Stephan Turowski:»Glückwunsch zur Wunde«

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Stephan Turowski

Stephan Turowski

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Gedichte


H€T Francesca Bravi


Oft bin ich mir kaum bewußt, Und die helle Freude zücket Durch die Schwere, so mich drücket Wonniglich in meiner Brust.

Eduard Mörike Verborgenheit


Was uns meint

Nein, es ist gar nicht schlecht hier, an der Ecke ein Supermarkt und das Meer pocht an die Tür, selbst der Gerichtsvollzieher ist nett, fragt, ob man leben könne von Gedichten, klopft dreimal auf die Tischplatte. Du siehst, es geht mir recht gut, ich habe viele Freunde verloren, seit ich hier bin, das Telephon klingelt, aber ich bleibe am Fenster und schaue den Schiffen zu, wie sie untergehen, auftauchen von einem Blick zum nächsten, es ist mir eine unermeßliche Freude zu glauben, das liegt an mir. Ich habe so wenig geschrieben in letzter Zeit, verzeih, außer Wo ich bin und ähnliches, nichts aber, was uns meint.


Zu anderer Zeit

Die Distanzen

Schau, wir haben Meerblick und frühstücken auf dem Balkon, doch wir reden über die Nebenkosten, das Abwaschen, das Staubsaugen und was sich alles ändern muß in unserer Beziehung, die keine ist, wie wir sie uns vorgestellt hatten,

Ich habe jetzt ein Fahrrad, aber ich komme nicht voran,

die schöner wird von Tag zu Tag. Gestern erst, beim Essen, das Gespräch über unsere Zukunft, als wir anstießen auf alles, was noch kommt, den Urlaub, die Kinder, das Geld, da hätten wir es doch auf der Stelle bemerken müssen, da war es uns doch anzusehen, am leichten Zittern deines Kinns, am Zucken meiner Lider, daß wir kurz davor sind aufzubrechen in etwas, das sich anfühlt wie Abgrund, in Wahrheit aber das große Glück ist, das uns auseinanderreißt, zu anderer Zeit uns wieder zusammenfügt zu dem, was wir vorhatten zu sein.

die Straßen gehen bergauf, auch wenn ich bergab fahre, und die Distanzen nehmen zu. Will ich bloß mal zum Bäcker, brauche ich einen Tag lang, um mich davon zu erholen, auch zum Telephon schaffe ich es kaum noch, obwohl es neben mir

auf dem Nachttisch steht, meist habe ich den Kopf unterm Kissen, wenn du gerade anrufst oder schlafe mit einer anderen, meist beides zugleich. Auch die Musik ist mir fremd geworden, mir reicht das Glucksen in den Heizungsrohren, schon tanze ich über den Rand des Lattenrosts in die Natur und wieder zurück in die Falle. Ich komme nicht voran, wie du siehst, auf meinem Abweg.



Inhalt

Was uns meint Zu anderer Zeit Die Distanzen Wo ich bin In der Natur Der Schrei Ein Fremder Über Nacht Auf unserem Weg Von hier aus Ins Glück

7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18

Auf Grund Die Lügen Die Fesseln Ins Feuer Wer du bist Leichter Das Entzücken Der Tanz Die Entscheidung Von vorn Nicht leben

22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Die Geburt An guten Tagen Das Kind Unser Haus Der Mantel Der Hof Die Hand

Das Maß Es ist Zeit Die Lektion In die Seele In die Nacht Die Maske Nach draußen Die Suche

46 48 49 50 51 52 53 54

36 37 38 39 40 41 42


Der Autor

Stephan Turowski, 1972 in Bremen geboren, aufgewachsen in der Nähe von Hannover und im Schwarzwald, lebt und arbeitet in Kiel. Nach Studienjahren in Tübingen arbeitete er lange als Musikkritiker für regionale und überregionale Medien. 2005 wurde ihm ein Stipendium der Kunststiftung Baden­Württemberg zugesprochen. 2006 erschien sein erster Gedichtband Und jetzt bist du nackt in der edition AZUR.


Stephan Turowski

Und jetzt bist du nackt Gedichte

Das Debüt! Mit einem Nachwort von Uwe Kolbe ISBN: 3-931743-00-4 (= Blaue Reihe, Bd. 3) 64 S., Klappenbroschur, 12,00 EUR

In der Liebe ist es wichtig, über den eigenen Schatten zu sprin­ gen. Jeder kennt die Momente nach den großen Intimi­täten, wenn man aus dem Raum tritt und in den Spiegel schaut, um sich zu vergewissern, daß man noch da ist. Doch Vorsicht – die Rollen könnten vertauscht worden sein, ­ während man sich nur einmal umgedreht hat. Turowskis Gedichte sind anspielungsreiche Elegien, die bei aller echten Trauer das Lächeln über die absurde Komödie durchscheinen lassen, die wir noch im Schmerz mit uns ­selber spielen – und über die Freude, die uns das bereitet.

Aus dem Nachwort von Uwe Kolbe »Was uns hier physisch auf den Hals rückt und den Kehl­ kopf stimuliert, sind Szenerien wie in Becketts Prosa und auf Bacons Gemälden. Daher scheinen insbesondere die Raum­ installationen zu stammen, die in den Gedichten aufgestellt­ sind […]. Typisch sind die verrutschten Abschiede und Liebes­ erklärungen. Typisch ist die Lakonie.«


Erstausgabe © edition AZUR, Dresden 2010 www.edition-azur.de Gestaltung: Kraft plus Wiechmann, Berlin | www.kplusw.de Photogramm: Glenn Vincent Kraft Autorenporträt: Francesca Bravi Druck: Ruksaldruck GmbH & Co. KG, Berlin ISBN: 978-3-942375-02-3


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