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Kanada: »... wie ein Gefängnis für Kinder«

»Die weiße puritanische Gesellschaft braucht ihren Sündenbock«

Interview mit Brontez Purnell

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Rassismus ist keine geschlechtslose Ideologie. Was bedeutet das aber für die gelebten Realitäten Schwarzer Männer in den USA? Wo stehen homosexuelle Männer in dieser Gleichung? Und was hat das alles mit Punk zu tun? Brontez Purnell kennt all das aus erster Hand. Er ist Musiker bei der Band The Young Lovers, Tänzer, Filmemacher und Autor mehrerer Romane. Er lebt in Oakland, Kalifornien und gibt das Zine Fag School heraus.

iz3w: Du bist in Triana aufgewachsen, einem Örtchen im Norden Alabamas an den Ufern des Tennessee River. Triana zählt 458 Seelen und hat einen Schwarzen Bevölkerungsanteil von 86 Prozent. Wie ist dir Männlichkeit dort begegnet? Brontez Purnell: Meine Familie war ziemlich matriarchal. Meine Mutter hatte zehn Geschwister und nur vier von ihnen waren Jungs. Die Frauen waren also in der Mehrheit. Ich wuchs mit dieser Doppelnatur auf: Männer beherrschen die Welt, aber in meiner Familie saßen die Frauen am Ruder.

Und ich denke das gilt für viele soziale Zusammenhänge. Viele Menschen wachsen mit einer Mutter auf, die die Hosen anhat in der Familie. Neben all den äußerlichen Faktoren wie männlicher Gewalt und Privilegien waren die Frauen dennoch der Kopf meiner Familie. Im Guten wie im Schlechten, denn Frauen können auch sehr grausam sein.

Für die Männer, mit denen ich aufwuchs, hatte Männlichkeit oft etwas Infantilisierendes. Für meinen Großvater etwa, dessen einzige Aufgabe war, das Geld nach Hause zu bringen. Meine Großmutter gab zuhause die Anweisungen und er musste in der Ecke sitzen und warten, bis er aufgefordert wurde. Für alles gab es Regeln. Wir sehen unsere Väter als Oberhaupt des Haushalts, aber ihre Rollen sind vorgeschrieben. Ich glaube meine Großeltern waren gelangweilt und frustriert von diesen verfestigten Rollen.

Brontez Purnell | Foto: Paul Mpagi Sepuya

Daher kam der Überdruss, die Grausamkeit, die sich an den Kindern entlud – sie konnten sich nicht ausdrücken, durften sich nicht ausleben wie wir das heute tun.

Wie ist der Umgang der US-Gesellschaft mit Schwarzer Homosexualität? Wie wirken Rassismus und Homophobie zusammen? t Ich habe mich oft gefragt, wie wir damit umgehen, mit diesem übersexualisierten Bild von uns. Mit meiner Band Gravy Train!!! (2001 – 2010) tanzte ich die meiste Zeit in Unterwäsche herum, aber sehr verspielt. Wir machten uns über Sex lustig, versuchten gar nicht erst

sexy zu sein. Wenn Leute darin ein rassistisches Klischee sehen wollen, sagt es mehr über sie aus als über dich. Die weiße puritanische Gesellschaft mit ihrer sexuellen Frustration hat schon immer einen Sündenbock gebraucht.

In der Sklavenhaltergesellschaft dachten die privilegierten Weißen, dass Sklav*innen ihre sexuelle Freiheit auslebten, weil sie keine arrangierten Ehen hatten. Diese Vorstellung führte zu großer Gewalt. Sie wurde als Vorwand genommen, ungestraft zu misshandeln und vergewaltigen, indem eben diese Vorstellung von sexueller Freiheit auf Schwarze Menschen projiziert wurde. Insbesondere wenn man über »Männlichkeit hatte oft diese Menschen als Besitz verfügte. etwas Infantilisierendes«

Es gibt eine seltsame Obsession mit Schwarzer männlicher Homosexualität. Schau dir mal Little Richard an, und wie viele weiße Rock’n’Roller ihn zum Vorbild nahmen. Little Richard sagte immer, dass die Beatles von ihm besessen seien. Auch Elvis hat bei ihm geklaut. Aber in der Gesellschaft galt er als der seltsame Außenseiter.

Ich glaube auch, dass deshalb das Leben von Michael Jackson so kompliziert, tragisch und heftig war. Er bewegte sich weit außerhalb traditioneller Männlichkeit, aber es gab trotzdem dieses übersexualisierte Bild von ihm.

Mein Kumpel Channing Joseph schreibt gerade ein Buch über William Dorsey Swan. Das war ein Mann, der Drag-Bälle schmiss, in der Straße vom Weißen Haus in Washington D.C. Bei einem gab es dann eine Razzia, das war 1888.

Die ersten schwulen Schwarzen Männer, an die ich eine popkulturelle Erinnerung habe, waren Lamar Latrelle in »Revenge of the Nerds« (1984) und Hollywood Montrose aus dem Film »Mannequin« (1987). Und die waren nicht nur Schwarze schwule Männer – das waren Schwarze schwule New-Wave-Typen! Sie wurden nicht auf schlimme Weise dargestellt, sondern als Protagonisten der Geschichte.

In den 1980ern waren Darstellungen queerer Sexualität und auch Schwarzer queerer Sexualität gefühlt überall, und in großer Zahl. Doch dann erfolgte ein Rollback in eine heftige, harte Sexualität, die oft homophob ist, bis wir dann bei Gangsta Rap angekommen sind. Es gibt auch Theorien, dass es an AIDS lag, dass wir von diesen vielfältigen Repräsentationen von Sexualität wieder zurück bei der harten Männlichkeit ankamen. Aber ich sehe, wie wir uns wieder davon wegbewegen, mit dem Erfolg von Lil‘ Nas X und all den queeren Möglichkeiten – es scheint, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt.

Ich sage voraus, dass das unser Zeitalter wird, passiere was wolle. Ich erinnere mich daran, wie glücklich ich war, als ich Lil‘ Nas X das erste Mal sah. Es gab eine Zeit, da waren die schwulen Rapper eine ganz kleine Gruppe. House of LaDosha in New York, Mykki Blanco in Oakland, Le1f. Es gab noch einen kleineren Kreis von Schwarzen schwulen Indie-Rock-Jungs, wir kannten uns alle. Als wir dann aber Lil‘ Nas X sahen, dachten wir: Woher kam der jetzt? Und wir waren uns plötzlich im Klaren, dass unsere Arbeit nicht umsonst war. Das war aufregend. Zurück nach Oakland: War es ein Exodus für dich, dorthin zu ziehen, fort von den Normen und Idealen, die du nicht erfüllen wolltest? t Ich fühle mich wie das letzte Kind der Great Migration, jener großen Wanderungsbewegung, bei der im 20. Jahrhundert Millionen Schwarze in die Industriestädte des Nordens zogen. Es ging auch für mich darum, dem Süden zu entfliehen, und allem was damit zusammenhängt – woanders anzukommen und etwas komplett Neues zu erleben. Es steckt auch in der Geschichte der Westküste, ganz generell: Menschen kamen aus dem ganzen Land hierher, um ihr Leben im Osten hinter sich zu lassen, um sich neu zu erfinden, ein neues Leben anzufangen. Wie der Bruder meiner Großmutter, der in den 1960ern hier nach Oakland kam, und als Bluesmusiker einen Club eröffnete, gerade hier die Straße hoch. Er kam zu Besuch nach Alabama und hatte diese verrückte weiße Hippiefreundin. Sie wussten nicht, dass ich schwul war, aber weil ich der einzige seiner Neffen war, der Gitarre spielen konnte, meinten sie: »Du musst nach Kalifornien, wenn du groß bist.« Als ich also 19 war, sprang ich in diesen Van von Leuten aus West-Arkansas, die ich selbst kaum kannte. Ich war vorher nie in Kalifornien gewesen. Inzwischen sind es 19 Jahre. Kalifornien repräsentierte definitiv etwas Neues. Die Westküste ist auch die letzte Frontier, das Grenzland. Weiter kommst du nicht, außer du fängst an zu schwimmen. Als Tänzer, Musiker, Dichter, Aktivist und Filmemacher bist du tief verwurzelt in der DIY-Kultur des Punks. Punk wurde ja oft dafür kritisiert, dass er nicht so offen und divers ist, wie er gerne tut. Was ist deine Erfahrung? t Definitiv leidet die ganze Sache darunter. Aber ich muss auch sagen, so wie Punk sich uns in den 1990ern eröffnete, schien es wirklich als dieses große Ding, auf das jede*r aufspringen konnte. Ich habe auch meine Querelen mit Punkrock. Aber ein Großteil der Dinge, die ich hier gelernt habe, haben mich durchs Leben gebracht. In meiner Kariere war es definitiv der Fall, dass meine Band nicht so oft gebucht wurde, weil ich schwul und Schwarz bin. Ich hatte nicht dieselben Zugänge, die Möglichkeiten, das war schon manchmal hart. Aber alles in allem habe ich es trotzdem geschafft. Welche Rolle spielen Männlichkeit und Homosexualität in deinem neuen Buch »100 Boyfriends«? t »100 Boyfriends« ist ein Roman über Lebensgeschichten verschiedener Männer, die miteinander verbunden sind. Ich versuche dabei darzustellen, wie Gefühle Verhalten beeinflussen und wie Verhalten Gefühle formt. Es gibt natürlich eine Menge Sex im Buch. Aber vor allem geht es um die Charaktere, die sich fragen »Wie bin ich hier schon wieder gelandet?« Es geht um das Älterwerden, und darum, sich immer in denselben Mustern wiederzufinden und wie man aus diesen wieder herausfindet. Ich weiß nicht, ob die Charaktere immer Antworten parat haben, aber ich finde es interessanter, wenn Leute anfangen, sich tiefergehende Fragen über ihr Leben zu stellen. Das ist oft wichtiger als die Antwort. Literatur von Brontez Purnell – Since I Laid My Burden Down. CUNY Feminist Press, 2017, ca. 18 Euro – Die deutsche Übersetzung von Peter Peschke: Alabama. Albino-Verlag, 2019, 18 Euro – 100 Boyfriends. MCD X Fsg Originals, 2021, ca. 13 Euro t Das Interview führte und übersetzte Kathi King.

Gegenläufig statt multidirektional

Zur Debatte um postkoloniale Geschichtsbilder und die Shoa

von Jörg Später

t Ursprünglich wollte ich Michael Rothbergs Buch Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung (siehe iz3w 385) und den Sammelband Die Untiefen des Postkolonialismus rezensieren. Beide Bücher seien empfohlen, im letzteren besonders die Beiträge von Jan Gerber, Philipp Lenhard und Steffen Klävers. Doch meine Erinnerung an ähnliche Debatten vor zehn Jahren und meine Verärgerung über A. Dirk Moses Schmähschrift über den angeblichen deutschen Holocaust-Katechismus (auf geschichtedergegenwart.ch) ließen mich abschweifen – und so ist aus Undiszipliniertheit ein Debattenbeitrag entstanden. Menschen regen sich über Meinungen meistens mehr auf als über die Dinge, die geschehen.

Singularität und Kolonialismus

t Aktivisten und Forscherinnen, die sich mit dem Kolonialismus und der Erinnerung an ihn beschäftigen, befinden sich oft im Widerstreit mit einem Geschichtsbild, das die Shoa als die historische Zäsur des 20. Jahrhunderts versteht. Nimmt man die Schärfe des Tonfalls als Symptom, scheint es sich gegenwärtig um einen regelrechten Aufstand zu handeln, der sich vor allem an der These der Singularität von Auschwitz entzündet. Von einem zweiten Historikerstreit ist gar die Rede. Der erste war 1986, als der rechte Philosoph und Historiker Ernst Nolte behauptete, Auschwitz sei eine bloße Reaktion auf die Massenverbrechen im sowjetischen GULAG gewesen. Die These von der Einzigartigkeit ist in diesem Kontext aufgestellt worden, um einer drohenden »Entsorgung der Vergangenheit« (Jürgen Habermas in der Zeit) durch die Relativierung der Vernichtungspolitik vorzubeugen.

Der Singularitätsbefund hatte gleichzeitig auch eine epistemische Funktion und zielte auf die Erschütterung von vertrauten Weltbildern. Das betraf auch linke Grundannahmen über Geschichte und Gesellschaft: Die Anerkennung der paranoiden Logik, nach der die Vernichtung ‚der Juden‘ als Drahtzieher hinter Kapitalismus, Kommunismus und der modernen Welt eine Erlösungstat und ein Selbstzweck gewesen war, bedeutet gleichzeitig ein Eingeständnis. Man gibt zu, dass Gesellschaftstheorien, die auf einer Kritik der politischen Ökonomie oder einer Analyse von materiellen Interessen aufbauen, an Grenzen stoßen. Sie kommen an den Kern des »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) von Auschwitz ebenso wenig heran wie Ansätze, die allein über Herrschafts- und Machtkritik das soziale Leben zu erfassen meinen. Dazu gehören zweifelsohne die Postkolonialen Theorien. Diese können mit dem Befund eines Zivilisationsbruchs schon deshalb nichts anfangen, weil sie die westliche Zivilisation selbst als mörderische Barbarei ansehen – warum sollte dann Auschwitz ein Bruch gewesen sein? Aimé Césaire beispielsweise hatte die Idee, dass mit der Shoa die im Kolonialismus ‚erworbenen‘ Erfahrungen bloß nach Europa zurückgekehrt seien.

Die These vom Zivilisationsbruch bedeutet aber etwas Anderes: Dan Diner drückte damit Ende der 1980er-Jahre aus, dass die Shoa einer Logik gefolgt sei, die den Herrschaftsinteressen der Täterseite (anders als beispielsweise in Kolonialregimen) direkt entgegenstand. Wer organisiert schon Deportationen von Kreta nach Ostmitteleuropa, während alle Kapazitäten für den Weltkrieg gebraucht werden, es sei denn, man fantasiert sich ‚die Juden‘ zum eigentlichen Gegner? Der Begriff ist also nicht moralisch gemeint, im Sinne von ‚besonders schlimm‘. Er besagt vielmehr, dass etwas für die Opfer völlig Unvorhersehbares verwirklicht wurde.

Solche Einsichten in die Dialektik der Zivilisation, die in Deutschland wesentlich von jüdischen Linken aus der Frankfurter »Jüdischen Gruppe« in den 1980er-Jahren angeregt wurden, waren für traditionelle Linke schwer zu verdauen. Sie setzten sich zunächst eher im linksliberalen Mainstream durch. Aber auch in der radikalen Linken veränderte sich in den 1990er-Jahren die Haltung zum Nationalsozialismus, der vorher bloß Faschismus hieß. Antisemitismus wurde als gefährliche Weltanschauung ernstgenommen und nicht einfach unter die Kategorie »antijüdischer Rassismus« oder »Antikapitalismus der dummen Kerle« (August Bebel) subsumiert.

Auschwitz als Staatsräson

t In den 1990ern entstanden in diesem Prozess als eine übertriebene Reaktion auf die ‚Auschwitz-Lektion‘ die ‚Antideutschen‘, die neben jenem Zivilisationsbruch die Wertformanalyse als Grundlage