den ersten Minuten: Ballettfanatiker stürmen herein, um ihre Plätze für die Premiere von Lermontovs neuem Meisterwerk einzunehmen. Sie setzen sich, es wird etwas ruhiger, da fliesst ‹45 minutes later› als Laufschrift durch das Bild – ohne die Einstellung zu unterbrechen, macht Michael Powell dabei einen Zeitsprung. Diese in ruhiger Weise radikale Regieführung findet man überall im Film. (...) Die zentrale Ballettsequenz ist pure, verwegene Erhabenheit: Hier wird The

Red Shoes zur (...) Krönung unseres nationalen ­Kinos.» (Tom Huddleston, Time Out Film Guide) Für Martin Scorsese, der den Film schon als Kind gesehen hat, «war er immer schon einer der grössten Filme aller Zeiten. Jedes Mal, wenn ich ihn wiedersehe, offenbart er eine neue Seite und geht tiefer. Was macht diesen Film so speziell? Er ist natürlich wunderschön, einer der schönsten Technicolor-Filme überhaupt (…). Es gibt keinen anderen Film, der die überwältigende Obsession für Kunst und die Art und Weise, wie sie dein Leben vereinnahmen kann, so dramatisiert und visualisiert.» (Martin Scorsese’s Top 10, criterion.com) 133 Min / Farbe / DCP / E/f // REGIE Michael Powell, Emeric Pressburger // DREHBUCH Michael Powell, Emeric Pressburger, Keith Winter // KAMERA Jack Cardiff // MUSIK Brian Easdale // SCHNITT Reginald Mills // MIT Moira Shearer (Vicky Page), Anton Walbrook (=  Adolf Wohlbrück; Boris ­ ­Lermontov), Marius Goring (Julian Craster), Léonide Massine (Grischa Ljubov), Robert Helpmann (Ivan Boleslawsky), ­Albert Bassermann (Sergei Ratov), Ludmilla Tcherina (Irina Boronskaja), Esmond Knight (Livy), Jean Short (Terry), ­Gordon Littman (Ike), Austin Trevor (Prof. Palmer).

✶ am Montag, 23. April, 18.15 Uhr: Einführung von Prof. Dr. Barbara Flückiger (Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich)

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40 SÉLECTION LUMIÈRE

LA FEMME DU BOULANGER Schon 2016 sollte im Rahmen der Sélection

erfolgreich wie im Kino, dessen Geburts-

Lumière Marcel Pagnols Komödie La femme

jahr er teilte. Als Regisseur verfilmte er

du boulanger laufen, doch da wurde der

nicht nur eigene Stoffe, sondern auch meh-

Film gerade restauriert. Nun ist er in voller

rere

Pracht zu sehen, rechtzeitig zum 80. Ge-

Landsmanns Jean Giono. La femme du bou-

burtstag dieses Klassikers und in Anwe-

langer (1938) avancierte zu einem seiner

senheit von Pagnols Enkel und Nachlass-

grössten Publikumserfolge. Raimu, laut

verwalter Nicolas Pagnol.

Orson Welles «der grösste Schauspieler al-

Romane

seines

provenzalischen

ler Zeiten», verkörpert mit seiner «äquatoIn einem Dorf in der Haute Provence muss

rialen Taille, einem knopfgrossen Lippen-

der unlängst zugezogene Bäcker Castanier

bart und einer aus Wolle gestrickten

feststellen, dass seine hübsche junge Frau

Narrenkappe» (The New York Times) den

Aurélie mit einem Hirten durchgebrannt ist.

betrogenen Bäcker und Ginette Leclerc

Solange sie verschwunden bleibt, mag der

seine allzu lebenslustige Frau. Pagnols In-

geknickte Bäcker sein Handwerk nicht aus-

szenierung widmet aber jeder Nebenfigur

üben, und das kann seine Kundschaft nicht

ebenso viel Sorgfalt wie den Protagonisten,

zulassen. Also machen sich die Dörfler auf

sodass ein ganzer faszinierender Kosmos

die Suche nach der treulosen Bäckersfrau.

entsteht. (mb)

Marcel Pagnol (1895–1974) betätigte sich als Roman- und Bühnenautor ebenso

MITTWOCH, 11. APRIL, 20.00 UHR Marcels Pagnols Enkel Nicolas Pagnol hat im Filmgeschäft eigene Erfahrungen gesammelt, sich dann aber auf die Betreuung des gewaltigen Nachlasses seines Grossvaters konzentriert: Allerhand Dokumente zum Schaffen Marcels sowie dessen Korrespondenz und zahlreiche Fotografien hat Nicolas Pagnol in Buchform herausgegeben. Ausserdem hat er die Restaurierung der Filme angepackt, damit diese auch von einem heutigen Publikum entdeckt und genossen werden können. In Zürich wird Nicolas Pagnol im Anschluss an die Vorstellung vom 11. April mit Martin Walder über sein Engagement in Sachen Marcel Pagnol und die damit verbundenen Herausforderungen sprechen.


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LA FEMME DU BOULANGER / Frankreich 1938 133 Min / sw / DCP / F // REGIE Marcel Pagnol // DREHBUCH Marcel Pagnol, nach dem Roman von Jean Giono // KAMERA Georges Benoît // MUSIK Vincent Scotto // SCHNITT Suzanne de Troeye // MIT Raimu (Aimable Castanier), Ginette Leclerc (Aurélie Castanier), Fernand Charpin (Marquis Castan de Venelles), Robert Vattier (Priester), Charles Blavette (Antonin), ­Robert Bassac (Lehrer), Marcel Maupi (Barnabé), Alida Rouffe (Céleste), Odette Roger (Miette).



43 Filmpodium für Kinder

auf dem weg zur schule Vier Kinder aus verschiedenen Weltregionen, unterwegs auf ihren langen und abenteuerlichen Schulwegen. «Bis zu vier Stunden nehmen sie jede Woche auf sich, um in die Schule zu ­gelangen: Jackson Saikong in Kenia, Zahira Badi im Hohen Atlas in ­Marokko, Carlito Janez in den argentinischen Anden und der behinderte Samuel J. ­Esther in Indien. Elefanten bedrohen sie auf ihrem Weg, steile Bergpfade müssen erklettert, Gräben überwunden und weite, unbewohnte Ebenen durchquert werden. Der französische Dokumentarfilmer Pascal Plisson (…) zeigt die vier Kinder als kleine Helden, die grosse Beschwerlichkeiten auf sich nehmen, um Zugang zu einer Grundausbildung zu finden. Um sie nicht durch die Dreharbeiten zu gefährden, hat Plisson manche Szene offensichtlich nachgestellt. (…) Dennoch erinnert der Film daran, wie wenig selbstverständlich eine faire Chance für jedes Kind auf dieser Welt ist.» (Bettina Spoerri, NZZ, 4.12.2013) KINDERFILM-WORKSHOP Im Anschluss an die beiden Vorstellungen von Auf dem Weg zur Schule bietet die Filmwissenschaftlerin Julia Breddermann (www.fifoco.ch) einen Film-Workshop an. Die Kinder erleben eine Entdeckungsreise durch die Welt der Filmsprache und werden an einzelne Szenen und Themen des Films herangeführt. Dauer des Workshops: ca. 1 Stunde. Der Workshop wird gratis angeboten. Keine Voranmeldung nötig.

AUF DEM WEG ZUR SCHULE (Sur le chemin de l’école) / Frankreich / China / Südafrika / Brasilien / Kolumbien 2013 77 Min / Farbe / DCP / D / ab 6/8 // REGIE Pascal Plisson // DREHBUCH Pascal Plisson, Marie-Claire Javoy // KAMERA Pascal Plisson, Simon Watel // MUSIK Laurent Ferlet // SCHNITT Sarah Anderson, Sylvie Lager.


44 EINZELVORSTELLUNG FR, 13. APR | 20.45 UHR

IOIC-SOIREE

DIE REVOLUTION IM STUMMFILM Das IOIC – Institute of Incoherent Cinematography – macht mit neuen und neuartigen Live-Vertonungen die frühe Stummfilmkunst nicht zuletzt auch einem jungen Pub­ likum zugänglich. Thema dieser Saison sind die grossen politischen Revolutionen – hier präsentiert als beissende Satire. Der US-Senator Mr. West reist ins Land der Bolschewiki und findet alle amerikanischen Vorurteile über das kommunistische Russland bestätigt. Um sich vor den Wilden und Banditen zu schützen, hat er vorsichtshalber einen Lasso schwingenden Leibwächter dabei. Von Lew Kuleschow, dem Urvater der sowjetischen Avantgarde in amerikanischem Stil gedreht – der Hauptdarsteller sieht Harold Lloyd zum Verwechseln ähnlich und die parodistischen Anleihen beim Detektivfilm und Western sind offensichtlich –, polemisiert die beissende Satire ­gegen amerikanische Ansichten über die junge Sowjetunion. Aus dieser Perspektive erscheint die russische Revolution in einem ganz neuen Licht. Vertont wird der die Lachmuskeln stark strapazierende Film vom Live-ElektronikDuo Cycle Opérant aus Neuchâtel, das sich seit über zehn Jahren der Vertonung von Stummfilmen widmet. Vertonung: Cycle Opérant

DIE SELTSAMEN ABENTEUER DES MR. WEST IM LANDE DER BOLSCHEWIKI / UdSSR 1924 74 Min / sw / DCP / Stummfilm, russ + e Zw’titel // REGIE Lew

Yann Gautschi (Elektronik) & Romain Ducommnun

Kuleschow // DREHBUCH Nikolai Assejew, Lew Kuleschow //

(Elektronik)

KAMERA UND SCHNITT Alexander Lewitzky // MIT Porfiri

Weitere Informationen zum IOIC: www.ioic.ch

­Podobed (Mr. John S. West), Boris ­Barnet (Jeddy, ein Cowboy), Wsewolod Pudowkin (Shban, der Bandenanführer), Alexandra Chochlowa (die Gräfin), G. ­Charlampijew (Senka Swistsch, Bandenmitglied), Leonid Obolenski (der Geck, Bandenmitglied), Sergej Komarow (der Einäugige, Bandenmitglied), ­Andrej Gochilin (der Polizist), Wera Lopatina (Ellie, die Amerikanerin).


45 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Corinne Siegrist-Oboussier (cs), STV. LEITUNG Michel Bodmer (mb) WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Tanja Hanhart (th), Marius Kuhn (mk), Primo Mazzoni (pm), Laura Walde PRAKTIKUM Alicia Schümperli // SEKRETARIAT Claudia Brändle BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 412 31 25 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Arsenal Distribution, Berlin; Artedis, Paris; Ascot Elite Entertainment Group, Zürich; Camino Filmverleih GmbH, Stuttgart; Cinecittà Luce, Rom; Cinematograph, Innsbruck; ­Cineteca nazionale, Rom; Compass Film, Rom; Fernsehjuwelen GmbH, Walluf; Filmcoopi, Zürich; Great Point Media, London; Impuls Pictures, Steinhausen; Intramovies, Rom; Killer Films, New York; Kinemathek Le Bon Film, Basel; Koch Media, Planegg; Lobster Film, Paris; Motion Picture Licensing Corporation (MPLC), Zürich; Nicolas Pagnol (Compagnie méditerranéenne des films), Boulogne Billancourt; Park Circus, Glasgow; Pathé Films, Zürich; Praesens Film, Zürich; Pyramide Distribution, Paris; SRF Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich; Studiocanal, Berlin; Tamasa Distribution, Paris; TF1, Paris; Titanus, Rom; trigonfilm, Ennetbaden; Viggo Srl, Roma. DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D. Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 6000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : CHF 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: CHF 80.– / U25: CHF 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Jahrhundert-Abo (Fr. 50.–, für alle in Ausbildung): freier Eintritt zu den Filmen der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films» // Abonnement Programmheft: CHF 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU William Friedkin

Agnès Varda

Man kann im Leben zu früh Erfolg haben. Mit

Ihr letzter Film Visages villages steht gegen-

35 drehte William Friedkin den Drogenfahn-

wärtig auf der Shortlist für den Oscar als

der-Krimi The French Connection (1971), der

­Bester Dokumentarfilm – damit ist Agnès

fünf Oscars gewann. Sein nächster Film, The

Varda die älteste je nominierte Filmschaf-

Exorcist (1973), wurde zum Kassenschlager

fende. Die in Brüssel geborene Varda hat in

und zum popkulturellen Phänomen. Dann

mehrfacher Hinsicht bahnbrechend ge-

floppte sein Herzensprojekt Sorcerer, ein

wirkt: für die Nouvelle Vague (Cléo de 5 à 7),

Remake von Clouzots Le salaire de la peur;

für das Filmschaffen von und über Frauen

Hollywood liess Friedkin fallen, und in der

(Sans toit ni loi; L'une chante, l'autre pas) und

Folge machte er kaum noch von sich reden.

für den essayistischen Dokumentarfilm, vor

Manche seiner energiegeladenen und mehr-

dem aktuellen Oscar-Kandidaten etwa mit

deutigen Filme, darunter auch Cruising

Daguerrotypes. Zu ihrem 90. Geburtstag am

(1980) und To Live and Die in L.A. (1985), sind

30. Mai ehren wir sie als eine der künstle-

jedoch erstaunlich gut gealtert und andere –

risch interessantesten Filmregisseurinnen

wie The Birthday Party (1968), Bug (2006) und

(und Produzentinnen) der zweiten Hälfte des

Killer Joe (2011) – harren ihrer Entdeckung.

letzten Jahrhunderts und darüber hinaus.


AB 12. APRIL IM KINO

MOHAMMAD RASOULOF, IRAN

«Ein packender kafkaesker Thriller.» LE FIGA RO


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