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Afghanistan: Altbekannte Unterdrückung

Altbekannte Unterdrückung

Was die Talibanherrschaft für die Minderheit der Hazara bedeutet

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Am 15. August überrannten die Taliban Kabul und sicherten sich damit erneut die Macht in Afghanistan. Für viele Afghan*innen ist das eine Katastrophe. Das gilt besonders für die schiitische Minderheit der Hazara, die bereits unter dem ersten TalibanRegime massiver Verfolgung ausgesetzt waren. Die jüngere Geschichte dieser Minderheit ist von Unterdrückung geprägt.

von Rabia Latif Khan

t Lange Zeit konnten die Hazara in Zentralafghanistan in einem als Hazaradschad bezeichneten Gebiet leben und ihre Autonomie behaupten. Dies änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts jedoch drastisch, als der damalige afghanische Emir Abdur Rahman Khan in Folge eines Aufstands in Hazaradschat einen heiligen Krieg gegen die Hazara ausrief, um seine Macht zu konsolidieren. Er begründete den Krieg Anfang der 1890er-Jahre damit, dass die Hazara aufgrund ihres Glaubens als schiitische Muslime in einem überwiegend sunnitischen Staat ‚Ungläubige‘ Nach dem Krieg standen seien. Es ging jedoch nicht nur um Religion, sondern die Hazara ganz unten in um die machtpolitischen Ansprüche des Emirs, der der sozialen Hierarchie die autonomen Regionen unter seine Kontrolle bringen wollte. Dem Krieg gingen bereits seit den späten 1880er-Jahren kämpferische Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit der Region voraus. Im Verlauf des Krieges wurden laut mündlichen Quellen 65 Prozent der Hazara getötet. Viele HazaraFrauen wurden vergewaltigt; einige von ihnen, die nicht in den benachbarten Iran oder nach Britisch-Indien fliehen konnten, wurden gefangen genommen und als Sklavinnen gehalten. Nach dem Krieg standen die Hazara erstmals ganz unten in der sozialen Hierarchie Afghanistans, was zum Teil an ihrer religiösen Überzeugung, aber auch an ihrer ethnischen Zugehörigkeit festgemacht wurde.

Der Großteil der verfügbaren Literatur über die Hazara versteht diese als Nachkommen der mongolischen Armee von Dschingis Khan, die im 13. Jahrhundert in die Region kam. Dieser Darstellung stimmen jedoch nicht alle Hazaras zu. Einige behaupten, sie seien türkisch-mongolischer Abstammung und hätten keine Verbindung zur Armee Dschingis Khans. Andere sagen, die Hazaras seien in Zentralafghanistan beheimatet. Unabhängig von diesen widersprüchlichen Thesen unterscheiden sich die Hazara aufgrund ihres Aussehens von der überwiegenden Mehrheit der afghanischen Gesellschaft, was ihre Diskriminierung im Laufe der Jahrhunderte noch verstärkt hat. Die negativen Zuschreibungen spitzten sich im 20. Jahrhundert wiederum bis zur Etablierung eines verinnerlichten Selbsthasses zu. Einige Hazara gingen dazu über, sich selbst als Tadschik*innen zu bezeichnen, um Diskriminierung und Spott zu umgehen. Die ,Ungläubigen’ mussten leiden t Die 1990er-Jahre markieren eine weitere dunkle Periode in der Geschichte der Hazara. Nach dem Bürgerkrieg, der das Land in den ersten Jahren des Jahrzehnts verwüstete, nahmen die Taliban im September 1996 Kabul ein. Unter der Herrschaft der Taliban durften Frauen weder zur Schule gehen noch studieren. Sie durften nicht arbeiten oder das Haus ohne männliche Begleitung verlassen. Hindus und Sikhs wurden gezwungen, eine Sondersteuer zu zahlen und mussten sich mit gelben Aufnähern auf ihrer Kleidung zu erkennen geben. Ethnische Hazara wurden als ‚Ungläubige‘ bezeichnet. Mullah Niazi, ein Taliban-Gouverneur im Norden des Landes, verkündete, dass Hazara entweder zum sunnitischen Islam konvertieren oder das Land verlassen müssten, andernfalls würden sie getötet. In dieser Zeit kam es auch zu brutalen Massakern an Hazara. 1998 wurden mehrere tausend Zivilist*innen in der Stadt Mazare Sharif über Tage hinweg verfolgt und getötet. Auch in der Provinz Bamiyan kam es im Jahr 2001 zu brutalen Morden. Die Vereinten Nationen fanden 2002 in Bamiyan Massengräber, die nach Angaben der lokalen Bevölkerung auf eines der letzten Massaker der Taliban im Jahr 2001 zurückzuführen sind, bevor diese entmachtet wurden. 2001 war auch das Jahr, in dem Bamiyan die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich zog, als die Taliban im März zwei historische Buddha-Statuen im Bamiyan-Tal zerstörten. Das Tal wird mehrheitlich von Hazara bewohnt. Die Statuen stammen aus dem 6. Jahrhundert und wurden nicht von den Hazara erbaut, dennoch nehmen sie eine wichtige Stellung in deren Kultur ein: Den Legenden nach stellen sie das versteinerte Liebespaar Salsal und Schahmama dar. In den meisten Medienberichten über ihre Zerstörung heißt es, dass die Statuen von den Taliban auf Befehl von Mullah Omar gesprengt wurden, um dessen islamische Glaubwürdigkeit zu unterstreichen. Der Meinung vieler Hazara nach war die Zerstörung ethnisch motiviert: Die Statuen waren der Beweis für die historische Verbundenheit der Hazara mit dem Land und Zentralafghanistan, unter anderem da die körperlichen Merkmale der Statuen ihren eigenen entsprachen. Die Empörung über die mutwillige Zerstörung der Bamiyan-Buddhas durch die Taliban war jedoch nur von kurzer Dauer, denn sechs Monate später brachen die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York in sich zusammen. Das Attentat läutete ein neues Kapitel in der Geschichte Afghanistans ein. Sozialer Aufstieg und politische Teilhabe t Mit dem Sturz der Talibanregierung in Folge des NATO-Einsatzes 2001 verbesserte sich die Situation der Hazara erheblich, sowohl was den Zugang zu Bildung als auch die Einstellung im öffentlichen Sektor betrifft. So sind es seit 2001 die Hazara-Jugendlichen, die bei der nationalen Hochschulaufnahmeprüfung, dem so genannten Kankor, am besten abschneiden. Auch die Sichtbarkeit der Hazara hat politisch und kulturell stark zugenommen: Im Jahr 2014 übernahm der Hazara-Politiker Mohammed

Die leere Nische der Buddhas von Bamiyan, 2005 | Foto: Tracy Hunter CC BY 2.0

Mohaqiq in einer Einheitsregierung als zweiter Stellvertreter des Regierungschefs eine führende Rolle. Die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans wird seit März 2019 mit Sima Samar von einer Hazara geleitet. Für Jubel im Land sorgte 2008 der Taekwondoin Rohullah Nikpai, der bei den Olympischen Spielen in Peking die erste olympische Medaille des Landes gewann. Im März 2019 schaffte die 14-jährige Sängerin Zahra Elham eine doppelte Sensation: Sie war nicht nur die erste Hazara, die die belieb- Die Buddha-Statuen hatten te TV-Talentshow Afghan Star gewann, son- eine wichtige Stellung in der dern auch die erste Frau. Hazara-Kultur

Trotz der besseren Bildungschancen und des besseren sozioökonomischen Status der Hazara, vor allem in den städtischen Zentren, haben auch die Angriffe auf Hazara in Afghanistan in den letzten Jahren wieder zugenommen. In den im August 2018 veröffentlichten Richtlinien des UNHCR für die Beurteilung des internationalen Schutzbedarfs von Asylbewerber*innen aus Afghanistan wird festgestellt, dass Hazara durch die Taliban, aber auch durch den Islamischen Staat (IS) und andere Rebellengruppen getötet wurden. Die Absicht der Taliban ist eindeutig t Im Jahr 2016 wurden mehr als hundert Hazara bei Anschlägen getötet, zu denen sich der IS bekannte. 2017 gab es mehrere Angriffe auf schiitische Moscheen und religiöse Prozessionen sowie zunehmend auch Anschläge im Viertel Dasht-e Barchi im Westen Kabuls, einem überwiegend von Hazara bewohnten Bezirk. Dazu kamen zahlreiche weitere Angriffe auf Hazara, unter anderem auf Unterrichtszentren, Sportstätten, Hochzeitssäle, Krankenhäuser und Moscheen. Nur ein Jahr später trafen sich US-Vertreter*innen im Sommer 2018 mit den Taliban zu geheimen Verhandlungen in Katar. Der Dialog führte 2020 zum Doha-Abkommen, in welchem sich die USA zum Rückzug ihrer Truppen aus dem Land verpflichteten. Das war nicht nur für die Hazara eine verheerende Entscheidung. Mit der gewaltsamen Machtergreifung durch die Taliban und der Ausrufung des Islamischen Emirat Afghanistan am 16. August 2021 verschlechtert sich die Situation der Hazara noch einmal immens. Kurz vor der Einnahme Kabuls im Juli dieses Jahres massakrierten die Taliban laut Amnesty International in der Provinz Ghazni HazaraMänner. Nur drei Tage nach dem Fall von Kabul zerstörten die Taliban die Statue von Abdul Ali Mazari, einem bedeutenden politischen Führer der Hazara, der 1995 von den Taliban ermordet worden war. Ende August töteten die Taliban über ein Dutzend Hazara in der Provinz Daikundi. In der neuen Taliban-Regierung gibt es keinen einzigen Hazara-Minister, was bedeutet, dass weder Vertreter*innen der Hazara noch andere Schiit*innen beteiligt wurden. Die Rückkehr zur Taliban-Herrschaft in Afghanistan untergräbt nicht nur die Errungenschaften der Hazara in den letzten zwanzig Jahren, sondern markiert auch den Beginn einer weiteren Welle der Unterdrückung gegen eine historisch marginalisierte Gemeinschaft. Das United States Holocaust Memorial Museum in Washington hat im August eine Erklärung veröffentlicht, in der es heißt, dass die Hazara »der Gefahr von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder sogar von Völkermord ausgesetzt sind«. t Rabia Latif Khan hat kürzlich ihre Promotion an der SOAS in London abgeschlossen. Sie untersuchte das ethnische Bewusstsein der britischen Hazara.