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Deutscher Kolonialismus: Gewalt im Schutzgebiet

Denkmal für die ermodeten Juden Europas, Berlin | Foto: Peter Kuley CC BY-SA 3.0

ihrer Kritik der kapitalistischen und strukturell antisemitischen Gesellschaft heranziehen. Dieser Ableitungsdogmatismus hatte geschichtspolitische Konsequenzen: Wer damals etwa die Shoa einem Vergleich mit anderen Genoziden unterzog, geriet, selbst wenn es explizit darum ging, die Unterschiede herauszuarbeiten, unter Apologieverdacht. Wer vergleiche, so hieß es, habe schon relativiert, denn der Vergleich sei die ideologische Denkform des Warentausches. Das sieht die gegenwärtige Generation, die aus dieser Strömung entstanden ist, offenbar nicht mehr so eng, wie man dem sehr umsichtigen und vernünftigen Band Untiefen des Postkolonialismus entnehmen kann, wo sogar zu lesen ist: »Ohne die kognitive Operation des Vergleichens würde die Orientierung in der Welt deutlich schwerer fallen, wenn nicht sogar unmöglich sein.«

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Die These vom Zivilisationsbruch, so umstritten ihre Genese war, bekam großes Gewicht. In den 1990er-Jahren wurde das Gedenken an den Holocaust nach Ende des Kalten Kriegs zunächst amerikanisiert: 1993 entstand das United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. als nationale Gedenkstätte mit weltweitem Symbolcharakter. Gegen Ende des Jahrzehnts setzte nach der Stockholmer Erklärung, die den Holocaust zum Zivilisationsbruch und die »Kritik am Antisemitismus« zum Element des euro- Erinnerung birgt immer päischen Erbes erklärte, ein regelrechter Gefahren und Nebenwirkungen Memory-Boom ein. In Deutschland entwickelte sich dieses Geschichtsbild in der Zeit der rot-grünen Koalition und während der Ära Merkel zur bundesdeutschen Staatsräson. Bundespräsident Gauck resümierte: »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz«. Das gegenwärtige Staatsoberhaupt Steinmeier ist das Gesicht solcher Zeremonien, in denen pastorale Pathosformeln der Betroffenheit gesprochen werden. Die Bundeskanzlerin wurde zur Personifizierung der fast bedingungslosen Israel-Loyalität und das Amt des Antisemitismusbeauftragten die Institutionalisierung des Geschichtsbildes, dass sich »Auschwitz nie wiederholen dürfe«.

Da aber auch schon Kriege mit dieser Losung geführt wurden – man erinnere sich an die Begründungen des Jugoslawien-Krieges von Joschka Fischer – ist sie manchen Linken fragwürdig geworden. Mit der Zeit stoßen sich auch immer mehr nicht-jüdische Betroffene aktueller Diskriminierungsarten und historischer Gewaltexzesse an der Exponierung jüdischer Leiderfahrungen. Das Erinnerungsnarrativ des »Nie wieder Auschwitz« wird herausgefordert durch viele andere Narrative. Gerade in einer diversen Einwanderungsgesellschaft artikulieren sich mit Recht und guten Gründen Erinnerungen an andere kollektive Gewalterfahrungen, vor allem jene des in Deutschland lange unterbelichteten Kolonialismus. Und Linke, die das offizielle »Gedächtnistheater« (Michal Bodemann) oder den Gedächtniskitsch der politischen Klasse dieses Staates verdächtig finden, begrüßen die Herausforderung des etablierten Erinnerungsregimes. Gegenläufige Erinnerung t Die Aufarbeitung des (deutschen) Kolonialismus und das Interesse an »multidirektionaler Erinnerung« (Michael Rothberg) ist für die Selbstartikulation und -ermächtigung von Gruppen und Communities, für die der Rassismus die zentrale gesellschaftliche Erfahrung ist, eine geschichtspolitische Angelegenheit von höchster Bedeutung und mit identitätspolitischer Dimension. Eine Konkurrenzsituation zwischen Opfergruppen müsste dabei nicht zwangsläufig entstehen. Diese zu überwinden, ist gerade die Idee von Rothbergs Begriff. Dass sie aber doch regelmäßig eintritt, hat nicht nur mit misslungener Kommunikation zu tun, sondern einen handfesten Grund: Irgendwann geht es in geschichtspolitischen Debatten immer um Israel. Nicht zufällig begründet A. Dirk Moses seinen Angriff auf den »Katechismus der Deutschen« damit, dass das staatliche Gedenken an die Shoa dazu diene, die Unterdrückung der Palästinenser*innen zu legitimieren. Dan Diners Begriff der »gegenläufigen Erinnerung« trifft die Konfliktgemengelage daher besser als die »multidirektionale Erinnerung«, denn gegenläufige Existenzerfahrungen ziehen gegenläufige Gedächtnisse nach sich. Für die Kolonisierten war der Weltkrieg eben sehr anders als für die Alliierten – »Unsere Opfer zählen nicht« heißt treffend ein Buch über die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Diners Begriff ist freilich älter als der von Rothberg – und das ist durchaus bezeichnend. Denn die Diskussion um das Verhältnis von kolonialer Gewalt und Shoa ist keineswegs neu. Schon Hannah Arendt hat es thematisiert, und natürlich die Postkoloniale Theorie, beginnend mit Aimé Césaire. Die historische Forschung hat die Frage in der GenozidForschung oder im Fall des Völkermords an den Herero und Nama aufgegriffen. Das Niveau und die Differenziertheit der Debatte waren vor zehn Jahren wesentlich höher, vor allem in der Frage, wie viel Kolonialismus im Nationalsozialismus steckt. Geschichte ist hochgradig politisiert, denn die Narrative von Opfergemeinschaften wie von Nationen insgesamt dienen der sogenannten Identitätsbildung. Es war vor allem der Streit um die Ein- und Ausladung des postkolonialen, antirassistischen und israelunfreundlichen Theoretikers Achille Mbembe zur Ruhrtriennale

Pforte ohne Wiederkehr – Denkmal in Ouidah, Benin, in Erinnerung an die Sklav*innen, die von hier aus in die USA verschleppt wurden Foto: Rachad Sanoussi CC BY-SA 4.0

2020, der gezeigt hat, wie die »gegenläufigen Erinnerungen« von Kolonialismus und Shoa aufeinanderprallen können. Schnell wurde Mbembe vom »Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus«, Felix Klein, bezichtigt, sich antisemitischer Denkmuster zu bedienen. Klein wurde anschließend unter Rassismusverdacht gestellt. Seitdem ist die Büchse der Pandora geöffnet. Erinnerung ist zu einer Kampfarena zwischen der negativ-symbiotischen deutsch-jüdischen Geschichtsperspektive einerseits und postkolonialen Anerkennungsforderungen andererseits geworden.

Immer wieder Israel

t An der Schnittstelle der konkurrierenden Gedächtnisse steht der Israel-Palästina-Konflikt. Wenn die Singularitätsthese angegriffen wird, wenn die Befangenheit der Deutschen angesichts des Judenmords als »Judenknax« (so 1969/70 Dieter Kunzelmann von den Tupamaros West-Berlin) oder als »Katechismus« (A. Dirk Moses) der Deutschen verhöhnt wird, geht es in der Regel darum, die Legitimität des Staates Israel anzugreifen, der sich als jüdische Antwort auf die Vernichtungserfahrung versteht (aber natürlich auch anderes verkörpert). Für große Teile der arabischen Bevölkerung Palästinas wiederum hatte der Krieg von 1948 und die Staatsgründung Flucht und Vertreibung zur Folge. Bis heute kämpfen die Palästinenser*innen für nationale Selbstbestimmung. Das Narrativ der Nakba ist negativ symbiotisch mit dem der Shoa verbunden. Israel wird aus postkolonialer Perspektive als koloniales weißes europäisches Projekt betrachtet. Der Holocaust stört darin und ist gleichzeitig doch das Vorbild, um das eigene Leiden in der Geschichte hervorzuheben.

Dazu kommt: Es geht bei Erinnerung immer auch um einen Kampf um Anerkennung kollektiven Leids; mithin um Respekt (iz3w 373). Und immer birgt dieser Kampf Gefahren und Nebenwirkungen: Opferkonkurrenz auf dem Weg zur Anerkennung; das beschriebene »Gedächtnistheater« samt politischer Instrumentalisierungen und, wenn richtig erfolgreich, die staatliche Einverleibung der Erinnerungskultur, was die Wut der Noch-nicht-Anerkannten reizt. Es entsteht oft ein Diskurs des »moralischen Maximalismus« (Ijoma Mangold in der taz).

Wer jetzt das Holocaust-Gedenken angreift, um anderen Opfernarrativen Raum zu schaffen, sollte bedenken: In zehn Jahren wird es in Deutschland vermutlich eine Beauftragte für den Kampf gegen Rassismus geben, und irgendein scheinmutiger Ketzer wird dann den »Katechismus um das N-Wort« angreifen und von einem neuen »Memory Regime« reden, wenn nicht von der »Erinnerungsdiktatur«. Andere Opfer von Krieg und Gewalt werden fragen, warum Genozidopfer überhaupt privilegiert werden – es sei doch egal, aus welchen Gründen gemordet worden sei. Und dieses Unbehagen über die offizielle und ‚korrekte‘ Erinnerung wird auch mit einigen nachvollziehbaren Punkten begründet werden.

Zurück zur Sache

t Aber welche Alternative gibt es zum Pochen auf politische und soziale Anerkennung, die auch immer die Basis für materielle Entschädigungen sind? Die Aufarbeitung historischen Unrechts kann ein Ritual werden oder sogar Aufarbeitungsstolz hervorbringen. Aber keine Aufarbeitung geht erst recht nicht. Es gibt keine Wiedergutmachung, denn ein Verbrechen wie der Judenmord kann nicht »wiedergutgemacht« werden – aber keine Wiedergutmachung (Anerkennung, Restitution, Entschädigung) ist noch schlechter. Und worin soll die historische und sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Verbrechen bestehen, wenn nicht in der genauen Betrachtung der Ursachen von Taten, den Motiven der Täter*innen, und den Folgen für die Opfer? Sie hindert niemanden daran, über die zufälligen und ‚versehentlichen‘ Opfer etwa des »Krieges gegen den Terror« zu forschen oder die Politik Israels zu kritisieren.

Das Problem ist nicht, dass Massenmorde, Gewaltexzesse, Diskriminierungen mit der Shoa historisch in Bezug gesetzt und verglichen werden. Wer vergleicht, gewinnt Orientierung und sieht manche Dinge klarer, als wenn nur das einzelne Geschehen betrachtet wird. Es ist völlig legitim, zu fragen, was der Holocaust mit einem genozidalen Massaker im Kontext des Kolonialismus zu tun hat, wenn nah an der Sache diskutiert wird. Das Problem der gegenwärtigen Debatten ist doch, dass sie sich von der jeweiligen Sache losgelöst und verselbstständigt haben. Die Meinungen über die Dinge erregen die Menschen eben mehr als die Dinge selbst, auch wenn es um Verbrechen wie Massenmord geht. Vor zehn Jahren hat man noch über Geschichte debattiert, heute geht es bloß noch um Erinnerung. In seinem Katechismus-Text stellt Moses die vorgeblichen Erinnerungsgebote vor, ohne zu begründen, warum diese falsch sein sollen. Es reicht ihm aus zu behaupten, das »Narrativ« von der Singularität und vom Zivilisationsbruch sei autoritär und im Weltmaßstab provinziell. Der Diskurs über die Sprechweisen und Gedenkformen hat sich von dem ihm zugrundeliegenden Problem und Inhalt verselbstständigt und ist schon daher ideologisch.

Literatur

– Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955

– Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996 – Aimé Césaire: Über den Kolonialismus, Berlin 2017 – Dan Diner: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988 – Jan Gerber (Hg.): Die Untiefen des Postkolonialismus, Berlin 2021 – Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im

Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021

Kämpfe um Selbstbestimmung

t Die Rechte sexueller Minderheiten sind auch im Globalen Süden umkämpft. Einerseits schaffen immer mehr Staaten homophobe Gesetze aus der Kolonialzeit ab. Andererseits verschärfen autoritäre Regime die Strafverfolgung von Homosexuellen, oft im Interesse religiöser Hassprediger. Der südafrikanische Journalist Mark Gevisser widmet sich in Die Pinke Linie den derzeitigen Kontroversen um die Stellung sexueller Minderheiten.

Er belegt die politische Brisanz des Themas an etlichen Länderbeispielen. So benennt er die gezielten Interventionen US-amerikanischer Pfingstkirchen in Uganda. Sie fördern lokale homophobe Politik, welche die Verschärfung der Strafgesetze vorantreibt. Nicht nur in Uganda befeuern Regierende in Krisenzeiten homophobe Vorurteile und lenken damit vom eigenen Versagen ab. Auch in Russland gelten solche Gesetze als Kampfansage gegen zivilgesellschaftliche Vielfalt und als Seitenhieb gegen westeuropäische Länder.

Konzeptionell verbindet der Autor Analysen mit anschaulichen Reportagen, beispielsweise über Lebensgeschichten von Homo- und Transsexuellen in verschiedenen Ländern. Seine Recherche basiert auf persönlichen Begegnungen im Rahmen wiederholter Reisen. Lebensnah portraitiert er lesbische Paare mit und ohne Kinder in Kairo sowie in US-amerikanischen und mexikanischen Städten. Es geht um Liebe und Familienalltag, Verortung in unterschiedlichen Milieus und bürokratische Hürden. Queere Elternschaft im Kontext staatlicher Anfeindung thematisiert der Publizist unter anderem am Beispiel eines russischen Trans-Vaters.

Bei aller Sympathie mit den Paaren hütet sich Gevisser davor, diese zu idealisieren. Vielmehr benennt er Konflikte und Trennungen, die aufgrund des sozialen oder politischen Drucks erfolgen und aus unterschiedlichen Lebensvorstellungen resultieren. Partiell kommt queerer Aktivismus zur Sprache, ohne die Aktiven als neue Revolutionär*innen zu zelebrieren. Dem digitalen Austausch wird große Bedeutung beigemessen; gleichzeitig ist er ein Fallstrick, da Geheimdienste Dating-Apps nutzen, um queere Personen zu identifizieren. Auch die Situation von Angehörigen sexueller Minderheiten, die geflüchtet sind, wird thematisiert: Fliehen Verfolgte etwa nach Kanada oder in die Niederlande, erschweren Einsamkeit und subtile Formen von Homophobie und Rassismus ihren dortigen Alltag. Weil das gut lesbare Buch solche Ambivalenzen auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung konkret benennt und keine moralisierenden Bewertungen vorgibt, ist es eine lohnende Lektüre.

Rita Schäfer

t Mark Gevisser: Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 656 Seiten, 28 Euro.

Fairer Handel als Prozess

t »Kein Verkauf ohne Information«, so lautete das Motto der Weltläden in den 1970er-Jahren, wo der Faire Handel seinen Anfang nahm. Gerd und Katharina Nickoleit bemühen sich seit langem, die Regeln für den internationalen Handel gerechter zu gestalten. Ihr Buch Fair For Future. Ein gerechter Handel ist möglich enthält eine scharfe Analyse der gegenwärtigen Lage des Fairen Handels und zeigt dessen Entwicklung auf, geschmückt mit persönlichen Erfahrungen.

Ziel des Fairen Handels ist es, gerechte Arbeits- und Produktionsverhältnisse zu schaffen, die Menschen im Globalen Süden zu Gute kommen. Um dies nachhaltig zu erreichen, ist es wichtig, den Globalen Norden aufzuklären und »Verknüpfungen zwischen der Ersten und Dritten Welt zu schaffen.«

Ein »Grabenkampf«, der sich im Fairen Handel bis heute hält, ist der zwischen Bewusstseinsbildung und Verkaufszahlen. Der Balanceakt scheint schwierig. Im Buch wird dies am Beispiel der GEPA aufgezeigt: Deren Gesellschafter*innen fordern nicht nur, rentabel zu wirtschaften, sondern auch Rücklagen für neue Projekte zu bilden. Der Druck, Gewinn zu generieren, steigt auch durch den Wettbewerb mit konventionellem Handel. Der Faire Handel ist neben ökonomischen Dilemmata auch mit ökologischen konfrontiert, zum Beispiel in der Transportfrage. Da viele Waren lange Strecken über Luft und Wasser zurücklegen, stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Umweltkosten. Die Autor*innen diskutieren des Weiteren das Lieferkettenproblem bei Artikeln, die aus verschiedenen Ressourcen bestehen. Bei diesen ist es schwierig, den fairen Ursprung des Gesamtprodukts zu gewährleisten. Unzählige Siegel für faire Herstellungsbedingungen zeigen, dass der Faire Handel keine Nische mehr, sondern im Mainstream angekommen ist. Viele Konzerne benutzen sie jedoch, um das eigene Image zu polieren. Für Kritik sorgen bürokratische Hürden und Umweltkriterien, die für kleine Kooperativen schwer zu stemmen sind. All diese Herausforderungen zeigen eines: »Fairer Handel ist kein Zustand, sondern ein Prozess.« Das Buch schafft es, diesen nachvollziehbar darzustellen und bietet Ideen, wie die vielen Spannungsfelder aufgelöst werden könnten.

Alexander Schmidt

t Gerd und Katharina Nickoleit: Fair for Future. Ein gerechter Handel ist möglich, Ch. Links Verlag, Berlin 2021. 224 Seiten, 18 Euro.