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Nichts ohne ‚das Andere‘

Spirale der Gewalt

t Die Situation minderjähriger Geflüchteter und Ghettoisierung auf den Komoren im indischen Ozean – diese Themen werden selten poetisch verhandelt. Natacha Appanah jedoch gelingt dies ausgezeichnet. Ihr Roman Das grüne Auge spielt auf der Insel Mayotte, dem 101. Französischen Département, und ist eine gnadenlose, aber doch feinsinnige Abrechnung mit dem internationalen Hilfsbusiness und Rassismus.

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In einem kraftvollen, lyrischen Auftakt erzählt Appanah von einem Frankreich, das weit entfernt liegt von Kontinentaleuropa. Es ist die Geschichte von Marie, einer französischen Krankenschwester, der eine minderjährige Migrantin von einer benachbarten Insel (also nicht Frankreich!) ein Baby mit einem grünen und einem schwarzen Auge in die Hand drückt. Marie nennt ihn Moïse. Sein »zweifarbiger Blick« erinnert sie an das Grün des Mangobaumes, andere erkennen darin ein Unglück bringendes »Baby vom Dschinn«.

Das Leben von Marie und Moïse scheint so lange perfekt, bis Marie plötzlich stirbt und Moïse, das dunkelhäutige Kind einer weißen Mutter, in der Hoffnung, sich nicht mehr fremd zu fühlen im eigenen Leben der Straßengang von »Gaza« anschließt. »Gaza« – so nennen die Einheimischen Kaweni, das Elendsviertel von Mamoudzou, der Hauptstadt von Mayotte. »Gaza« ist das Brennglas, an dem sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme entzünden. Anführer der Gang der Illegalisierten ist Bruce. Seine unbändige Wut richtet der »Chef von Gaza« auf alle, die sich ihm nicht unterordnen wollen – letztendlich auch auf Moïse, der fortan »Mo die Narbe« heißt. Mo gleitet ab und findet sich am Ende als Mörder von Bruce in einer Gefängniszelle wieder. Wie es zu dieser menschlichen Misere kommt, erzählt Appanah in zärtlicher Intensität und in Form eines fünfstimmigen, inneren Monologs. Eine dieser Stimmen gehört Stéphane, einem französischen Sozialarbeiter, der für eine NGO einen Jugendtreff in Kaweni eröffnet. »Wir waren nur zwei Freiwillige, die hierherkommen wollten. Mayotte, das ist Frankreich, das interessiert keinen. Die anderen wollten (…) das ‚echte‘ Elend.« Kaweni stellt sich als Elendsviertel par Excellence heraus – mit Dreck, Leid, Gewalt und Hunger. Stéphane macht seine Arbeit gut, nebenbei genießt er »die Fremde« in vollen Zügen. In ein paar Jahren wird er »Gaza« verlassen, eine Durchgangsstation in seiner Karriere. Anhand der Figur Stéphane verhandelt die Autorin die Absurdität des westlichen Helfersyndroms genauso pointiert wie den kolonial-rassistischen Blick auf die Welt der Illegalisierten.

Rosaly Magg

t Natacha Appanah: Das grüne Auge. Aus dem Französischen von Yla M. von Dach. Lenos Verlag, Basel 2021. 213 Seiten, 22 Euro.

Lateinamerikas Refeudalisierung

t Die globale Krise des Kapitalismus bildet den Ausgangspunkt der These des Buches Refeudalisierung und Rechtsruck in Lateinamerika von Olaf Kaltmeier. Der vieldiskutierte Ansatz steht im Kontext einer »breiter angelegten Perspektive gesellschaftlichen Wandels« und soll den »gängigen ‚post‘-Konzepten« den »implizierten fortschrittsoptimistischen Zahn« ziehen.

Kaltmeier zeigt die Besonderheiten auf, in denen sich die globale Krise im lateinamerikanischen Raum ausdrückt. Die Gründe verortet er in der spezifischen Form der Kolonialisierung und der Entwicklung der republikanischen Staaten. Der Autor konstatiert dort einen konservativen Backlash. Ein »neuer Autoritarismus« steht der Demokratisierung der letzten Dekaden entgegen. Begleitet werde die Entwicklung durch eine soziale Polarisierung, eine durch das extraktivistische Wirtschaftsmodell bedingte ökologische Krise und die Konzentration von Finanzkapital und Land in den Händen einer »Geldaristokratie«. Diese akkumuliere in Gestalt reicher Präsidenten politische Macht und untergrabe damit demokratische Institutionen. Die politische Debatte sieht er von einer rassistisch und kolonialistisch geprägten »weißen Überlegenheit« geprägt.

In der sehr dichten Einleitung beschäftigt sich der Autor mit Theorien zur Entwicklung Lateinamerikas im Kontext von Feudalismus, Kapitalismus und Kolonialismus. Er gibt einen interessanten Überblick und guten Einstieg in die Thematik. Leider stellt Kaltmeier keine eigenständige Theorie der Refeudalisierung vor, setzt aber dennoch viele ihrer Aspekte implizit voraus. Im letzten Teil, der eindeutig zu kurz kommt, reiht der Autor verschiedene Ideen und Konzepte für eine »Überwindung der gegenwärtigen Konjunktur der Refeudalisierung« und Perspektiven eines »neuen Kommunismus« aneinander. Interessant wäre eine Tauglichkeitsprüfung im Kontext der enormen zwischenstaatlichen und regionalen Unterschiede Lateinamerikas. Kaltmeier diskutiert Refeudalisierung hauptsächlich auf der Ebene von Politik, Ökonomie und sozialer Phänomene. Systemkritik wird dabei auf das Thema ökonomische Ungleichheit beschränkt. Eine präzisere Herausarbeitung der Merkmale von Feudalismus und eine tiefergehende Befassung mit der warenförmigen Vergesellschaftung hätte eine treffendere Interpretation der Krise ermöglicht. Zahlreiche seiner Beispiele belegen eher die krisenhafte Durchsetzung der Geld- und Warenform denn eine feudalistisch geprägte Entwicklung.

Andreas Baumgart

t Olaf Kaltmeier: Refeudalisierung und Rechtsruck. Soziale Ungleichheit und politische Kultur in Lateinamerika, Bielefeld University Press, 2020. 160 Seiten, 20 Euro.