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As Time Goes By

Die Magie der filmischen Langzeitbeobachtung

Die Zeit vergeht. Und kaum sichtbar nimmt das Leben seinen Lauf, verändern sich Land- und Gesellschaften. Filmische Langzeitbeobachtungen nähern sich diesem Mysterium des Lebens an, begleiten Alltagsheld:innen über Jahre und Jahrzehnte – und machen die Zeit auf der Leinwand sichtbar. Die Zeitmaschine Filmpodium präsentiert eine Auswahl der spannendsten Langzeitbeobachtungen, lädt zur Begegnung mit ihren Macher:innen und fragt nach Chancen und Herausforderungen dieser filmischen Spielart in einem prominent besetzten Podium.

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«Film hat mich schon immer fasziniert wegen seiner Fähigkeit, Dinge einzufangen», erklärt Sam Klemke am Anfang von Sam Klemke’s Time Machine (2015). Klemke ist ein Filmenthusiast, der in den 1970er-Jahren anfängt, das eigene Leben auf Film festzuhalten: «Film kann alles erfassen, was er sieht, aber vor allem erfasst er: Zeit.» Für Langzeitbeobachtungen ist das eine schöne Definition, denn das Verführerische daran ist letztlich genau das – die Zeit, die dokumentiert wird, die klar erkennbare Veränderung in Vorhernachher-Bildern von Menschen und Landschaften, Orten und Gesellschaften. Darauf versteht sich kaum jemand so gut wie Helena Třeštíková. 1949 geboren, studierte sie auf der Prager Filmhochschule (FAMU) und debütierte 1975 mit dem kurzen Film Miracle über die Kindheitsfreundin Jana, deren Mann Petr und die Geburt ihres Sohnes Honza. Ein Anfang, auch für das Werk von Třeštíková, die diesem Leben 37 Jahre lang mit der Kamera folgen wird. Der Film bewegt sich entlang der Aufzeichnungen, die der Vater über das Aufwachsen des Kindes gemacht hat, und kontrastiert das Familienleben mit Fernsehbildern der politischen Entwicklungen und Verhältnissen in der ČSSR und der Tschechischen Republik vor und nach 1989/90. Private Universe (2012) ist ein so eleganter wie treffender Titel für diese Langzeitbeobachtung, weil er die Grösse von Třeštíkovás ausdauernder Unternehmung beschreibt, die dem Leben so lange mit der Kamera zuschaut, bis etwas Universelles sichtbar wird.

Für Helena Třeštíková ist die Langzeitbeobachtung der Normalfall dokumentarischen Arbeitens. Immer hat die Filmemacherin mehrere Projekte

↑ What will I be? – Boyhood zeitgleich betreut – neben Private Universe etwa die «Ehe-Etüden» Marriage Stories (1987/2006), in denen sie Paare mehr als 20 Jahre lang beim Zusammensein porträtiert (was auch heissen kann: beim Sichtrennen). Eine besondere Arbeit ist der noch vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs begonnene Film über den Strafgefangenen René Plášil: René (2008) rückt eine Figur am Rande der bürgerlichen Gesellschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit, ein Leben, für das sich gemeinhin kaum jemand interessiert. In gewisser Weise «erschafft» Třeštíková den hochintelligenten Kriminellen René sogar erst, wie die Fortsetzung René – The Prisoner of Freedom (2021) belegt. Dort steht am Anfang die mediale Popularität des charismatischen Protagonisten als Buchautor und Talkshow-Gast, die sich dem Film von 2008 verdankt. Die Geschichte handelt also auch von wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Filmemacherin und Protagonist, die Třeštíková transparent macht.

→ Aufwachsen im Visier der Kamera: Das Leben drehen.

↓ Aufbruch in eine ungewisse Zukunft: Über die Jahre.

Der fremde Blick auf das eigene Leben

Die längste Langzeitdokumentation der Filmgeschichte kommt allerdings aus Grossbritannien. Seven Up! hiess der 40-minütige Film, der 1964 im britischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. 20 Kinder im Alter von sieben Jahren, die über sich und ihre Welt Auskunft geben. Obwohl die Dokumentation anfangs gar nicht als Serie gedacht war, veröffentlichte der 2021 verstorbene Michael Apted, bei der ersten Folge noch Assistent, alle sieben Jahre eine neue Folge; das letzte Mal 2019 – 63 Up. Schon beim zweiten Film ist die (vermeintliche) mediale Unschuld des Auftakts verschwunden, wenn die 14-jährigen Teenager kritisch-verschämt auf die Bilder blicken, die sie als Kinder zeigen. So kommentiert sich die Up-Serie auch permanent selbst, ordnen die Protagonist:innen mittels des Blickes des über die Jahre vertrauten Beobachters Apted das eigene Leben. Dem Sog, den die wiederkehrenden Gespräche mit den älter werdenden Protagonist:innen durch die Zeit hindurch entfalten, ihren Gesichtern, in die sich das Leben einschreibt, kann man sich nur schwer entziehen. Wer zuschaut, will wissen, wie es weitergeht. Dabei steht, und das war einst Prämisse des Projekts und davon handelt es die ganze Zeit, im Alter von sieben Jahren schon ziemlich viel fest über den weiteren Lebensweg. Apted hat sein Projekt entlang von Klassengrenzen entworfen, und dieser Kontrast macht den Reiz der Serie aus. Dass etwa die schnöselig-artikulierten Reichenkinder John und Andrew, die im ersten Film schon die «Financial Times» und andere Zeitungen ihrer Väter lesen (oder das zumindest behaupten, ohne rot zu werden), genau in den Oxbridge-Eliteunis landen, von denen sie wissen, dass ihnen der Platz dort zusteht, überrascht nicht. Von den finanziell weniger gut ausgestatteten Familien gelingt nur dem Bauernsohn

Nick der Aufstieg zum Professor in den USA.

Die Up-Serie ist in ihrer Vorfreude aufs Jahr 2000 ein Produkt der Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit. Etwas von diesem Geist findet sich auch am Anfang von Volker Koepps Wittstock-Zyklus (1975–1997). Der erste Film Mädchen in Wittstock beginnt als Reportage über die Arbeit in einer neuen Textilfabrik, die offiziell als Zeichen des DDR-Fortschritts gilt, deren Unzulänglichkeiten aber schon damals beklagt werden (fehlende Fenster!). Koepp ist von den klassischen Langzeitbeobachtern der essayistisch Verspielteste. Die Wittstock-Filme registrieren aufmerksam auch, was im Off der Hauptfiguren passiert, also die Landschaft, deren Geschichte und Veränderung. Der historische Raum, den der Wittstock-Zyklus eröffnet, wird durch das elegante Schwarzweiss der tollen Kameraarbeit (Christian Lehmann, Thomas Plenert) markiert. Schwarzweiss ist hier kein Mangel an Farbe, kein Zeichen von überholter Aufnahmetechnik, sondern macht es möglich, den Blick auf das Wesentliche, auf die Geschichten der Menschen zu konzentrieren. Der politische Umbruch von 1989/90, das Ende der DDR, eröffnet dem Zyklus eine zusätzliche historische Dimension und neuen, brisanten Erzählstoff. Ausgerechnet die tapfere Edith, die immer den Mund aufmacht im Betrieb und die Dinge benennt, die nicht funktionieren, ist die Erste, die 1990 entlassen wird. Ein prekärer Moment, der auch eine Frage aufwirft, der sich alle Langzeitbeobachtungen stellen müssen: Wie umgehen mit den Misserfolgen, den Momenten, in denen das Leben nicht gut aussieht? «Lass mal die Kamera weg», bittet Edith, Koepp reagiert verzögert, markiert den Moment des Unterbrechens aber durch eine kurze Schwarzblende.

Ein Archiv, das die Zeit festhält

Film hält aber nicht nur fest, was da ist, sondern auch, was fehlt: In James Bennings Milwaukee-Porträt One Way Boogie Woogie (1978) zeigt der Filmemacher den Ort der eigenen Kindheit, aufgelöst in 60 feste Einstellungen. Wenn Benning 27 Years Later dieselben Aufnahmen noch mal macht, hat sich die Welt vor der Kamera verändert: Häuser fehlen, Menschen haben graue Haare gekriegt, Fassaden sehen anders aus. Ums Kindsein geht es auch in Richard Linklaters ungewöhnlichem Spielfilmprojekt Boyhood (2014). Die Dreharbeiten haben sich über zwölf Jahre erstreckt, damit auf doppelte Weise vom Coming of Age, der Adoleszenz eines Jungen und seiner Schwester erzählt werden kann. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, also auch die Eltern (Patricia Arquette und Ethan Hawke), altern durch die lange Drehzeit mit. Und das macht das Binge-Watching von Biografien im Laufe ihrer Verfertigung, das Langzeitbeobachtungen gestatten, so attraktiv. Es passiert am Ende zwar immer nur das, was allen passiert – Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Liebe, Scheidung und Verlust. Aber es vollzieht sich vor unseren Augen und geschieht Figuren, die einem im Laufe der Zeit vertraut und nahe sind.

Das Projekt One Way Boogie Woogie / 27 Years Later erinnert derweil daran, dass das Vergehen von Zeit nicht nur einen sentimental-persönlichen Kern hat. Denn was sich in der Transformation des Kindheitsortes vor der

Kamera von James Benning ereignet, ist der Strukturwandel von Gesellschaft, der im Hintergrund privater Leben passiert.

In diesem Fall geht es um den Niedergang einer alten Industrie, beim eingangs erwähnten Sam Klemke um das Aufkommen einer neuen. Das ist zumindest die berührende Pointe von Sam Klemke’s Time Machine, dem Kompilationsfilm, den der Regisseur Matthew Bates aus dem selbst aufgenommenen Material montiert hat. Denn irgendwann entsteht um Klemkes stetiges Dokumentieren des eigenen Lebens – auch wenn es lange Zeit nicht so glorreich verlief wie vielleicht erhofft – mit YouTube ein Kontext, in dem Klemkes ganze Pionierarbeit sinnhaft wird – ein Archiv, in dem Zeit festgehalten ist.

Matthias Dell

Matthias Dell ist Medienjournalist, freier Redaktor und Autor beim Deutschlandradio. Er schreibt u.a. für «Cargo». Im Frühling erscheint sein Buch «Peter Hacks auf der Fenne in Gross Machnow (1974–2003)» im Verlag für Berlin-Brandenburg.

Die Filmreihe ist eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Stadtkino Basel. Herzlichen Dank für die schöne Zusammenarbeit! Ein grosser Dank geht auch an Marian Petraitis für die Unterstützung bei der Konzeption der Reihe.

Für die finanzielle Unterstützung dieser Reihe danken wir:

Franz Rogowski

VOLKER KOEPP: WITTSTOCK

WITTSTOCK I-IV

«Eine der spannendsten Langzeitbeobachtungen der deutschen Filmgeschichte.» (Die Zeit)

«Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass jede deutsche Schulklasse diese Filme sehen sollte. Weil sie erzählen, was die DDR war, wie in ihr gelebt, geliebt und gearbeitet wurde, wie sie funktionierte oder eben nicht.» (Anke Leweke, Die Zeit)

M Dchen In Wittstock

DDR 1975

«Als Volker Koepp 1974 erstmals in der märkischen Kleinstadt Wittstock an der Dosse dreht, findet er eine Aufbruchsituation vor: Der VEB Obertrikotagenbetrieb ‹Ernst Lück› wird vor den Toren der Stadt aufgebaut, 1000 Arbeiterinnen sind hier schon tätig, 3000 sollen es werden.» (absolut Medien)

«Der Auftakt zu dem sich über zwei Jahrzehnte erstreckenden Wittstock-Zyklus, in dem Volker Koepp die Lebensläufe verschiedener Arbeiterinnen im VEB Obertrikotagenwerk ‹Ernst Lück› festgehalten hat. Im ersten Teil fragte Koepp die jungen Frauen nach ihren Erfahrungen mit der Arbeit, interviewte sie zu ihren Erwartungen und Enttäuschungen. Verschmitzt und schüchtern, charmant und impulsiv gaben sie Auskunft über ihre Probleme und Wünsche, wobei der Ernst und die Krisenhaftigkeit der zukünftigen Entwicklungen sich bereits andeuten. Die Heldinnen der späteren Wittstock-Filme – Renate, Edith und Stupsi – sind hier zum ersten Mal zu sehen.» (Angelika Hölger, Programmheft Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin, 2004)

Wieder In Wittstock

DDR 1976

«Ein Jahr nachdem er mit den Dreharbeiten zu seinem Wittstock-Zyklus begonnen hatte, reiste Volker Koepp wieder nach Wittstock. Der leichte Unmut, der sich bereits im ersten Teil angedeutet hatte, ist stärker geworden. Dennoch hoffen die jungen Arbeiterinnen des Textilbetriebs auf baldige Veränderungen.» (Angelika Hölger)

«In das ‹emotionale Zentrum› der Filme rückt Stupsi, eine junge Arbeiterin, die bereitwillig und nicht ohne Koketterie von ihrem Privatleben erzählt: von Kabale und Liebe, von den Jungs, die zu viel saufen und schnell zuschlagen, von dem Traum, einmal, für eine kurze Zeit, wegzugehen aus Wittstock an der Dosse.» (Stefan Reinecke, in: «Die Geschichte eines Lächelns. Die WittstockFilme von Volker Koepp», Berlin 1993)

Wittstock Iii

DDR 1978

«Im dritten Teil (...) steht Edith Rupp im Mittelpunkt, die wieder als Bandleiterin eingesetzt ist. Den Film zeichnet vor allem seine im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Filmen weitaus dichtere Darstellung aus, die die zukünftige Zuspitzung ahnen lässt.» (Angelika Hölger)

LEBEN UND WEBEN (WITTSTOCK IV)

DDR 1981

«Leben und Weben ist vielleicht der deprimierendste Wittstock-Film. Zu Beginn sehen wir Edith die Mutige, die Aktive. Sie hat sich verlobt und ist Obermeisterin geworden. Es gibt Arbeit, aber auch Heimat? Im Lehrlingsheim sind Übernachtungen von Männern verboten, die sozialistische Moral soll gewahrt bleiben, sagt die Leiterin. Immer wieder sieht man lange, kalte Flure; darin manchmal übermütige Mädchen, die, wie trotzig, die Unwirtlichkeit des Ortes missachten. Kleine Fluchten, kleine Wünsche. (...) Der Alltag scheint zermürbend zu sein. Arbeit und Fernsehen, manchmal Kneipe, manchmal Lesen. Am Ende redet Edith von der Rente. Von Glück keine Spur mehr.» (Stefan Reinecke)

MÄDCHEN IN WITTSTOCK

20 Min / sw / 35 mm / D // REGIE Volker Koepp // DREHBUCH

Volker Koepp, Wolfgang Geier, Richard Ritterbusch // KAMERA Michael Zausch // MUSIK Konrad Körner // SCHNITT Barbara Masanetz-Mechelk.

WIEDER IN WITTSTOCK

22 Min / sw / 35 mm / D // REGIE Volker Koepp // DREHBUCH

Volker Koepp, Wolfgang Geier // KAMERA Christian Lehmann // MUSIK Mario Peters // SCHNITT Rita Blach.

WITTSTOCK III

32 Min / sw / 35mm / D // REGIE Volker Koepp // DREHBUCH

Volker Koepp, Wolfgang Geier // KAMERA Christian Lehmann // MUSIK Rainer Böhm // SCHNITT Barbara Masanetz-Mechelk.

LEBEN UND WEBEN (WITTSTOCK IV)

29 Min / sw / 35mm / D // REGIE Volker Koepp // DREHBUCH

Volker Koepp, Wolfgang Geier // KAMERA Christian Lehmann // SCHNITT Barbara Masanetz-Mechelk.

Leben In Wittstock

DDR 1984

«Mit Leben in Wittstock legte Volker Koepp ein 85-minütiges Resümee der vorangegangenen Wittstock-Filme vor, das konzentriert und intensiv die offene wie auch die latente Unzufriedenheit der jungen Frauen einfängt, den Zuschauer ihre

Wehmut spüren lässt und den Blick auf ihre weitgehende Desillusionierung freigibt. Ediths Schweigen, so hat es Elke Schieber treffend ausgedrückt, ‹kommt einem allmählich lauter vor als ihr Murren›. Gerade im Rückblick betrachtet hat Koepp mit diesem Film eine ebenso erhellende wie verstörende Bestandsaufnahme des DDR-Alltags hinterlassen.» (Günter Jordan, Ralf Schenk, in: «Schwarzweiss und Farbe», Berlin 2000)

85 Min / sw / 35 mm / D // REGIE Volker Koepp // DREHBUCH

Volker Koepp, Wolfgang Geier, Annerose Richter // KAMERA Christian Lehmann // MUSIK Rainer Böhm // SCHNITT Lutz Körner.

Neues In Wittstock

Deutschland/Frankreich 1992

«Im sechsten Teil seiner Wittstock-Langzeitdokumentation über drei Textilverarbeiterinnen im brandenburgischen Wittstock an der Dosse zeigt Koepp die nach der Wende bereits früh erkennbaren Veränderungen in der kleinen Gemeinde. Die drei Frauen, die im Fokus der Dokumentation stehen, erfahren auf unterschiedliche Weise, was Haltlosigkeit bedeutet: In mehr als einem Sinne ist diese ‹Wende› ein Ende, ein Abschied: Das Textilkombinat wird abgewickelt und Edith als eine der Ersten entlassen. Sie wird Wittstock verlassen und nach Württemberg übersiedeln. Zunächst hatte

Koepp den Zyklus nach dem fünften Teil beendet, doch nach der Wende und den damit verbundenen Umbrüchen in Ostdeutschland entschied er sich, die Reihe weiterzuführen.» (filmportal.de)

99 Min /sw / DCP / D // DREHBUCH UND REGIE Volker Koepp // KAMERA Christian Lehmann // SCHNITT Angelika Arnold.

WITTSTOCK, WITTSTOCK Deutschland

1996

«Deutschland revisited. (...) Nach der Wende 1989/90 wird die Trikotagenfabrik abgewickelt. Sozialismus, Kapitalismus, Pragmatismus: (Koepps Protagonistinnen) sind zum ersten Mal arbeitslos und müssen sich neu orientieren. Elsbeth gerät ins Karussell der ABM-Jobs und Umschulungsprogramme, Renate arbeitet bald als Zimmermädchen in einem Hotel. Edith, die als junges Mädchen immer in Wittstock bleiben wollte, nimmt einen Job in Süddeutschland an – das Leben verläuft eben nicht in geordneten Bahnen. Eine Langzeitbeobachtung über zwei Jahrzehnte: Brüche in Biografien, Szenen aus einer Kleinstadt und die grossen Umbrüche eines Landes. Deutsche Geschichte und drei starke Frauen – ein schöner Film.» (DOK.fest München, 2006)

117 Min / sw / 35 mm / D // DREHBUCH UND REGIE Volker Koepp //

«Und was macht das Leben?» – Der grosse deutsche Dokumentarist Volker Koepp braucht meist nur wenige Worte, um andere Menschen dazu zu bringen, ihm tiefe Einblicke in ihr Dasein zu gewähren. Wie kaum einem andereren gelingt es ihm, in poetischen Bildern, die persönlichen Schicksale mit der Landschaft zu verweben, vor der sie sich zutragen und historische Linien und Zusammenhänge sichtbar zu machen. Seit über vierzig Jahren portraitiert Koepp so Menschen und Landschaften im Osten Deutschlands und Europas und spürt entlang der politischen Verwerfungslinien des 20. Jahrhunderts Geschichte und Geschichten auf. Manche seiner Filme wie In Sarmatien (2013) oder Seestück (2018) wirken heute vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine fast prophetisch.

Sein siebenteiliger Wittstock-Zyklus (1975–1996), der über zwei Jahrzehnte das Leben dreier Textilarbeiterinnen in der DDR und anschliessend in Deutschland begleitet, ist eine der spannendsten und schönsten Langzeitdokumentationen der deutschen Filmgeschichte. Volker Koepp wurde am 19. Januar mit der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wittstock geehrt. Am 16. Februar ist er zur Eröffnung der Retrospektive As Time Goes By im Filmpodium zu Gast.

Das Gespräch findet anschliessend an die Vorstellung von Wittstock I – IV statt. Moderation: Nicole Reinhard

MICHAEL APTED: UP

SEVEN UP! + SEVEN PLUS SEVEN

«Ein Experiment, wie es in der Filmgeschichte noch keines gegeben hat.»(Roger Ebert)

«Alle sieben Jahre besucht der britische Regisseur Michael Apted eine Gruppe von Menschen, deren Leben er seit ihrer Kindheit begleitet hat. Während er sich mit ihnen darüber unterhält, wie die Dinge laufen, dringen seine Filme zum zentralen Geheimnis des Lebens vor (...): Warum bin ich ich und warum nicht du? Warum bin ich hier und warum nicht dort?» (rogerebert.com)

Ein Einstieg in die Up-Series ist dank Rückblenden in allen Episoden möglich.

SEVEN UP!

GB 1964

Ursprünglich wurde Seven Up! als einmalige Sondersendung des Nachrichtenmagazins «World in Action» 1964 im englischen Fernsehen ausgestrahlt. Kinder aus ganz unterschiedlichen sozialen Verhältnissen erzählen von ihren Hoffnungen und Träumen für die Zukunft. Inspiriert ist die Sendung einerseits von einem jesuitischen Prinzip: «Gib mir ein Kind, bis es sieben ist, ich gebe euch den Menschen.» Andererseits von der Unzufriedenheit über das starre britische Klassensystem. Zusammen mit den späteren Fortsetzungen verfolgt die Serie die Frage, inwieweit das Leben der Kinder durch ihre Herkunft vorbestimmt sei.

Seven Plus Seven

GB 1970

«Eine Gruppe sieben Jahre alter englischer Kinder aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen wird zu den verschiedensten Themen befragt. Michael Apted nimmt dieselbe Gruppe von in Grossbritannien geborenen Menschen nach sieben Jahren wieder auf. Die Protagonist:innen werden zu den Veränderungen befragt, die in den letzten Jahren in ihrem Leben stattgefunden haben.»(Mubi.com)

«Michael Apteds bahnbrechende und fesselnde Filmreihe, die mit Seven Up! als Versuch begann, die langfristigen Auswirkungen sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten unter englischen Schulkindern mit ‹unterschiedlichem Hintergrund› zu dokumentieren, ist viel mehr geworden. (…) Die ambitionierte Zeitraffermethode der Serie, bei der die Probanden in regelmässigen Abständen erneut besucht werden, ermöglicht einen erstaunlich intensiven Blick auf ihr Leben.»

(Janet Maslin, The New York Times, 15.01.1992)

SEVEN UP!

40 Min / sw / Digital HD / E/e // REGIE Paul Almond // KAMERA David Samuelson // SCHNITT Lewis Linzee // MIT Douglas Keay (Erzähler).

SEVEN PLUS SEVEN

52 Min / Farbe + sw / Digital HD / E/e // REGIE Michael Apted // KAMERA Tony Mander // SCHNITT David Naden // MIT Michael Apted (Erzähler).

21 Up Gb 1977

Michael Apted besucht erneut dieselbe Gruppe von Kindern im Alter von 21 Jahren. Einige der jungen Erwachsenen haben ihre Zukunftspläne verwirklicht, andere weichen von ihrem in der Kindheit geäusserten Weg ab.

«Im Verlauf von 21 Up entpuppt sich die bunt zusammengewürfelte Interview-Gruppe selbst als Apteds schärfste Kritiker. Sie stellen den sozialen und den unterhaltenden Wert der Serie auf manchmal auch grausame Weise infrage. (...) Neil Hughes, der Hauptdarsteller von Seven Up!, wird hier zur tragischen Figur. Seine wirtschaftliche Instabilität und seine Enttäuschung über das Leben können in diesem Film und im Rest der Serie als Folge seiner Weigerung interpretiert werden, sich in ein vorgegebenes Klassensystem einzugliedern. Während andere heiraten und Kinder bekommen, ist der gutherzige Neil (…) obdachlos und hat sich mit einem Leben ohne Kinder abgefunden, weil er befürchtet, dass sie seine Einsamkeit erben würden.» (Ed Gonzales, slantmagazine.com, 25.10.2004)

100 Min / Farbe / Digital HD / E/e // DREHBUCH UND REGIE

Michael Apted // KAMERA George Jesse Turner // SCHNITT Andrew Page // MIT Michael Apted (Erzähler).

28 Up

GB 1984

«Was 28 Up eindringlich zeigt, ist, wie schwer es für Menschen sein kann, sich selbst zu mögen, dass jeder eine Geschichte hat und dass Menschen, auch wenn sie nicht so charmante Wesen sind, immer beachtenswert sind. 28 Up ist wie eine Party, auf der man wirklich mit Menschen spricht und etwas über sie erfährt.» (Lawrence O’Toole, Entertainment Weekly, 2.8.1991)

«Je älter die Probanden in Apteds Experiment der Verhaltensevolution werden, desto ernsthafter setzen sie sich mit Themen auseinander, die mit Geld, Politik, Gott, ‹race›, Sex und allem, was dazwischenliegt, im England der ThatcherÄra zu tun haben – alles Begriffe, die Apted seit Seven Plus Seven miteinander verbindet und von denen er glaubt, dass sie ihren Ursprung in der sehr spezifischen Stellung eines jeden im britischen Klassensystem haben.» (Ed Gonzalez, Slant Magazine, 25.10.2004)

136 Min / Farbe / Digital HD / E/e // DREHBUCH UND REGIE

Michael Apted // KAMERA George Jesse Turner // SCHNITT

Kim Horton, Oral Norrie Ottey.

42 Up

GB 1998

«Es ist faszinierend, den Teilnehmern dabei zuzuhören, wie sie über die Serie und ihre eigene Rolle darin nachdenken. Im Laufe der Jahre fühlten sich einige von ihnen falsch dargestellt, sind gekränkt und manchmal auch wütend, obwohl sie ihre Beschwerden in der Regel mit britischer Zurückhaltung vorgebracht haben. Oft äussern sie eine Ambivalenz, die man bei Dokumentarfilmen oder im Reality-TV nur selten findet. Heute erwartet jede und jeder seine 15 Sekunden – nicht diese Seelen. Und doch haben sie trotz aller Vorbehalte ihren Mund, ihr Herz, ihr Zuhause (…) geöffnet.»

(Manohla Dargis, The New York Times, 3.1.2013)

139 Min / Farbe / Digital HD / E/e // DREHBUCH UND REGIE

63 Up

GB 2019

«Wo ist die Zeit hin? Die Kinder, die Apted 1964 zum ersten Mal gefilmt hat, sind jetzt auf dem Weg ins Rentenalter. Das Filmmaterial aus so vielen früheren Jahren vermischt sich nun mit dem neuen – fast fühlt es sich an, als würden wir Geistern beim Spielen in einem Labyrinth zusehen. Temperamentvolle Kinder werden zu schüchternen Teenagern. Schüchterne Teenager werden zu nervösen ‹Twentysomethings›. Aus nervösen ‹Twentysomethings› werden echte Erwachsene, die lernen, sich gegen starke Winde, fliegende Äste und andere Wechselfälle des Lebens zu stemmen.» (Lucy Mangan, The Guardian, 4.6.2019) «Ich hoffe, Sie geniessen den neusten Up-Film. Es ist eine seltsame Erfahrung für mich, da die Filme so sehr mit meinem eigenen Leben verbunden sind. Da ist dieses ‹Familienmitglied›, das ohne Vorwarnung auftaucht und ernsthafte Aufmerksamkeit verlangt und ein ‹Nein, geh weg. Ich bin beschäftigt› nicht akzeptiert. Es weiss natürlich, dass ein ‹Geh weg› für keinen von uns eine Option ist. Das Schicksal hat uns zusammengeführt und nur der Tod wird uns trennen.» (Michael Apted)

Michael Apted ist am 7. Januar 2021 verstorben.

145 Min / Farbe / Digital HD / E/e // DREHBUCH UND REGIE

Michael Apted // KAMERA George Jesse Turner // SCHNITT

Kim Horton.

Helena T E T Kov

RENÉ Tschechien 2008

«20 Jahre eines Lebens, das hauptsächlich in Gefängnissen verbracht wurde. Ein Mann, der immer wieder neu anfängt, scheitert, Schriftsteller wird und die Regisseurin immer wieder herausfordert. Im Jahr 1989 beginnt Helena Třeštíková, den jugendlichen Straftäter René zu filmen. Fast 20 Jahre lang folgt sie dem Rhythmus seines Lebens, das er grösstenteils in Gefängnissen verbringt, nur unterbrochen von kurzen Abschnitten der Freiheit. 20 Jahre, in denen sich epochale gesellschaftliche Umwälzungen vollziehen, Systeme, Regimes und Regierungen wechseln – dargestellt durch Fernsehbilder, die bis in Renés Zelle gelangen.» (DOK Leipzig, 2008)

«Die Bindung zwischen Filmemacherin und Protagonist mag nicht einfach sein – selbst Třeštíková ist vor Renés Diebstahl nicht sicher –, aber sie ist immer das stürmische, schlagende Herz dieses grossartigen Films.» (International Documentary Film Festival Amsterdam, 2018)

83 Min / Farbe / 35 mm / Tsch/e // DREHBUCH UND REGIE

Helena Třeštíková // KAMERA Miroslav Souček, Vlastimil Hamerník, Ondřej Belica // MUSIK Tadeáš Věrčák // SCHNITT Jakub Hejna.

KATKA

Tschechien 2009

«Die Hauptfigur ist ein Junkie namens Katka. Die eindringliche Geschichte ihres 14-jährigen Kampfes gegen die Drogensucht gipfelt im Frühjahr 2007, als die 30-jährige Katka unerwartet schwanger wird und sich der Schwerpunkt des Films auf den verzweifelten Kampf um die Zukunft des Kindes verlagert.» (Karlovy Vary International Film Festival, 2010)

«Třeštiková fängt berührende Momente ein, etwa wenn Katka mit all ihren Kleidern in einen Brunnen springt. In diesen Szenen sehen wir die schöne, gesunde Frau, die hinter dem Schleier der Sucht immer noch existiert – eine Frau, die einen Versuch nach dem anderen unternimmt, um von der Sucht loszukommen, immer mit guter Laune.» (International Documentary Film Festival Amsterdam, 2010)

90 Min / Farbe / 35 mm / Tsch/e // DREHBUCH UND REGIE

Private Universe

(Soukromý vesmír)

Tschechien 2012

«Als Petr 1974 am Tag seiner Hochzeit mit Jana in Prag ein Tagebuch beginnt, weiss er nicht, wie die Welt und wie sein kleines Familienuniversum sich entwickeln werden – und wie sich beides gegenseitig beeinflusst. Als Helena Třeštíková kurz darauf beginnt, Janas Schwangerschaft mit der Kamera zu begleiten, weiss sie nicht, dass daraus 37 Jahre später ihre bisher längste Langzeitdokumentation entstehen sollte (…). Petrs Tagebuchaufzeichnungen bilden das variable Gerüst für dieses stets leichtfüssige Familienporträt. Aus der Tagebuch-Perspektive erscheinen grosse politische Umbrüche zuweilen als Randnotizen, während erste Zähne zu zentralen Ereignissen werden. Im Kleinen wird der Wandel der tschechischen Gesellschaft nachvollzogen, ein Leben zwischen Karel Gott und John Lennon.» (Lars Meyer, DOK Leipzig, 2012)

83 Min / Farbe / DCP / Tsch/e // DREHBUCH UND REGIE Helena Třeštíková // KAMERA Jessica Horváthová, Jan Špáta, Jan

RENÉ – THE PRISONER OF FREEDOM (René –

Vězeň svobody)

Tschechien 2021

«Der tschechische Kriminelle René hat es schwer, auf dem rechten Weg zu bleiben. Er wechselt Jobs genauso wie seine Geliebten und entdeckt, dass ein ehrliches Leben viel schwieriger ist, als hin und wieder etwas zu stehlen. 1989 beginnt die Filmemacherin den damals 18-jährigen Delinquenten mit ihrer Kamera zu begleiten. René –The Prisoner of Freedom setzt mit der Premiere

Ein Abend Mit Helena

ihres ersten Films René ein, der 2008 einen riesigen Medienrummel auslöste. In den folgenden dreizehn Jahren filmte Třeštíková mit mehrmonatigen Unterbrechungen Renés Alltag und seine existenziellen Reflexionen weiter. Sein neu erworbener nationaler Status als ‹liebenswerter Krimineller› hat ihm bisher wenig gebracht, abgesehen von der Aufmerksamkeit seiner weiblichen Fans. Wird er es diesmal schaffen, nicht ins Gefängnis zu kommen? Sein persönliches Motto und Tattoo auf dem Hals ‹Fuck the People› scheint zu verblassen, je älter und freundlicher er wird. René beginnt allmählich, sich in einem bürgerlichen Leben zurechtzufinden – und sogar in der Liebe.» (International Documentary Film Festival Amsterdam, 2021)

102 Min / Farbe / DCP / Tsch/e // DREHBUCH UND REGIE Helena Třeštíková // KAMERA David Cysař // MUSIK Tadeáš Věrčák // SCHNITT Jakub Hejna //

Christian Schocher

DIE KINDER VON FURNA (NEUFASSUNG VON 1997)

Schweiz 1975

«In den siebziger Jahren war mein Jugendfreund Heinz Lüdi Lehrer in Furna, einem kleinen Bergbauerndorf im Prättigau. Dank ihm konnte ich meinen ersten Film realisieren, das Porträt dieses Dorfes und seiner Kinder, die von ihrem Alltag, ihren Wünschen und Träumen erzählen.» (Christian Schocher, swissfilms.ch)

«Nur anderthalb Stunden vom reichen Zürich entfernt stossen wir auf ein Stück ‹Dritte Welt›, das wir vorerst gar nicht irgendwo im fernen Indien suchen müssen. Hier oben gibt es keine millionenschweren Schulhausbauten mit allem technischen Schnickschnack (…). Die Kinder tur- nen an einer verrosteten Reckstange und springen im Nebel auf der Dorfstrasse herum. Freizeitprobleme kennt man da nicht, denn die Kinder müssen nach der Schule in den Stall oder beim Heuen helfen. (…) Der eindrückliche Dokumentarfilm des Bündners Christian Schocher macht ein Stück Realität sichtbar. (...) Die ganze Problematik [der Abwanderung; Anm. d. Red.] wird hier nicht mit schönen, ideologisierenden Sprüchen abgetan.» (Christian Murer, Zoom, 4/75) Wir zeigen die von Christian Schocher leicht gekürzte und mit einer neu bearbeiteten Tonspur versehene Fassung.

Helena Třeštíková ist ganz nah bei ihren Protagonist:innen, bei der Familie von Honza, bei der drogenabhängigen Katka oder beim charismatischen Kriminellen und Buchautor René. Die tschechische Dokumentarfilmerin ist empathische Seismografin persönlicher Schicksale, aber auch genaue Beobachterin politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Bei manch einem Filmprojekt begann die gemeinsame Lebensreise bereits in den 1970er-Jahren und dauerte oft über mehrere Jahrzehnte an. Im Gespräch mit Helena Třeštíková nähert sich Georg Escher, Kulturwissenschaftler und Dozent am Slavischen Seminar der Universität Basel, dem ebenso feinfühligen wie unerbittlichen Werk der Cineastin an und fragt nach ihrer Arbeitsweise, ihrer ethischen Haltung und den Chancen und Herausforderungen von Langzeitbeobachtung.

Das Gespräch findet auf Tschechisch statt und wird ins Deutsche übersetzt. Dauer ca. 70 Minuten.

65 Min / sw / DCP / Dialekt // DREHBUCH, REGIE, KAMERA Christian Schocher.

Jahre Sp Ter

Schweiz 1997

«Was ist aus den Kindern von Furna, ihren Träumen und Wünschen geworden? In Jahre später besucht Christian Schocher zusammen mit seinem Jugendfreund Heinz Lüdi das abgelegene Bergdorf Furna erneut. (…)

[Inzwischen] sind aus den Kindern Erwachsene und selbst wieder Eltern geworden. Der notenverweigernde Lehrer Lüdi ist nun Pfarrer in Freiburg. Luzi, sein aufgewecktester Schüler, hat als Elektromonteur die halbe Welt gesehen. Die zurückhaltende und bescheidene Menga pflegt nun bedürftige Alte. Hans, der sich für Jürg Jenatsch begeisterte und Lokomotivführer werden wollte, hat es als Ingenieur nach Mexiko verschlagen. Ein stilles Mädchen im Hintergrund hat nach Drogen- und Alkoholexzessen auf der Alp ihre innere Ruhe gefunden. (…)

Die eingefrorene Zeit von zwei weit auseinanderliegenden Momenten im Leben eines Dutzends Menschen fasziniert. Sie verweist – über die einzelnen Lebensläufe hinaus – auf den Lauf der Zeit.» (Thomas Schärer, Cinema Nr.44)

70 Min / Farbe + sw / Digital SD / Dialekt // DREHBUCH, REGIE, KAMERA, SCHNITT Christian Schocher // MUSIK Nathan Schocher.

Hoop Dreams

USA 1994

«Der Dokumentarfilmer Steve James (zusammen mit den Produzenten Frederick Marx und Peter Gilbert) feierte einen sensationellen Erfolg mit seinem fesselnden und bewegenden Film Hoop Dreams, (…) einer epischen, dreistündigen Studie über zwei afroamerikanische Jungs aus schwierigen Vierteln in Chicago: Arthur Agee und Wil- liam Gates, deren herzzerreissend offene, intelligente, vertrauensvolle und hoffnungsvolle Gesichter von der Leinwand strahlten. James verarbeitete 250 Stunden Filmmaterial, das er über fünf Jahre hinweg aufgenommen hatte, und zeigte sie beim Aufwachsen im Alter von 14 bis 19 Jahren. Beide waren basketballverrückt und hofften auf ein Basketball-Stipendium für das College und ein vermeintlich besseres Leben danach, vielleicht sogar auf eine Karriere als superreiche und berühmte Basketballstars in der NBA.» (Peter Bradshaw, The Guardian, 25.10.2019)

«Ein Film wie Hoop Dreams ist das, wofür das Kino da ist. Er nimmt uns mit, erschüttert uns und lässt uns auf neue Weise über die Welt um uns herum nachdenken. Er gibt uns den Eindruck, das Leben selbst berührt zu haben.» (Roger Ebert, Chicago Sun Times, 21.10.1994)

ONE WAY BOOGIE WOOGIE / 27 YEARS LATER

USA 2005

«Ein Film über die Erinnerung und das Älterwerden.» (James Benning)

«1977 drehte Benning One Way Boogie Woogie, einen einstündigen Film, der aus 60 einminütigen Plansequenzen industrieller Stadtlandschaften in seiner Heimatstadt Milwaukee besteht. Für 27 Years Later kehrte er an dieselben Schauplätze mit denselben Menschen zurück, um die Veränderungen aufzuzeichnen.» (Mubi.com)

«So entstand ein besonderer Zwillingsfilm, der die Veränderungen an einem Ort aufzeigt. Neben humorvollen Momenten überwiegt die Unausweichlichkeit der schleichenden Zerstörung, die sich Fortschritt nennt. Da Benning den zweiten Film auf anderem, klarerem Filmmaterial drehte, ist der Zeitsprung noch deutlicher spürbar. Ausserdem verwendete er die gleiche Tonspur für beide Filme, ein Verfremdungseffekt, der die verlorene Zeit gleichsam hörbar macht.» (International Film Festival Rotterdam, 2007)

121 Min / Farbe / 16 mm / E // DREHBUCH, REGIE, KAMERA, SCHNITT James

My Reincarnation

Schweiz/Deutschland/Italien 2010

«My Reincarnation ist die Geschichte des tibetischen Meisters Chögyal Namkhai Norbu und seines Sohnes Khyentse Yeshi. Während Namkhai Norbu – einer der letzten grossen reinkarnierten und in Tibet ausgebildeten Rinpoches – seit den 60er-Jahren im italienischen Exil für die Bewahrung der spirituellen Tradition kämpft, weigert sich sein Sohn anfangs hartnäckig, sein Familienerbe anzutreten. Im Westen aufgewachsen, träumt Yeshi von einem normalen Leben, frei von den Pflichten eines Lehrers. Dabei sieht sein Schicksal einen anderen Weg für ihn vor: Bei der Geburt wurde er bereits als Reinkarnation seines Onkels, eines bekannten Dzogchen-Meisters, erkannt.» (Orell Füssli)

Unsicher, ob sie nach Beirut: The Last Home Movie je wieder einen Film machen wollte, reiste die damals 29-jährige Jennifer Fox 1989 als Sekretärin mit ihrem Meister Chögyal Namkhai Norbu umher und war bald so fasziniert von ihm, dass sie ihn und seine Familie mit einer kleinen Videokamera zu filmen begann, noch ohne zu wissen, was sie mit dem Material anstellen wollte. Jahrelang passierte nichts, bis Yeshi von Visionen seines vergangenen Lebens heimgesucht wurde und Jennifer Fox den Film, von dem sie schon damals geträumt hatte, fertigstellen konnte – nicht zuletzt dank Mitteln, die sie via Crowdfunding über das Internet zusammentrommelte.

100 Min / Farbe / Digital HD / E+Sp+I+Tib/d // DREHBUCH

UND REGIE Jennifer Fox // KAMERA Jennifer Fox, Patrick Lindenmaier, Carla Caponi // MUSIK Jan Tilman Schade, Moe Jaksch // SCHNITT Sabine Krayenbühl, Mary Lampson.

BOYHOOD USA 2014

«Boyhood ist über ein Jahrzehnt entstanden. Der kleine Mason wächst gleichzeitig mit seinem Darsteller Ellar Coltrane auf. Aus der fiktiven Langzeitstudie wird ein wahrhaftiger Comingof-Age-Film.

Nichts mit aufwendigem Schminken oder Auswechseln des Casts, um jemanden älter werden zu lassen. Das Filmprojekt hat sich dem Lauf der Zeit angepasst und wurde in Etappen gedreht: Ab 2002 traf sich das Ensemble des amerikanischen Indie-Regisseurs Richard Linklater alljährlich zum Dreh, und seine Veränderungen wurden Teil der Inszenierung. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Mason, der mit seiner anstrengenden Schwester Samantha und seinen geschiedenen Eltern fertigwerden muss. Ethan Hawke spielt den Vater, der selber noch etwas Zeit braucht, um erwachsen zu werden. Genauso stark ist Patricia Arquette in der Rolle der alleinerziehenden Mutter, die an die falschen Männer gerät und nebenbei ihr Studium erledigt.» (Kino Xenix, Januar 2014)

165 Min / Farbe / Digital HD / E/d // DREHBUCH UND REGIE

Richard Linklater // KAMERA Lee Daniel, Shane F. Kelly // SCHNITT Sandra Adair // MIT Ellar Coltrane (Mason Evans), Patricia Arquette (Olivia Evans), Ethan Hawke (Mason Evans Sr.), Lorelei Linklater (Samantha Evans).

SAM KLEMKE’S TIME MACHINE

Australien 2015

«Zu seinem 12. Geburtstag schenkten ihm seine Eltern eine Filmkamera, und Sam Klemke begann sein Leben filmisch zu begleiten. Immer in der Hoffnung, die Zukunft hielte Grosses für ihn bereit und seine Existenz würde eine bedeutsame. Was sich sodann im Verlauf der kommenden Jahrzehnte vollzog, war das alltägliche Scheitern. Unverdrossen und uneitel dokumentiert von einem Mann, der mit seinem Übergewicht kämpft, berufliche Enttäuschungen und persönliche Krisen zu bestehen hat – und der sich doch immer wieder aufs Neue mit dem Umstand arrangiert, dass Plan und Fakt nur äusserst selten in eins fallen. Klemkes überbordendes Lebensarchiv ist die ideale Materialsammlung für den aus Nordengland stammenden, in Australien beheimateten Dokumentarfilmemacher Matthew Bate, der in seinen Werken ‹for meaning in the white noise of pop-culture› sucht.» (Bildrausch Filmfest Basel, 2015)

89 Min / Farbe / DCP / E/d // DREHBUCH UND REGIE Matthew Bate // KAMERA Sam Klemke, Matthew Bate // MUSIK Raynor Pettge, Jonny Elk Walsh // SCHNITT Bryan Mason.

ÜBER DIE JAHRE Österreich 2015

«Im Winter 2004 ist nicht klar, wie lange die alte Textilfabrik im nördlichen Waldviertel noch wirtschaftlich überleben kann. Als die Firma schliesslich doch zusperrt, beginnt für die Arbeiterinnen und Arbeiter eine Zeit des Umbruchs. Die Menschen leben auf dem Land und orientieren sich neu. Andere Arbeit, unbezahlte Beschäftigung, mehr Zeit für Hobbys, für das Engagement bei der Feuerwehr und die Pflege der Angehörigen. Neuanfänge und Veränderungen – das Leben geht weiter.» (filminstitut.at)

«Wenn man sieht, wie hier Stoffwindeln von Hand in Zellophanpapier verpackt werden, dann ahnt man, dass es bald vorbei sein wird. Ausgehend vom Niedergang einer Textilfabrik im österreichischen Waldviertel, die zunächst noch als altertümliche Produktionsstätte im Betrieb gezeigt wird, stellt dieser Film die Frage nach der Bedeutung von Arbeit für das Selbstverständnis und die Persönlichkeit der Menschen. Nach Konkurs und Schliessung der Fabrik begleitet der Filmema- cher einige der Arbeiterinnen und Arbeiter auf ihrem weiteren Weg, befragt sie zu ihrem Tagesablauf, ihren Lebensumständen, der Arbeitssuche oder den neuen Jobs. (…) Was als Dokumentation eines aussterbenden Industriezweigs begann, entwickelt sich so über zehn Jahre hinweg zu einer epischen dokumentarischen Erzählung über Arbeit und Leben im postindustriellen Zeitalter. Es ist ein grosser, ein ergreifender, den Menschen zugewandter Film.» (Berlinale Forum, 2015)

188 Min / Farbe / DCP / D/d // REGIE UND KAMERA, Nikolaus Geyrhalter // DREHBUCH Nikolaus Geyrhalter, Wolfgang Widerhofer // SCHNITT Wolfgang Widerhofer.

Das Leben Drehen

Schweiz 2016

«Als Eva Vitija volljährig wurde, bekam sie von ihrem Vater einen abendfüllenden Film über ihr bisheriges Leben. Er hätte ihr kein schlimmeres Geschenk machen können. Denn der Vater und Filmemacher Joschy Scheidegger dokumentierte seine Familie obsessiv. Und Tochter Eva hatte immer vergeblich versucht, seiner Kamera zu entkommen. Erst sein Tod bewog sie dazu, nicht nur sein riesiges Filmarchiv, sondern auch seine Kamera zu übernehmen. Sie tat, was ihr zuvor im Traum nicht eingefallen wäre: Sie drehte einen Film über das Leben ihres Vaters. (…) Eine liebevolle Familiengeschichte über das Filmen und den Versuch, das Leben festzuhalten.» (Filmcoopi)

«Eva Vitija erzählt sehr ehrlich von ihrer Familie und so überaus geschickt, dass es uns alle etwas angeht.» (SRF)

77 Min / Farbe / DCP / Dialekt/d/f // DREHBUCH UND REGIE

Eva Vitija // KAMERA Stefan Dux // MUSIK Christian GarciaGaucher // SCHNITT Fabian Kaiser, Natascha Cartolaro.

Sam Now Usa 2022

«Die Halbbrüder Sam und Reed haben schon immer zusammen Filme gedreht. Auch damals, als Sam 14 Jahre alt ist und seine Mutter eines Tages, ohne irgendeine Erklärung zu hinterlassen, die Familie verlässt. Während sich Vater, Grossmutter und Tanten jahrelang über das Geschehene ausschweigen und Bruder Jared den Antrieb im Leben verliert, scheint Sam keine Schmerzen davonzutragen. Bis ihm Reed vorschlägt, seine Mutter zu suchen. Was folgt, ist ein Roadtrip durch Washington, Oregon und Kalifornien – der Beginn einer emotionalen Achterbahnfahrt. Anhand von eigenen Super-8-Aufnahmen und Homevideos aus dem reichhaltigen Familienarchiv erzählt Filmemacher Reed Harkness mit feinem Humor von den Wunden der Trennung und der Kraft der Versöhnung.» (Zurich Film Festival, 2022)

86 Min / Farbe / DCP / E/d // DREHBUCH, REGIE, KAMERA Reed Harkness // MUSIK Roger Neill // SCHNITT Darren Lund, Jason Reid.

DES LANGZEITDOKUMENTARFILMS

Langzeitdokumentarfilme faszinieren: Als Bild- und Tonspeicher langer Zeitverläufe sind sie gesättigt mit historischen Spuren und lassen im kleinen und im grossen Massstab Geschichte vor unseren Augen entstehen. Zugleich bieten sie Einblicke in Biografien mit ihren unabsehbaren Hochs und Tiefs und verhandeln die Grenze zwischen Privateben und Öffentlichkeit. Oft sind sie Resultate langer und auch intensiver Beziehungen zwischen Filmemacher:innen und gefilmten Subjekten und werfen nicht zuletzt ethische Fragen danach auf, wie das gelebte und das gefilmte Leben aufeinander einwirken und an welchen Punkten das Private gegen die Öffentliche geschützt werden sollte.

Monika Dommann (Historikerin, UZH), Bert Rebhandl (Filmkritiker, CARGO, FAZ u. a.) und Nikola Biller-Andorno (UZH, Mitglied der Ethik-Gruppe der EU) diskutieren über Chancen, Risiken und Nebenwirkungen des Langzeitdokumentarfilms. Moderation: Volker Pantenburg (Filmwissenschaft, UZH). Dauer: ca. 90 Minuten.

Eine Kooperation zwischen dem Filmpodium, dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und der Datenschutzbeauftragten des Kantons Zürich.

Mit einem besonderen Abend wollen wir den im letzten Herbst verstorbenen Drehbuchautor Michael Sauter ehren.

Der Filmautor Michael Sauter (1973–2022) hat sich mit seinen zahlreichen Drehbüchern einen festen Platz in der Schweizer Filmszene erarbeitet. Bekannt geworden ist er unter anderem durch seine Mitarbeit an der Vorlage für Sennentuntschi, die von Michael Steiner verfilmt wurde. Sauter hat aber auch für zahlreiche andere Filme Drehbücher verfasst, darunter Grounding, Strähl und Mein Name ist Eugen. Sauters assoziative Denk- und Schreibweise, die ihre Inspiration auch in der Musik und der Literatur fand, hat ihn zu einem der herausragenden Schweizer Filmautoren gemacht.

18.15 Uhr: Der Abend beginnt mit dem Schweizer Blockbuster Sennentuntschi – live kommentiert von Sauters langjährigem Kreativ-Partner Michael Steiner!

20.45 Uhr: Anschliessend stellen wir das Buchprojekt «Schaurige Schweiz» vor, das Michael Sauter mit seiner Partnerin Janine Lichtensteiger entwickelt hat und das die Lust an der düsteren Seite des Schweizer Storytellings zelebriert: von Mary Shelley zu H. R. Giger, von Sagen aus dem Calancatal bis zu den Riffs von Celtic Frost. Elisabeth Bronfen (Professorin für Amerikanistik), Philipp Theisohn (Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft) und Matthias Uhlmann (Filmwissenschaftler) kommentieren und kontextualisieren Sauters Erzählwelten in diesem inspirierenden Spannungsfeld. Moderation: Wanda Wylowa. Eintritt kostenlos.

Zum Ausklang stossen wir bei einem Apéro auf Michael Sauters sprühende Fantasie an.

Ein Abend konzipiert von Maison du Futur (Samuel Schwarz, Wanda Wylowa), Filmpodium und Janine Lichtensteiger. Mit der Unterstützung des ARF.

Sennentuntschi

Schweiz/Österreich 2010

122 Min / Farbe / 35 mm / Dialekt + F/d // REGIE Michael Steiner // DREHBUCH Michael Sauter, Michael Steiner, Stephanie Japp // KAMERA Pascal Walder // MUSIK Adrian Frutiger // SCHNITT Ueli Christen // MIT Roxane Mesquida (Sennentuntschi), Andrea Zogg (Erwin), Carlos Leal (Martin), Joel Basman (Albert), Nicholas Ofczarek (Sebastian Reusch), Hanspeter Müller-Drossaart (Notter), Ueli Jäggi (Pfarrer Salis), Peter Jecklin (Dr. Zingg), Daniel Rohr (Bauer Stähli).

Die Schweizer Alpen 1975 – in einem abgelegenen Bergdorf wird eines Tages eine verwahrloste junge Frau aufgegriffen. Die Dorfpolizei tappt bei der Ermittlung ihrer Identität im Dunkeln. Allmählich verdichten sich jedoch die Hinweise, dass die Frau von der Höhenalp zu kommen scheint. Dort, so sagt ein Gerücht, kennen Sennen merkwürdige Rituale gegen die Einsamkeit. Bald überrollt eine Lawine aus Lust, Wahnsinn, Dämonenglauben und Mord die scheinbare Idylle.