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Markt für Wissen

zulesen und ein, zwei oder drei interessante ExpertInnen auszusuchen. Im Obergeschoss des Foyers wird es einen CheckIn-Counter geben, dort bucht man die ExpertInnen oder erhält Alternativen, falls der oder die WunschexpertIn schon vergeben ist. Da zeigt sich auch der Marktgedanke, es gibt die verschiedenen Angebote, da kann ich zum Beispiel mit Athanasios Karathanassis über Schrumpfungsökonomien sprechen, einem sehr interessanten Soziologen oder mit der Äbtissin Bärbel Görcke über Askese. Es finden sechs Runden statt, man geht dann von einem Tisch zu einem anderen, das klingt ein bisschen wie beim Speed-Dating, ist aber eher ein Slow-Dating, da man ja immerhin jeweils eine halbe Stunde Zeit hat.

Ich hätte aber keine Chance alle Gespräche zu hören?

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Am Ende werden ausgewählte Gespräche archiviert. Aber der Reiz ist dabei eben auch, dass man nicht alles mitbekommen kann; deshalb wird auch nach dem Markt noch viel passieren, wenn die Menschen zusammenkommen und sich austauschen über ihre Gespräche, die sie geführt haben.

Nun zu der Frage, die jeder Kunstschaffende gern hört: Was soll das Ganze überhaupt? Es gibt Bücher oder Wikipedia. Wozu brauche ich einen Markt über Wissen?

Die Veranstaltung setzt sehr stark auf die Begegnung. Es findet ja kein reiner Wissenstransfer von der einen auf die andere Seite statt, es gibt ja keinen Vortrag, sondern das Gespräch hängt ebenso von den KlientInnen ab, die Fragen stellen, sich selbst einbringen. Und gleichzeitig finden 24 andere Gespräche statt, insgesamt 144 an dem Abend, das ist auch eine Form des Teilens. Und die Verteilungsgerechtigkeit steht ja auch ganz zentral bei dieser Veranstaltung, eben die Frage: Weshalb haben die einen so viel und die anderen so wenig oder nichts? Hier können die KlientInnen mit eigenen Erfahrungen andocken und sich einbringen. Was dabei entsteht, liegt im Spannungsfeld von performativer Information und Wissenschaft, von Politik und Kunst.

Warum dann eigentlich dieses Format? Ein Markt für KlientInnen, das Wissen wird in konsumierbare Häppchen zerhackt – das fügt sich sehr geschmeidig in den kapitalistischen Verwertungsprozess. Der ist aber so ziemlich das Gegenteil von Verteilungsgerechtigkeit.

Das ist eine wichtige Frage. Aber diese Frage wird auch schon durch den Markt selbst gestellt, nämlich nach dem wie verteilen? Wir haben sehr viele ExpertInnen dabei, die sehr kluge und kritische Fragen an den Kapitalismus formulieren. Etwa im Hinblick auf grenzenloses Wachstum, klimaschutzgerechtes Produzieren und manches mehr. Ich stelle mir den Markt auch mehr als mittelalterlichen Markt vor. Schon in der Antike war die Agora auch ein politischer Ort, so wie der mittelalterliche Markt auch ein sozialer Ort war. Aber die Ökonomie gehörte eben immer auch dazu. Unser Ziel ist es aber auch im Sinne des Staatstheaters, die ganze Stadtgesellschaft anzusprechen, nicht nur Privilegierte. Wir wollen allen Menschen den Zugang zum Theater ermöglichen und da bietet diese Veranstaltung ein gutes Beispiel: Wir haben vom Multimillionär bis zur Asphaltverkäuferin alles dabei, die ganze Palette. So hoffen wir auch Menschen anzusprechen, die bislang noch nicht so im Blickfeld des Theaters standen.

Performativität scheint da ja ein zentraler Begriff zu sein. Geht es eigentlich nur um eine andere Form der Wissensvermittlung oder auch um ein anderes Wissen?

Wir leben ja im Informationszeitalter und da spielt das Wissen eine entscheidende Rolle, ökonomisch, politisch und kulturell. Aber Wissen sollte immer auch als hybrider Begriff gefasst werden. Es lässt sich speichern und archivieren, aber es entsteht auch in interaktiven Prozessen aus Techniken, Praktiken und Erfahrungen der Lernenden. Es geht ja um die Gespräche an den Tischen; manche ExpertInnen bringen auch Requisiten mit, einen Laptop oder so. Es kommt dabei darauf an, wie Menschen einander begegnen, das ist ja ein besonderer Augenblick, eine Situation, die im Austausch entsteht, ganz anders als beim Buch.

Vielen Dank.

Das Gespräch führte Ulrich Matthias

Foto: Arzu Sandal Volker Bürger ist freier Regisseur und Dramaturg. Am Staatstheater Hannover kuratiert er den Markt für Wissen und Nichtwissen.

Der Markt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen ist das erfolgreichste künstlerische Projekt der Mobilen Akademie Berlin, die im Zwischenbereich von Kunst und Wissenschaft, Expertise und Alltag agiert. Für diese spezielle Form der Wissensvermittlung wurde ein Lizensierungsverfahren entwickelt. Die Stiftung Niedersachsen hat das Kunstnutzungsrecht erworben und vergibt Lizenzen zur Durchführung eines Marktes für nützliches Wissen und Nicht-Wissen an interessierte Institutionen und Initiativen aus ganz Niedersachsen. Der Markt gastierte in den letzten zehn Jahren in zwölf Ländern und machte unter anderem Station in Paris, Riga, Wien, Liverpool, Dresden, Berlin und Hamburg.

BUCHTIPPS

Über Fluten

»Wütendes Wetter« ist ein aktuelles, kein neues Buch. Die in Oxford arbeitende Klimaforscherin, Physikerin und promovierte Philosophin Friederike Otto hat es vor gut zwei Jahren veröffentlicht, was Teile der Debatte über die Unwetterkatastrophe im Juli noch absurder erscheinen lässt. Denn eigentlich ist erstaunlich viel klar. Eben auch durch Friederike Otto und das von ihr mitentwickelte Feld der »Weather Attribution Science«, der Zuordnungswissenschaft, die vereinfacht gesagt ermittelt, wie viel Klimawandel im Wetter steckt. Seit Jahren erstellen Otto und ihr Team immer präzisere Modelle, die vorwegnehmen, welche Auswirkungen die kommenden Zehntel-Grad-Anstiege der Durchschnittstemperatur haben werden. Friederike Otto benennt offene Forschungsfragen und formuliert ohne Alarmismus klare Ziele. Denn zumindest das »Drei-Grad-Wetter« können wir noch verhindern, »das weiten Teilen der Welt ein neues Gesicht geben würde – und zwar kein sehr schönes«. BP Friederike Otto, Benjamin von Brackel | Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme | Ullstein | 240 S. | 18 Euro

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Rendite und Miete

Gut, man kann natürlich darüber streiten, ob ein Titel, der eher an das Fronttransparent einer linksradikalen Demo erinnert, eine breite Einladung zur Debatte über den Wohnungsmarkt ist. Aber das ist vielleicht auch die Perspektive der westdeutschen Diaspora, in der MieterInnenkämpfe bisher auf sehr viel schmalerer Basis geführt werden. Der Autor Philipp Metzger schreibt zurecht, dass die gegenwärtige Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« die wohl eigentlich wichtigste Kampagne der vergangenen Jahrzehnte sei. Der feine Mandelbaum-Verlag hat soeben diesen interessanten Hybriden veröffentlich. Die erste Hälfte ist Philipp Metzgers kenntnisreiche – und durchaus anspruchsvolle – Geschichte des deutschen Immobilienmarktes, der Privatisierung des sozialen Wohnungsbau, des Verkaufs der öffentlichen Wohnungsgesellschaften an Finanzmarktakteure. In der zweiten Hälfte wird das Buch zum Sammelband und öffnet sich aktivistischen Positionen auf eine demokratische und soziale Wohnungspolitik. BP Philipp P. Metzger | Wohnkonzerne enteignen! Wie Deutsche Wohnen & Co ein Grundbedürfnis zu Profit machen | Mandelbaum | 294 S. | 17 Euro

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