Max Sessner: Das Wasser von gestern. Gedichte

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Max Sessner

Gedichte



Das Wasser von gestern


Max Sessner erzählt in Das Wasser von gestern von unserer schrecklich schönen Vergänglichkeit. Im zeitlosen Raum s­ einer Gedichte leben Menschen, Geister und Hunde einträchtig­ nebeneinander. Gesichter beginnen zu leuchten und Gegenstände zu leben: »ein bisschen makaber / aber auch ein bisschen schön«. Das Glück ist scheu und hat e­ inen aufblitzenden Goldzahn. Alles ist plötzlich möglich: dass e­ iner den anderen für eine Weile behaust, dass die Seele den schlafenden Körper für einen Streifzug verlässt – diesen im schönsten Sinne einfachen Gedichten ist nichts zu kompliziert. Sessner zündet die magischen »Öfen der Wörter« an, von deren Wärme und rätselhaftem Knistern man nie wieder loskommt.


Max Sessner

Gedichte



Für Daniela



Geister

Weil wir es neulich über Geister hatten und was wir wohl für welche wären käme es jemals dazu dachte ich heute lange darüber nach nicht vorstellen kann ich mir einer von der üblen Sorte zu sein der an die Betten tritt mit einem Gesicht aus Asche und in die Träume der Leute Gerüchte streut wüstes Zeug das sie erwachen lässt ratlos und in sich hineinhorchend wie in einen dunklen Wald so einer niemals aber einer der zufällig vorbeikommt ein paar Flaschen Bier in der Tüte und sich’s schon mal in der Küche bequem macht lange vor Mitternacht ganz entspannt die Sache angeht und von dem nichts weiter zurückbleibt als ein leichter Bierdunst in den Zimmern wenn er gegen Morgen verschwindet so einer wäre nicht der schlechteste und würfe er die Tür auch noch so heftig ins Schloss

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She ’s Always Dancing für Christian Futscher 8

Das Mädchen das immerzu tanzen will steckt wie ich vermute in der Haut meiner Nachbarin vom Haus gegenüber dreimal am Tag Sommer wie Winter verlässt sie das Haus geht mit graziösen Schrittchen die Füße in Hauspantoffeln zu ihrem Kleinwagen der in der Hofeinfahrt parkt umrundet ihn mehrmals bleibt schließlich stehen und starrt auf die Straße hinaus wie in etwas Dunkles Applaus flüstert’s im Dunklen und ein Raunen liegt in der Luft das ist ein bisschen makaber aber auch ein bisschen schön wenn man zufällig am Fenster steht streicht man sich unwillkürlich die Haare glatt


Kastanien

Nicht schon wieder September wie immer bücke ich mich nach der ersten Kastanie die auf meinem Weg liegt sie trägt das Gesicht eines Politikers der aus einem fahrenden Auto winkt besser gleich in die Tasche damit und tief atmen dass der Herbst auch meine Lungen färben kann und der Arzt zufrieden ist nächstes Jahr lasse ich sie liegen wer weiß welches Gesicht mir entgeht ein jahrhundertealtes das eigene vielleicht das am Fenster hinter Gardinen hervorsieht und lächelt

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Send in the clowns

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Schick die Clowns ins Zimmer damit die Möbel kichern die welken Blumen blühen und unsere Alten wieder zu Verstand kommen ein Tänzchen wagen oder zwei mein Vater ist deine Mutter und umgekehrt wie sie ihre Füße setzen auf das Himmelblau des Teppichs oh wie schön rufen die Clowns und ziehen sich leise zurück schließen sacht die Tür sie haben getan was sie konnten die beiden drehen sich noch immer knistern wie Schallplatten legen Wange an Wange schreiben sich Briefe berühren sich sanft mit den Zehen schreiben sich Karten aus stillen Häusern am Meer


Alter Mann mit Wolken

Lass mich in deinem schäbigen Körper wohnen ein paar Tage nicht lange so kann ich mir ein Bild machen von dem was kommen wird inzwischen darfst du bei mir einziehen aber mach‘s dir nicht allzu bequem und halte bitte eine gewisse Ordnung so dass ich mich später wieder zurechtfinde Licht in die Sache wirst du ohnehin nicht bringen und meine guten und schlechten Gedanken fließen allenfalls träge an dir vorüber Gelassenheit und Zweifel sind alles was ich dir bieten kann und auch das nur in Maßen und umgekehrt wird es vielleicht ebenso sein nur dass es ein bisschen stiller und diffuser ist bei dir dann bin ich auch schon wieder weg und deine Freunde beim Kartenspiel werden nie erfahren dass nicht du es warst der oft vergaß das Blatt zu spielen um plötzlich ein Gespräch zum Beispiel über Wolken zu beginnen

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Vom Winken

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Der Nachruhm ach ja vielleicht erinnern Kinder sich an mich die mir winkten als ich mit dem Motorrad an ihnen vorbeifuhr und ich winkte zurück und dieses Winken bekommt seinen Platz in der Anthologie der schnell verblassten Dinge wie Vogelflug oder eilige Küsse dort bin ich bereits öfter vertreten man lobt meinen Stil ganz nebenbei Hunde zu streicheln während ich durch die Straßen gehe es ist so einfach sage ich dann nur ein wenig Talent der Rest ist Übung nimm ein Stückchen Papier unbeschrieben trag es mit dir herum irgendwann wirst du es wissen wie flüchtig wir sind wie die Finger im Fell eines Hundes



Inhalt

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Geister She ’s Always Dancing Kastanien Send in the clowns Alter Mann mit Wolken Vom Winken Bildnis einer alten Dame auf einer Parkbank sitzend Gospel Träume Tisch Schatten Schiffe Beim Verlassen des Cafés Sommer mit Lassie Die Zuge nachts Eine Landschaft Dort Das Haus am Bahndamm Drei Männer Der Goldzahn Puppen So ist es nicht Geburtstage Jacketts Herz Interieur mit brieflesender Frau Tage Rosenmontag Eine Amsel September


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Schnee fällt Schwimmen Paar am Abend Leere Taschen When I paint my Masterpiece Allmählich Krank Durchzug Ballade Wolken Mit Gedichten Matrosen Älteres Ehepaar Gluck Halbfertige Zeichnung A Bigger Splash Francis Bacon Daheim Alles schläft Dufte Spaziergang Die Mittagsstunde Sommerabend bei Arles Das Wasser von gestern Die Nachtigall Insekten und Inschriften Dichter Ein Lied Fieber Zuletzt

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Max Sessner, 1959 in Fürth geboren, lebt seit 20 Jahren in Augsburg und ist Mitarbeiter der Stadtbücherei. Nach ­Küchen und Züge (2005) und Warum gerade heute (2012; beide bei Droschl), ist Das Wasser von gestern der erste Band in der edition AZUR.

Erstausgabe © edition AZUR, Dresden 2019 www.edition-azur.de Gestaltung: Kraft plus Wiechmann, Berlin ISBN: 978-3-942375-39-9


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