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ISSN: 0935-7807 PVSt: 63287 33. Jahrg. Nr. 124 Frühjahr 2016 EUR 7,50 | Sfr 9,–

Krieg und Vertreibung

Abbas Khider [Irak /D]: Eine Ohrfeige zur rechten Zeit

Moschee, Kopftuch, Scharia: Weg mit den Klischees!

Ayelet Gundar-Goshen [Israel]: Schlafende Löwen

Gespräche Porträts Rezensionen


I M P R E S S U M

Herausgeber: Litprom Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. Braubachstr. 16, 60311 Frankfurt a.M. Postfach 10 01 16, D-60001 Frankfurt a.M. Tel. 069 / 2102-113, Fax 069 / 2102-227 E-Mail: djafari@book-fair.com, www.litprom.de • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Verantwortliche Redakteurin: Anita Djafari Redaktionsassistenz: Sophie Bauer Unter Mitarbeit von Petra Kassler, Corry von Mayenburg und Friederike Ottnad. Mitarbeiter/innen dieser Ausgabe: Katharina Borchardt, Larissa Bender, Hartmut Fähndrich, Tobias Gohlis, Alice Grünfelder, Joscha Hekele, Claudia Kramatschek, Sabine Müller, Achim Stanislawski und Gerrit Wustmann Anzeigenverkauf: Agentur Hanne Knickmann, Darmstadt, hk@hanne-knickmann.de Gestaltung: Renate Schlicht, Frankfurt www.renateschlicht.de

E D I T O R I A L

Was sind das für Zeiten, in denen sich fast jedes Gespräch um „Flüchtlinge“ zu drehen scheint. In den öffentlichen Debatten geht es immer mehr um Kontingente, Obergrenzen – Zahlenspiele, durchmischt vom Schüren fremdenfeindlicher Ressentiments. Auch wir konnten und wollten uns nicht entziehen und widmen einen Teil dieser Ausgabe diesem Thema. So kam auch für uns die „Ohrfeige“ unseres Mitglieds Abbas Khider gerade zur rechten Zeit. Er wird landauf landab gefeiert, als hätten alle nur auf ein solches Buch gewartet. Kein Wunder: Literatur hilft, das Schicksal einzelner Menschen zu verstehen, ihre Beweggründe für ihr Handeln, z. B. für eine Flucht, nachzuvollziehen und gewissermaßen erlebbar zu machen. Darum werden schon immer Geschichten erzählt, in welcher Form auch immer, und wir brauchen sie notwendiger denn je. So handelt auch das Buch der Israelin Ayelet Gundar-Goshen davon, wie ein gut etablierter Arzt und Familienvater durch ein bestimmtes Ereignis plötzlich existenziell mit der Situation von aus Eritrea Geflohenen in seinem Land konfrontiert wird. Die

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Autorin ist übrigens mit diesem Buch für den LiBeraturpreis 2016 nominiert, wir

Verleger und Vertrieb: Litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.

von der Elfenbeinküste, aus Indonesien, Südafrika, Tunesien und Argentinien, die

stellen sie und die fünf weiteren Kandidatinnen hier vor. Die Autorinnen kommen

Druck: Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt

Form ihrer Werke reichen vom kurzen Gedicht bis zum Comic, vom Spiel mit Fiktion

Bezugsbedingungen: EUR 15,– jährlich einschl. Versandkosten; das Abonnement verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis zum 30. September gekündigt ist EUR 7,50 Erscheinungsweise: halbjährlich Gefördert von Brot für die Welt – E vangelischer E ntwicklungsdienst. Bitte teilen Sie Änderungen der Bezugsanschrift rechtzeitig mit.

und Fakten bis zum üppigen Roman. Und Sie haben jetzt die Qual der Wahl, Sie sind

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Copyright: LiteraturNachrichten Für die Übersetzungen bei den Übersetzern. Nachdruckgenehmigung wird gerne erteilt. Unverlangt eingesandte Beiträge werden geprüft, telefonische (Vorab-)Anfrage ist sinnvoll. Leserbriefe sind willkommen. Die Meinung in den Beiträgen gibt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 11 vom 1.1.2014 Titelgestaltung: Renate Schlicht unter Verwendung eines Fotos: Underaged refugee in a camp located at the northeastern Greek island of Lesbos, 30 January 2016 © Mstyslav Chernov

klimaneutral

natureOffice.com | DE-140-728639

gedruckt

eingeladen mitzumachen und abzustimmen. Die „Leitungen“ sind ab sofort geöffnet; Sie können uns Ihre Favoritin über unsere Website, per E-Mail oder per Post nennen. Bis zum 31. Mai haben Sie Zeit. Wir freuen uns auf rege Teilnahme. Vielleicht kennen Sie auch schon das eine oder andere nominierte Buch, sie sind alle bereits seit einiger Zeit auf dem Markt. Wir gehen davon aus, dass Sie das ebenso wenig stört wie uns. Die Halbwertzeiten und Verweildauer der Titel in den Buchhandlungen werden immer kürzer – das stört uns allerdings. Diesem unsinnigen Trend beugen wir uns nicht. Im Gegenteil, wir trotzen ihm in unserer täglichen Arbeit, gute Bücher werden ja nach drei Monaten oder einem Jahr nicht schlechter. Das sehen wir übrigens auch genauso bei der Erstellung unserer Bestenliste „Weltempfänger“. Wie die Urteile der Jury zu Stande kommen und welche Kontroversen dabei geführt werden, erfahren Sie auf Seite 28. Wir hoffen, dass Sie beim Lesen genau so viel Spaß daran haben wie wir beim Diskutieren.


I N H A LT

T h ema

Eine Ohrfeige zur rechten Zeit: Achim Stanislawski über Abbas Khiders neues Buch

4

Samar Yazbek – erschöpfte Rebellin: ein Portrait von Larissa Bender

6

Schlafende Löwen: Ayelet Gundar-Goshen

G es p r äc h P or tr ät G es p r äc h P or tr ät P oes i e B u c h we l t e n B ü c h er men s c h en Ü b er s etzt von . . . K r i mi k ol umne Nachschlag I n ei gen er S ac h e

N ac h r i c h ten /

8

Der Geschichtenmarkt: Hartmut Fähndrich über Hassan Blasim

10

Patrick Chamoiseau: Weltliteratur, das ist doch idiotisch …

12

María Sonia Cristoff: Leben gegen den Strich

14

Mai Jia (China) – Intelligent und herausfordernd – die Übersetzerin Karin Betz im Gespräch mit Alice Grünfelder

16

Eka Kurniawan (Indonesien) über den Tiger in uns – von Sabine Müller

18

Weiß nicht, wohin: Ein Auszug aus Najet Adouanis Gedichtband Meerwüste

20

Moschee, Kopftuch, Scharia: Weg mit den Klischees! – von Gerrit Wustmann

30

Süßer Nektar für kleinen Vogel – Kolibri empfiehlt die besten Kinder- und Jugendbücher – von Katharina Borchardt

32

Hartmut Fähndrich: Stete Arbeit am Blick über den Kulturenzaun

34

Tobias Gohlis über Sieben Jahre Nacht von Jeong Yu-jeong

36

Vögel von Oh Junghee – hervorgeholt von Anita Djafari

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Stauseemonster, Zulu-Schönheit und Sexy Norah – Weltempfänger-Juroren diskutieren

22

Weltempfänger Winter und Frühjahr

26

Der Duft der Nelkenzigaretten – ein Bericht von Joscha Hekele

28

5. Litprom Literaturtage in Frankfurt

38

Fragebogen, diesmal: Achim Stanislawski

44

Deutschland/Schweiz, Südafrika, Algerien

39

Selva Almada: Sengender Wind

45

R ezen s i on en

P r ei s r äts el I n ei gen er S ac h e

Eka Kurniawan: Der Tigermann

46

Shu¯ saku Endo¯ : Schweigen

46

Granaz Moussavi: Gesänge einer verbotenen Frau

47

S¸ükran Yig˘ it: Ankara mon Amour

48

Fariba Vafi: Tarlan

48

Tomas González: Mangroven

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Preisrätsel für aufmerksame Leser/innen der LiteraturNachrichten

50

Kandidatinnen für den LiBeraturpreis 2016

51

3

© Wonge Bergmann

N ac h r u f / P r ei s e


Thema

ABBAS KHIDER [ IRAK / D ]

EINE OHRFEIGE ZUR RECHTEN ZEIT Die Asyldebatte tobt auf allen Kanälen. Im Echoraum des Internets peitschen sich die Meinungen auf, eine Huntingtonsche Kulturkampfmetaphorik greift um sich, Kriminalitätsraten und Antragsziffern werden live getickert. Mitten in dieses überschnappende Tosen hinein fällt nun Abbas Khiders neuer Roman Ohrfeige , der das Ankommen in und Verzweifeln an Deutschland aus der Sicht eines Asyl su chen den beschreibt. Der Autor, der vor vielen Jahren selbst aus dem Irak geflohen ist, hat damit das Buch der Stunde geschrieben. Achim Stanislawski hat es für uns gelesen.

Ein Mann geht in die Ausländerbehörde, betritt das Zimmer sei-

der eigenen Person abgeschlossen ist und die allmächtige

ner Sachbearbeiterin, fesselt sie mit Klebeband an ihren Stuhl

Behörde den Aufenthalt auf dieser Erde gewährt, oder ob sie

und verpasst ihr erst einmal eine Ohrfeige. Dann knebelt er sie,

einen wieder hinausschickt ins Niemandsland, auf die Last-

dreht sich einen Joint und beginnt ihr von seinem Leben zu er-

wagen und Straßen ins (N)irgendwo. In diesem Zustand eines in

zählen. Natürlich sind der gefesselten Frau Schulz die Eckdaten

der Schwebe hängenden Verfahrens, verstärkt durch die er-

von Karim Mensys Flucht bereits bekannt, aber wirklich zuge-

zwungene Untätigkeit und den bald einsetzenden Lagerkoller,

hört hat sie ihm bisher nicht. Karim stammt aus dem Irak. Ende

geschieht eine eigenartige Verwandlung mit den Asylsuchen-

der 1990er Jahre fasst der junge Mann den Entschluss, aus dem

den. Zu der eher harmlosen und höchstens zu einigen witzigen

von Saddam Hussein mit eiserner Hand regierten Land zu flie-

Irritationen führenden Reibung an der neuen Kultur, in die diese

hen. In Paris, wo einer seiner Onkel schon lebt, will er sein Glück

Menschen nun hineingesetzt sind, ohne sich freilich wie die

versuchen. Doch so weit kommt er nicht. Der Schleuser setzt ihn

„Einheimischen“ in ihr bewegen zu können, tritt ein weiteres

in der bayerischen Provinz aus, wo er aufgegriffen wird und des-

Moment der Entfremdung, das tiefgreifender kaum sein

halb notgedrungen Asyl in Deutschland beantragt. Mit diesem

könnte. Weil die Ausgestaltung des Asylrechts – die augen-

falschen Abwurf beginnt eine absurde Passionsgeschichte, in

scheinlich aus einem dezidiert politischen Interesse herrührt –

der Karim sich in die Mühlen eines bürokratischen Verfahrens

bestimmte Musterfälle bevorzugt, die innerhalb des Systems

begibt, das gleichzeitig grotesk und auf himmelschreiende

besser bearbeitet werden können, fangen die Asylsuchenden

Weise bar jeder Form von Empathie mit den das Verfahren

schnell damit an, sich diesen Aktenlagen anzugleichen. Sie ver-

durchlaufenden Menschen ist.

biegen die eigene Geschichte, legen ihr altes Leben ab, um die

Karim wird ein Fall für die Behörden, eines der tausend Akten-

Erzählung von sich selbst auf die Erfordernisse des Prüfablaufs

zeichen, deren Existenz innerhalb der bürokratischen Verschie-

hin zu optimieren. Um nicht auf Jahre in erzwungener Untä-

bemasse aufgelöst und neu definiert wird. Eine Existenz, die

tigkeit das Leben aussetzen zu müssen, macht sich der Asylsu-

vom übrigen Leben ferngehalten an einem seidenen Faden

chende daher zu einer Person, deren Charakteristika, Motive

hängt. Abgeschottet leben die Aslybewerber, jene Aspiranten

und Wünsche dem Formblatt des über ihn entscheidenden bü-

auf ein Leben in Würde, zwischen Hoffen und Bangen ziellos in

rokratischen Apparates möglichst entsprechen: Er entfremdet

den Tag hinein. Denn die Mühlen der Behörde mahlen langsam.

sich selbst zu einem Fall, wird zur Akte, hinter der der Mensch,

Monate und Jahre verstreichen im Warten auf den erlösenden

welcher er einmal gewesen ist, verschwinden muss. Das Zen-

Bescheid. Niemand weiß, ob nicht morgen schon die Prüfung

trum des Romans, die Geschichte, die Karim der unwilligen Frau

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LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016


Krieg und

ihn aus dem Irak vertrieben hat, verborgen und findet in dieser Welt der Amtsstuben keinen Platz: Denn Karim ist ein Hermaphrodit, ein Mann mit Brüsten, die er krampfhaft vor sich und allen anderen verstecken muss. Nicht einmal seine Familie weiß etwas davon. Sie sind der eigentliche Grund, weshalb er kurz vor Antritt des obligatorischen Wehrdienstes aus dem Irak flieht. Er flieht nicht nur aus einer Diktatur und aus einem von Kriegen

um das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins. Für den Schutzsu-

gebeutelten Staat, sondern auch vor der Erinnerung an eine er-

chenden beherrscht die Institution das Leben vollkommen. Sie

mordete Jugendliebe, denn er ist davon überzeugt, dass sie in

beginnt zu bestimmen, wer und was Karim ist und sein werden

seinen Körper gefahren sei. Sein Busen ist das monströse Ge-

wird in diesem Land. Dabei kann das System nur blind und taub

schenk dieser gespenstischen Toten, ein Teil von sich selbst, den

für die Geschichte eines Einzelnen sein. Frau Schulz wird für Ka-

er immer vor sich her trägt und doch unbedingt verleugnen

rim, der nach Jahren des Wartens und Mühens beschlossen hat,

muss. Der Name dieses Albs ist Hayat: Leben. Das Mädchen, das

einen neuen Anlauf in Finnland zu versuchen, zum Gesicht die-

nicht leben durfte, gibt etwas von sich an ihn weiter. Und er

ses Systems, dem er zum Abschied erzählen muss, welcher

trägt dieses versehrte Leben mit sich auf seiner Flucht, möglichst

Mensch sich hinter der Aktennummer verbirgt. Und er hat so ei-

fest in sich verschlossen, denn er kann den schambesetzten Riss

niges zu erzählen vom Leben unter dem Damoklesschwert: von

in seinem Selbstbild weder seinen Freunden und schon gar nicht

den Schleppern und Kriminellen, auf die man plötzlich angewie-

den nach „legitimen“ Fluchtursachen forschenden Behörden

sen ist, von der Enge der Asylheime, der schier unüberbrückba-

anvertrauen. Was Karim mit sich herumschleppt, das ist das

ren Entfernung, aus der man das Leben der Einheimischen vom

nicht ins Beamtendeutsch übersetzbare, auf kein Formblatt pas-

Fenster des Heimes aus betrachtet, von erzwungener Langweile,

sende widerspenstige Leben, das Millionen Gesichter, aber kei-

von der Shoppingmall als einzig warmem Ort, in dem man sich

nen Normwert hat. Und gerade hier trifft der Roman einen Nerv

in den kalten Wintern ohne Geld in der Öffentlichkeit aufhalten

und leistet vielleicht etwas für die aktuelle Diskussion: indem er

kann, von einem Freund, der wahnsinnig wird und von einer

mit dem Tempo und der Empathie eines Romans vom Schicksal

Vorladung durch das BKA, bei der man allen Ernstes darüber

eines einzelnen erzählt.

befragt wird, ob man ein Terrorist sei. Überhaupt wäre die Ge-

Während in diversen Foren die Fama und Verschwörungstheo-

schichte Karims nur schwer erträglich, wenn Abbas Khider sie

rien an bestimmten Weltsichten genehmen Wahrheiten basteln

nicht mit seinem großen Talent für lustige Beobachtungen aus

und in der politischen Debatte mit Statistiken, Prozentsätzen

dem absurden Alltagsleben dieser staatsrechtlichen Zwischen-

und geschätzten Registrierungszahlen im Wochentakt argu-

existenzen auflockern würde.

mentiert wird, präsentiert der Roman eine fiktive, doch nah an

Doch trotz der vielen komischen Momente überwiegt in diesem

der Wirklichkeit erzählte Wahrheit. Nur die Intimität des Ro-

Roman eindeutig der Kampf mit einer uneinsichtigen, ja gera-

mans kann das ambivalente Gefühlsleben jener Menschen ab-

dezu dünkelhaften Institution, die Menschen wie Karim ein

bilden, die „weder in der Heimat noch in der Fremde leben dür-

Leben schenken oder verweigern kann. Man könnte sagen,

fen.“ Es ist ein einfacher Gedanke, der einem beim Lesen dieses

Ohrfeige ist eine Art Institutionenroman, geschrieben aus der

Buches kommt, aber er lässt den Atem stocken, als hätte Karims

Sicht eines von ihr verwalteten Individuums.

Ohrfeige auch den Leser getroffen: Jeder dieser Menschen führt

Im Unterschied zu etwa Kafka, der in gewisser Weise ja auch In-

eine Welt mit sich, ein ganzes volles Leben, das bedroht ist.

stitutionenromane geschrieben hat, ist Khiders Karim jedoch

Auch wenn ein Romancier schlecht beraten wäre, in seiner Lite-

nicht in seiner eigenen Innenwelt gefangen, die er rastlos durch-

ratur bestimmte politische Maßnahmen einzufordern ( er bildet

wandern muss, oder von der er aus nicht erklärbaren Gründen

ja nur ein möglichst stimmiges Bild der erlebten Wirklichkeit),

für schuldig erklärt wird. Anstatt wie der Landvermesser oder

kann eine Ohrfeige zur rechten Zeit uns dennoch vielleicht an

der Bankangestellte Josef K. mit den in die Außenwelt gewor-

unsere eigenen Überzeugungen erinnern, in einem Moment, da

fenen rätselhaften Elementen des eigenen Seelenapparates

sie drohen zu erodieren. 

konfrontiert zu werden, steckt Karim in einer Zwangsjacke aus Paragraphen, die ihm gerade ein Innenleben nicht zugestehen wollen oder es bestenfalls für eine Einzelfallprüfung als nicht relevant erklären. Deshalb bleibt Karims seelisches Dilemma, das

LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016

Achim Stanislawski ist Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker, Essayist und freier Mitarbeiter von Litprom. Er lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

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Polizei fängt Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof ab. 12. 9. 2015 © Wikiolo

Schulz erzählen muss, um sich nicht selbst zu verlieren, kreist


Porträt

Weltliteratur, das ist doch idiotisch… Ein Gespräch mit Patrick Chamoiseau [Martinique] „Neue Weltliteratur und der Globale Süden“ – so lautete das Motto der Litprom Literaturtage 2016. Beide Begriffe wurden von den Teilnehmer/innen über zwei Tage lang auseinandergenommen. Unter den eingeladenen Autoren war auch Patrick Chamoiseau. Florian Kniffka sprach mit ihm über sein Verständnis von Weltliteratur in einem Interview am Rande der Tagung.

Weltliteratur Chamoiseau selbst geht mit dem Begriff „Weltliteratur“ sehr

duum heutzutage bestimmt. Darum wechseln ja auch Schrift-

behutsam um. Er scheint ihn eher vermeiden zu wollen. Im

steller ihre Sprache. Dann hat man jemanden mit schwarzer

„Atelier“ genannten Anhang zu seinem Buch Die Spur des An-

Haut, aber einem okzidentalen Geist. Oder jemanden aus

deren findet sich sogar eine schroffe Ablehnung: „Weltliteratur,

Deutschland, der von Deutschland nichts mehr wissen möchte

das ist doch idiotisch ...“. Natürlich habe dieser Begriff auch

und sich in Japan verwirklicht und dort auch heiratet. Heutzu-

seine Vorteile, sagt Chamoiseau. Denn er bezeichne die Welt als

tage ist es nicht mehr der Stammbaum, der ein Individuum

einen der wichtigsten Gegenstände unserer Gegenwartslitera-

prägt, sondern sein Beziehungsbaum: seine Lieblingsmusik,

tur. Darin sieht er auch eine emanzipatorische Kraft:

seine Lieblingsorte, seine verschiedenen Erfahrungen, die Hei-

„Das bedeutet, wir sind nicht mehr von unserer Gemeinschaft,

mat, die Sexualität, die Familienstruktur, die es gewählt hat …

unserer Sprache, unserem Territorium, unserer Nation oder den

Da liegt einerseits eine sehr, sehr große Autonomie beim Indivi-

lokalen Problemen determiniert, sondern von den großen Dyna-

duum und gleichzeitig ist damit eine große Angst verbunden.

miken, die sich im Maßstab der „Totalité-Monde“ (Anm.: poe-

Das soll Literatur erzählen und in diesem Sinne ist sie dann auch

tischer Begriff von Patrick Chamoiseau und Édouard Glissant zur

Weltliteratur.“

Bezeichnung des komplexen Weltganzen) abspielen. Es stimmt,

Dabei setzt Chamoiseau das, was er unter Weltliteratur versteht,

dass man lange Zeit die Literaturen und Schriftsteller nach Na-

ganz deutlich gegen zwei Formen des Erzählens ab, die man

tion und Sprache ordnen konnte. Dann hat sich die Welt globa-

womöglich damit verwechseln könnte: die kosmopolitische und

lisiert und die Nationen, Heimaten, Kulturen und Zivilisationen

die Reiseliteratur. Es handele sich nicht darum, seine Helden von

begannen, einander zu durchdringen. Außerdem haben die Ge-

Land zu Land zu jagen, alle möglichen Sprachen miteinander zu

meinschaften, welche die Individuen in einer Art symbolischem

verknüpfen und zu vermischen. Vielmehr geht es Chamoiseau

Korsett gefangen gehalten hatten, ihren Einfluss verloren.

um eine Geisteshaltung: „Man kann in einer Sprache bleiben,

Wenn ein Individuum heute geboren wird, dann hat es alle

an einem Ort. Man kann in Frankfurt bleiben und in der hiesigen

Möglichkeiten, die Musik zu mögen, die es im Internet hört,

Sprache schreiben. Und zugleich kann man einen Bezug zur

Leute zu treffen, die anderswoher kommen, eine besondere

hiesigen Sprache haben, der so einzigartig ist, dass daraus kein

Liebe für dieses oder jenes Land zu empfinden, sich sein Hei-

linguistischer Absolutheitsanspruch erwächst. Man kann am Ort

matland und seine Sprache auszusuchen. Dieses neue Flüssig-

Frankfurt bleiben und einen so offenen, sensiblen und freien Be-

sein der Welt ist wichtig.“ Dieses Flüssigsein eröffne uns Ein-

zug zu diesem Ort pflegen, dass die Welt zugegen ist. Die Idee

zelnen dann auch eine Fülle sich stets erneuernder und sich

ist also nicht, verschiedene Territorien anzuhäufen, sondern in

wandelnder Beziehungen: „Die Beziehung ist eigentlich das

der Sprache, die man konstruiert, dieses neue Flüssigsein aus-

Wichtigste. Dieses Spiel der Beziehungen ist, was ein Indivi-

zudrücken.“

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LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016


Martinique

ist kein menschlicher Fußabdruck. Es handelt sich um etwas, das er nicht erklären kann. Er schöpft alle Erklärungsmöglichkeiten aus und sieht darin letztlich eine Form, die er nicht versteht. Und diese ihm unverständliche Form erregt seine Kreativität.“ Die Zuwendung hin zum Unbegreiflichen, das sei die kreative Aufgabe für Schriftsteller/innen und andere Künstler/innen:„Die massiven Attentate erscheinen uns vollkommen wahnwitzig. So etwas zu erklären ist sehr, sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Das Auftreten des Undenkbaren ist also etwas, an das wir uns gewöhnen müssen und es ist ein Gegenstand der Literatur. Mein Robinson tritt auch in Beziehung zu etwas Undenkbarem. Die ganze Kreativität der Menschen erwächst aus dem Zusammenstoß mit dem Undenkbaren: Symbole, Götter, Religionen und philosophische Systeme. Sogar das Verlangen der Naturwissenschaften kommt von einem Hä? Was ist das?“ In dieser Kreativität ist das zeitgenössische Individuum doppelt frei: frei von einem zwanghaften Beziehungskorsett, aber auch frei von einem festen Weltbild.

Die Situation der Schriftsteller Die Befreiung des Individuums mündet für Chamoiseau allerdings nicht in einer universalen Harmonie mit allem und jedem. Denn mit dieser Freiheit einher geht eine Form der Einsamkeit:

Chamoiseau bearbeitet in Die Spur des Anderen den Stoff von

„Das Individuum ist allein und muss auf sich gestellt seine Ethik

Robinson Crusoe. An diesem klassischen Sinnbild für die Selbst-

gestalten. Früher repräsentierten Schriftsteller eine Nation, eine

zivilisierung der Menschen kann er durchspielen, worauf es ihm

Sprache, eine Geschichte. Heutzutage ist der Schriftsteller furcht-

ankommt: die Wandlung eines Bewusstseins und dessen Be-

bar einsam – er repräsentiert nichts mehr als seine persönliche

ziehung zur Welt. Dabei verwandelt sich der kolonialistische

Erfahrung.“ Gänzlich vereinsamt scheinen wir Einzelnen und

Robinson Defoes Schritt für Schritt in den Künstler Robinson von

unter uns die Autoren dennoch nicht zu sein. Nur sind die gei-

Chamoiseau:

stigen Verwandtschaftsbeziehungen anders gelagert und über

„Robinson kommt an – die Welt ist da. Die Welt ist eine Insel,

den Globus verstreut: „Man müsste eine literarische Anthologie

aber dennoch eine Welt. Und er muss sich selbst ganz allein

zusammenstellen, welche die Verwandtschaftsbeziehungen in

konstruieren. Das repräsentiert haargenau unser zeitgenössi-

allen Ländern der Welt sehen könnte. Da gäbe es dann jeman-

sches Individuum: Es kommt in die Welt und muss sich konstru-

den wie mich aus der Karibik, der einen literarischen Bruder in

ieren. Seine Eltern werden ihm Informationen mitgeben, aber

Frankfurt hat – und dann vielleicht einen in Japan. Das ist voll-

darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt sind seine

kommen unvorhersehbar. Die Beziehung kommt aus der Struk-

Abenteuer, seine Kreativität und seine Begegnungen. Man sieht

tur unseres Geistes und unserer Sichtweise der Dinge. Zum Bei-

klar, dass der Archetyp „Robinson“ mit der gegenwärtigen Lage

spiel dem Wert, den wir der Sprache, der Vielfalt oder dem

korrespondiert.“

Erscheinungsbild beimessen. Das ist wichtig.“ Chamoiseau bleibt

Das Zusammenspiel von Beziehung und Kreativität gehe aber

vorsichtig mit dem Begriff Weltliteratur und macht einen

über die Begegnung mit dem Fremden hinaus. Keine mensch-

Gegenvorschlag: „Lieber noch als von Weltliteratur zu sprechen,

liche Kultur, kein menschliches Erscheinungsbild sei uns heute

würde ich die Gegenwartsliteratur als eine Beziehungsliteratur

mehr wirklich fremd. Zur Fremdheit geselle sich die Kreativität in

bezeichnen.“ 

Angesicht dessen, was menschliches Verstehen übersteigt. Das macht aus Chamoiseaus Robinson letztlich auch einen Künstler, wenn er sich mit der unverständlichen Spur des Anderen am Strand beschäftigt: „Der Abdruck, den mein Robinson entdeckt,

LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016

Florian Kniffka ist Absolvent der Goethe-Universität Frankfurt in Komparatistik und Philosophie. Derzeit promoviert er über das Konzept der „Kreolisierung“ und arbeitet als freier Essayist und Kulturjournalist.

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Foto S. 13 © Anke Kluß

Robinson als unser Spiegelbild


Buchwelten

Der Duft der Nelkenzigaretten Begegnungen mit dem Ehrengast der Frankfurter Buchmesse Indonesien Unser Mitarbeiter Joscha Hekele hat zusammen mit seiner Kollegin das Projekt „Creative Matches for the Future“ betreut, das Litprom im Auftrag des indonesischen Kulturministeriums durchgeführt hat. Für alle Beteiligten eine neue, überraschende und bereichernde Erfahrung, wie dieser persönliche Bericht zeigt.

Kristina Hvasti-Schnepper und ich eilen den langen roten

messe kamen die Autoren mit ersten deutschen Texten im

Teppich entlang, der ausgelegt ist wie für eine Premiere und den

Gepäck nach Frankfurt, die bei der Lontar Foundation unter

äußeren Gang der Halle 3.1. schmückt. Zu diesem Zeitpunkt ist

dem Imprint BTW Books erschienen sind. Die Vorbereitungen

es kurz vor neun Uhr, Mittwochmorgen, es ist der erste Messe-

für das Projekt waren in den letzten Wochen intensiv, inklusive

tag. Unsere Blicke sind mal auf die Stände gerichtet, mal auf die

Kursänderungen und Windflauten.

weite, zentrale Agora, die so früh noch auf Gäste wartet. Wir

Zurück in die Gegenwart. Kristina und ich nehmen die Roll-

besprechen die letzten Dinge, bevor wir zum ersten Mal die

treppe nach unten und erreichen den indonesischen Stand in

indonesischen Autoren treffen, mit denen wir bis dato nur per

Halle 4.0. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir Ratih Kumala,

E-Mail Kontakt hatten. Nicht alle hatten auf unsere Einladung

die während der Buchmesse ihren Roman Das Zigarettenmäd-

geantwortet, nicht alle konnten wir erreichen, einige sprechen

chen vorstellt, sie begrüßt uns mit einem Lächeln. Auch Yusi

und verstehen kein Englisch.

Avianto Pareanom erscheint. Die beiden sind Teil der ersten Ver-

Indonesien? Meine Gedanken wandern zur gestrigen Eröff-

anstaltung im Haus des Buches, einem Gespräch mit Schülern

nungsrede des indonesischen Botschafters, dessen buntgemus-

der Oberstufe der International School Frankfurt, die wir für den

tertes Hemd keine Falte hat, sein Lächeln ist wie Werbung für

heutigen Tag organisiert haben. Mit Verspätung kommen auch

das Land. Wie durch einen Tropf wurden mir pressetaugliche

Arleen Amidjaja, Djokolelono, A.S. Laksana, Cok Sawitri, Guna-

Sätze eingeflößt – über eine junge, lernfähige Demokratie mit

wan Maryanto, Iksaka Banu, Intan Paramaditha, Zen Hae –

überstandener Kolonialgeschichte, über ein Land der Vielfalt

Namen, die in Deutschland noch unbekannt sind. Die erste Ver-

und der größten muslimischen Bevölkerung, über den aufholen-

anstaltung weckt das Interesse der Schüler und auch die zweite

den Fortschritt und die vielen Universitäten und über geistige

Veranstaltung, eine Abendveranstaltung unter dem Titel „Poe-

und literarische Freiheit. Aber wie sind die Menschen? Und was

sie extra scharf“, bei der Lyrik von deutschen und indonesischen

steht in ihren Büchern?

Künstlern vorgetragen wird und es eine anschließende Ge-

Wir gehen in den indonesischen Pavillon, der die ersten Aha-

sprächsrunde gibt, begeistert das Publikum.

Effekte bei den Gästen bewirkt. Das Motto des Landes sind die

Die ersten beiden Messetage empfinde ich wie zwei Atemzüge.

17.000 Inseln der Imagination, und der Pavillon mit den tiefhän-

Inzwischen haben die beiden indonesischen Kinderbuchautoren

genden Lampenschirmen mit literarischen Zitaten, den vollen

Arleen Amidjaja und Djokolelono die Kinder der International

Büchertischen und den vielen Gewürzen gleicht einem Fantasie-

School Frankfurt und der Metropolitan School Frankfurt be-

reich. Für Indonesien, das erste südostasiatische Gastland der

sucht. Das Treffen wird ein Spaß für alle – auch für die Autoren –,

Frankfurter Buchmesse, ist seit gestern Abend der rote Teppich

wie unsere Praktikantin Johanna Scheffer, die den Kontakt zu

der Literaturwelt ausgerollt worden. Um dem gerecht zu wer-

den Schulen hergestellt hat, berichtet. Die Schulen möchten

den, hat die indonesische Seite viele Ideen entwickelt. Dazu ge-

Ähnliches in Zukunft gerne wieder veranstalten, und haben auf-

hört auch das Projekt „Creative Matches for the Future“, bei

grund dieser positiven Erfahrung kürzlich den Spoken-Word-

dem wir von Litprom 15 indonesische Autoren betreuen, um ih-

Künstler Marc Nair aus Singapur, Gast der Frankfurter Literatur-

nen eine erste, wenn möglich nachhaltige literarische Kontakt-

tage 2016, eingeladen.

aufnahme in Deutschland zu ermöglichen. Passend zur Buch-

Parallel finden immer wieder private, interkulturelle Treffen

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LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016


Indonesien

Treffen unheimlich spannend und aufschlussreich. Was ich an dem indonesischen Autor sogleich bewunderte, war, dass er fast ansatzlos in eine tiefe Konversation einstieg – meiner Erfahrung nach braucht es bei den meisten Menschen eine längere Phase des Antastens. Er jedoch stellte sofort Fragen, die mich überlegen ließen und die auch nicht wirklich einfach zu beantworten waren.“ Am Abend des gleichen Tages findet noch eine Gesprächsrunde in der Frankfurter Weltenleser-Buchhandlung statt. Vorletzter Messetag, Publikumstag, der Messemotor läuft hochtourig, wir schnaufen wie lahmende Arbeitspferde. Meine Gedanken werden kürzer, die Sätze in Gesprächen erreichen das Stakkato. Dafür bin ich inzwischen einige Pfunde leichter. Kristina und ich telefonieren schon vormittags hitzig im Minutentakt miteinander. Es ist die letzte große Aufgabe dieser Messetage: Sieben indonesische Autoren sollen nacheinander vom Messegelände zur Stadtbibliothek eskortiert werden – in 45-Mi-

„Creative Matches“ sind das Herzstück des Projektes. Die deut-

nuten-Intervallen. Jeder der sieben Autoren bekommt 30 Minu-

sche Autorin Ulla Lenze resümiert nach solch einem Treffen mit

ten Lesezeit, dazwischen eine Viertelstunde Pause. Die etwa

Lily Yulianti Farid, die u.a. das Literatur-Festival von Makassar

fünfstündige Veranstaltung schwankt unsicher wie Bambus im

auf Sulawesi organisiert: „Lily fand sich auf dem unübersicht-

Wind. Der erste Autor ist pünktlich. Der zweite Autor nicht zu

lichen Gelände bedeutend besser zurecht als ich und nahm mich

erreichen. Mit dem dritten klappt es, mit dem vierten auch. Die

buchstäblich an die Hand. Wir liefen bestimmt zwei Kilometer.

fünfte Autorin ist nicht zu erreichen. Wir sprechen mit Indone-

Es war ein wunderbarer Nachmittag.”

siern, streuen unsere Suche, doch alle Versuche laufen ins Leere,

Am dritten Messetag denke ich, die Messehallen sind ein eige-

bis sie in Begleitung einer Dolmetscherin vor dem Planungsbüro

nes Universum, das wir in einem endlosen Kreislauf durchschrei-

auftaucht. „Hier ist sie“, sagt die Dolmetscherin trocken. Wir

ten. An diesem Tag findet das große „Gathering“ statt, bei dem

bekommen sie zur Lesung. Den sechsten Autor erreichen wir.

wir alle beteiligten deutschen und indonesischen Autoren zu-

Die gesamte Veranstaltung hat sich inzwischen nach hinten ver-

sammenbringen wollen. Im schlichten, unterkühlten Konferenz-

schoben, das heißt Autorin sieben bekommt weniger Zeit als die

Raum sind die grauen Tische zu einem Quadrat aufgestellt.

anderen. Ich suche die abhandengekommenen Nerven, die ich

Links an der Wand stehen vorbestellte Essensbehälter mit Ayam

in diesem Organisationsmarathon ließ. Der Messesonntag bleibt

Rica Rica, scharfes Hähnchen aus der sulawesischen Stadt

frei, einige Autoren befinden sich bereits auf der Rückreise.

Manado, dazu weißer Reis, Getränke und Mango-Pudding als

Indonesien kam und ging als Gastland nach Frankfurt wie der

Nachtisch. Die Indonesier kommen in großer Anzahl und sie

Duft der gerauchten Nelkenzigaretten, der mir auf der Agora

bringen Schriftstellerfreunde mit, z. B. die bekannte Lyrikerin

entgegenströmte. Was bleibt ist ein kurzer, intensiver Eindruck

Dorothea Rosa Herliany. Diese Spontanität der Indonesier be-

mit vielen Begegnungen. „Auf der Buchmesse gibt es immer ein

gegnet uns während des gesamten Projektes. Sie hilft uns, über-

Gastland und durch die eine oder andere Aktion in Frankfurt

rascht uns und macht uns manchmal sprachlos. Die deutsche

wird einem dieses dann näher gebracht, aber der persönliche in-

Seite erscheint dagegen in Unterzahl. Die Atmosphäre ist ent-

time Kontakt über mehrere Stunden hinweg ist natürlich etwas

spannt. Das indonesische Essen schmeckt besonders den Indo-

ganz Anderes und ich bin sehr glücklich darüber, dass Litprom

nesiern. In kleinen, gemischten Gruppen finden lockere Gesprä-

so etwas ermöglichte. Dieses Programm sollte auf jeden Fall

che über Bücher, Schreiben und den Besuch in Deutschland

weiter bestehen bleiben“, schrieb Jannis Plastargias später. Sein

statt. Einige der Autoren kennen sich bereits als „Creative

„Creative Match“ Triyanto Triwikromo hat inzwischen eine

Match“ von den Vortagen, wie zum Beispiel Jannis Plastargias

Kurzgeschichte verfasst und veröffentlicht, die von Flüchtlingen

und Triyanto Triwikromo, die sich erneut über die Situation der

in Deutschland handelt und von den Gesprächen mit Jannis

Flüchtlinge unterhalten, für die sich der Indonesier stark interes-

Plastargias inspiriert ist. Man könnte sagen: literarische Kon-

siert. Jannis Plastargias zeigt sich begeistert: „Für mich war das

LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016

taktaufnahme gelungen! 

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© privat

zwischen deutschen und indonesischen Schreibern statt – diese


Krimikolumne

MEHR SARTRE ALS STEPHEN KING FINDET TOBIAS GOHLIS IN DEM THRILLER SIEBEN JAHRE NACHT VON JEONG YU-JEONG Ein kleiner Junge steht im Blitzlichtgewitter der Presse und soll erklären, warum sein Vater zum „Stauseemonster“ wurde, indem er die Schleusen eines Staudamms öffnete. Hunderte von Menschen kamen um, als ihr Dorf von den hereinbrechenden Wassermassen überschwemmt wurde. In dieser Eingangsszene manifestiert sich der zentrale Konflikt von Sieben Jahre Nacht. Das Ansehen, die Ehre. Wie man in der Öffentlichkeit dasteht, das ist auch in Südkorea wichtig. So wichtig, dass es lebensentscheidend wird. Der erste, der das zu spüren bekommt, ist der elfjährige Sowon. Seine Mutter ist tot, sein Vater, der Massenmörder, sozial so gut wie tot. Die Verwandten, die ihn mehr oder minder gezwungen aufnehmen (und dafür prächtig kassieren), schieben den Balg des Monsters möglichst schnell weiter, nur Onkel Sunghwan kümmert sich verlässlich um den verstörten Jungen. Sieben Jahre lang. Daher der Romantitel (auch im koreanischen Original) Sieben Jahre Nacht. Sobald sich die beiden Öffentlichkeitsflüchtlinge möglichst anonym irgendwo

Dieser kalte Despot hat eine zehnjährige Tochter, die auf der

niederlassen, tauchen Pressemeldungen über den „Sohn des

Flucht vor ihm nachts von Sowons betrunkenem Vater angefah-

Monsters“ auf: Sowon verliert seine Jobs, muss die Schule ver-

ren und getötet wird. Zwei Elternpaare, jedes von ausgesuchter

lassen, die beiden ziehen weiter. So sehr wird Sowon dadurch

Zerrissenheit, zwei zehnjährige Kinder und der ominöse Taucher,

zum Un-Mensch, dass er sich als Henker seines einsitzenden

Schriftsteller, Beobachter und hilflose Helfer Sunghwan – mehr

Vaters imaginiert. Nur der Tod des Mannes, der Schande über

Personal benötigt Jeong nicht, um das Drama aus Mord, Eifer-

ihn gebracht hat, könnte ihn frei machen. Ihre Flucht endet an

sucht und Hass zu entfalten.

einem entlegenen Ort. Der Onkel verschwindet, Sowon findet in

In einem Rundfunkgespräch merkte die Kritikerin Katharina

seinen Hinterlassenschaften einen unvollendeten Roman. Es ist

Borchardt an, ihr habe der Blick der Autorin auf die getöteten

der Roman seines bisherigen Unglücks, der noch einmal die

Dorfbewohner gefehlt. Doch der hätte die Wirkung abgemil-

Geschehnisse vor sieben Jahren rekonstruiert.

dert, die Jeongs raffinierte Dramaturgie bis zum katastrofischen

Selbst Kennern der ostasiatischen Literatur ist der Name Jeong

Ausbruch steigert: Alle Figuren – ausgenommen der kindliche

Yu-jeong fremd, auch das Feld der koreanischen Kriminallite-

Riese, der zum Massenmörder wird – haben ausschließlich sich

ratur ist so gut wie unbekannt. Umso faszinierter liest man die-

selbst im Blick. Der Egoismus der Kinder, die sich gleichwohl lie-

ses Meisterwerk, das im Klappentext etwas hilflos als das eines

bevoll um eine verwilderte Katze kümmern, ist natürlich, der der

„koreanischen Stephen King“ angepriesen wird. Jeong ist Auto-

Erwachsenen bis ins Pathologische asozial. Es ist ein Veitstanz

rin, und mehr als ein Händchen für bizarre Szenerien verbindet

ehrsüchtiger Egoismen, den Jeong superspannend inszeniert.

sie nicht mit dem US-Horror-Super-Star.

Hinter der mit raffinierten Perspektivwechseln erzählten Ge-

Es ist ein Kammerspiel vor grandioser Kulisse: Sowons Mutter, eine engherzige, ehrgeizige Materialistin, setzt ihren tollpatschi-

schichte vielfältiger Verbrechen steckt eher Sartre als Stephen

King: „Die Hölle, das sind die anderen.“ 

gen Riesen von Mann unter Aufstiegsdruck. Nachdem er nach einer Verletzung seine Karriere als Baseball-Profi aufgeben musste, soll er Geld herschaffen. Deshalb nimmt er einen Job als Sicherheitsbeauftragter für einen Staudamm samt angeschlossenem Vergnügungspark in einem abgelegenen Landstrich an. Herrscher über alles ist der Parkbesitzer und Arzt Yi Jounjae.

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Tobias Gohlis ist freier Literaturkritiker und verantwortlich für die KrimiZEIT-Bestenliste. Er schreibt im Wechsel mit Thomas Wörtche die KrimiKolumne für die LiteraturNachrichten. Er lebt und arbeitet in Hamburg. Siehe auch Diskussion der Weltempfänger-Jury auf S. 22 und Weltempfänger auf S. 26

LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016


Marguerite Abouet / Najet Adouani / Maria Sonia Cristoff Ayelet Gundar-Goshen / Antjie Kandidatinnen für den Krog / Laksmi Pamuntjak / LiBeraturpreis 2016 / Najet Marguerite Abouet Adouani / Maria Sonia Cristoff Alle (!) Leserinnen und Leser sind aufgefordert zu wählen. Die Kandidatinnen wurden durch ihre Platzierung auf der

Bestenliste Weltempfänger nominiert. Aber Sie bestimmen, wer den LiBeraturpreis 2016 bekommt. Informationen zur Online-Abstimmung und ausführliche Informationen über die Autorinnen und deren Werke finden Sie auf unserer Website: www.litprom.de / LiBeraturpreis. Oder schicken Sie einfach eine Mail an litprom@book-fair.com oder eine Postkarte. Das Voting endet am 31. 05. 2016.

Marguerite Abouet (Text), Clément Oubrerie (Ill.). Aya: Leben in Yop City [Elfenbeinküste]* Graphic Novel. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, 376 Seiten Schnell geschnitten wie eine Fernsehserie. Kurzweilig, witzig und turbulent. (Katharina Borchardt)

Najet Adouani. Meerwüste [Tunesien]* Gedichte. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa. Lotos Werkstatt, 178 Seiten Eine Unbeugsame, die in so kraftvollen wie zärtlichen Bildern die menschliche Sehnsucht nach

María Sonia Cristoff. Lasst mich da raus. [Argentinien]* Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg, 160 Seiten Eine wütende, witzige Auseinandersetzung mit nationalen Mythen – und ein Votum für ein Leben „gegen den Strich“. (Andreas Fanizadeh) Außerdem erschienen im Programm des Anderen Literaturklubs 2016. Ayelet Gundar-Goshen. Löwen wecken. [Israel] Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, 432 Seiten Die Autorin entwickelt mit großer Ruhe einen rasanten Plot. Tiefgründig und überraschend. (Andreas Fanizadeh)

Antjie Krog. Körper, beraubt. [Südafrika] Gedichte. Aus dem Englischen und Afrikaans von Barbara Jung. Matthes & Seitz, 202 Seiten So persönliche wie politische Gedichte des Aufbegehrens. Ein Trostbuch in Zeiten wie diesen. (Claudia Kramatschek)

Laksmi Pamuntjak. Alle Farben Rot. [Indonesien] Roman. Aus dem Indonesischen von Martina Heinschke. Ullstein, 672 Seiten Ein kunstvoller Liebes- und Polit-Roman, der wichtigste im indonesischen Herbst. (Cornelia Zetzsche)

*Die Übersetzung wurde gefördert durch Litprom mit Mitteln des Auswärtigen Amts

6 Fotos © Antoine Delesvaux / Simone Ahrend / Gabriel Diaz / Katharina Lütscher / Krzysztof Zielinski / Hans Scherhaufer

Freiheit besingt. (Claudia Kramatschek)


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