LiteraturNachrichten 117 in Auszuegen

A F R I K A

A S I E N

L AT E I N A M E R I K A

Nachrichten

TRAUMA UND ERINNERUNG Zersplitterte Welten – Zum Werk von Edouard Glissant (1928 –2011) Wir müssen uns erinnern – Fawwaz Haddad [Syrien] über seinen Roman Gottes blutiger Himmel Ich bin ein Glückspilz Andrea Hirata [Indonesien] und Die Regenbogentruppe Porträts Rezensionen

ISSN: 0935-7807 PVSt: 63287 30. Jahrg. Nr. 117 Sommer 2013 EUR 6,50 | Fr. 7,–

I M P R E S S U M

Herausgeber: litprom Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. Braubachstr. 16, 60311 Frankfurt a.M. Postfach 10 01 16, D-60001 Frankfurt a.M. Tel. 069 / 2102-113, Fax 069 / 2102-227 E-Mail: djafari@book-fair.com, www.litprom.de

E D I T O R I A L

Trauma und Erinnerung: ein schweres Thema, ein wichtiges Thema. So komplex, dass es sich lohnt, sich erneut oder besser gesagt: immer wieder mit dem Vermächtnis des 2011 verstorbenen Weltliteraten Edouard Glissant auseinanderzusetzen. Der Artikel von Natascha Ueckmann stellt in dieser Auseinandersetzung mit seinem Gesamtwerk elementare Fragen:

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Wie können Sprache und Schrift traumatische Momente als Spur in sich

Verantwortliche Redakteurin: Anita Djafari unter Mitarbeit von Antje te Brake, Stefanie Frei, Petra Kassler, Corry von Mayenburg und Lea Himmelsbach.

Mitarbeiter dieser Ausgabe: Esther Andradi, Larissa Bender, Katharina Borchardt, Andrew Brown, Jutta Himmelreich, Eva Massingue, Jochen Plötz, Reinier Pérez-Hernández, Jose Punnamparabil, Peter Ripken, Almut Seiler-Dietrich, Natascha Ueckmann, Edith Werner und Thomas Wörtche.

tragen, wo sich doch Sprache und Trauma bis zu einem gewissen Grad

Anzeigenverkauf: Agentur Hanne Knickmann, Darmstadt hk@hanne-knickmann.de Gestaltung: Renate Schlicht www.renateschlicht.de • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Verleger und Vertrieb: Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. Druck: Hassmüller, Frankfurt Erscheinungsweise: viermal jährlich. Ab 2012: Bezugsbedingungen: a 25,– jährlich einschl.

Versandkosten; das Abonnement verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis zum 30. September gekündigt ist. Einzelpreis o 6,50 Gefördert vom Evangelischen Entwicklungsdienst.

Bitte teilen Sie Änderungen der Bezugsanschrift rechtzeitig mit.

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Copyright: LiteraturNachrichten Für die Übersetzungen bei den Übersetzern.

Nachdruckgenehmigung wird gerne erteilt.

Unverlangt eingesandte Beiträge werden geprüft, telefonische (Vorab-)Anfrage ist sinnvoll.

Leserbriefe sind willkommen.

Die Meinung in den Beiträgen gibt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

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gegenseitig ausschließen? Was passiert, wenn die Erzählbarkeit von Geschichte selbst in Frage gestellt ist? Welche Rolle spielt die Fähigkeit zur Imagination? Die Schlussfolgerung: Der Literatur kommt bei der Bewältigung der Vergangenheit eine entscheidende Funktion zu, besonders in postkolonialen Gesellschaften.

Aber nicht jede Erinnerung ist mit einem Trauma belastet. Trotzdem kann es gut tun, diese einfach aufzuschreiben, so wie es der indonesische Autor Andrea Hirata mit seinem autobiographischen Buch Die Regenbogentruppe getan hat. Dann ist sie Vergewisserung, für den, der sie aufschreibt, aber vor allem auch für viele, in seinem Fall unzählige Menschen, die sich in der Geschichte wiederfinden. (s. S. 20) „Mit jedem Tag, an dem ein alter Mensch in Afrika stirbt, stirbt eine Bibliothek“. Diesen viel zitierten, überstrapazierten Ausspruch des Autors Amadou Hampaté Ba aus Mali mag die jüngere Generation von afrikanischen Schriftstellern nicht mehr hören. Zu Recht. Die tatsächliche Bibliothek in Mali aber war tatsächlich von Islamisten beinahe zerstört worden und konnte doch zu großen Teilen auf wundersame Weise gerettet werden. Solche Geschichten gehören zweifellos zu den guten Nachrichten.

Eine weitere gute Nachricht ist die, dass litprom den LiBeraturpreis fortführt und zwar schon ab diesem Jahr. Er wird im Oktober 2013 auf der Frankfurter Buchmesse verliehen an die Brasilianerin Patricía Melo für ihren Roman – Krimi, Thriller? – Leichendieb. Offenbar lässt dieses Buch viele Lesarten zu, und nicht nur das macht es spannend und auf kluge Weise unterhaltsam. Wir gratulieren der Autorin und freuen uns auf neue Aufgaben mit diesem besonderen Preis, den wir von Anfang an begleitet haben.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer mit viel Zeit für gute Bücher.

Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 9 vom 31.1.2012 Titelgestaltung: Renate Schlicht unter Verwendung eines Fotos © John Messina

Ihre Anita Djafari

I N H A LT

Thema

Trauma und Opazität: Edouard Glissant Die andere Seite der Erinnerung: Afrokubanische Zeugenaussagen Wir müssen uns erinnern: Fawwaz Haddad (Syrien) Die Schönheit der Grautöne: Raj Kamal Jha (Indien)

Porträt

Zwischen Fiktion und Chronik: William Ospina Buitrago (Kolumbien) Gay im Glashaus – Literatur aus Singapur

Poesie Gespräch In eigener Sache

Leung Ping-Kwan – In memoriam Ich bin ein Glückspilz: Andrea Hirata (Indonesien) Die Bestenliste Weltempfänger litprom und der LiBeraturpreis

Buchwelten

Andrew Brown (Südafrika) auf Recherchereise im Sudan Wir sind zu weltoffen gewesen – Literaturförderung in den Niederlanden Verbrannte Bibliotheken – Literatur in Mali

Kinder- und Jugend Büchermenschen Nachruf Krimikolumne Nachschlag Vorschlag Preise / Nachrichten

Der Astrid Lindgren Memorial Award für Isol (Argentinien) Christian Weiß, Draupadi Verlag – Zufrieden sollte ein Verleger nie sein Chinua Achebe – Der große Lehrer ist tot

4 8 10 12 14 24 16 20 26 37 18 22 28 30 32 34

Zur Übersetzung empfohlen: Erinnerungen – tröstlich und verstörend

36 38 39

Angola, Guinea, Kenia, Nigeria / Deutschland, Algerien, Irak/ Deutschland, Kuwait,

40

Thomas Wörtche über Spionage-Romane im Hier und Heute Aus dem Regal hervorgeholt: Der Junge von J.M. Coetzee

Syrien, China, Indien / Großbritannien, Malaysia, Thailand, Jamaika, Trinidad, Argentinien, Peru.

Rezensionen

Amin Zaoui: Das Zimmer der unkeuschen Jungfrau

44 45 46 46 47 48 49

Gewinnspiel für aufmerksame Leser/ innen der LiteraturNachrichten und Vorschau

50

Yejide Kilanko: Der Weg der Töchter Ricardo Domeneck: Körper: Ein Handbuch Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band Patrícia Melo: Der Leichendieb Valeria Luiselli: Die Schwerelosen Kamel Daoud: Minotaurus 504

Preisrätsel

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Thema

EDOUARD GLISSANT ZÄHLT ZU DEN WICHTIGSTEN ZEITGENÖSSISCHEN AUTOREN FRANZÖSISCHER SPRACHE UND PRÄGT ALS ROMANCIER, ESSAYIST, LYRIKER, DRAMATIKER UND JOURNALIST DIE AKTUELLE LITERATURLANDSCHAFT SO NACHHALTIG WIE VOR IHM SICHER NUR AIMÉ CÉSAIRE. SCHON SEIN WECHSELVOLLES LEBEN ZEIGT DABEI DAS DAUERNDE INEINANDERGREIFEN VON REGIONALITÄT UND INTERNATIONALITÄT, SEIN WIRKEN ZWISCHEN ‚PERIPHERIE‘ UND ‚ZENTRUM‘. STETS BETONTE ER SEINE ZUGEHÖRIGKEIT ZUM KARIBISCHEN RAUM UND AGIERTE ZUGLEICH ALS INTELLEKTUELLER IN EUROPA UND DEN USA. IM FEBRUAR 2011 STARB ER IN PARIS. NATASCHA UECKMANN HAT SICH MIT SEINEM GEDANKLICHEN VERMÄCHTNIS AUSEINANDERGESETZT.

VON ZERSPLITTERTEN WELTEN UND FAMILIENGENEALOGIEN Bereits 1981, in seinem weithin wahrgenommenen Band Zersplit-

Zersplitterte Welten: „Die Idee von der Einheit der Antillen ist eine

terte Welten. Der Diskurs der Antillen (Wunderhorn 1986, Übers.

Rückeroberung auf kulturellem Gebiet. Sie versetzt uns wieder in

Beate Thill) – eine Zusammenschau von Artikeln, Vorträgen, Vorwor-

unser wahres Wesen, sie ist Vorkämpferin für unsere Emanzipation.“

ten und Essays aus den 1960er und 1970er Jahren –, hebt Glissant die

Edouard Glissants Gesamtwerk entzieht sich dem Versuch einer bün-

Zugehörigkeit der Karibik zum amerikanischen Raum hervor. Sein

digen Zusammenfassung, denn seine poetischen Leitbegriffe der

Anliegen ist, der damaligen Zeit gemäß, eine Bewusstwerdung der

Opazität und Akkumulation prägen maßgeblich seine Schreibweise.

eigenen Geschichte und zielt auf eine (Re)Aktivierung des kollektiven

Auch gattungstheoretisch unterlaufen seine Texte jede eindeutige

Gedächtnisses. Glissant wendet den Diskurs der Négritude von ihrer

Zuordnung. Seine essayistischen Abhandlungen sind immer auch po-

Fokussierung auf Afrika ab und nimmt eine weltumspannende

etisch, romaneskes Geschehen verknüpft er mit philosophisch-theo-

Gemeinschaft der Menschen afrikanischer Herkunft in den Blick. Zu-

retischen Reflexionen. Die Entwicklung von poetologischem Diskurs

gleich insistiert er auf der Besonderheit der antillanischen Situation

sowie erzählerischem und lyrischem Werk vollzieht sich bei Glissant

und fordert, Martinique aus der Anbindung an Frankreich als Über-

stets als parallel verlaufender Prozess. Diese Engführung von Litera-

see-Departement zu lösen. Sowohl die Assimilation an französische

tur, Poetik und Theorie bringt seinem Werk nicht selten den Vorwurf

Normen wie auch die Ausflucht (détour) durch die mentale Anbin-

ein, hermetisch und schwer zugänglich zu sein. Glissant nutzt post-

dung an das Geburtsland (pays natal ) der afrikanischen Vorfahren

strukturalistische Modelle der Rhizomatik und Nomadologie, um ein

verhindere, so Glissant, dass sich die Antillaner an ihrem realen Ort

kartographisches, intertextuelles, hochgradig hybridisiertes, sprung-

situierten. Die mangelnde Auseinandersetzung mit dem eigenen Le-

haftes, tendenziell unabschließbares Textgewebe zu entwerfen. Er

bensraum und der eigenen Geschichte verleite sie dazu, sich weiter

verliert dabei jedoch nie die kulturellen, sozialen und historischen

in neokoloniale Abhängigkeiten zu verstricken. So schreibt er in

Entstehungsbedingungen von Literatur aus den Augen, vielmehr

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LiteraturNachrichten Nr.117 Sommer 2013

Thema

Aus: „Haiti, her history and her detractors“ von Jacques Nicolas Léger, veröffentlicht 1907

LITERATUR ALS ANAMNESE DER KARIBISCHEN GESELLSCHAFT illustriert sein Werk eindrucksvoll die Überschreitung und ‚Erdung‘

Glissant verfolgt mit seinem Schreiben ein doppeltes Ziel: Einerseits

postmoderner Ansätze. Sein achtbändiges Romanwerk, welches über

plädiert er für eine Antillanität in Form einer strategischen, positiven

einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten entstanden ist, liest sich, um es

Ethnizität und andererseits beabsichtigt er, spätestens seit seiner

mit den Worten des Autors zu sagen, wie eine prophetische Vision

Poétique de la Relation (Poetik der Beziehung, 1990) die Antillen

der Vergangenheit. Steht in den früheren Romanen die antillanische

kulturell anschlussfähig zu machen an eine globalisierte Welt, gar im-

Geschichte im Mittelpunkt, gehen die späteren wie z. B. Tout-monde

pulsgebend auf sie einzuwirken und Konzepte wie Tout-monde, Kre-

(1993), Sartorius. Le roman des Batoutos (1999) und Ormerod

olisierung und Weltliteratur neu zu definieren. Er setzt dies in einem

(2003) weit über den antillanischen Raum hinaus. Die Bestandsauf-

dreistufigen Prozess um: Seine frühen Romane, Gedichte und Essays

nahme der karibisch-martinikanischen Gesellschaft erfolgt in Form

versuchen, antillanische Raum- und Zeiterfahrungen durch Verdun-

einer Familiensaga, denn das Glissantsche Universum basiert auf frag-

kelungen hindurch nachträglich zugänglich zu machen. Zersplitterte

mentierten Familiengeschichten, auf der Relation von esclave (‚Fami-

Welten werden wie Geschichtsfäden aus der Erinnerung gehoben. Sie

lie‘ Beluse) und marron (‚Familie‘ Longoué) und erschließt sich erst

sind Grundlage zur Schöpfung eines romanesken karibischen Univer-

mit der Lektüre mehrerer Romane. Von Sturzflut bis Ormerod wird

sums, welches als kulturelles Hinterland fungiert. Das Glissantsche

der Leser in ein genealogisches Labyrinth von stark miteinander ver-

Œuvre versucht so, der von ihm diagnostizierten kollektiven Selbst-

flochtenen Geschichten geführt. Die Rolle des maître wird dabei inter-

besitzlosigkeit der Antillaner, hervorgerufen durch Verschleppung

essanterweise auf einen gelegentlichen Auftritt beschränkt. Ein sol-

und Versklavung und der damit einhergehenden Enteignung, Ent-

ches Fehlen kolonialer Protagonisten und Erzähler innerhalb der

fremdung und Abhängigkeit eine literarische Anamnese entgegen-

Figurenkonstellation im postkolonialen Roman ist ein wirkungsvolles

zusetzen. Die ‚Reiserouten’ sind zunächst auf die insuläre Binnen-

Verfahren, westliche Diskurs-Dominanz zu unterlaufen.

wanderung konzentriert. Erst in einem zweiten Schritt wird der

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Thema

len, aus. Zugleich greifen seine Konzepte der All-Welt, der Rhizom-Identität und der Kreolisierung über den antillanischen Raum hinaus und stellen Verbindungen zu anderen globalen Identitäten her. Kreolisierung versteht sich als utopisches Projekt, basierend auf universellen, humanistischen, sprich kreolen Werten; Universalität ist hier an Differenz und Pluralität gebunden. Erfahrungen von Marginalität und Alterität werden so zum Ausgangspunkt für ein neues Denken gemacht, welches auf die ganze Welt ausgreift. Kulturelle Vermischungen und migratorische Mobilität verlieren ihren Ausnahmecharakter und werden in einer schwindelerregenden Weise zum Normalzustand.

TRAUMA UND GEDÄCHTNIS Kreolisierung wird von Glissant maßgeblich von dem Verschleppungstrauma her gedacht. Sie nimmt also auf dem Sklavenschiff und der Plantage ihren Ausgang und ist demzufolge historisch klar konnotiert. Somit lotet Glissants Werk die Möglichkeiten von Literatur nach einem Nullpunkt aus, der sehr viel früher anzusetzen ist als jener der Shoa und läuft auf die zentrale Frage hinaus: Wie kann Sprache/ Schrift traumatische Momente als Spur in sich tragen, wo sich doch Sprache und Trauma bis zu einem gewissen Grad gegenseitig ausschließen? Was passiert, wenn die Erzählbarkeit von Geschichte selbst in Frage gestellt ist? Wie kann historische Gewalterfahrung, die sich in einem transgenerationellen Trauma manifestiert, dargestellt werden? Wie kann nach Auf der osmanischen Karte des Piri Reis von 1513 ist in arabischer Schrift eine Insel mit „antilia“ bezeichnet, von der Lage her wird dahinter die Insel Kuba vermutet. Nur die Hälfte der Karte überlebte, eine Synthese aus 20 Karten, darunter eine Zeichnung von Kolumbus.

der Erfahrung der Sklaverei eine neue Genese entstehen? Wie ist aus radikal diskontinuierlichen Lebensgeschichten und zersplitterten Geschichtsverläufen ein identitäres und kulturelles Bewusstsein zu gewinnen?

Inselraum auf alle möglichen Relationen zur Welt hin geöffnet. Ge-

Das Glissantsche Textgewebe akkumuliert hierfür auf allen Ebenen,

rade Tout-Monde versammelt diverse Formen des Reisens und der

um so der historisch erlebten Enteignung durch eine netzartige Er-

Migration. Die Protagonisten durchstreifen von Martinique ausge-

zählungshäufung und einer Fülle von Stimmen entgegenzuwirken.

hend den halben Erdball: Korsika, Ägypten, Algerien, Indochina und

Glissant schafft sich auf diese Weise ein eigenes Zentrum und öffnet

den Senegal. Dieser Roman ist aber auch schon die literarisch-experi-

sich von dieser imaginären Verwurzelung weiter auf die Welt. Die Ab-

mentelle Vorbereitung des dritten philosophischen Schrittes, in dem

arbeitung an der kolonialen und von Sklaverei geprägten Vorge-

die karibische Erfahrung der Kreolisierung als Keimzelle einer uner-

schichte ist nötig, um der vermeintlichen non-histoire, sprich der Aus-

messlichen Vielfalt von Varianten erscheint und das archipelische, ver-

löschung des kollektiven Gedächtnisses in der Karibik eine kulturelle

netzte, geteilte Denken zu einem globalen Prinzip ernannt wird. Aus

Selbstreflexion entgegenzusetzen, denn historisches Bewusstsein

der Erfahrung der Nicht-Geschichte der Antillaner und aus der Ana-

steht in unmittelbarer Verbindung mit politischer, zukunftsorientier-

lyse der Kreolisierungsprozesse gewinnt Glissant zunehmend ein Mo-

ter Handlungsfähigkeit. Ziel ist es, Teil eines transkulturellen Ge-

dell für vorgelebten Kulturkontakt von universaler Tragweite.

schichtsbewusstseins zu werden, ein kollektives Gedächtnis des Un-

Dabei geht sein Denken immer wieder von den Erfahrungen im kul-

rechts und Widerstands zu gewinnen und eine Vielfalt von Stimmen

turellen Mikrokosmos der eigenen Herkunft, den französischen Antil-

zu Gehör zu bringen.

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LiteraturNachrichten Nr.117 Sommer 2013

Thema

Glissant spricht in seiner Poetik der Beziehung von einer Ästhetik des

Übers. Helga Pfetsch), aber durchaus verallgemeinerbar für die Afri-

Wirbels und des Chaos, die mit der Un-Erzählbarkeit von Traumata

can-American community festgehalten, dass sie sich „anstelle einer

einhergeht. Trauma meint eine Verwundung des Gedächtnisses, eine

patriarchalischen ungebrochenen genealogischen Linie […] nur eines

bis zu einem gewissen Grad unheilbare Lücke. Im Gegensatz zu

Erbes von Brüchen, Verlusten, Abwesenheiten und Zerstörungen der

psychoanalytischen Ansätzen – Freud unterscheidet zwischen

Generationenabfolge gewiss sein kann.“ Beloved, so Sabine Bröck

Wiederholung, Erinnerung und Durcharbeitung – ist eine endgültige,

in ihrem Artikel biete eigentlich – wenn auch von den Kritikern viel zu

heilende Überwindung kollektiver Traumata fraglich und in der Kul-

häufig übersehen – gerade keine ‚kathartische Narration‘ an. Ver-

turanalyse bewusst nicht gewollt. Brüchige, marginale und ver-

gleichbare narrative Lücken oder Exzesse lassen sich für Glissants

drängte Erinnerungen lassen sich nicht ohne Weiteres in eine ge-

Schreibweise konstatieren, so dass sich beachtenswerte Parallelen

schlossene Erzählung überführen, sondern verlangen in besonderer

innerhalb der Postplantation Literature auftun. Ob Morrison oder

Weise nach einer Auseinandersetzung auf der Ebene der Darstellung.

Glissant, diese Romane funktionieren gerade in der Fuge der Un-

Ein kollektives Trauma lässt sich nicht auf eine Frage des Wissens re-

trennbarkeit der beiden Konzepte von verfügbarer und unverfügba-

duzieren, denn es entzieht sich einer vollständigen Historisierung und

rer Erinnerung. Die Texte sorgen für eine partielle Verfügbarkeit der

Symbolisierung, d. h. einer vollkommenen Verfügbarkeit durch Er-

Erinnerung, jedoch nicht, ohne die Verdrängung und Dis-Integration

zählen. Ein vornehmlich in der Tradition der Aufklärung stehender

traumatischer Erfahrungen zu markieren.

Geschichts- und Analysebegriff, dessen Ziel es wäre, alles gänzlich zu

Jede Darstellung von Gewalt und Trauma verlange, so Martina Kopf

verstehen, greift hier zu kurz. So heißt es bei Glissant in Zersplitterte

in ihrer Studie Trauma und Literatur aus dem Jahr 2005, notwen-

Welten: „Das Chaos der Erinnerung (die anstößig, entfremdet ist)

digerweise bis zu einem gewissen Grad eine imaginäre und kreative

kann nicht in der ‚Klarheit‘ eines flüssig aufgebauten Aufsatzes er-

Auseinandersetzung, um der Erstarrung und Einkapselung trauma-

forscht werden. Die Textproduktion muss ihrerseits Geschichte pro-

tischer Erfahrungen entgegenzuwirken. Die Fähigkeit zur Imagination

duzieren.“ Inmitten des reproduzierbaren Wissens kann sich das kol-

begreift Kopf „als eigentliche Gegenkraft zum Zusammenbruch des

lektive Trauma der Deportation und Sklaverei aber durch Opakes,

Konstruktionsprozesses und der Auslöschung von Form und Struktur,

Risse, Brüche oder Leerstellen äußern. Ein solches Denken der Er-

wie sie die Traumaforschung beschreibt“. Der postkolonialen Litera-

schütterung, wie Glissant sagt, ermöglicht einen graduellen, unsi-

tur kommt somit eine wichtige Rolle der Repräsentation, der Histori-

cheren Zugang zur Historiographie. Vergangenheitserschließung ver-

sierung und Aufarbeitung traumatischer Ereignisse zu.

läuft hier entlang vielfältiger Geschichten und Spuren. Glissant geht es nicht darum, das Trauma schlicht unverfügbar zu lassen, sondern vielmehr um das Recht auf Opazität angesichts einer undurchdringlichen Geschichte. Sein Schreiben zielt keineswegs auf die Aufhebung

Natascha Ueckmann ist Akademische Rätin sowie Geschäftsführerin des Instituts für postkoloniale und transkulturelle Studien an der Universität Bremen

von Referenz, sondern auf Öffnung, Pluralität und Diskursgerechtigkeit von Stimme(n) und Gegenstimme(n). Eine Verständigung darüber, dass Kultur und Wissen stets zirkulieren und keinen festen Eigentümer haben, führe dazu, dass die subalternen Stimmen aufgewertet werden. Das Ende der jeweils einen großen Erzählung eröffnet die Möglichkeit einer Vielfalt heterogener Geschichtskonstruktionen, Erinnerungskulturen und Lebensweisen. Erst wenn alle Geschichten erzählt seien, könne man demnach von einer All-Welt (Tout-monde) sprechen. Zentrale Voraussetzung dafür ist für Glissant, dass die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit benannt und erinnert wird. Gerade das Gegengedächtnis und die Erfahrungen der bislang ausgeschlossenen Menschen sollen Eingang in das Denken und in ein globales ‚Wissensarchiv‘ finden. Glissant betont die Möglichkeiten eines subversiven kollektiven Gedächtnisses über ein Denken der Spur: „Da das historische Gedächtnis allzu oft ausgelöscht worden ist, muß der antillanische Schriftsteller in ihm weitergraben, er muß oft verborgene Spuren aufnehmen, […].“ Durch seine performative Erzählweise verweist sein Werk auf die innere Brüchigkeit und Fragmentiertheit der entworfenen, imaginären Familiengenealogien. Sabine Bröck hat speziell für Toni Morrisons preisgekrönten Roman Beloved (Menschenkind, Rowohlt 1989,

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Edouard Glissant wurde 1928 auf Martinique geboren. Nach dem Abitur, 1946, studierte er in Paris Ethnologie, Geschichte und Philosophie. Er war Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitschriften, u.a. Présence africaine und Les Lettres nouvelles. Sein politisches Engagement für die Unabhängigkeit der Karibik führte dazu, dass ihm unter de Gaulle der Aufenthalt auf Martinique untersagt und er nach Frankreich verbannt wurde. Zurückgekehrt, gründete er in den 1960er Jahren das Lehr- und Forschungszentrum Institut martiniquais d’études und die Zeitschrift Acoma. Glissant trat 1982 den Chefredakteurposten des Courrier de l’UNESCO an, der damals viele Schriftsteller aus aller Welt beschäftigte. Zum Abschluss war Glissant 1989 u. a. in die Verhandlungen anlässlich der Auflösung der UdSSR eingebunden. Er lehrte dann in den USA, zunächst an der Louisiana State University in Baton Rouge und nahm ab den 1990er Jahren an der City University of New York eine Professur für Literatur wahr. Glissant verstand es zeitlebens, sich über die Schriftstellerei hinaus gezielt in politische Fragen einzumischen: Sei es sein Engagement als Vizepräsident des Internationalen Schriftsteller-Parlaments, welches ab 1994 mit dem Programm „Städte der Zuflucht“ für verfolgte Autor/innen hervorgetreten ist, sei es seine Gründung des Institut du ToutMonde im Jahre 2006 in Paris oder auch die beiden, zusammen mit Patrick Chamoiseau verfassten Pamphlete Quand les murs tombent. L’identité nationale hors-la-loi? (2007) und L’Intraitable beauté du monde: Adresse à Barack Obama, 2009 (Die unbezähmbare Schönheit der Welt. Brief an Barack Obama und Wenn die Mauern fallen (Wunderhorn 2012, Übers. Beate Thill).

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Thema

IM MÄRZ 2013 ERSCHIEN DER ROMAN GOTTES BLUTIGER HIMMEL DES BERÜHMTEN SYRISCHEN SCHRIFTSTELLERS FAWWAZ HADDAD IN DER ÜBERSETZUNG VON GÜNTHER ORTH IM AUFBAU VERLAG. DARIN SCHICKT DER AUTOR SEINEN PROTAGONISTEN IM JAHR 2006 IN DEN IRAK – UND DAMIT IN DIE HÖLLE. ER IST AUF DER SUCHE NACH SEINEM SOHN, DER SICH, OBGLEICH SÄKULAR ERZOGEN, DER ORGANISATION AL-QAIDA ANGESCHLOSSEN HAT. WAS DER VATER AUF SEINER REISE ERLEBT, IST SO GRAUSAM, DASS ER KURZ VOR SEINER RÜCKKEHR NACH SYRIEN SEIN GEDÄCHTNIS VERLIERT. DOCH ER WEISS, DASS ER SICH ERINNERN MUSS, UND SO LÄSST DER AUTOR DEN LESER AM PROZESS DES ERINNERNS TEILHABEN UND ENTFALTET DAS BILD EINER ZUTIEFST IN IDEOLOGIEN VERSTRICKTEN REGION UND EINES EXISTENZIELLEN GENERATIONENKONFLIKTS. LARISSA BENDER HAT DEN AUTOR IN HAMBURG GETROFFEN UND MIT IHM ÜBER DEN ROMAN UND DIE SITUATION IN SYRIEN GESPROCHEN.

Larissa Bender: Herr Haddad, warum haben Sie, als Syrer,

Immer wenn ich einen Roman schreibe, sammele ich so viel Material

den Irak als Thema Ihres Romans gewählt?

wie möglich. Das ist natürlich auch ein Problem für einen Schriftstel-

Fawwaz Haddad: Ich habe den Irak als Schauplatz gewählt, aber es

ler, denn auf der einen Seite verfügt er zwar über viele nützlich Infor-

ist kein Roman über den Irak, sondern ein Roman über die Iraker.

mationen, auf der anderen Seite kann er sich auch verzetteln. Es ver-

Eigentlich aber ist es die Geschichte über einen Vater, der in den Irak

langt schon eine gewisse Professionalität, damit umzugehen. Der

reist, um seinen Sohn von Al-Qaida zurückzuholen. Die Geschichte

Autor muss wissen, was er will, er muss Hauptlinien des Romans fest-

spielt zufällt im Irak, und zufällig hatte es eine amerikanische Invasion

legen, an die er sich hält, um zu einem Ergebnis zu kommen.

gegeben. wählt. Der Protagonist will eigentlich vergessen, aber er

und die Situation im Irak war damals schrecklich. Das war

spürt gleichzeitig, dass das Vergessen sein Leben zerstören

eine beabsichtigte Wahl, kein Zufall.

wird. Was bedeutet es, wenn eine Gesellschaft ihre Ge-

Das war natürlich kein Zufall. Als die amerikanische Invasion in den

schichte vergisst?

Irak begann, hielt ich das für ein einschneidendes Ereignis für die

Der Protagonist wollte bewusst vergessen und dann vergaß er tat-

gesamte Region, denn zum ersten Mal kehrte der Kolonialismus in

sächlich. Er wollte alles vergessen, was er erlebt hat, denn die Ereig-

Gestalt von Armeen zurück. Von dem Zeitpunkt an habe ich alles über

nisse, die ich in dem Roman schildere, haben es verdient, vergessen

den Irak gesammelt, 1200 Dokumente. Darauf habe ich mich beim

zu werden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Gesellschaften

Schreiben des Romans gestützt. Das Besondere war ja auch, dass Al-

vergessen müssen, um neu beginnen zu können. Aber durch dieses

Qaida in den Irak kam, und zwar in der Person von Abu Musab al-Zar-

Vergessen verlieren sie auch die Zukunft. Wenn man seine Vergan-

qawi, und ich glaubte, dass dieser Zusammenprall von Amerikanern

genheit vergisst, ist man wie gelähmt. Man weiß nicht mehr, wohin

und extrem fundamentalistischen Gruppierungen ein ganz wichtiges

man gehen soll, denn die Vergangenheit weist einem auch die Rich-

Ereignis sein würde. Und so war es dann ja auch.

tung. Der Protagonist hat also gemerkt, dass er sich – auch wenn die Vergangenheit vermint ist – erinnern muss. Wer sich nicht erinnert,

Wo haben Sie geforscht, woher hatten Sie all diese Doku-

wiederholt seine Fehler.

mente?

Ich habe jeden Tag alles, was über den Irak erschien – Reportagen,

Sie haben in dem Roman drei ganz besondere Tabus be-

Nachrichten etc. – gesammelt und Dossiers erstellt. Zum Beispiel ein

handelt: die Homosexualität unter Männern, den Atheismus

Dossier über die Söldner im Irak, über die Frauen, die Scharia, Al-

und die Vergewaltigung von Frauen. Gerade in der heutigen

Qaida, und aus diesen 1200 Dokumenten sind dann etwa 50 große

Zeit sehen sich Schriftsteller in der arabischen Welt Angriffen

Ordner geworden.

ausgesetzt, auch und gerade von Salafisten.

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LiteraturNachrichten Nr.117 Sommer 2013

© Larissa Bender

Sie haben in dem Roman auch das Vergessen als Thema geAber Sie waren es, der den Sohn in den Irak geschickt hat,

Thema

Wie war die Reaktion auf den Roman in Syrien?

Ehrlich gesagt bereitet mir diese Frage wirklich schlaflose Nächte,

Das Problem ist, dass sich die Kritiker in Syrien, die Menschen, die

besonders, weil so etwas nun in unseren Ländern passiert. Betrach-

überhaupt lesen, gar nicht berühren lassen, so viele Fragen ein Roman

ten wir einmal den Ersten und den Zweiten Weltkrieg! Es gab

auch aufwerfen mag. Deshalb ist gar nichts passiert. Bei uns sind die

schreckliches Leid, etwa als die deutsche Armee in Russland einmar-

Intellektuellen träge, man kann ihnen ein Thema präsentieren, wel-

schierte, Massaker verübte und Angst und Schrecken verbreitete. Da

ches sie diskutieren können, aber das tun sie nicht. Vielleicht hängt

fragt man sich auch, woher dieser Hass bei den Menschen kommt. Es

das mit der Feindschaft der Intellektuellen untereinander zusammen,

hat den Anschein, dass der Krieg das Tierische im Menschen entfes-

mit Dummheit.

selt, aber eigentlich sind Tiere ja gar nicht so brutal. Was im Irak geschah und jetzt vielleicht in Syrien liegt in der Natur des Menschen.

Und wie sieht es mit der offiziellen Zensur durch die Regie-

Man versucht es einzugrenzen, durch Religionen, Regierungen, aber

rung aus?

es scheint doch, dass der Mensch, wenn er die Möglichkeit dazu hat,

Natürlich bin ich schon sehr früh der Zensur ausgesetzt gewesen und

die grausamsten Verbrechen begeht.

habe deshalb im Libanon veröffentlicht. Seit meinem dritten Roman wurde ich in Syrien schon verboten. Man hatte damals meinen Fall

Die Religionen begrenzen diese Brutalität, aber im Namen

sogar der Regionalführung (der Baath-Partei, A.d.Ü.) vorgelegt. Aber

der Religionen werden auch die schrecklichsten Verbrechen

auch der Schriftstellerverband hat nicht zugestimmt. Es war unmög-

begangen, wie Sie ja auch im Roman beschreiben.

lich. Dann habe ich den Roman im Libanon veröffentlicht und ver-

Die Religionen entstanden, um eine moralische Stütze darzustellen,

sucht, ihn offiziell über das Informationsministerium ins Land zu

und dann wurden sie instrumentalisiert. Genau wie alles andere in-

holen, aber auch dem hat man nicht zugestimmt. Seitdem publiziere

strumentalisiert wird, der Marxismus oder alle anderen Ideologien.

ich im Libanon.

Alles hat zwei Gesichter.

Wie kann man in einer Diktatur wie in Syrien schreiben, ohne

Wir haben seit Beginn der Revolution nur wenig von den

die Schere im Kopf?

syrischen Intellektuellen gehört, die im Land leben. Wie ist

Das ist das einzige, wovor ich Angst habe: die Selbstzensur. Und ich

ihre Situation?

bekämpfe sie. Manchmal brauche ich ein, zwei Tage, eine Woche, bis

Es gibt Intellektuelle, die beim Staat angestellt sind, diese haben ge-

ich sie überwinde. Wenn ich über die Konsequenzen nachdächte,

schwiegen. Und das ist auch gut so, denn andere, ebenfalls Ange-

würde ich aufhören zu schreiben. Es gibt Romane, die sich einem ge-

stellte beim Staat, haben gegen die Revolution geschrieben, bis jetzt.

radezu aufdrängen, man hat sie so vielleicht gar nicht geplant. So

Aber es gibt auch Schriftsteller, die weit weg vom Zentrum lebten,

ging es mir auch mit Gottes blutiger Himmel. Ich wollte einfach das

auf dem Land, die sich an Demonstrationen beteiligten. Von ihnen

Leiden eines Vaters beschreiben, der nicht damit gerechnet hat, dass

wurden einige getötet. Manche haben das Land auch verlassen.

das mit seinem Sohn passiert, und der losgezogen ist, um ihn zurückzuholen. Und plötzlich war ich mit der Invasion konfrontiert, die

Warum und wann sind Sie weggegangen?

konnte ich nicht ignorieren. Daraus ergaben sich dann auch alle an-

Ich bin vor sechs Monaten weg, nicht weil ich bedroht wurde, son-

deren beschriebenen Themen.

dern weil ich wie ein Gefangener zuhause in Damaskus eingesperrt war. Ich bin kaum noch rausgegangen. Und den ganzen Tag Nach-

Diese Themen haben sich also aufgedrängt? Sie haben sie

richten zu hören, ist eine unglaubliche psychische Belastung. Ein

nicht gewählt?

Freund lud mich nach Katar ein, um meinen neuen Roman dort zu

So ist es. Romane schreiben bedeutet für mich, Lösungen zu finden.

schreiben. Deshalb bin ich jetzt in Katar, in Doha, zu Gast.

Immer wenn ich eine Linie im Roman verfolge, stoße ich auf ein neues Problem. Und dann erreiche ich irgendwann einen Punkt, an dem ich

Handelt der neue Roman von den Ereignissen während der

verzweifle und sage, ich schreibe diesen Roman nicht weiter. Doch

Revolution?

immer wenn ich das Gefühl habe, der Weg sei versperrt, finde ich

Ja, natürlich. Ich schreibe über diese unglaublichen Geschehnisse in

plötzlich einen Ausweg. Manchmal auch mehrere, und ich wähle

Syrien, darüber, dass wir uns nach 40 Jahren Geheimdienststaat von

einen aus. Deshalb schreibe ich auch sehr langsam, ich denke viel

diesem befreien. Darüber muss ich einfach schreiben. Es ist eine Auf-

nach.

forderung, sich zu erinnern. Wir müssen uns daran erinnern, was wir erlebt haben.

Sie schildern in dem Roman eine unglaubliche Brutalität, der Amerikaner wie auch der Iraker. Nun ist die Situation in Syrien beinahe so wie damals im Irak. Woher kommt all diese Brutalität Ihrer Meinung nach?

LiteraturNachrichten Nr.117 Sommer 2013

Larissa Bender ist Übersetzerin aus dem Arabischen. Sie lebt und arbeitet in Köln.

11

Gespräch

Andrea Hirata [Indonesien]

Ich bin ein Glückspilz Andrea Hirata wurde 1984 auf der Insel

Sie hatten gar nicht vor, Ihr Buch zu publizieren, oder?

Belitung geboren. Durch das Engage-

Ich habe den Roman 2005 geschrieben, und er war einfach ein Ge-

ment zweier Lehrer konnte er in seinem

schenk an meine früheren Lehrer. Ich wollte damit meiner Dankbar-

Heimatdorf eine Grundschule besuchen.

keit Ausdruck verleihen, dass sie mich unterrichtet haben.

Er schaffte es auf eine weiterführende Schule, an die Universität und studierte schließlich auch in

Wie gelangte das Buch dann zu einem Verlag?

Paris und in Sheffield. In seinem autobiografischen Roman Die

Irgendjemand hat eine der ersten zehn Kopien genommen und sie an

Regenbogentruppe (Hanser 2013, Übers. Peter Sternagel) er-

einen Verleger geschickt, der das Buch tatsächlich drucken lassen

zählt er von seiner Schulzeit: von der Freude am Lernen, von

wollte. Für die Allgemeinheit musste ich die Geschichte aber noch-

seinen Klassenkameraden und von der ersten Liebe. Der

mal kräftig überarbeiten. Die Überarbeitung hat sieben Monate lang

Roman wurde in Indonesien zum Bestseller. Nun ist er auch auf

gedauert.

Deutsch erschienen. Katharina Borchardt hat Andrea Hirata auf der Leipziger Buchmesse zum Interview getroffen.

Und Sie wissen nicht, wer die Kopie weitergegeben hat?

Nein. Wahrscheinlich war es ein damaliger Arbeitskollege von mir, aber so genau weiß ich das bis heute nicht.

Katharina Borchardt: Ihr Roman hat sich allein in Indonesien fünf Millionen Mal verkauft. Man sagt, er sei das erfolgreich-

Und jetzt wird Ihr Buch in etliche andere Sprachen übersetzt.

ste indonesische Buch aller Zeiten. Wieso hatte das Buch so

Es wird zum Beispiel in Ungarn, Spanien, Portugal, in den Niederlan-

einen Erfolg?

den und den USA publiziert. Ich bin wirklich ein Glückspilz!

Andrea Hirata: Mein Buch ist sicherlich so erfolgreich geworden, weil ich eine exemplarische Geschichte geschrieben habe. Viele Leser

Und Ihre Heimatinsel Belitung ist auf einmal weltberühmt.

konnten sich mit meiner Hauptfigur Ikal und seinen Freunden identi-

Ja, aber das liegt auch daran, dass Riri Riza das Buch 2008 fürs Kino

fizieren. Uns beschäftigen ja alle dieselben Themen: Kindheit, Familie

verfilmt hat. Der Film ist toll, er wurde 2009 sogar auf der Berlinale

und Bildung.

gezeigt. In dem Film konnte man auch die Strände von Belitung und die Vielfalt der dort ansässigen Kulturen sehen. Deshalb kommen nun

Haben Sie viele Reaktionen auf das Buch bekommen?

auch viel mehr Touristen zu uns als vorher. Das ist wichtig für uns,

Oh ja! Ich habe über 100.000 Briefe, Mails und SMS bekommen. Die

denn das Leben auf Belitung ist bis heute sehr hart. Viele arbeiten ja

meisten Leute haben mir geschrieben, wie sehr sie das Buch berührt

noch immer im Zinnbergbau, doch der Weltmarktpreis für Zinn

hat. Aber ich habe auch kritische Rückmeldungen bekommen.

schwankt. Darauf können wir unsere Zukunft nicht bauen.

Zum Beispiel?

Und der Tourismus ersetzt den Zinnabbau nach und nach?

Manche fanden das Buch langweilig. Manche haben mir auch ge-

Ja, total! Es arbeiten immer mehr Menschen im Tourismusbereich.

schrieben, es sei kein literarisches Werk, weil es stark autobiografisch

Zum Beispiel die Souvenirverkäufer, die Taxifahrer, die Fremdenführer

ist.

und die Inhaber von Reisebüros. Und auch die Bootsführer. Es gibt

Sie erzählen in der Tat Ihre eigene Schulgeschichte. Warum

manche Touristen auch gerne hin.

nennen Sie das Buch trotzdem einen Roman?

Die Hauptfiguren – meine Lehrer, meine Freunde und mich – gab es

Indonesien ist ein an Bodenschätzen reiches Land. Es gibt

wirklich. Aber ich habe unsere Erlebnisse natürlich ein bisschen dra-

dort viel Öl, Erdgas, Zinn und Kupfer. Das meiste Zinn wird in

matisiert und auch einiges hinzuerfunden. Insgesamt aber erzähle ich

Ihrer Heimatregion Bangka-Belitung abgebaut. Sie erwähnen

eine sehr einfache Geschichte. Ich bin im Grunde ein Dorfjunge.

dies auch immer wieder in Ihrem Roman. Was hat der Zinn-

Wenn Sie etwas Kompliziertes oder etwas Hochintellektuelles von mir

abbau, mit dem einst die Holländer begonnen haben, der

erwarten, dann werden Sie enttäuscht.

Insel gebracht? Und was hat er zerstört?

20

LiteraturNachrichten Nr.117 Sommer 2013

© Katharina Borchardt

mindestens 180 kleinere Inseln um Belitung herum, und da wollen

Gespräch

Es ist ein Dilemma: Wir haben Bodenschätze, die das Land reich

Gibt es in Ihrem Heimatdorf inzwischen auch einen Buchladen?

machen. Gleichzeitig ist der Boden aufgrund des hohen Zinngehaltes

In der Provinzhauptstadt Tanjung Pandan gibt es eine Buchhandlung,

aber für die Landwirtschaft kaum zu gebrauchen. Reis und Gemüse

aber bei uns auf dem Land leider noch nicht. Aber das ändert sich be-

wachsen bei uns nur ganz schlecht. Hinzu kommen die Umweltpro-

stimmt bald.

bleme durch den Bergbau, auch wenn das Zinn heute viel schonender abgebaut wird als früher.

Ist es nicht vor allem die Mittelklasse, die Bücher kauft?

Das mag sein. Viele Indonesier haben in ihrem Haus inzwischen eine

Kommt der schonende Abbau auch den Arbeitern zugute?

Familienbibliothek. Sie sind auch bereit, immer mehr Geld für Bücher

Es wird heute mehr auf das Wohl der Arbeiter geachtet als früher. In-

auszugeben. Doch auch unsere Regierung hat einiges dazu beigetra-

zwischen investieren die Firmen sogar in die Schulbildung der Arbei-

gen, indem sie zahlreiche Programme durchgeführt hat, um die Lust

terkinder. Das war in den 1980er und 1990er Jahren, als ich ein Kind

am Lesen zu wecken. Ich selbst bin auch ein „Lesebotschafter“ ge-

war, nicht so. Davon erzähle ich auch in meinem Buch.

worden.

Und darin erzählen Sie auch von den verschiedenen Volks-

Entdecken Sie selbst auch immer wieder neue Autoren?

gruppen, die heute zur touristischen Bedeutung Belitungs

Oh ja, es kommen dauernd neue Autoren hinzu. Jede Woche wer-

beitragen, wie Sie sagten. Da gibt es Malaien, Chinesen,

den in Jakarta und in anderen großen Städten neue Bücher vorge-

Sawangs und Sarogs. Alle kommen bei Ihnen gut miteinan-

stellt. Schließlich werden in Indonesien monatlich etwa 1.500 neue

der aus. Ist das nicht ein wenig schönfärberisch?

Bücher publiziert, Übersetzungen inbegriffen. Außerdem gibt es

Nein, das ist wirklich so! Wir leben sehr harmonisch zusammen,

immer mehr literarische Veranstaltungen. Besonders wichtig sind das

schon seit vielen Generationen.

Ubud Writers & Readers Festival auf Bali und das Makassar International Writers Festival auf Sulawesi.

Aber es gibt schon klare soziale Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen, oder?

Sie sind nach Ihrem Studium in Paris und Sheffield nach

Ja, so ist das Leben! Es ist schließlich unmöglich, dass jeder reich

Belitung zurückgekehrt. Hatten Sie keine Lust, in Europa zu

ist.

bleiben?

Ich habe genug studiert. Jetzt ist es Zeit, selbst etwas beizutragen. Ich

Was wäre aus Ihnen geworden, wenn Ihre Lehrer sich nicht

leite jetzt zum Beispiel eine eigene Schule für arme Kinder in meinem

so für Sie und Ihre Schulkameraden eingesetzt hätten?

Heimatdorf. Und ich habe ein Literaturmuseum eingerichtet, das

Dann wäre ich ganz sicher Bergarbeiter geworden. Wie mein Vater. Und

gleichzeitig ein Lernzentrum ist. Das Ganze bringt mir finanziell nichts

wie der Vater meines Vaters. Und wie der Großvater meines Vaters.

ein, aber es ist mein Beitrag zu Alphabetisierung und Bildung in meiner Heimat. Ich habe momentan 19 Schüler, und jetzt, da ich in

Die Schule hat Ihr Leben also komplett umgekrempelt?

Deutschland bin, vermisse ich sie sehr!

Ja, die Schule hatte allergrößten Einfluss auf mein Leben.

Sie sind sozial sehr aktiv. Wird Die Regenbogentruppe Wie kam Ihr Buch, nachdem es gedruckt war, eigentlich in

deshalb Ihr einziges Buch bleiben?

die indonesischen Buchläden? Indonesien besteht immerhin

Ich habe schon neue Ideen, doch momentan beschäftige ich mich vor

aus vielen Inseln. Gibt es ein gut funktionierendes Netz im

allem mit den Übersetzungen meines Buches. Ich kommuniziere viel

Land, um Bücher zu verbreiten?

mit den Herausgebern und den Übersetzern, damit bin ich in diesem

Die indonesische Buchindustrie hat sich in den letzten Jahren stark

Jahr ausgelastet. Aber nächstes Jahr möchte ich mit einem neuen

entwickelt. Es gibt inzwischen Buchläden im ganzen Land! Deshalb

Buch beginnen.

dürfen Sie auch nicht überrascht sein, dass sich mein Buch fünf Millionen Mal verkauft hat. Es gibt ja auch, soweit ich weiß, mittlerweile

Wird das wieder eine autobiografisch inspirierte Geschichte

fast 260 Millionen Indonesier. Zum einen leben bei uns sehr viele

werden?

junge Leute und die sind sehr wissbegierig, zum anderen ist die indo-

Ja, denn ich schreibe am liebsten über Dinge, die ich selbst erlebt

nesische Wirtschaft allein im letzten Jahr um knapp 7 Prozent ge-

habe.

wachsen. Sie ist die am schnellsten wachsende Wirtschaft in der Region. Parallel dazu nimmt natürlich auch das Interesse am Lesen zu.

Deshalb konnte sich auch unsere Buchindustrie so enorm entwickeln.

Man kann bei uns Bücher in Buchläden kaufen oder online ordern.

Außerdem gibt es viele Straßenverkäufer, die Bücher anbieten.

LiteraturNachrichten Nr.117 Sommer 2013

Katharina Borchardt ist Literaturkritikerin, Moderatorin und Literaturredakteurin (SWR2). Sie ist außerdem Mitglied der Jury für die litprom-Bestenliste Weltempfänger.

21

iteratur

R e z e n s i o n e n

Zerstörerisches Schweigen Opfer sexuellen Missbrauchs kennen meistens ihren Täter. Aber diese Tatsache bleibt eines der großen Tabus, die sich weltweit halten. Yejide Kilankos Debütroman hat einen solchen Missbrauch zum Ausgang. Er erzählt vom Aufwachsen des Mädchens Morayo und ihrer jüngeren Schwester in einer behüteten Mittelschichtsfamilie in der nigerianischen Millionenstadt Ibadan. Dass sich etwas Bedrohliches anbahnt, ahnt der Leser schon sehr bald und nicht nur durch den Hinweis auf dem Klappentext. Aber erst nachdem das Thema benannt ist und gleich-

Hut sein. Und wenn man zufällig nicht zum

zeitig von einer Decke des Schweigens ver-

Opfer wird, bleibt der schreckliche Gedanke,

hüllt wird, nimmt die Handlung Fahrt auf.

„dass heute Abend doch noch eine veräng-

Was bedeutet der sexuelle Übergriff für das

stigte junge Frau, ein Mädchen, hinten in

Opfer Morayo? Was das Schweigen der El-

diesem Wagen sitzen würde“. Nicht von un-

tern, der Familie, das dem Mädchen unaus-

gefähr urteilt der Toronto Star: „Wer bisher

gesprochen einen Teil der Schuld gibt? Wie

kein Feminist war, der ist es nach dieser Lek-

prägt das Erlebte dessen Selbstbild und sein

türe – egal ob Mann oder Frau“.

ganzes Leben? Kilankos Roman liest sich wie

Yehide Kilanko lebt mit ihrem Mann und

eine moderne Version der Romane von

ihren drei Kindern in der kanadischen Stadt

Buchi Emecheta, deren Bücher über Frauen-

Ontario, wo sie mit geistig behinderten

schicksale in Nigeria die Autorin in ihrer

Kindern arbeitet. Sie schreibt Gedichte und

Jugend beeindruckt haben. Gleichzeitig ist

Prosa. In ihrem Debüt gelingt es ihr, das

Morayos Geschichte auf jede Gesellschaft

Leben in der nigerianischen Großstadt le-

übertragbar. Und so ist es kein Wunder, dass

bendig werden zu lassen und starke Frauen-

das Buch in Kanada zum Überraschungs-

charaktere zu schaffen, die ihrem Leben

bestseller wurde.

trotz aller Widrigkeiten etwas Gutes abrin-

Gleich zu Beginn des Romans erzählt

gen. Vielleicht hat der glückliche Zufall ein-

Morayos Vater seinen Töchtern eine traditio-

mal zu viel die Hand im Spiel, aber da befin-

nelle afrikanische Geschichte mit der Bot-

det sich die Erzählung auch schon auf der

schaft, wer ein Geheimnis hüten wolle,

Zielgeraden.

dürfe es mit absolut niemandem teilen. Klar,

Der Weg der Töchter wird im Gedächtnis

dass Morayo lange ihre Not verheimlicht. Sie

bleiben als Roman über Liebe und Verzei-

selbst weiß nicht, dass sie kein Einzelfall ist.

hen, über die Präsenz der Vergangenheit

Die Autorin führt mit Morayos junger Tante

und ihre Bewältigung. Und darüber, wie

einen Charakter ein, der selbst Opfer war

wichtig und gut es sein kann, das Schwei-

und durch Bildung und politisches Engage-

gen zu brechen.

ment versucht, sein Leben selbst in die Hand

Carola Torti

zu nehmen – soweit die Gesellschaft dies

44

zulässt. Und es ist eine stark patriarchal ge-

Yejide Kilanko [Kanada/Nigeria]

prägte Gesellschaft, in der Kilanko Morayos

Der Weg der Töchter. Roman

Geschichte von Anfang der 1980er Jahre bis

Daughters who walk this path

ins neue Jahrtausend spielen lässt. Bedrü-

Aus dem Englischen von Uda Strätling

ckend ist die Allgegenwart der sexuellen

Graf Verlag, München 2013

Bedrohung, ob in der Familie, bei der Arbeit,

384 Seiten; EUR 18,00

an der Busstation. Frau sein heißt, auf der

ISBN: 978-3-86220-037-5

LiteraturNachrichtenNr.117 Sommer 2013

R e z e n s i o n e n

Lyriker, Luder, Lustknaben Dem Verlagshaus J. Frank ist dieser erste

Nehmen Sie Platz!

Gedichtband mit Texten von Ricardo Domeneck zu danken. Keine chronologische Werkschau, sondern eine Neuzusammenstellung, entstanden im engen Dialog zwischen Dichter und nachdichtender Übersetzerin, in einer anspruchsvoll ästhetisierend illustrierten und auch ansonsten vorbildlichen Edition. Der Schwerpunkt liegt auf den neuen, diskursiveren Texten Domenecks. Reiseberichte, Liebesberichte, Fremdheits- und Vertrautheitsberichte. Der Brasilianer Domeneck, der seit 2004 in Ber-

Diese Frage stellt sich hier ganz neu, wobei

lin wohnt, schreibt eine höchst persönliche

die Grenzen verschwimmen, eines so schön

Lyrik. Jenseits der individuellen Bedeutung

und genial wie das andere ist, Dichter und

bildet sie gesellschaftliche Bedingungen mit

Übersetzerin aus einem gemeinsamen

ab, stellt Zusammenhänge her und dar.

Schönheitsraum zwei Varianten der gleichen

Pocht auf das Recht zu leben, wie es einem

Intention schöpfen – zum Verzücken! „Von

gefällt. Synkretistisch darf dabei vieles ne-

der Übersetzung als erotische Übung“ heißt

beneinander stehen, kommt in den Texten

denn auch ein anderes der Gedichte, und

unter, findet neue Nachbarn, eine neue Hei-

dass die Übung in diesem Band flächende-

mat. Titel wie „Verse, die davon handeln,

ckend und wirkungsäquivalent gelingt, geht

dass sie geschrieben wurden, als der Dichter

als großes Lob an Odile Kennel. Schönen

mit kaputtem Kreuz beim Frühstück saß“

Worten begegnet man in ihren Übertragun-

oder „Text, in dem der Dichter den Liebha-

gen von perfekter Rhythmik: Schleimaal und

ber feiert, der fünfundzwanzig wird“ stehen

Seegurke, Tupperschüsseln und Schotter,

für ein Werk, das aus dem Alltag schöpft –

auf dem dichten Raum eines Gedichts ver-

lakonisch und doch leidenschaftlich, bildhaft

eint, Klangverwebungen, die die Übersetze-

und sinnlich und vor allem ganz eigen und

rin mitmacht oder neuschafft (und ja, das ist

stets stimmig rhythmisiert und klangver-

ganz eindeutig eine Kunst!). Kennel, selbst

woben. Es sind Gedichte, die Geschichten

Dichterin und Autorin, berichtet in ihrem le-

erzählen, somit auch Nicht-Lyrik-Lesern

senswerten Nachwort von ihrer Überset-

zugänglich sein können. Sie sprechen von

zungsstrategie, der Innigkeit der Arbeit an

Emotion und von Körperlichkeit und dem

dem Buchprojekt und dem Austausch über

Leben an sich, halten dennoch aus Anspie-

Sprache, Innen- und Außenwelten, „Priva-

lungen und Anklängen gebildete Freude

tes, Poetologisches und Politisches“. Speziell

bereit. Der konzeptuell-experimentelle Cha-

auch die Zusammenarbeit mit einem Autor,

rakter älterer Werke Domenecks ist durch

der selbst des Deutschen mächtig ist.

Klanggedichte wie „Vom Sinn des Klin-

Silke Kleemann

... und lesen Sie los! In unserem Bio-Hotel warten 38 individuell gestaltete Zimmer, viele Bücher und eine gemütliche Bibliothek auf Sie. Einmal im Monat findet ein Literarischer Salon statt und zur Frankfurter Buchmesse schätzen viele Autoren die Ruhe abseits des Trubels. Entdecken auch Sie die Villa Orange!

gens – vom Klingen des Sinns“ vertreten und durch die immer wieder untergemisch-

Ricardo Domeneck [Brasilien]

ten Brocken in anderen Sprachen. Par excel-

Körper: Ein Handbuch.

lence ist das im zauberhaft sanftmütigen

Corpo: Um Manual.

„Wiegenlied für einen tauben Liebhaber“

Aus dem Portugiesischen von Odile Kennel

zu genießen, einer klanglichen Sprachmi-

Illustrationen von Annemarie Otten

schung, säuselnd und liebreizend. Spätestens

Verlagshaus J. Frank, Berlin 2013

hier lohnt sich der Blick in beide Fassun-

240 Seiten; EUR 16,90

gen – was ist Original, was Übersetzung?

ISBN 978-3-940249-66-1

LiteraturNachrichten Nr.117 Sommer 2013

Hotel Villa Orange • Inhaberin Christiane Hütte Hebelstraße 1 • 60318 Frankfurt Telefon +49 69 40584-0 • www.villa-orange.de

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