Fazit 107

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Essay von Rainer Hank

Solidaritätsverbot M

itten in einer Nacht des Jahres 1876 bekommt Seth Bullock, der Sheriff von Lewis and Clark County in Montana, Besuch von einem Mob aufgebrachter Bürger. Sie fordern die Auslieferung des bereits abgeurteilten Pferdediebs Clell Watson, der im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet. Es entwickelt sich ein Streit darum, wer den Delinquenten exekutieren darf: Der Mob sinnt auf Lynchjustiz; der Sheriff auf Staatsvollzug. Von zornigen Männern umzingelt, vollzieht Bullock kurzerhand die Strafe an Ort und Stelle: Er legt dem Kriminellen eine Schlinge um den Hals und lässt ihn auf einen Schemel steigen, den er selbst wegtritt. Den Mob kann Bullock nur mit einem Gewehr in Schach halten – den Rechtsstaat aber hat er gerettet.

Zur Theorie nationalstaatlicher Souveränität in Europa

Die Geschichte von Seth Bullock ist die Urszene der Souveränität. Der Philosoph Daniel Loick hat sie jüngst nacherzählt in seiner herausragenden Studie zur Kritik der Souveränität.1 Dem Pferdedieb ist ziemlich egal, wer ihn zur Strecke bringt; dem Rechtsstaat aber kann das nicht egal sein. Er und nur er verfügt über das Gewaltmonopol, dessen Kernbereich die Polizei- und Militärgewalt darstellt, das aber zum Beispiel auch das Recht, Steuern einzutreiben (eine Art Zwangsenteignung) umfasst. Nur der Staatsgewalt (einerlei ob durch Gott, Geburt oder das Volk legitimiert) billigen wir dieses Recht zu. Staatssouveränität ist der Preis, den wir zahlen zur Vermeidung des permanenten Bürgerkriegs (Mob!).

Damit bekommt die Idee der Souveränität von Anfang an etwas Ironisches, wie Daniel Loick bemerkt. So wie ein Reisender, der wegen seiner Flugangst ein Schiff besteigt und ausgerechnet mit diesem Schiff untergeht, so ist es auch eine Ironie der Souveränität, dass Gewalt nur vermieden werden kann durch die höchste denkbare verfassungsrechtliche Legitimation der Gewalt: might is right. Aber nur für den souveränen Staat. Nicht wer im Besitz der Wahrheit ist, sondern wer die Macht hat, bestimmt die Gesetze und die Verfassung: auctoritas, non veritas, facit legem. Seit Rousseau ist dieser Dezisionismus rückgebunden an den Willen des Volkes: In der Ausübung der Souveränität regiert das Volk sich selbst. Die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber der Staatsgewalt ist somit nicht nur der nackten Autorität des Souveräns geschuldet, sondern quasi moralische Selbst- und Gewissensverpflichtung des Volkes. Aus der absolutistischen wird demokratisch kontrollierte Souveränität, die strikt an das Territorialitätsprinzip gebunden und durch die Teilung der Gewalten als rechtsstaatliches Verfahren legitimiert ist. Nutznießer, Entscheidungsträger und Finanziers (Steuerzahler) innerhalb eines Gemeinwesens sollen deckungsgleich sein. Das gibt dem Dezisionismus von Macht, Souveränität und Hegemonie seine demokratische Legitimation. Etwas Besseres ist der Rechtsgeschichte bis heute nicht eingefallen. Seit Beginn der europäischen Einigung wurde die nationalstaatliche Souveränität vielfältig aufgeweicht. Es blieb freilich zunächst alle Delegation der Macht an transnational-europäische Institutionen rückgekoppelt an eine nationale

Foto: Wonge Bergmann

Während im Mittelalter ein polykratischer Wettbewerb der Herrschaftsausübung mit konkurrierenden Unterwerfungsansprüchen gang und gäbe war – man denke an den Investiturstreit -, entsteht in der Neuzeit die Idee der Souveränität. Ihr Erfinder ist Ende des 16. Jahrhunderts der französische Staatstheoretiker Jean Bodin. Seine bis heute gültige Definition in den Six Livres de la Republique heißt: »Unter der Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen.« In seinem Leviathan (1651) hat Thomas Hobbes daraus abgeleitet, dass der Staat, um den Krieg aller gegen alle zu beenden, für sich absolute Macht beanspruchen muss, der Bürger aber auf Macht verzichtet unter der Voraussetzung, dass seine Mitbürger auch dazu bereit sind. Der (National)Staat schützt die Rechts- und Wettbewerbsordnung und duldet zugleich keinen Wettbewerber neben sich. Er und kein Zweiter soll das Monopol ausüben dürfen.

Dr. Rainer Hank, geboren 1953, hat in Tübingen und Freiburg Literaturwissenschaft, Philosophie und Katholische Theologie studiert und wurde 1983 über die Literatur der Wiener Moderne promoviert. Er arbeitete beim katholischen Cusanuswerk in Bonn und war freier Mitarbeiter bei der »SZ«. Von 1988 bis 1997 war er Mitglied der Wirtschaftsredaktion der »FAZ«. Von 1999 bis 2001 beim Tagesspiegel, kehrte er 2001 zurück nach Frankfurt, um die »FAS« mitaufzubauen. Fazit November 2014 /// 49


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