Leseprobe: Peter Neumann: Areale & Tage

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peter neumann 

Gedichte



oft habe ich mich gefragt, wie wohl eine topographie der zeit aussehen würde. denn die jahreszahl auf dem kalender, was besagt sie schon. es gibt viele ungleichzeitigkeiten in ­unserer welt. warum immer nur isothermen und isobaren? viel interessanter wäre es, linien zu finden, an denen sich ablesen ließe, welche zeitzonen wir durchwandern, wenn wir reisen … linien, die die risse und verwerfungen der geschichte zeigten … man könnte sie isochronen nennen.

h.

m. enzensberger, »ach europa!«



I tief wurzeln in der timeline die bäume



tief wurzeln in der timeline die bäume

bild könnte enthalten: himmel, berg, ozean, im freien, natur und wasser.

du wartest auf den bruch, aber er kommt nicht als hätten die bäume zu lange auf dem dachboden gestanden die tagesform des internets, trockengefallen. deiche, wehre, vermuschelte kanäle, ein echter herrndorf-himmel ist das: eine baumreihe, die ihren schatten bis zur unkenntlichkeit in die länge zieht. strohballen liegen gekastet, halbe pausen, eine landschaft die bloß modell steht, ohne menschen, berge, bonsai. milane legen sich in die luft, wir gleiten vorüber spülfelder, die uns beschützen vor den blicken die es nicht gibt, und nur die regionalbahnen wissen von den dörfern, den lichtern, dass es sie gibt. für daniel bayerstorfer

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blue screen

großmutter trug eine kittelschürze, die legte sie morgens um und abends ab, da waren taschentücher, bonbons, wäscheklammern, die tasche der kittelschürze war der intimste ort, vielleicht der einzige, der sie im ganzen umschloss. was ist das gegenteil von stadt: nicht land, nicht dorf, provinz schon gar nicht. das gegenteil von stadt ist: du weißt nicht, was es heißt, so zu leben. programmierer müsste man sein, wie wäre dieses tal sonst entstanden, hier tragen die berge sehr viele tannen, wie eine fehlermeldung multipliziert sich auf den breiten wegen das licht.

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es ist noch immer alles gut gegangen

als ich ihn sah, war ich schon draufgetreten im zwischenraum, kopfsteinpflaster, ein kleiner spatz, kein widerstand, nicht mal ein leises knacken im genick, nur angedetschtes tierchen, das nun vor mir lag, ein lauter aufschrei, ringsum gäste vorwurfsvoller blick, was hatte ich getan, ich wusste es ja selber nicht, ich stand bloß da, der kellner kam und sah mich an, wie mich noch niemand angesehen hat bevor er mich mit einer handbewegung delegierte abwinkte, fortschickte, den vogel in seine obhut, zwischen die hände nahm, als ob noch immer alles gut gegangen wäre, vermutlich an den tischen vorbei in die küche trug, pane e pasta, zu den abfällen

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ich komme stets mit dem zug. immer am abend. die zugbegleiter rßhren sich, durchmessen den raum, unsicher, der fliehkraft zu vertrauen, ihrer eigenen trägheit. seit der zug vom sßdkreuz abgefahren ist,


nuckle ich an einem bier, ­geflohen, um meine ruhe vor den wenigen im abteil zu ­haben. aus dem bord­ restaurant hat man einen herrlichen blick über das land: großformatige fenster, eine wiese, ein baum.


tief im stein

möwenkacke, au verflucht. eine löchrige spundwand, die stimme, eingedämmt, abgemerkt, um die trümmerinsel schlingt sich das kabel. boote, plattformen, gebäuderuinen. ölverschmiert in vielen farben. also auf der trümmerinsel steht kein haus mehr, dort stand mal ein haus, fußwärts einer mächtigen kiefer. sprengkabel bis zum oberbach. tief im stein abgeformt eine strecke für panzer, planierraupen, spähwagen. sensibles material, schwierig zu verbinden. da waren die hohen zäune, das rasseln der ketten. röhricht und ried. wie viele wodkaflaschen passen in eine kanone. ins wasser, um ihre dichte zu prüfen. saubere buchten, teufel auch. für die verteidigung, hat man uns gesagt. tote oma: die werkskantine, fünf nach neun.

wie nun selbigen abend und nacht mehr tyllische soldaten anmarschirten, sich in das stargardische bruch quartireten, und auf die königschen schossen, konnten sie doch nichts an ihnen haben, sich auch im stargardischen bruch weges des vielen morasches nicht halten, graben und schantzen war an dem ort unmöglich, wegen des quebbes und morichten grundes, welches alsbald ein spaden tieff gegraben, angesicht voller wasser war. erschröckliche eroberung und blutige zerstörung der stadt new brandenburg, 1631

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I tief wurzeln in der timeline die bäume tief wurzeln in der timeline die bäume blue screen es ist noch immer alles gut gegangen tief im stein »wir werder« erratischer block kaffee weiß wo wir uns finden ein haus, wer immer hier aufzug

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II abends leuchten die strümpfe vom grund I

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III diese seebrücke führt nicht übers meer magnetische atlanten birkengrün speicher parade diese seebrücke führt nicht übers meer so schön sieht dein ungemachtes bett aus, wenn ich nicht drin liege à la polonaise der pass da nich für skying

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IV alle uhren gehen sehr earthporn was von den blättern abtropft, verluste dunkles laub, blödes gezweig zurück in einem haus schnitt das war’s, glaube ich komm, leg dich an meine halsschlagader beim verlassen einer abknickenden vorfahrtstraße in gerader richtung die bestimmung der bäume spüle zeit & schläfe deutsche vita siehssudas alle uhren gehen sehr

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Peter Neumann, geboren 1987 in Neubrandenburg, lebt als freier Schriftsteller in Weimar und lehrt Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Frühjahr 2018 erhielt er das Thüringer Literaturstipendium ­Harald Gerlach, 2017 ein Autorenstipendium des Literatur­hauses Rostock, 2012 ein Arbeitsstipendium des Freistaates­­Thüringen. Er ist ­Mitorganisator der unabhängigen Lese­reihe In guter Nachbarschaft. Der Gedichtband areale & tage ist sein zweiter­Band in der edition AZUR, Dresden. Das Debüt ­geheuer erschien im Frühjahr 2014 ebenda.

Erstausgabe © edition AZUR, Dresden 2018 www.edition-azur.de Gestaltung/Satz: Frauke Wiechmann Kraft plus Wiechmann, Berlin ISBN: 978-3-942375-32-0


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