Einsichten 16

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EINSICHTEN16 Das Magazin der Evangelischen Journalistenschule

Versteckte Welten

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2016 · 5,0 0 Eu ro

VERS TECK TE WELTEN


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EDITORIAL Werner von Siemens Geboren 1816

Werner von Siemens hätte es Erfindergeist genannt. Wir nennen es heute Ingenuity for life. Auch zu seinem 200. Geburtstag in diesem Jahr prägt die Haltung unseres Gründers Werner von Siemens das Unternehmen und alle von uns. Ingenuity for life ist das, was uns antreibt, die Dinge immer noch ein bisschen besser zu machen: Städte lebens- und liebenswerter, öffentliche Verkehrsmittel attraktiver, die Modernisierung von Gebäuden bezahlbar und Industrien zukunftsfähig. Es geht darum, die Welt mit Ingenieurskunst zu verändern und uns auf die Herausforderungen von morgen vorzubereiten. Diesem Anspruch stellen sich täglich rund 348.000 Mitarbeiter von Siemens – und schaffen so langfristig Werte für unsere Kunden, die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Wenn man verwirklicht, worauf es ankommt, dann ist das Ingenuity for life.

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siemens.de/ingenuityforlife

Die Welt hat viele Gesichter, viele Geschichten, viele Widersprüche. Für die einen hat die Welt unendliche Möglichkeiten, die anderen stoßen an ihre Grenzen. Wir erkennen die vielen Welten nicht unmittelbar, oft sind sie versteckt. Das hat uns fasziniert. Zweier-Teams aus 15 Volontärinnen und Volontären der Evangelischen Journalistenschule und ebenso vielen jungen Fotografen des Lette-Vereins haben sich auf Spurensuche begeben, nach „versteckten Welten“. Es ist unmöglich, aus der Welt zu entkommen, auch wenn wir es versuchen. Globalisierung, Migration und Klimawandel finden wir auf einer Hallig in Nordfriesland wie in der Trockensavanne in Kenia. Geschichten als Suche in der Ferne – und vor der Haustür. Unsere Reporter fuhren in das Dorf Schleife in der Lausitz und begleiteten in Beirut einen Schwulen durch seine homophobe Welt. In einem Waldstück im Saarland bereitete sich ein Autor auf den Weltuntergang vor, im Bergischen Land traf eine Autorin einen Metzger, der Schweine mit Liebe schlachtet. Unsere Reporter fuhren im Libanon zu den Gemeinschaftsküchen von Frauen, die hungernden Flüchtlingen eine warme Mahlzeit kochen. Andere recherchierten in der Stadt Lahr, wo sich Russlanddeutsche von neuen Einwanderern bedroht fühlen. Am Ende fanden unsere Reporter kleine Könige, frustrierte Regenmacher und tonnenschwere Wale – und blieben doch immer in der einen Welt. Eine spannende Lektüre wünscht der 11. Jahrgang der Evangelischen Journalistenschule in Berlin


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0 3 ED ITO R IAL 0 4 I N H A LT 06 ELLI IM WUNDERLAND Cosplayer tauchen ab in Fantasiewelten. Ihre Maskerade dient einem Ziel: gesehen werden.

12 WA L H E I M AT

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Pottwal Norbert begibt sich auf einen ungewöhnlichen Landgang: Eine Reise quer durch Norddeutschland.

INHALT

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18 J E N S E ITS D E R G LE I S E Ein Dorf soll – und will – dem Tagebau weichen. Dann kommt die Energiewende und die Zukunftsträume sind dahin.

24 HERR BARIBAS GESPÜR FÜR REGEN

3 4 TA N Z Z U M TO N LO S E N B E AT

In Kenia ist das Wetter aus dem Takt geraten. Schuld sind das viele CO2 und warmes Wasser vor Peru.

Spür den Bass. Fühl die Vibration. Auf einem Rapfestival feiern Gehörlose Musik.

40 DAS CHAMÄLEON

3 0 I N E U R E R W E LT K A N N ICH NICHT SEIN

Beirut gilt als queere Partyhochburg. Trotzdem gleicht das Leben vieler Homosexueller einem Versteckspiel.

Wenn die Eltern zur Gefahr werden: Eine 16-Jährige erzählt von ihrem Neuanfang – fernab der Familie.

4 4 W O I S T J U T TA S C H U L Z? Manche Menschen verschwinden aus der Welt und tauchen nie wieder auf. Die Geschichte einer Vermissten.

5 2 B R U TA L LO K A L Ein Berliner Sterne-Restaurant kocht nur, was Bauern aus der Region liefern. Das ist schlecht für die Umwelt.

56 DER ZORN DER AN DEREN In Lahr scheinen Russlanddeutsche blendend integriert – bis ihre Stadt tausend Flüchtlinge aufnimmt.

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62 LIEFERH ELDEN Im Libanon kochen Syrerinnen und Libanesinnen gemeinsam für Geflüchtete. Ein Blick in die Töpfe.

6 8 I NTO TH E WA LD Nachts allein im Wald und vor Kälte fast verrückt. Ein Selbstversuch im Winter-Survival.

74 S C H L A C H T E N , A B E R S A N F T: Matthias Kürten krault Tiere in den Tod. Blutig wird es trotzdem.

79 IMPRESSUM 8 0 W E N N I C H KÖ N I G VO N D E UTS C H L A N D WÄ R

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Peter Fitzek regiert sein eigenes Königreich vor den Toren von Wittenberg. Ein Staatsbesuch.

86 FRAG DEN RABBI Eine Berliner Familie befolgt alle 613 jüdischen Gesetze. Wie lebt man nach jahrtausendealten Regeln?

90 WEIL ES IN VENEDIG STINKT Die Kruses leben mitten im Meer. Ihre Hallig wird dauernd überflutet, doch wegziehen wollen sie nicht.

9 8 D I E E J S S T E L LT S I C H V O R


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ELLI IM WUNDERL AND Eine fränkische Fliesenlegerin taucht ab in die Welt des Planeten Pandora. Wenn Elli hinter ihrer Maske verschwindet, dann heißt das Cosplay. Ein Versteckspiel mit einem Ziel: gesehen werden.

TEXT ISABEL METZGER

FOTOS MELA NIE SA PINA


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a steht Elli, in voller Montur: blaue Haare, neongelber Body, in der Hand ein Gewehr. Die 18-Jährige lehnt in der Küchentür. Ihr Vater, er rührt gerade in seinem extrastarken Frühstückskaffee, erstarrt für einen Moment. „Wie siehst du denn aus?“, fragt er. Als hätte er sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass in seiner Wohnung manchmal plötzlich eine Comicfigur auftaucht. Elli ist Cosplayerin. Oder auch: Costume Playerin. In ihrer Freizeit schlüpft die 18-Jährige in Figuren aus japanischen Manga, aus Animationsfilmen und Computerspielen. Das Ziel: die Figuren so gut wie möglich imitieren, mit Make-up und Verkleidung. Die Kostüme kommen nicht von der Stange. Um genauso auszusehen wie ihre Helden, näht und flickt Elli ihre Kleider von Hand, formt Schwerter und Zepter aus Kunststoffmasse, färbt Perücken mit Acrylfarbe ein. An manchen Tagen ist sie eine Elfe: süß, federleicht, mit hingehauchten Wangen und großen Kinderaugen. Dann kann sie fliegen, zaubern sogar. An anderen Tagen geht sie auf Monsterjagd, kühl und vollbusig, den Finger am Abzug. Dann kann sie ihre Feinde mit einem Wink – paff – aus dem Universum löschen. Heute verkleidet sie sich für eine Convention. In Würzburg findet die TiCon statt, ein Treffen von Cosplayern. Und Elli will dabei sein. Wenn Elli vor die Haustür tritt, steht sie in einem 600-Seelendorf, in dem Elfen und Monster wenig Platz haben. Schwärzelbach, fränkische Provinz. Hinter dem Haus von Ellis Vater gibt es einen Holzschuppen, Blumenbeete, einen Obstbaum. Danach kommt Wald, „nichts“, wie sie sagt. Als Kind hat sie dort manchmal Würstchen über dem Reisigfeuer gegrillt. Heute schießt ihr Vater zwischen den Bäumen Wildschweine, das Haus ist bevölkert von ausgestopften Hermelinen, Raubvögeln und Eulen. Der Vater ist Jäger, in seinem Esszimmer hängt die Ehrenurkunde für Mitgliedschaft im Dachshund-Club Nordbayern. Früher war er in der Reserve bei den Fallschirmspringern. Die Großmutter hatte ihn auf dem Küchentisch zur Welt gebracht. So eine Welt ist das, in der Elli lebt. Diese Welt hat Elli nur selten verlassen. Noch bis ins Teenageralter wohnte sie bei ihrer getrennt lebenden Mutter in der Kleinstadt Hammelburg, zehn Kilometer entfernt. An besonderen Tagen machte ihr Vater mit den Kindern aus dem Dorf einen Ausflug. Packte sie auf die Ladefläche seines Allradwagens und nahm sie mit auf die Jagd. Eine Sensation war das – für Elli ein Abenteuer für die Wochenenden und Schulferien. Im letzten Dezember zog sie für ihre Ausbildung zu ihrem Vater unters Dach. Im Nachbarort lernt sie im Betrieb ihres Bruders

Zw i s c h e n We r k s t a t t u n d S c h m i n k t i s c h :

Z e i t a u f we n d i g : Ihre Kostüme schneidert Elli selbst. Um sich in Maya zu verwandeln, schminkt sie sich stundenlang im Badezimmer.

Beim Cosplaying überdeckt Elli ihre Identität.

Fliesenlegen, klopft Putz von Badezimmerwänden. Was Anständiges, sagt ihr Vater. Was für die Zukunft, sagt Elli. Vielleicht wird sie mal Architektin, aber das ist noch nicht so klar. Wenn sie ihre Hände zu Fäusten ballt, schwillt ihr Bizeps an. „Hab schon richtig Muskeln bekommen“, sagt sie. Schwärzelbacher haben Hände wie Bratpfannen, sagt ihr Vater.

ELLI VERSCHWINDET HINTER H E AV Y M A K E - U P Um sich für die Convention fertig zu machen, ist Elli an diesem Morgen früh aufgestanden. Schon um sieben steht sie im Badezimmer, und ihre Bratpfannenhände mischen mit einem Pinsel Kajalfarbe an. Im Spiegel sieht ihr das Mädchen aus Schwärzelbach entgegen: rosige Wangen, schmale Lippen, die hüftlangen Haare zu strengen Zöpfen gezähmt. Sie tunkt den Pinsel tief in die schwarze Flüssigkeit – und drückt ihn mit einem Schwung über den Wimpernansatz. Ihr Augapfel wirkt jetzt klein und fremd, wie ein verirrtes Licht in einem schwarzen Tunnel. Für ihren Besuch auf der Convention schlüpft Elli in die Rolle von Maya, einer Kämpferin aus dem Computerspiel Borderlands – Grenzgebiete. Maya ist nicht rosig und zahm, sondern glatt, taff, „ein bisschen badass“, sagt Elli. Mit einer Quaste tupft sie grünen Concealer auf ihre Wangen und verwischt die Poren, die Lachfalten. Elli fixiert den Farbfilm mit Haarspray. Wie Lack legt es sich konservierend über die Haut. „Maya braucht heavy Make-up“, sagt Elli.

Borderlands ist ihr Lieblings-Computerspiel. Schauplatz ist der Wüstenplaneten Pandora. In einer postapokalyptischen Zukunft müssen die Spieler Schätze finden und Gangster und Riesenwürmer abknallen. Das kann die Figur Maya gut. Maya sagt Sätze wie „Fürchtet mich, ihr Säcke“ oder „Wenn mich jemand schnappen will, werd’ ich sein Hirn wegbrutzeln.“ Es fließt viel Blut in Borderlands. In solche Spielwelten taucht Elli in ihrer Freizeit häufig ab. „Ich bin Zockerin, ein Nerd“, sagt sie über sich selbst. Einmal hat sie vierundzwanzig Stunden am Stück durchgespielt. Am Ende flimmerte der Bildschirm nur noch als Bluescreen. Bezwungen von Elli. Cosplay schwappte als Trend aus Japan vor gut fünfzehn Jahren nach Deutschland. In Japan verkleideten sich Manga-Fans schon seit den frühen Achtzigerjahren als Comicfiguren. Die Ursprünge gehen aber vermutlich noch weiter zurück, bis in die Siebzigerjahre, als sich in den USA die ersten Science-Fiction-Fans wie ihre Helden kleideten. In Deutschland verbreitete sich der Trend zeitgleich mit populären Manga-Serien wie Sailor Moon und Dragon Ball. Allein auf Animexx, einem der größten deutschsprachigen Fanportale, sind heute rund 15.000 Cosplayer registriert. Seit 1999 finden in Deutschland die ersten öffentlichen Conventions statt. Früher schlüpften die Player auch hier hauptsächlich in Rollen aus japanischen Anime und Manga. Aber auch Figuren aus Computerspielen und westlichen Filmen werden immer beliebter.

Elli mag am liebsten ihre Zocker-Heldinnen. Einmal schwebte sie als Elfe aus dem PC-Spiel The Elder Scrolls durch eine Welt von Zauberern und Drachen. Ein anderes Mal als Lissandra durch die heulenden Schluchten der League of Legends. „Beim Cosplay kann ich für einen Tag jemand anders sein“, sagt sie. „Da interessiert keinen, welchen Job ich mache oder wo ich herkomme.“ Rund ein Dutzend Kostüme hängen in Ellis Kleiderschrank. An der Figur von Maya hat Elli drei Monate lang gearbeitet. Mühsam hat sie die passenden Stoffe zusammengesucht: für den hautengen Body in Neongelb, für die Cargohosen in mattem, nicht zu dunklem Grau. Mit der Nähmaschine hat sie die Teile zusammengenäht, mit Textilstift die Schmutzspuren von Verfolgungsjagden aufgemalt. Sie hat ein Spielzeuggewehr neongelb lackiert, mit breiten schwarzen Linien den Schaft und den Abzug nachgezeichnet. An manchen Kostümen sitzt Elli ein halbes Jahr. Für die Materialien zahle sie oft mehr als 200 Euro. Am teuersten sind die Stoffe und der Kunststoff, Worbla, aus dem sie Dolche und Schwerter formt.

AUF DER JAGD NACH DEM PE R FE K TE N KOSTÜM Im Badezimmer ist jetzt der entscheidende Moment gekommen: Elli setzt die Perücke auf. Es ist der Moment, in dem sie aufhört, Elli, die Fliesenlegerin, zu sein. Mit ihren Fingern stopft sie die geflochtenen Zöpfe unter das Haarnetz. Drüber legt sich ein Helm aus Strähnen in slate blue, Rauchblau, für 60 Euro aus den USA


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dazu muss man mutig sein“, sagt sie. „Besonders hier.“ In einem Würzburger Supermarkt kauft sie Proviant, Gummibärchen und Wasser. Die Verkäuferin zieht die Flasche über das Band. Grinst und zögert. Dann beugt sie sich über das Kassenband und berührt Ellis steife Haarfransen. „Sind die echt?“ In solchen Momenten muss Elli erklären, dass sie gerade nicht Elli ist. Und dass sie gerade auch nicht in Franken lebt, sondern in einer Spielwelt. Die Kassiererin schüttelt nachsichtig den Kopf, wie über einen dummen Streich. Viele Leute verstehen sie nicht, sagt Elli. Und nicht alle Freunde teilen ihr Hobby. In Schwärzelbach ist sie die einzige Cosplayerin. „Schau dir die an“, rufen sie ihr auf der Straße nach. „Fasching ist doch vorbei.“ Doch mit Jecken möchte Elli nicht verwechselt werden. Cosplaying hat nichts mit Winteraustreiben zu tun, nichts mit einem närrischen Rausch vor der anstehenden Fastenzeit, schon gar nichts mit Karnevalsumzügen oder Büttenreden. Cosplaying, sagt Elli, sei eine besondere Art der Fanliebe, die das ganze Jahr über zelebriert wird. „Man sieht die Filme und Comics eben nicht nur an“, sagt sie. „Man ist für einen Tag diese eine Figur aus einer Geschichte.“

C O S P L AY I S T E I N E „ B E S O N D E R E A R T D E R FA N LI E BE“

M a l wa s a n d e r e s: Maya knallt ihre Feinde einfach ab. Für die Schwärzelbacherin Elli eine willkommene Abwechslung

zu den röhrenden Hirschen und Obstbaumwiesen ihrer Heimat.

geliefert. Elli hat das Kunsthaar mit Spray und Sprühkleber ausgehärtet. Kein Windstoß kann die Frisur durcheinanderbringen. Sie steht jetzt stramm, den Rücken durchgedrückt, und zupft den Body an ihrem Schlüsselbein in Position. Probeweise schlägt sie ihre Augen auf und fixiert ihr Spiegelbild. Jetzt ist sie Maya, die Powerfrau. Maya, die Sirene, die durch die Schluchten ihres Planeten Pandora jagt. „Jetzt sehe ich, was ich geschafft habe“, sagt sie. „Das ist so, als ob du ein Tier erlegt hast, und du trägst das Fell.“ Ihr Vater, der Jäger, kann mit ihren Trophäen wenig anfangen. Ihr Schlafzimmer, ihre Werkstatt, betritt er nur selten. Manchmal, wenn er unten in der Küche sitzt, hört er einen Schlag. Dann ist oben bei der Nähmaschine eine Nadel abgebrochen, und Elli stampft wütend auf den Boden. Oder eine Schaufensterpuppe ist umgefallen, der Elli zur Probe ein Kleid übergestreift hat. Geschickte Hände hat Elli, sagt der Vater. „Was die da oben alles näht!“ Die Conventions seien für ihn „spanische Dörfer“, sagt er. Ein Foto auf der Kommode im Esszimmer: Elli in der neunten Klasse, am Tag ihres Abschlussballs. Dritte Reihe, aschblondes Haar, rechts neben ihr der Bruder. „Mit mir wollte keiner tanzen“, sagt sie. „Da fand ich mich noch schüchtern und hässlich.“ Elli entdeckte das Cosplaying vor zwei Jahren. Bei ihrem ersten Mal

schlüpfte sie in die Rolle von Feuerfaust aus der Anime-Serie One Piece: breite Schultern, schmale Lippen, ein laufender Sixpack. Sie merkte, dass sie sich auf einmal nicht mehr schüchtern und hässlich fühlte, sondern stark und schön. Bei einem Treffen von Cosplayern wird sie fotografiert, bekommt Komplimente. Für ihre Perücke. Für das feine Puder auf ihrer Nase. Dafür, perfekt ihre Elli-Identität durch eine andere zu ersetzen. Cosplay habe sie selbstbewusster gemacht, sagt sie. Einmal ging sie als rot-schwarzer Alien aus Star Wars ins Kino. Nicht mal ihre Freundinnen erkannten dann sofort, dass sie das war: Elli Marx aus Schwärzelbach. Das sei nicht schlimm gewesen, sagt sie. Schlimm sei nicht, als Person zu verschwinden. Schlimm sei nur, wenn keiner die Figur erkennt, in die man sich verwandelt hat. Wenn kein Freund und kein Fremder mit dem Finger auf einen zeigt. Wenn keiner sein Smartphone zückt und Bilder vom Dämon knipst. Im Kino zum Beispiel, da drehten sich viele einfach weg. Das Licht ging aus, und der schwarze Mantel, die schwarze Haut, wurden eins mit dem Zuschauerraum. Peinlich war das. Ein Reinfall. Im Bus zur Convention in Würzburg muss Elli bohrende Blicke ertragen. Ein älteres Paar tuschelt. „So auf die Straße zu gehen,

Die Convention findet mitten in der Fastenzeit statt, ausgerechnet in einem katholischen Jugendzentrum. Aber solange man das Verkleiden nicht Karneval nennt, scheint der Kirche das egal zu sein. Und solange andere Regeln eingehalten werden: kein Alkohol. Vor allem: „Brust, Intimbereich und Gesäß müssen ausreichend bedeckt sein.“ So steht es in der Hausordnung. Durch die Tür schieben sich die ersten Besucher in Rüschenkleidern, Ritterrüstungen und Netzstrumpfhosen. Natürlich erkennt Elli sie fast alle: Elsa, die Eiskönigin aus dem Animationsfilm Frozen, mit zartblauem Kleid und goldblonden Haaren. Naruto aus der gleichnamigen Mangareihe. Pirat Jack Sparrow mit Degen und flatterndem Oberhemd. Ein Besucher, der vor Elli in der Schlange steht, wird abgewiesen, weil er eine mannshohe Sense bei sich trägt. Länger als 120 Zentimeter darf keine Waffe sein. Glück für Elli. Mit ihrer Plastikknarre kommt sie durch. Drinnen im Kreuzgang sind Verkaufsstände aufgebaut. Es gibt Perücken mit meterlangen türkisen Haaren. Pinkfarbene japanische Katzenplüschtiere. Kunstohren: spitz, halb spitz und oval. Mousepads mit vollbusigen Animefiguren. „Tittenmousepads“ nennt Elli sie. Aber zum Shoppen ist Elli nicht hier. Ein Fotograf ist auf sie aufmerksam geworden. Er zückt die Kamera, und Elli-Maya schlägt die Augen nieder, stemmt eine Hand in die Hüfte, zielt dann mit der Knarre in die Kameralinse. Cosplay ist längst nicht mehr nur ein Hobby. Seit der Trend aus Japan nach Deutschland kam, hat er sich übers Internet rasch verbreitet. Die Ansprüche sind gewachsen. „Mittlerweile ist da so ein elitäres Denken bei manchen“, sagt Elli. Die meisten schneidern sich ihre Kleider selbst. Gekauftes gilt unter strengen Cosplayern als Regelverstoß. Manche treten in Wettbewerben gegeneinander an. Bei den Conventions imitieren sie Liveact-Szenen aus Animefilmen, singen Titelsongs aus Computerspielen. Eine Jury entscheidet, wer mit Schauspiel, Kostüm und Entertainment am besten seine Kunstfigur imitiert. Auch bei der Convention in Würzburg gibt es so einen Wettbewerb, aber Elli macht nicht mit. Auch als Maya traut sie sich nicht alles. Eine Jessica Nigri wird sie nicht werden. Die Cosplayerin

ist Ellis großes Vorbild: eine US-Amerikanerin, die auf Facebook 3,7 Millionen Fans hat. Auf den großen Conventions tritt sie als gut bezahlter Gast auf.

„ DA S IST W I E E I N E G ROSS E FA M I LI E“ Elli drückt einem Mädchen mit blauer Bobfrisur die Knarre in den Rücken. Die Bobfrisur dreht sich um, und Elli sieht in ihr Spiegelbild. „Maya? Borderlands?“ Die beiden fallen sich in die Arme. „Gut siehst du aus!“, ruft Maya Nummer zwei, die eigentlich Lisa-Marie heißt und aus dem Erzgebirge angereist ist. Gestern hat sie sich für die Convention extra die Haare zurechtschneiden lassen. Maya gefalle ihr, sagt Maya Nummer zwei, weil sie eine Kämpfernatur sei. Elli nickt. Wenn man den gleichen Charakter findet, dann ist man automatisch befreundet, sagt sie. „Das ist wie eine große Familie.“ Als Elli am späten Nachmittag die Welt der Convention verlässt und auf die Straße tritt, da ist das Taffe aus ihrem Gesicht gewichen. Die schwarzen Lidstriche, Mayas Mimik, sind verwaschen. Sie wiegt sich im Takt zum Intro von Star Wars, das aus dem Lautsprecher ihres Smartphones schallt. Auch wenn sie nie eine Jessica Nigri mit 3,7 Millionen Facebook-Fans wird, sie ist zufrieden. Ein gutes Dutzend der Besucher haben heute Fotos von ihr geknipst. Sie sind keine Freunde, aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist: Würden sie Elli, der Fliesenlegerin, in Würzburg oder in Schwärzelbach über den Weg laufen, sie würden sie nicht erkennen.

I S A B E L M E T Z G E R und M E L A N I E S A P I N A kennen seit ihrem Ausflug ins Reich der Cosplayer kosmetische Tricks, die so nicht im Buch stehen. Zum Beispiel, wie sich mit herkömmlichem Klebestift ihre Augenbrauen aus dem Gesicht retuschieren können. In Mayas Doppelgängerinnen werden sich die beiden aber nicht so schnell verwandeln. i s a b e l . m e t z g e r @ g m x . d e // m e l a n i e . s a p i n a @ w e b . d e

S p i e l ka m e r a d i n n e n : Bei der Convention trifft Elli auf andere Figuren aus der Serie Borderlands.


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WALHEIM AT In deutschen Meeren gibt es keine Pottwale. Eigentlich. Einer aber hat es bis nach Stralsund geschafft – auf dem Landweg. TEXT PHILIPP BENG

HELFEN DE HÄN DE:

Nachdem sie einen toten Wal geborgen und zerlegt haben, stinkt die Schutzkleidung der Meeresbiologen. Ihre Gummihandschuhe müssen tagelang auslüften.

FOTOS H A NNA H F R A NCKE


N

och bevor man Norbert sehen kann, riecht man ihn: eine Mischung aus Blut und Fisch und Erde. Die mit Schlössern und Riegeln gesicherte Eisentür zu seiner Grabkammer schwingt auf. Eissplitter bröckeln vom Rahmen und sofort breitet sich der beißende Gestank der Verwesung aus. „Dieser Geruch bleibt überall hängen“, sagt Michael Dähne. Der 40-jährige Kurator für Meeressäugetiere am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund nimmt zwei Schritte Abstand und schaut mit zusammengekniffenen Augen in die dunkle Kühlkammer. Sie ist bis zur Hälfte gefüllt mit zerlegtem Pottwal. „Wir haben die Knochen vor ein paar Tagen bewegt. Die Schutzanzüge müssen immer noch aushängen.“ Der Wal liegt auf Paletten gestapelt, seine Einzelteile kreuz und quer in dem Container verteilt. An der Rückwand, hinter Wirbeln, Kieferknochen und Rippen, lugt der Schädel hervor: drei Meter lang, mehrere hundert Kilo schwer. Von den anderen Wissenschaftlern hat das Tier nur eine Kennnummer bekommen: PM21435. Doch weil dieser Wal ein ganz besonderer ist und dies seine Geschichte, verdient er einen Namen. Nennen wir ihn: Norbert. Auch wenn man den herumliegenden Einzelteilen den Pottwal kaum ansieht – dieser Haufen Knochen ist Michael Dähnes ganzer Stolz. Norbert ist sein größter Fang. Deutschland hat plötzlich ein Walproblem. An den Küsten werden mehr Walkadaver angeschwemmt als je zuvor. In den letzten 30 Jahren strandete hierzulande ein Dutzend Pottwale. Jetzt sind es schon 16 in nur zwei Monaten. Vorbereitet ist darauf niemand. Pottwale ziehen zwar durch die Weltmeere, in Nord- und Ostsee aber haben sie nichts verloren. Deshalb ist von all seinen Irrwegen Norberts letzter Ausflug der skurrilste: eine Odyssee per Tieflader, Kran und Lastwagen über das deutsche Festland. Bis nach Stralsund. Einer der ersten Menschen, die Norbert sehen, ist Henning Jürgens. Ende Januar klingelt auf seinem Hof in Dithmarschen, nahe der schleswig-holsteinischen Nordseeküste, das Telefon. Es ist Sonntagnachmittag, der Kohlbauer ist bei seiner Familie. Doch als er hört, was ihm ein Bekannter vom Strand berichtet, streift er die Gummistiefel über und bricht sofort auf. Jürgens ist nicht nur Landwirt, er ist auch Seehundjäger. Und die kennen weder Feierabend noch Wochenende. Seehundjäger, das klingt martialischer, als es ist: Jagen darf man Seehunde heute nicht mehr. Jürgens und seine Kollegen bergen kranke oder verwaiste Tiere und bringen sie in Auffangstationen. Doch bei diesem Einsatz geht es nicht um Seehunde. In seinem Geländewagen, so wird es Jürgens später erzählen, rast er die Landstraße entlang, Richtung Meer. Keine zehn Minuten später steht er auf dem Deich. Schon von hier aus kann er sehen, weshalb er gerufen wurde: vier dunkle Berge, etwa einen Kilometer draußen im Watt. Zu groß für Robben oder kleine Schweinswale, von denen es hier viele gibt. Er späht durch sein Fernglas und bestätigt, was er in seinen gut zwölf Dienstjahren als Seehundjäger zum ersten Mal sieht: „Sin‘ wohl Pottwale.“ Das Wasser bedeckt ihre Körper gerade noch zu einem Drittel. Trotz des Dämmerlichts sieht er, dass sie sich rühren. Sprühwolken stieben aus den Blaslöchern. Jürgens ruft Verstärkung. Die Wale sind im Hoheitsgebiet des Nationalparks Wattenmeer gestrandet, also verständigt er die Parkleitung. Mit Seehunden oder Kegelrobben kennt Jürgens sich aus. Pottwale aber sind ihm eine Nummer zu groß.

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Norbert und die anderen Wale bemerken den Seehundjäger gar nicht. Sie liegen bereits im Sterben. Nur die Flut könnte sie noch retten. Um 16.52 Uhr bricht die Dunkelheit herein. Um 17.10 Uhr erreicht der Meerespegel seinen Höchststand. Doch die Flut ist ein Verräter. Sie spült die Wale nicht zurück ins offene Meer. Sie drückt sie nur noch weiter an Land. Norberts größter Irrtum liegt da schon mehrere Wochen zurück. Die Biologen, die die Tiere untersuchen werden, sind sich einig: Er und die anderen jungen Pottwalbullen müssen auf dem Rückweg gewesen sein, vom arktischen Winterquartier in ihre Heimat bei den Azoren im Nordatlantik. Norbert steht an der Schwelle zur Geschlechtsreife – es könnte sein erster Sommer mit einem Walmädchen werden. Doch vor Schottland biegt die Gruppe falsch ab. Ein paar Seemeilen zu weit östlich, schon gerät sie in die Nordsee, eine gefährliche Sackgasse. Zahllose Schiffsrouten verlaufen quer durchs Meer, der Wasserpegel ist niedrig und das Wechselspiel von Ebbe und Flut besonders launisch. Einmal in der Nordsee, finden Pottwale kaum hinaus – und stranden an den flachen Küsten. Als Norbert schließlich im Wattenmeer auf dem Trockenen liegt, wird das Atmen für ihn zur Qual, sein tonnenschwerer Körper drückt auf Innereien und Blutgefäße. Die isolierende Fettschicht, die normalerweise die Körpertemperatur im kalten Meereswasser aufrecht erhält, lässt Norbert an Land überhitzen.

SEEHUNDJÄGER

Henning Jürgens kennt sein Revier. Doch Pottwale hat er vorher noch nie melden müssen.

© Alina Claußen, LKN.sh

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T I E F L A D E R bringen die Walkadaver auf eine Plattform, auf der sie untersucht und zerteilt werden.

Stresshormone fluten sein Hirn. Nach und nach versagen die Organe. Die schwerfälligen Bewegungen der Wale, die der Seehundjäger durch sein Fernglas beobachtet, kündigen das Unvermeidliche an. Die Wale werden die Nacht nicht überstehen. Mit der Ebbe am Morgen treffen die Amphibienfahrzeuge des Nationalparks ein. Für eine Rettung ist es zu spät. Einmal gestrandete Pottwale zurück ins Wasser zu hieven, gilt ohnehin als unmögliches Unterfangen. Sie wiegen zu viel und könnten schwere Verletzungen davontragen. Acht Gestalten in Watthosen und Gummistiefeln steigen aus den Wagen. Noch Wochen später werden sie sich daran erinnern, wie ausgelassen die Stimmung in diesem Moment ist. Die Helfer sind aufgeregt. Vier Pottwale am Strand von Dithmarschen, eine Sensation! Kaum einer der Arbeiter hat jemals so große Tiere aus nächster Nähe gesehen. Als sie durch den Morgennebel näher waten, erkennen sie, dass es sogar acht Wale sind, die größten von ihnen zwölf Meter lang. Jungbullen von zehn, höchstens 25 Jahren. Die Biologen umkreisen die Kadaver und filmen die Szenerie mit Handys. Erst nach einigen Minuten bemerken sie, was keiner für möglich gehalten hätte: Einer der Wale lebt noch. Norbert liegt am Rand der Gruppe, in einer Pfütze Salzwasser. Das Letzte, was er zu sehen bekommt, sind die in Gummi gehüllten Wesen, die ihn anstarren. Ein letzter prustender Atemstoß durch das Blasloch, ein leichtes Anheben der Schwanzflosse, dann ist es vorbei. Norbert stirbt am Vormittag des 1. Februar 2016. Seine Reise aber geht weiter.

Im Wattenmeer wird nicht lange getrauert. Die Tiere müssen weg. Gammelnde Wale sind eben keine überfahrenen Rehe, der nächste Sturm könnte sie in eine Schifffahrtsrinne spülen oder gar an den Strand von Sankt Peter-Ording. Inzwischen wird klar: Norbert und seine Begleiter sind nicht die einzigen. Insgesamt verenden in wenigen Tagen 28 Pottwale zwischen Ostengland und Dithmarschen, zwei von ihnen nur wenige Kilometer nördlich vom Kaiser-Wilhelm-Koog, auf zwei Sandbänken vor Büsum. Der Schlepper „Odin“ läuft aus, um die Kadaver an Land zu holen. Normalerweise transportiert das Schiff Baumaterialien, aber jetzt wird improvisiert – der Kreis Dithmarschen muss dringend diese Wale loswerden. In Deutschland ist das vor allem ein gewaltiger bürokratischer Aufwand. Die wenigsten hier haben Erfahrung im Umgang mit gestrandeten Walen. Wohin mit mittlerweile zehn riesigen Leichnamen einer geschützten Spezies, die man nicht einfach verscharren darf? Im Nationalpark sind die Mitarbeiter jetzt Tag und Nacht beschäftigt: Bagger und Kräne müssen herangeschafft, ein Platz für das Zerlegen der Tiere organisiert werden. Die Zeit drängt, denn die Wale drohen zu explodieren. In ihren Bauchhöhlen entstehen Gase, die die Körper anschwellen lassen, bis die Haut platzt. Mit schwerem Gerät werden Norbert und die anderen durch das Watt gezogen, ihre Leiber hinterlassen tiefe schwarze Furchen in den grünen Salzwiesen vor dem Deich. Die Spur wird noch Wochen später zu sehen sein. Kräne wuchten die Wale auf Tieflader, Blut rinnt aus ihren Mäulern. Unter Polizeischutz


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KNOCHENJÄGER

Michael Dähne hat Norbert nach Stralsund geholt – für das Deutsche Meeresmuseum. Seine letzte Ruhe findet der Wal vorerst in einem Kühlcontainer auf Dänholm.

N O R B ERTS L AN D GAN G Jagel Stralsund Meldorf Ka is e r -W i l h e l m - Ko o g

werden sie einige Kilometer nach Norden gebracht: zum Meldorfer Speicherkoog, Plattform 2. Dort wird aus einem Parkplatz vor karger Kulisse plötzlich ein Schlachthof. Norbert ist einer der ersten, die auf der Deichkrone ankommen. Im Westen erstreckt sich das wintergraue Meer, im Osten Marschland bis zum Horizont. Hier, mitten im Nichts, versammeln sich Forscher, Kamerateams, Schaulustige. Manche von ihnen sind über 300 Kilometer angereist. Und noch jemand trifft ein: Kurator Dähne vom Meeresmuseum. Er ist auf Waljagd, im Auftrag der Wissenschaft. Als er von den Funden hört, hängt er sich sofort ans Telefon und reserviert eines der Skelette. Wer in Deutschland einen toten Wal will, muss Anträge stellen und nachweisen, dass er im Bildungs- oder Forschungsauftrag handelt. Der Transport muss selbst organisiert werden und für die Bergung und Entkernung eines Wals werden schnell fünfstellige

Summen fällig. Die Präparation ist sogar noch teurer. Beträchtliche Ausgaben für das Museum, dessen Haushalt von der Bundesregierung, Mecklenburg-Vorpommern und der Stadt Stralsund mitfinanziert wird. Aber Dähne ist dieser Aufwand nicht zu viel: Er will diesen Pottwal. Wenn Michael Dähne über Norbert und seine Artgenossen spricht, dann mit wissenschaftlicher Leidenschaft. Stundenlang kann er allein über die Anatomie eines Pottwalkopfes reden, über ihre asymmetrischen Nasenlöcher und ihre Schädelform. Es seien „ikonische Tiere“ und ihre Überreste müsse man unbedingt aufbewahren und untersuchen: „Sie geben uns Aufschlüsse über die Biologie der Wale, die wir sonst nicht bekommen könnten.“ Also fährt Dähne hunderte Kilometer, um das Zerlegen der Wale zu überwachen, holt Gelder und Genehmigungen ein und nimmt sich viel Zeit, um den Fahrern am Telefon ganz

genau zu beschreiben, wohin die Fracht gehen soll. Bei diesem Wal überlässt er nichts dem Zufall. Immerhin, sagt er, handele es sich um ein Zeugnis der größten Walstrandung in der deutschen Geschichte. Für ihn ist es ein Glücksfall, dass es mit einem Schlag so viele tote Tiere gibt. Bei den letzten gestrandeten Walen ging sein Museum leer aus. Doch diesmal steht er in der ersten Reihe. Menschen in neonfarbenen Schutzanzügen setzen mit langen Klingen Schnitte in Norberts Flanken, um die Gase entweichen zu lassen. Bald ziehen die Biologen mit Baggern Fettlappen groß wie Tischtennisplatten von dem Walkörper. Sie öffnen die Bauchhöhle, entnehmen Organe aus dem roten, dampfenden Innern. Der Kopf wird abgetrennt, das Gerippe zerlegt. Es dauert drei Tage, bis alle Wale vollständig seziert sind. Norbert ist nicht mehr wiederzuerkennen. Die Arbeiter teilen ihn auf: Fett und Fleisch landen in einem blauen Container. Der geht in eine Verwertungsanlage für Tierkörper, wo aus zehn Metern Norbert fünf Zentimeter große Fleischwürfel werden. Das Tiermehl darin ist Biomasse fürs Kraftwerk, aus dem Fett wird Biokraftstoff raffiniert. Norberts Hülle zerfällt in Kilowattstunden und E10. Den Forscher Dähne aber interessieren viel mehr die grauen Container, in denen die Knochen der Wale landen. Der Kurator wird mit einer beachtlichen Ausbeute nach Stralsund zurückkehren: drei komplette Pottwalskelette, außerdem Ersatzteile aus den Gerippen der anderen. „Zwei der Skelette geben wir nach der Präparation an die Unis in Hannover und Rostock“, sagt er. „Aber einen behalten wir! Wahrscheinlich den 35er.“ Damit meint Dähne den Wal mit dem Zahlencode PM21435. Norbert. Eine Woche nachdem der Seehundjäger ihn im Watt entdeckt hat, verlässt der zerstückelte Norbert die Meldorfer Bucht auf der Ladefläche eines Schwertransporters. Zum ersten Mal geht es landeinwärts. Die Gegend, die an ihm vorbeizieht, ist weit und leer: Äcker, Windräder, Bauernhöfe. Der Geruch des verrottenden Tiers, erzählt sein Fahrer später, dringt bis in seine Kabine. Der Trucker hat nicht zum ersten Mal Tierreste geladen, aber einen Wal – das ist neu. Als der Lastwagen die A20 entlang donnert, ist der Tempomat auf 89 Stundenkilometer eingestellt. So dauert die Fahrt quer durch Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern fast fünf Stunden. Vorbei an Lübeck, Rostock, ein kurzer Stopp auf einem Rastplatz. Schließlich erreicht Norbert seine vorläufige Endstation, die kleine Insel Dänholm vor Stralsund. 316 Einwohner. Und ein toter Wal.

Insgesamt legt Norbert über 400 Kilometer auf Land zurück, eine Odyssee quer durch Norddeutschland. Nachdem er im Nordseewatt vom Kaiser-Wilhelm-Koog gestrandet ist, bringt ihn ein Tieflader in die Meldorfer Bucht. Dort wird er in Einzelteile zerlegt. Lastwagen transportieren den zerstückelten Meeressäuger in Containern nach Jagel, zur Verwertungsanlage für Tierkörper. Die Knochen aber wandern weiter – über die A7 und die A20 bis an die Ostsee, auf die kleine Insel Dänholm im Strelasund.

Wieso Norbert überhaupt erst von seinem Heimweg abkam, dafür haben die Meeresbiologen viele Erklärungen. Einer Theorie zufolge hängt das Massensterben im Watt mit dem steigenden Lärm unter Wasser zusammen. Neue Schiffsmotoren und die Windparks, die entlang der Nordseeküsten in den Meeresgrund gerammt werden, könnten die Orientierung der Wale stören. Michael Dähne sind andere Erklärungen lieber: natürliche Wanderungen der Tiere oder Störungen des Magnetfelds der Erde. Aber es schwingt auch Mitgefühl mit, wenn er von seinem Wal spricht. Es habe ihn traurig gemacht, zu sehen, wie die majestätischen Tiere auseinandergenommen wurden. „Natürlich ist man da von der menschlichen Seite irgendwo betroffen“, sagt Dähne. Doch schon im nächsten Moment lobt er all die wichtigen Erkenntnisse, die er sich von den Untersuchungen verspricht. Er ist zufrieden, als der Transporter auf Dänholm eintrifft. Norberts Knochen haben die Reise gut überstanden. Die anderen beiden Skelette sind schon in der Präparation. Bis er an der Reihe ist, wird Norbert in seiner Kühlkammer ausharren müssen. Norberts Durchbruch als Star der Stralsunder Walsammlung liegt noch in weiter Ferne. Das Skelett muss gereinigt werden, in Wasser ausbluten und mit Bakterien versetzt werden. Erst dann, wenn seine Knochen bleich sind und nicht mehr nach Tod riechen, ist Norbert bereit für seine letzte Etappe. Vielleicht bekommt er seine eigene Ausstellung – oder aber er landet in der muffigen Lagerhalle des Museums. „Wir haben bisher keine konkreten Pläne für das Skelett“, räumt Dähne ein. Auch wenn er nicht so recht weiß, wohin mit Norbert, für sein Museum musste er ihn einfach sichern. Wer weiß, wann wieder die Chance auf so einen Fang kommt.

Selbst Wochen nach der Spurensuche hatten P H I L I P P B E N G und H A N N A H F R A N C K E noch Norberts Duftnote in der Nase. Eine einfache Wäsche reicht übrigens nicht, um Textilien vom Walgeruch zu befreien. Das beste Rezept: Aushängen, in Spiritus einlegen, bei 90 Grad mit viel Weichspüler waschen, bügeln, nochmal aushängen – und dann am besten verbrennen. p h i l @ b e n g s c h r e i b t . d e // h a n n a h _ f r a n c k e @ w e b . d e


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Der Tagebau Nochten: So hätte Schleife aussehen sollen

JENSEITS DER GLEISE Schleife wollte dem Tagebau weichen. Die Dorfbewohner freuten sich auf Wohlstand und neue Häuser – aber die Bagger kamen nie. Ein Dorf verzweifelt an der Energiewende. TEXT FLORIAN HAENES

Hinter Glas hatten die Dorfbewohner ausgestellt, was sie bereit waren herzugeben: die Hälfte ihres Dorfes. Schleife jenseits der Gleise. Die Landfrauen hatten die Eigenheiten jedes Hauses erfasst, sich vom Konzern topografische Karten und Luftaufnahmen besorgt, um für die Miniatur aus Ton jedes Haus nachzuformen. Ein paar Tage lang stand die Miniatur in einem Glaskasten im Gemeindeamt, danach in der Schule, denn die Kinder sollten sich an den Gedanken gewöhnen, dass das halbe Dorf dem Braunkohle-Tagebau weichen sollte. Doch es kam anders und so lagert die Miniatur heute in einem Schuppen, vergessen und überflüssig. Alles ist schief gelaufen in Schleife jenseits der Gleise: Die Dorfdiscothek steht noch, der Getränkemarkt auch, und all die Häuser, in denen keiner mehr wohnen will. 1.700 Menschen werden ihre Häuser nicht verlieren, ihre Grundstücke werden nicht der Braunkohle-Grube weichen. Schleife jenseits der Gleise ist gerettet, doch die Einwohner sagen: Das ist eine Niederlage. Hartmut Dainz sitzt an seinem Schreibtisch im Planungsbüro und blickt durch das Fenster auf die Bahnstrecke Berlin-Görlitz, die mitten durch das Dorf in der sächsischen Lausitz führt. Schleife, erklärt der Bauingenieur, sei geteilt: Jenseits der Gleise befand sich das Dorf schon immer im Vorranggebiet. Eines Tages sollten hier alle Häuser dem Braunkohle-Tagebau weichen. Bleiben sollten nur die Häuser diesseits der Gleise.

FOTOS NINA R A ASCH

In diesem Glauben lebten die Menschen in Schleife jahrelang. Sie dachten: Die Bagger des Energiekonzerns Vattenfall würden kommen und sich das halbe Dorf holen, Schleife jenseits der Gleise ins Jenseits befördern. Diese Vorstellung erfüllte die Schleifer mit Zuversicht, nicht mit Angst, denn der Konzern gab ein Versprechen: Wer ein Haus an den Tagebau verlor, dem würde ein neues, viel schöneres, größeres diesseits der Gleise gebaut. Dann aber kam die Energiewende. Der Bauingenieur Hartmut Dainz erinnert sich an die guten Jahre, als sie noch glaubten, auf der anderen Seite geeint zu werden. Er weiß noch, wie die Schleifer mit Prospekten in sein Planungsbüro kamen, denn sie wussten: Aus einem alten Schuppen jenseits der Gleise, wird eine solide Garage diesseits der Gleise, aus einem maroden Haus, wenige zehntausend Euro wert, ein unbezahlbarer Neubau. Protest gegen den Konzern, wie er anderswo stattfand, gegen Naturzerstörung und Heimatverlust, gab es in Schleife kaum. Wenn, dann waren es Braunkohlegegner von anderswo, die eigens angereist waren, um über die Dorfstraße von Schleife zu ziehen. Fremde, argwöhnten die Schleifer, und beobachteten den Protestmarsch hinter gardinenverhangenen Fenstern. Die Schleifer jenseits der Gleise wollten umsiedeln, was sogar die Landespolitik überraschte. Einmal, erzählt man in Schleife, kam der Ministerpräsident ins Dorf. Er habe gestaunt, kein protestierendes Dorf vorzufinden,


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und mit Anerkennung davon gesprochen, wie früh sich die Schleifer mit der Umsiedlung abgefunden hätten. Keiner ahnt die Enttäuschung, als im August 2009 der Konzern die Schleifer zu einem Fest einlädt, um beider Übereinkunft zu feiern: den ersten Schleife-Vertrag. Auf der Bühne im Festzelt gratulieren sich Bürgermeister und Konzernmanager, dann übernimmt die Bergmannskapelle und die Dorfbewohner laben sich am Buffet, wobei einige vielmehr plündern: Sie stopften sich die Taschen voll, erinnert sich der Bürgermeister und meint damit jene Dorfbewohner, die begannen, das Buffet in Plastikboxen aus dem Festzelt zu tragen. Wer sich zu mäßigen vermochte, war beschämt angesichts des Plünderns. Blickt man heute auf jenes Geschehen zurück, mag man es für ein Vorzeichen halten.

Die Bahnstrecke Berlin-Görlitz verläuft mitten durch Schleife und entzweit das Dorf.

Mit dem ersten Schleife-Vertrag entschädigte der Konzern das Dorf für den Verlust einiger Häuser, die dem Braunkohle-Tagebau zum Opfer gefallen waren. Im Gegenzug baute der Konzern ein Altenheim diesseits der Gleise und leitete das Bächlein Struga um, so dass die Alten nun am Gewässer entlang flanieren können. Der Konzern renovierte Kirche, Pfarrhaus und Gemeindeamt, gründete einen Stiftungsfonds, um die Vereine des Dorfes zu beleben, versprach jedem Haushalt diesseits der Gleise eine neue Gasheizung, einen Zuschuss für eine Solaranlage und jahrelang vergünstigtes Gas. Schleife jenseits der Gleise war voll Zuversicht: Diesseits ist eine blühende Ortschaft, in der es sich lohnen wird, zu leben. Schon während des Dorffestes war bekannt, dass der Konzern jenseits der Gleise abbaggern will. Die neue Gasheizung, die Solaranlage, die vergünstigten Gaspreise - davon sollten die Umsiedler profitieren, sobald ihnen der Konzern ihre neuen Häuser diesseits der

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Gleise gebaut hatte. Schleife, das war der trügerische Traum, würde endlich eine Einheit werden. In Schleife erinnert man sich genau an die Jahre, die auf das folgten, was die meisten die Wiedervereinigung und andere den Anschluss des Ostens an den Westen nennen. Junge und Gebildete verließen Schleife in Richtung der alten Bundesländer und immer mehr Häuser verstummten. Doch als die rot-grüne Bundesregierung den Atomausstieg beschloss und die Braunkohle eine überraschende Renaissance erlebte, glaubte sich Schleife gerettet. Die Fördermenge im Tagebau stieg sprungartig an. Es gab endlich Arbeit und nach einigen Jahren war der Kindergarten von Schleife wieder ein lebendiger Ort. Dass man sich getäuscht hat in Schleife, ahnen die Ersten im Oktober 2014. Vattenfall kündigt an, sich von seiner Braunkohlesparte zu trennen. Der Konzern befindet sich in der Hand der schwedischen Staatsregierung und diese hat entschieden, die Zukunft liege in erneuerbaren Energien, nicht in der Kohle. Schleife erzittert angesichts dieser Zukunft: Der Bäcker verkauft seine Brötchen an die Angestellten des Kohle-Konzerns, der Mechaniker repariert ihre Autos und der Lehrer unterrichtet ihre Kinder. Was soll aus dem Ort werden, ohne Konzern, ohne Kohle? Dass man sich getäuscht hat, offenbart sich vollends, als die Bundesregierung eine Klimaabgabe für Braunkohlekraftwerke ins Gespräch bringt. Plötzlich hat Vattenfall Schwierigkeiten für Tagebau und Kraftwerk einen Käufer zu finden. „Offen und nachvollziehbar logisch“, so der Bürgermeister von Schleife, habe ihm der Konzern dargelegt, dass angesichts der geplanten Sonderabgabe mit Braunkohle kein Gewinn mehr zu machen sei. Das war es mit der Umsiedlung, wenn sich nicht doch ein Käufer findet. Nur wer sollte das sein? Ein tschechischer Konzern hat Interesse, doch zahlen will er offenbar wenig. Der Freund eines Schleifer Gemeinderates führt eine Delegation des möglichen Käufers durch das nahe Kraftwerk. Ob den Tschechen gefällt, was sie gesehen haben? Keiner weiß es. Banges Hoffen. Thomas Schimko sitzt mit verschränkten Armen neben seiner Frau Peggy am Küchentisch in dem Haus, das er gern gegen ein besseres auf der anderen Seite eintauschen würde. Durch das Fenster in Schimkos Rücken blickt man von jenseits auf die Gleise. Schimko ist Schlosser und arbeitet im Tagebau für einen Vertragspartner von Vattenfall. Sein neues Haus hat er sich zum ersten Mal an jenem Tag

vorgestellt, den jeder die Flatterband-Aktion nennt. Der Konzern holte die angehenden Umsiedler mit Reisebussen ab und fuhr sie zu den Äckern, auf denen sich die neuen Grundstücke befanden. Arbeiter des Konzerns hatten Pflöcke eingeschlagen und mit Flatterband die neue Hauptstraße und die Grundstücke abgesteckt. Es war ein düsterer Tag, Regen und Schnee weichten den Lehmboden auf, doch der Konzern war da, mit Regenschirmen, Glühwein und Bockwurst. Während am Himmel ein Hubschrauber kreiste, in dem ein Filmteam wohl Aufnahmen machte, schritten die Schleifer über die Äcker und sichteten die Zukunft. Sie wirken einander so fern, Peggy und Thomas Schimko, dabei trennt sie gerade nur eine Tischkante: Sie sagt, von Umsiedlung und Tagebau will sie nichts mehr hören, bei Familienfesten geht sie vor die Tür, wenn das Thema zur Sprache kommt. Er sagt, er interessiert sich weiterhin sehr wohl, besonders für die technische Seite des Tagebaus, die hier in Deutschland ausgefeilter ist als überall sonst. Sie sagt, die Umsiedlung kommt nicht mehr – und schaut ihn in Erwartung seines Widerspruchs an: Natürlich kommt die Umsiedlung noch, sagt er, die Arme unverändert vor dem Brustkorb verschränkt – Kohle ist ein Bodenschatz und bleibt ein Bodenschatz. Im Haus nebenan befindet sich das Planungsbüro von Hartmut Dainz. An die Umsiedlung glaubt auch er nicht mehr, sagt er. Doch vor den anderen spare er sich diese Bemerkung, denn diejenigen, die noch hoffen, mag er nicht verletzen. Leute wie seinen Nachbarn, den Herrn Schimko. In Hartmut Dainz‘ Büro sind aus Träumen Pläne geworden. Einer der Pläne hängt auf weißem Papier noch an der Wand, er hat ihn nicht abgenommen; darauf der Grundriss eines Hauses, das es nie geben wird. Ein junges Pärchen hatte den Plan in Auftrag gegeben, ließ sogar schon die Baugrube ausheben, bevor die Umsiedlung gestoppt wurde. Hartmut Dainz‘ Baupläne vermochten selbst Skeptiker zu überzeugen. Er erinnert sich an einen Umsiedler aus dem Nachbardorf: Nur widerwillig wollte der sich mit dem Verlust des alten Hauses abfinden, dann erblickte er sein neues auf dem Computer-Bildschirm in Dainz‘ Büro. Er sah Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer. Da leuchteten seine Augen, erzählt Dainz und für einen Moment erwacht die Freude des Umsiedlers erneut im Gesicht des Bauplaners. Andere übermannte die Euphorie dermaßen, dass sich Hartmut Dainz, der Bauplaner, genötigt sah, sie in ihren Plänen zu bremsen: langsam, langsam.

Im zweiten Schleife-Vertrag, der nie unterzeichnet wurde, plante Vattenfall noch mehr Investitionen in Schleife diesseits der Gleise. Hartmut Dainz hatte in den Verhandlungen selbst eine Million Euro für den Sportplatz rausgeschlagen, erinnert er sich. Doch andere wollten mehr und es war Scham, den Dainz empfand, angesichts dessen, was sie forderten. Man habe dem Konzern tief in die Tasche gegriffen, sagt Dainz, und sei dabei weit über das Ziel hinausgeschossen. Ein Gemeinderat widerspricht: Schleife sei zu devot aufgetreten, habe in den Verhandlungen gar die Rolle eines Bettlers eingenommen. Maßstäbe sind verloren gegangen und jäh hat die Suche nach ihnen ein Ende gefunden, jetzt, wo Vattenfall fortgeht. Zwei Straßen vom Planungsbüro entfernt lebt das Ehepaar Sven und Kathleen Warmo. Mit den Kindern Annika und Karlo hatten sie sich eingerichtet unter dem Dachstuhl im Haus der Großmutter und warteten beengt auf die Umsiedlung. Ihr neues Heim sollte einem Forsthaus gleichen, auf das sie in einem Bau-Magazin gestoßen waren: ein nicht allzu kleines Haus am Rand eines Kiefernwaldes, mit Erker und Terrasse. „Gelungener Neuanfang“, so war die Foto-Reportage in dem Magazin betitelt. Als die Flatterband-Aktion vorbei ist, beginnt in Schleife das Fähnchen-Stecken. Die Umsiedler versammeln sich im Gemeindeamt um eine Karte des Baugebiets. Jeder hält Fähnchen in der Hand, auf denen der Familienname geschrieben steht, bereit, sie in die Karte zu stoßen. Die Stimmung ist gereizt, erinnern sich Sven und Kathleen Warmo: An einigen Grundstücken, besonders denen am Waldrand, sammeln sich auffällig viele Fähnchen.

Die Dorfkirche diesseits der Gleise wurde mit Geld von Vattenfall restauriert.


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www.newsroom.de/jobs Infos im Internet Einige Umsiedler feinden sich an, es kommt zu Wortgefechten. Andere Umsiedler entfernen ihr Fähnchen wieder und platzieren es andernorts, als sie die Fähnchen unangenehmer Nachbarn entdecken. Sven und Kathleen Warmo halten sich raus. Für ihr Haus haben sie sich ein Grundstück am Dorfrand gesucht, weitab vom Fähnchen-Stecken. Dass etwas nicht stimmt, ahnen Sven und Kathleen Warmo nach der Bestandsaufnahme. Ein Architekt hatte mit zwei Angestellten im alten Haus tagelang jede Steckdose, jede Stromleitung, Türen, Badewanne und Deckenverkleidung aufgenommen. Danach kam jemand und schritt durch den Garten. Lavendel, Zuckerhut, Bärlauch und Blaufichte – jedes Gewächs wurde vermessen und aufgelistet. Doch dann passierte: nichts. Eigentlich hätte ein Vertreter des Konzerns vorbeikommen sollen, um eine zweite Bestandsaufnahme zu machen, erinnern sich Sven und Kathleen Warmo. Stattdessen erhalten sie Wochen später ein Paket. Darin befindet sich der Ordner mit den Ergebnissen der Bestandsaufnahme, denn der Konzern benötigt sie nicht mehr: Die Umsiedlung ist gestoppt. Der Bürgermeister von Schleife wendet sich in einem Brief nach Berlin, schreibt dem Wirtschaftsminister: Wegen der Kohlepolitik der Bundesregierung sei die Zukunft seiner Region bedroht. Noch sei die Stimmung ruhig, doch es bestehe die Gefahr einer dramatischen Zuspitzung. Der Minister antwortet vage und auf einen zweiten Brief gar nicht mehr. Nicht mal eine Eingangsbestätigung, sagt der Bürgermeister. Dann kehren die Braunkohlegegner wieder zurück. Vorsorglich protestieren sie weiter gegen die Energieressource von gestern. Ihren Marsch über die Dorfstraße empfinden die Schleifer als Häme. Der Stellvertreter des Bürgermeisters – ein stiller Vermittler im Dorf, von allen geachtet – befürchtet, einige Schleifer könnten hinter ihren Gardinen hervorkommen, eine Zaunlatte greifen und die Fremden wissen lassen, dass die Moral der Klimapolitik für die nichts zählt, die eine Heimat verlieren.

Ohnmächtige Wut sucht einen Adressaten. Der Bürgermeister sagt, er sei parteilos und das aus gutem Grund. So müsse er sich nicht für ferne Entscheidungen rechtfertigen, die Energiewende zum Beispiel, die er einen Handstreich nennt. Ein Gemeinderat sagt, diese Politiker, die könne man gar nicht beleidigen. Worte, glaubt er, perlten an ihnen ab wie die Regentropfen auf der Fensterscheibe. Wenn heute Bundestagswahl wäre, sagt Hartmut Dainz, und die Wahlkreise nach der Stimmauswertung im Fernsehbild schwarz und rot erscheinen, dann wäre Schleife ein weißer Fleck. An der freiwilligen Feuerwehr werde nicht gespart, verkündet der Stellvertreter des Bürgermeisters, weil jeder wisse, dass Schleife bald Gewerbesteuern fehlen. „Doch damit hatte ich alles andere zum Schlachten freigegeben“, erinnert er sich, die Förderung für die Vereine zum Beispiel. Wenn er seitdem Einkaufen geht, schneiden ihn einige Dorfbewohner. „Damit man uns endlich hört“, sagt Hartmut Dainz, „müssten wir uns eigentlich auf die Gleise legen.“ Doch es geschieht nicht und die Stimmen der Schleifer suchen Gehör im Missklang unserer Zeit. Mancher steigt montagnachmittags in sein Auto, fährt zu den Protesten nach Dresden und gibt seine Stimme den Tausenden, die gehört werden. Sven und Kathleen Warmo, die ein Forsthaus bauen wollten, treffen eine Entscheidung, als sie von den Verkaufsabsichten des Konzerns erfahren, jetzt erst recht. Wir siedeln nicht mehr um, wir bauen an, für uns und unsere Kinder, sagen sie. „Hier ziehen wir nicht mehr weg und keiner vom Konzern möge je wieder unser Haus betreten.“ Peggy und Thomas Schimko aber warten: Er darauf, endlich umzusiedeln. Sie darauf, aus Schleife fortzugehen. Nein, zu Hause fühle sie sich nicht mehr, sagt sie, während im Flur Tochter und Sohn toben. Die Kinder sollen noch in Schleife aufwachsen, aber sobald sie groß sind, sagt Peggy Schimko, ziehen sie nach München, nach Bayern, da wo alle hingehen, wo es Arbeit geben wird. Ihr Mann, der Schlosser, sitzt da, die Arme vor dem Brustkorb verschränkt. Er schweigt.

F L O R I A N H A E N E S und N I N A R A A S C H wohnten in der Schlangenkrone, Schleifes Gästehaus, und waren fünf Tage und Nächte die einzigen Gäste. „Sie sind aber nicht so die Wurst-Typen“, resümierte die Angestellte nach dem Frühstücksbuffet. Abends servierte sie ihnen Hamburger Schnitzel (mit Spiegelei) und gemeinsam schauten sie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Es war schön. f l o r i a n @ h a e n e s . d e // n i n a . r a a s c h @ g m x . d e

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HERR BARIBAS GESPÜR FÜR REGEN Warmes Wasser vor der Küste von Peru, Waldbrände in Indonesien, Überfälle auf Viehhirten in Kenia. Und alles hängt mit allem zusammen. Ein Ortstermin an der Klimafront. TEXT MARTIN NEJEZCHLEBA

Als die Dorfältesten junge Hirten waren, konnte Kiptum Bariba (rechts) noch in den Sternen lesen, wann der Regen fällt.

In den kargen Bergen Kenias, in denen der Stamm der Tugen Hütten aus Wellblech und Lehm bewohnt, erkennt man El Niño an der Statur der Rinder. Wo sich sonst die Haut zwischen den Rippen faltet, ist in den drei Monaten nach den Regenfällen Fleisch gewachsen. „So ist es gut“, sagt Elijan Kandie und lässt seinen Blick über grüne Akazien und Sträucher schweifen. Der Dorflehrer ist ein sehniger Mann mit wachen Augen. Mit seiner Familie lebt der 38-Jährige auf einem steinigen Stück Land, sechs Autostunden nördlich der Hauptstadt Nairobi. Zwei ockerbraune Lehmhäuschen stehen dort: im kleineren die Küche, im größeren das Wohnhaus. Seine Frau Stella schläft mit den acht kleinen Kindern im Hinterzimmer. Das Bett des Dorflehrers steht hinter einer Plastikplane, gleich neben dem Eingang. Wenn Angreifer in das Haus kommen, sollen sie zuerst auf den Familienvater stoßen. Eine Windböe bläst Sand ins Haus und bläht das Hemd des Dorflehrers auf wie einen Ballon. Als er die Brettertür zuknallt, strömen Licht und Staub durch die Ritzen. Im Sommer hat der Stamm der Tugen zu Gott gebetet. Das Wetterphänomen El Niño, das als eines der stärksten seit Beginn der Aufzeichnungen angekündigt wurde und im November über Kenia hereinbrechen sollte, möge die Weiden mit Regen segnen. Gott muss die Tugen erhört haben. Der Rhythmus von Dürre und Regen bestimmt das Leben der kenianischen Viehhirten. Zweimal im Jahr legt sich ein Teppich aus Gras über das Land. Die Rinder und Ziegen, die die Trockenzeit überlebt haben, erholen sich auf den Weideflächen. Milch, Fleisch und Blut der Tiere ernähren die Menschen. Über

FOTOS PHUONG T R A N MINH Jahrhunderte war das Leben hier zäh, aber berechenbar. Doch diese Rechnung geht immer seltener auf. Das hängt mit einem Gas zusammen, das aus Fabriken in weit entfernten Städten und Flugzeugen am Himmel strömt: Kohlenstoffdioxid. Der Klimawandel hat den Regen aus dem Takt gebracht. Regenzeiten fallen aus, plötzlich setzen heftige Wolkenbrüche ein, überschwemmen den harten Boden, spülen Kühe und Menschen fort. El Niño gab es schon lange vor dem Treibhauseffekt. Aber viele Forscher sind der Meinung, dass El Niño deswegen immer öfter und immer stärker auftritt. Die Launen des Wetters treffen die Landbevölkerung entlang des Äquators besonders stark. Die Hirten Kenias leben an einer Frontlinie des Klimawandels. Im vergangenen Dezember war El Niño im Dorf der Tugen angekommen und riss den jungen Hirten Stanley Kufol aus dem Schlaf. Die ganze Nacht trommelte der Regen auf das Wellblech der Hütte, Kufol sah die Blitze durch eine Spalte im Dach. Dann aber hörte er einen Donner, der anders klang als die Donnerschläge, die er kannte. Kufol stand auf und lief zum Stausee. Nasse Hemden klebten an den Oberkörpern der Männer, die dort zusammengelaufen waren. Der Damm des Sees war gebrochen, und das Wasser ergoss sich ins Tal. Um zu verstehen, was geschehen war, muss man sich von Afrika entfernen – und nach Südamerika schauen. Alle paar Jahre erwärmt sich der Pazifik vor der peruanischen Küste um mehr als zwei Grad. Dann ändern globale Windströme ihre Richtung und das Wetter dreht durch. Peruanische Fischer haben das warme Wasser nach dem Christkind benannt, denn seinen Höhepunkt


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Für die Viehhirten sind Rinder Grundnahrungsmittel, Statussymbol und Brautpreis.

erreicht El Niño zur Weihnachtszeit. Ende 2015 hat das Christkind Sturzfluten nach Paraguay und Kalifornien geschickt. Es hat trockene Luft in die Rodungsbrände im indonesischen Regenwald geblasen, so lange, bis ganze Inseln in Flammen standen. Über den Norden Äthiopiens hat El Niño die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten und eine Hungersnot gebracht. In jener Regennacht im Dezember 2015 starrte der Hirte Stanley Kufol eine Weile auf den Damm. Andere Männer rannten los, um die Familien in den Hütten unterhalb des Damms zu warnen. Erst ein Jahr zuvor hatten Sturzfluten 18 Kühe mitgerissen. Das Wasser schlängelte sich durch das Tal, und die Hirten sahen, wie ihre Tiere in den Fluten um ihr Leben rangen. In einer Flussschleife verloren sie die Kühe aus den Augen. Zwei Tage lang suchten sie nach den Tieren, aber sie fanden sie nicht und gaben auf. Einer der Hirten sagt: „Wir haben Gottes Willen akzeptiert.“ In der Welt der Tugen kann ein solcher Zwischenfall sogar Ehen verhindern. Die Rinder sind nicht nur Nahrung, sie sind Währung, Statussymbol und Brautpreis. Als der Dorflehrer heiratete, zahlte sein Vater 15 Kühe an Stellas Vater. Je mehr Rinder ein Mann hat, desto mehr Frauen kann er heiraten, desto mehr Kinder ernähren, desto mehr Macht ausüben. Und je größer die Herde ist, desto mehr Rinder können Dürre und Überschwemmungen überleben.

Wenn sie kommen, verstecken wir uns in den Büschen.

Die Tradition verlangt von den Hirten, immer mehr Rinder um sich zu scharen. Aber in Zeiten des Klimawandels werden zu viele Tiere schnell zum Problem. In den 53 Jahren seit der Unabhängigkeit ist die Bevölkerung Kenias rasant gewachsen: von knapp neun Millionen auf rund 47 Millionen Menschen. In den Savannen hat sich die Versorgungslage dank der Arbeit von Hilfsorganisationen und Regierung verbessert; deutlich mehr Kinder kommen durch und haben als Erwachsene große Viehherden. Ihre Rinder fressen die Berghänge kahl, und kahle Berghänge bieten Sturzfluten keinen Widerstand. Statt die Tiere rechtzeitig zu verkaufen, schauen viele Hirten dabei zu, wie ihr teuerstes Gut weggespült wird. Wenn das Klima verrückt spielt, ist der Regenmacher ein gefragter Mann. Kiptum Bariba ist einer der Dorfältesten und die Natur spricht auf vielfältige Weise zu ihm. Termiten strömen aus ihren Hügeln. Böcke besteigen Ziegen. Ein Baum, den die Tugen Arue nennen, wirft seine Blätter zu Boden. All das seien Zeichen für baldigen Regen. An den Sternenbildern über dem Dorf erkennt der Regenmacher, wann die Regenmonate nahen. Aber die Natur bricht jetzt immer öfter ihre Versprechen. Warum nur? Ein alter Dorfbewohner lehnt sich auf seinen Hirtenstock und deutet in Richtung Berge: „Wir beten jetzt in Kirchen statt in den Büschen.“ In seinen Augen richten die Tugen ihre Bitten um Regen an den falschen Gott. Den Sonnengott Asis habe das verärgert. Für Shem Wandiga, den Leiter des „Institute for Climate Change and Adaption“ an der Universität von Nairobi, wird die Zeit knapp. Der Mann mit den weißen Haaren erkennt das an den Linien und Balken auf seinem Bildschirm. Mit steifen Händen schiebt er die Computermaus über den Konferenztisch, langsam nähert sich der Cursor der blauen Linie, die wild ausschlägt. Die Zickzack-Linie steht für die Mengen der Niederschläge. Überschwemmungen 1998, Dürren in den Jahren 2000 und 2006, Sturzfluten 2008, dann die große Hungerkrise 2011. Warum das Wetter in Kenia immer extremer wird, lässt sich anhand einer anderen Linie erklären, einer, die fast unmerklich ansteigt. Die weltweite Durchschnittstemperatur. Wandiga sagt: Wenn sie weiter steigt, um mehr als zwei Grad verglichen mit der Temperatur vor der Industrialisierung, werde Kenia mehr Hitze erleben und etwas mehr Regen werde fallen. Der gewohnte Rhythmus aus kurzer Regenzeit im Oktober und November und langer Regenzeit zwischen März und Juni werde völlig aus dem Takt geraten, ein Chaos aus Dürren und Überschwemmungen folgen. „Anpassung ist der Schlüssel zum Überleben“, sagt Wandiga. Damit meint der Klimaforscher etwas, das die Tugen schon tun: Handel mit Rindern und Anbau von robusten Getreidesorten wie Hirse. Der Frau des Dorflehrers fällt es schwer, über etwas zu sprechen, das schlimmer ist als der letzte Wolkenbruch. Sie sagt: „Wenn sie kommen, dann verstecken wir uns mit den Kindern in den Büschen.“ Sie, das sind die Krieger des Pokot-Stammes. Als sie das letzte Mal in das Dorf einfielen und die Rinder stahlen, mussten sich die Tugen ein anderes Versteck suchen, eines weit oben in den Bergen. Der zehn Monate alte Paul, dessen Füße aus dem Tragetuch der Frau des Dorflehrers baumeln, kam im Exil zur Welt. Es war ein Morgen im April 2015, die Regenzeit ließ auf sich warten und das Land der Tugen war ausgetrocknet. Die Salven der Maschinengewehre hallten im Tal, als der Dorflehrer zu seiner Familie auf den Hof rannte. Seit Monaten gingen die Kinder nicht mehr zur Schule, zu häufig waren die Viehdiebe ins Dorf

Der Staudamm rettet den Stamm der Tugen in Zeiten von Dürre. Doch der Damm brach, als sich der El Niño-Regen über das Dorf ergoss. Jetzt wird das Wasser knapp.


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eingefallen. An den Schreien und Schüssen im Tal erkannte er, dass es diesmal viele Angreifer waren, 100 vielleicht. Hastig machten sie sich auf den Weg: der Dorflehrer, seine hochschwangere Frau, sieben Kinder, 40 Ziegen. Sie schlossen sich dem Tross an, der sich still den Hang hinaufschleppte. Ihre Rinder mussten die Tugen zurücklassen, die Pokot-Krieger hatten sie bereits auf der Weide eingekesselt. Auch drei Männer aus dem Dorf fehlten. Sie lagen in einem trockenen Bachlauf in der Nähe der Schule, erschossen. Für den Raubzug hat Klimaforscher Wandiga auch eine passende Linie gefunden. Sie ist rot und steht für Überfälle in den Hirtenregionen. Die Raubzug-Linie schlägt meist dann besonders stark aus, wenn die Regenfall-Linie stark abgefallen ist. Denn wenn die Dürre kommt, streiten die Hirtenstämme um Vieh und

Der Regenmacher liest in Gedärmen wie in einem Buch. Weideflächen. Wenn viele Rinder verenden, schicken die Dorfältesten ihre Krieger auf Raubzüge. Vereinfacht gesagt: Es gibt eine lose Verbindung zwischen dem Kohlendioxid der großen Städte und den Leichen vor einer Schule in einem kenianischen Hirtendorf. Es war bereits dunkel, als der Dorflehrer und seine Familie ihr Exil in den Bergen erreichten. Sie kamen in einer Schule unter, andere Familien schliefen in den Büschen. Nach drei Monaten, so erzählt es der Dorflehrer später, kehrten sie zurück. Er erinnert sich an ausgebrannte Lehmhütten und Bienenstöcke, an die verkohlten Bücher in seiner Schule und daran, dass Termiten sich durch die Holzbalken gefressen hatten. „Seit 2012 haben wir 3.000 Kühe und 21 Männer an die Pokot verloren“, sagt er. Im Dorf der Tugen steht jetzt die lange Regenzeit bevor. Im Radio sagen sie, El Niño werde noch bis April bleiben. Aber der Regenmacher hat keine Termiten ausschwärmen und keine Arue-Blätter herabfallen sehen. Vor zwei Tagen hat der Alte seine knorrigen Finger in die Eingeweide einer geschlachteten Ziege gesteckt. Der Regenmacher könne in Gedärmen lesen wie in einem Buch, heißt es im Dorf. Von bevorstehendem Regen stand in diesem Buch nichts.

Der Dorflehrer Elijan Kandie wohnt mit seiner Frau Stella und acht Kindern auf sieben Quadratmetern aus Lehm. Seit die Raubzüge vorbei sind, können die fünf ältesten Kinder wieder zur Schule.

MARTIN NEJEZCHLEBA und P H U O N G T R A N M I N H stutzten, als ihr Fahrer den Jeep auf dem Weg in den kenianischen Norden auf einem staubigen Parkplatz zum Halten brachte – mit den Worten: Ihr seid Zuhause. An einem verrosteten Schild erkannten sie, dass er wie immer Recht hatte. Sie standen am Äquator und hatten gerade die Südhalbkugel hinter sich gelassen. m a r t i n @ n e j e z c h l e b a . d e // p t r a n m i n h @ p r o t o n m a i l . c o m Diese Reise wurde ermöglicht durch Unterstützung der Diakonie Katastrophenhilfe.

Etwas Gutes wird geschehen Auf dem Weg ins Land der Nomaden wird unser Autor in Polizeiermittlungen verwickelt. Als sich der Mann mit der Kalaschnikow und dem Alkoholatem an den Türrahmen lehnt, schlägt meine Verzweiflung in Angst um. Es ist halb elf nachts, Hotel Bomen, Isiolo, Nordkenia. Jemand war in unseren Zimmern. Mein Laptop, Aufnahmegerät und Reiseapotheke – weg. Die Verluste der Fotografin sind größer: Leica, Nikon, Objektive, Geld, Bankkarten. Der Pass auch. Ich suche ihren Blick, auch dort Angst. Dann höre ich: Der Betrunkene in Kaki ist Polizist. Im Leuchtstoffschimmer schaut er müde auf das Türschloss: unversehrt. Auf den Rucksack: ausgeräumt. Auf die Fenster: verschlossen. Auf mich. Ich erzähle, was ich noch so oft erzählen werde. Wir waren in der Stadt essen, die Schlüssel bei uns, unser Fahrer auch. This guy? Er kauert auf dem Linoleumboden, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Ich sage: Als wir zurückkamen, waren die Zimmer abgesperrt. Ist klar, jemand mit Schlüssel war‘s. Der Hotelmanager hat Schweiß auf der Stirn und gibt sich betroffen. Dann: Just to be sure, this guy, the driver – hatte der irgendwann eure Schlüssel? Naja, den Schlüssel der Fotografin, kurz. Hinter Isiolo beginnt die Wüste, das Land der Nomaden, unser Ziel. Ein Jeep mit zwei bewaffneten Soldaten ist in die Stadt gekommen. Sie sollen uns am nächsten Morgen durch den Viehhirtenkorridor eskortieren. Übertrieben, denke ich. Aber der Norden Kenias kennt eigene Gesetze. Wir sollen zur Polizeistation, aber der Hotelmanager drängt uns ein Gespräch auf. Einer seiner Angestellten will den Fahrer in der Nähe unserer Zimmer gesehen haben. Er soll mit dem Lügen aufhören, sage ich. Überraschend laut. Auf der Polizeistation steht der Betrunkene mit der Kalaschnikow an der Rezeption. Vor ihm liegt ein großes Buch, hinter ihm liegen sechs Menschen auf dem Boden. Eine Frau mit rotem Kopftuch blinzelt in meine Richtung. Gefangene, erfahre ich. Der Betrunkene schreibt etwas in das Buch. Wir sollen morgen wiederkommen. Im Hotelzimmer schlafe ich um 3 Uhr nachts mit Dancehall-Musik aus dem Smartphone des Parkplatzwächters ein. Eineinhalb Stunden später wache ich mit dem Ruf des Muezzin auf. Ich denke: Wir sind 6.300 Kilometer geflogen und einen Tag gefahren, um diese Reportage zu schreiben. Wir müssen weiter in den Norden. Die Polizeistation am Vormittag. Kühe streifen umher. Eine Frau mit drei Kindern beschwert sich bei einem Beamten, ihr Mann sei verschwunden. Der Polizist winkt ab. Immer die gleiche Geschichte, sagt er, irgendwann kriechen die wieder aus den Büschen. Die Sonne brennt auf der Haut. Ich werde rot und ungeduldig. Als ich Crime Investigator John Kingori kennenlerne, gebe ich auf. Er hat das Lächeln eines Herzensbrechers. Spezialgebiet: Viehraub. Er trägt Flipflops und schlendert zur Tat. Zeugenprotokoll. Ich buchstabiere viel. Er lacht viel. Im Verhörzimmer steht ein Regal, darin ein Haufen rosa Aktenmappen mit Protokollen – wie hineingeworfen, durchwühlt und mit Staub bestreut. Die Hotelangestellten haben eine neue Theorie: Unsere Begleiterin, eine Projektarbeiterin der Diakonie Katastrophenhilfe, habe Verwandte in der Stadt. Alles abgekartet. Diesmal werde ich nicht laut. Ich streune auf der Polizeistation umher. Eine Prostituierte mit Kopftuch kaut auf den aufputschenden Blätter des Kathstrauchs. Sie will mit uns in den Norden. Ein Mann mit einer Dreadlock bis zur Kniekehle stößt seine Faust gegen meine. Er will meine Nummer. I know everyone in town. Er werde sich melden, sobald er unsere Sachen gefunden hat. Die Sonne steht tief, als der Crime Investigator seine Ermittlungen abschließt. Bevor er zum nächsten Fall schlendert, reicht er mir die Hand. You‘ll see, sagt er, one day something good will happen.


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IN EURER WELT K ANN ICH NICHT SEIN Liah liebt ihre Eltern und muss sich doch vor ihnen verstecken. Jahrelang pendelt sie zwischen Kinderzimmer und Wohngruppen. Bis sie sich für ein Leben entscheidet. TEXT CHRISTINA ÖZLEM GEISLER

FOTOS DENNIS ZOR N

„Falls ich sterbe, möchte ich dies hinterlassen. Ich möchte all denen danken, die mir ein kleines Stück Wärme geschenkt haben.“

Ob ich irgendwann vergessen werde, wer ich Sechs Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren einmal war? Der Gedanke macht Liah Angst. sind sie derzeit, sie kommen aus der ganzen Trotzdem sitzt sie in dem Beratungszimmer Republik. Es sind Mädchen, die außer Reichmit der Nummer 501 und spricht ganz nüchweite ihrer Eltern sein sollen, weil die Eltern tern: „Ich würde es auf jeden Fall machen. ihnen Gewalt angetan oder es nicht geschafft Egal, wohin es geht.“ haben, sie davor zu schützen. Manche MädWohin es geht. Darum dreht sich das Gechen müssen so sehr beschützt werden, dass spräch bei der Frauenrechtsorganisation. sie anonym hier sind. Um sie nicht zu gefährWenn Liah der Beraterin ihre Geschichte erden, müssen die Namen der Kleinstadt und (aus dem Buchmanuskript zählt haben wird – die Geschichte, die sie der Einrichtung ungenannt bleiben. „Gloria Gratias“, geschrieben von Liah im Frühjahr 2016) schon so oft erzählen musste – wenn auch Das also ist Liahs Zuhause auf Zeit: Ein Haus die Beraterin sie gefährdet sieht und das Jumit Garten, jeweils zwei Mädchen teilen sich gendamt zustimmt, wird Liah eine neue Identität annehmen. eine Etage. Unter dem Dach gibt es einen Kreativraum, im Keller ist Sie wird alles Vertraute zurücklassen und an einen fremden Ort das Therapiezimmer mit Boxsack und Sitzecke. Fünf Pädagoginnen ziehen, an dem niemand sie kennt und an dem niemand von arbeiten hier. Alle 24 Stunden wechseln sie sich ab. Jede von ihnen der Vergangenheit weiß. Liah liebt ihre Eltern. Aber sie weiß, kümmert sich als „Bezugsbetreuerin“ um eines der Mädchen. dass sie nicht zu ihnen zurückgehen kann. Bei ihnen zu sein ist In den vergangenen zwei Jahren hat Liah in etlichen Wohnlebensgefährlich. gruppen gelebt. Es war immer wieder das Gleiche: Sie flüchtete Ihren richtigen Namen hasst sie. Liah ist der Name, den sie sich vor den Eltern, die ihre westliche Lebensweise verachteten, sie selbst für diese Geschichte ausgesucht hat. Sie wirkt reifer als 16, einsperren und konservativ erziehen wollten. So erzählt es Liah. und das weiß sie. Wenn sie über sich selbst spricht, wirkt sie so In den Kriseneinrichtungen fühlte sie sich aber auch nicht freier. Und nach kürzerer oder längerer Zeit kam ihr die Unfreiheit distanziert, als würde sie über eine andere reden. „Rauszoomen“ daheim dann doch erträglicher vor. So pendelte Liah mehr als nennt sie das. Kommt der Teenie in ihr durch, kommentiert sie ein Jahr zwischen ihrer Familie und Unterkünften, die ihr das vieles mit „voll traurig“ oder „voll süß“, mit langgezogenem „ü“. Jugendamt vermittelte. Auch in der Mädchen-WG fühlt sich Liah Seit sieben Monaten lebt Liah in einer „Therapeutischen Wohngruppe für Minderjährige in Gewalt- und Krisensituationen“. „wie ein Kreis, der in ein Quadrat gedrückt werden soll“.


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Was Liah dennoch hier hält, ist ihre Bezugsbetreuerin. In dieser Mahlzeiten, Fernsehen erst ab vier, um spätestens neun müssen Geschichte heißt sie Gabriele. 51 Jahre, kurze Haare, Lachfältchen, die Ältesten zuhause sein. Vor Betreten eines Zimmers bitte anrauchige Stimme – diese Frau sei für sie wie eine Mutter, sagt klopfen. Keine wird ohne ihr ausdrückliches Einverständnis angeLiah. Bei ihr kann sie sich fallen lassen. Mit ihr fasst. Gespräche über sexuelle Gewalt gehören diskutiert sie über Politik. Ihr erzählt sie von in die Therapiestunde und nicht an den Essihren Problemen in der Schule und mit Jungs. tisch. Manche Regeln nerven Liah. Besonders Ihr kann sie vertrauen. die, dass sie sich nicht einfach am Kühlschrank „Abendessen!“, schallt Gabrieles Stimme bedienen darf. Oder ihre Zimmertür abschliedurch die Räume. Handys weg, es ist 18 Uhr, ßen lassen muss, wenn sie aus dem Haus geht, der einzige Zeitpunkt des Tages, zu dem sich weil eine der Mitbewohnerinnen stiehlt. Die die gesamte WG um den Tisch versammelt. Wohngruppe sei doch eigentlich dazu da, dass Wann die Mädchen frühstücken und zu Mitsie sich frei fühlen kann, findet sie. tag essen, hängt von ihren Stundenplänen ab Früher waren solche Regeln für Liah ein – die meisten gehen noch zur Schule. GabrieGrund, zu ihren Eltern zu gehen. Denn es le und eine Praktikantin kochen jeden Mittag war ja nicht alles schlecht bei ihnen. „Du befrisch. Abends gibt es die aufgewärmten Reste kommst ein Katzenbaby“, versprach die Mutund Brot, Wurst, Käse, Salat oder Rohkost. Mal ter, und Liah bekam es. Dann aber schrie die schweigen sich alle an, essen hastig auf und Mutter: „Du sollst unfruchtbar werden und fragen dann, ob sie aufstehen dürfen. Mal reerblinden“, und Liah ging wieder. „Du musst den sie viel, aber nie durcheinander. Wer etdas Kopftuch nicht tragen, wenn du nicht was sagen möchte, hebt die Hand. „Reichst du willst“, sagte ihr Vater. „Du bist eine Hure mir die Butter, bitte?“ Die Betreuerinnen legen und eine Schande für uns“, schrie er Liah an, Wert auf höfliche Umgangsformen. Die Neue, noch keine Woche und wieder lief sie davon. „Wir lieben dich“, schworen sie. „Bitte da, gibt nichts von sich als ein genervtes Murren, als sie den Tisch komm zurück!“ Nach spätestens einem Tag schlugen Beteuerunabräumen soll. gen erneut in Beschuldigungen um und Hände auf sie ein. So erMit der Hand fegt Liah die Krümel an ihrem Platz zusammen zählt es Liah, und Gabriele glaubt ihr. Denn die Mädchen ernst zu und beginnt zu quengeln, als sie auf ihre geschundenen Fingernehmen, ist ihre Aufgabe. Ihre Geschichten zu überprüfen, sei die kuppen sieht. Immer wieder klebt sie künstliche Nägel auf. Dann Sache der Jugendämter und Polizei. gefallen sie ihr nicht, und sie reißt sie mitsamt Nagel und Haut Das Jugendamt konnte Liahs Hin und Her nicht nachvollziewieder ab. hen. „So schlimm kann es da ja nicht sein, wenn du immer wieder Abends, wenn sich die Mädchen nach dem Essen in ihre Zimheimkommst“, hätten sie zu ihr gesagt. Dabei könne doch keiner mer oder vor den Fernseher zurückziehen, schreiben die Betreubesser als Liah selbst beurteilen, warum sie auf Dauer nicht zuerinnen Tagesberichte. Für jede Bewohnerin gibt es eine eigene hause leben kann. Sie spricht ruhig, unaufgeregt: „Ich bin wie Seite, auf der ihr Verhalten, ihre Laune, ihre Herausforderungen ein Hund, der von der Hand seines Besitzers gefüttert und gefestgehalten werden: „Liah hat sich heute geschworen, nie wieder schlagen wird. Aber ich hab das alles in Kauf genommen, um ein ihre Nägel zu machen. Dann hat sie es doch wieder getan.“ Mal von meiner Mama in den Arm genommen zu werden.“ Liah Der Alltag in der Wohngruppe soll die Entwicklung der Mädgähnt häufig und während sie erzählt, schiebt sie ihre lockige chen fördern und sie auf eine Rückkehr in die Familie oder ein LeMähne von der einen Schulter zur anderen. Therapiegespräche? ben in Selbstständigkeit vorbereiten. Bis dahin Brauche sie nicht. Mit ihrer Vergangenheit will ist es ein weiter Weg. Viele der Mädchen hätsie alleine klarkommen. Wirklich wichtig sei ten Vernachlässigung erfahren, sagt Gabriele. ihr aber die Fürsorge der Betreuerinnen. Sie hätten ein Elternteil verloren, seien sexuDie Pädagoginnen wecken die Mädchen, ell missbraucht worden oder Opfer von psyachten darauf, dass sie duschen und Zähne chischer und körperlicher Gewalt geworden. putzen. Sie gehen zu Elternabenden und beDie Folgen: Suizidgedanken, Angststörungen, gleiten die Mädchen zum Arzt. Sie wissen, Aggressivität. Zieht ein neues Mädchen ein, dass mancher Kopfschmerz eine Ausrede ist, achten die Betreuerinnen auf die Mischung. um nicht in die Schule zu müssen und dass ab Zwei Magersüchtige an einem Tisch würden und zu vor dem Gartenzaun geraucht wird. sich verschwestern, zwei Ritzer sich zum RitDann konfrontieren sie die Mädchen mit dezen verabreden, zwei Schulschwänzer sich ren Verhalten und hoffen, dass sie irgendwann gegenseitig bestärken, blau zu machen. Je unmerken, was gut für sie ist und was nicht. terschiedlicher die Symptome, desto besser ist es aus Sicht der Betreuerinnen für die ZuIch hab geträumt, ich muss sterben. Der Tod kam sammensetzung der Gruppe. Aber auch umso als ziemlich gut aussehender Mann. Wie im Film! schwieriger für die Mädchen, die Macken jeEr hat geklingelt, ein Paket abgelegt und ist wieder der Einzelnen zu tolerieren. gegangen. Im Paket waren ein Nagelset und eine MIT DER EINWEGKAMERA Was ein strukturierter Alltag bedeutet, Karte von meiner Mama, dass sie meinen Geburtsdokumentiert Liah, was ihre sollen die Hausregeln vermitteln: Handytag doch nicht vergessen hat. Die Karte war auf Welt ausmacht: ihr Buch und die verbot bis 14 Uhr und zu den gemeinsamen Arabisch, aber im Traum konnte ich das lesen. Traumfänger.

„Wachsen tut man durch Schmerz, Enttäuschungen und alles, was dir in den Arsch tritt. Es gibt Menschen wie mich, die bekommen manchmal in ihrem Leben einen Arschtrittschub. Und somit auch einen Wachstumsschub.“

Mit Gute-Nacht-Tee, Wärmflaschen und Lichterketten kämpfen Gabriele und ihre Kolleginnen gegen die Geister der Nacht. Trotzdem werden sie mehrmals pro Woche geweckt, müssen ein Mädchen trösten, beruhigen, wieder zu Bett bringen. Auch Liah braucht ihr Ritual. So stark und reflektiert sie tagsüber auch ist – wenn die Stille der Dunkelheit eintritt, kann sie Angstvorstellungen nur schwer von der Realität trennen. Die Betreuerin muss dann unters Bett schauen und in den Schrank, muss die Spiegel umdrehen und dafür sorgen, dass Liahs Teddybär sein Gesicht der Matratze zuwendet. „Sonst erschrecke ich, wenn ich aufwache und er mich anstarrt“, sagt Liah. Ihr Bett steht mitten im Zimmer. An die Seiten hat sie Schutzsymbole über das verschnörkelte Eisengestell gehängt: zwei Traumfänger, einen Rosenkranz von ihrem Freund und ein Stoffherz, das ihr Bruder ihr geschenkt hat – der einzige Gegenstand, den sie aus ihrem alten Leben mitgenommen hat. Sie schlafe wie ein Wachhund, sagt Liah. Nie will sie die Kontrolle verlieren. Sie habe Panik, nicht mehr aufzuwachen. Aber irgendwann überwältigt die Müdigkeit sie doch. Häufig hat sie dann Albträume. Manchmal wacht Liah auch auf und denkt, sie sei todkrank. Gabriele sagt, das komme von der angstgesteuerten Erziehung und den Flüchen, die Liahs Eltern bis vor ein paar Wochen noch per SMS schickten: „Wenn Du die Pille nimmst, stirbst Du“, stand da. Oder: „Ich hab im Traum gesehen, wie Du im Grab liegst und der Dreck um dich herum waren deine Sünden!“ Die Betreuerinnen haben die Nachrichten gesehen. Liah sagt, solche Sprüche seien in ihrer Familie normal. Sie versucht, ihre Eltern zu verstehen: „Mein Vater liebt mich, aber er wird nie akzeptieren, wie ich leben möchte. Und meine Mutter kennt kein anderes Leben als dieses. Außerdem ist sie nach den Vorfällen verrückt geworden.“ Die „Vorfälle“ sind mehr ein Container als ein Päckchen, das sie mit sich herumträgt. Kam sie früher zu spät aus der Schule, warf ihr Vater ihr vor, mit Jungs zusammen gewesen zu sein. Irgendwann hat sie das dann wirklich getan. Aus Trotz. Ihre Eltern wurden immer häufiger handgreiflich. Als einer ihrer Brüder sie eines Tages auf offener Straße angriff, vor Wut weinte und drohte, sie im Auftrag der Eltern umzubringen, wurde Liah bewusst, wozu ihre Familie fähig ist. Ihre beste Freundin war dabei. Die könne bezeugen, was geschehen ist. Aber die Eltern der Freundin unterbinden den Kontakt der Mädchen, wollen nicht mit hineingezogen werden. Die Freundin schweigt. Liah versucht, sie zu verstehen: „Sie kann sich eben nicht gegen ihre Eltern auflehnen, aber sie war zehn Jahre lang meine beste Freundin und hat mich ermutigt, zum Jugendamt zu gehen. Dafür bin ich ihr ewig dankbar.“ Bei der Polizei hat Liah immer wieder Anzeigen erstattet. Gegen ihre Eltern wegen Körperverletzung, gegen den Bruder wegen der Morddrohung. In allen Fällen wurden die Ermittlungen fallen gelassen, heißt es in einer Erklärung der Staatsanwaltschaft. Die Taten hätten nicht nachgewiesen werden können. Liah sagt, dass ihr Vater über die Behörden lacht. Gabriele bestätigt, das Jugendamt lasse sich von ihm beeindrucken. Immer ohne die Mutter, aber zuverlässig komme er zu den halbjährlichen Hilfekonferenzen, und zeige sich dort von seiner besten Seite. Als das

Jugendamt den Eltern ihren Aufenthaltsort mitteilt, hat Liah zunächst keine Bedenken. Seit zwei Monaten bereut sie es aber, denn plötzlich ist Funkstille. Keine Anrufe, keine Nachrichten, nicht mal Flüche. Gar keinen Kontakt mehr zu haben, bedeutet für Liah den absoluten Kontrollverlust. Ihre Angst wächst mit jedem stillen Tag. Ob sie noch um mich trauern, weil sie eingesehen haben, dass ich nicht zurückkomme? Oder haben sie bereits die Verwandtschaft aktiviert und zu planen begonnen? Manchmal, auf dem Weg zur Schule, dreht sie sich um, weil sie denkt, ihr Vater könnte hinter ihr sein. Manchmal glaubt sie auch, ihn im vorbeifahrenden Bus zu sehen. „Das ist dann wie ein kleiner Herzinfarkt“, sagt sie. Lange wusste Gabriele Liahs Ängste nicht einzuschätzen. Doch dann, so erzählt sie, begann sie zu verstehen: Das Ansehen der Familie steht für Liahs Eltern offenbar über der Liebe zu ihrer Tochter. Gabriele informierte die Polizei. So kam es zum Termin bei der Frauenrechtsorganisation. Wie hoch ist das Risiko, von den liebenden Eltern ermordet zu werden? Niemand kann Liah versichern, dass es nicht passieren wird. Als Liah aus dem Beratungszimmer 501 tritt, ist sie entspannt. Die Frauenrechtsorganisation wird sie zum nächsten Termin mit dem Jugendamt begleiten. Dann soll überprüft werden, ob ihren Eltern das Sorgerecht entzogen werden kann – oder zumindest das Aufenthaltsbestimmungsrecht, damit die Familie die Spur der Tochter nicht weiter verfolgen kann. Spätestens dann wird Liah ihre Familie verloren haben. Auch die große Schwester, mit der sie so viel Zeit verbracht hat, weil sie beide früher nur selten vor die Tür gehen durften. Ihre Schwester, die sich nicht wie Liah von den Eltern lösen konnte – sie fehlt ihr. Aber Liah nimmt in Kauf, dass sie auch sie nicht wiedersehen wird. „Ich will endlich ankommen und ausatmen“, sagt sie. Mit der Vergangenheit abschließen. Das laufende Schuljahr will sie noch zu Ende bringen, unbedingt. Ihr Vater hatte ihr immer eingebläut, dass sie weder etwas kann noch als Hausfrau viel können muss. Aber sie weiß, dass sie einen Abschluss braucht, um ihr Leben selbst in die Hand nehmen zu können. Gabriele wird ihr dabei helfen, den Umzug vorzubereiten, ein neues Handy anzuschaffen, den Kontakt zu alten Bekannten langsam auslaufen zu lassen. Nach der letzten Klausur geht es dann an einen anderen Ort. Einen Ort, von dem keiner je erfahren wird. Und sobald sie 18 ist, will sie auch endlich ihren Namen ändern. Vielleicht heißt sie dann wirklich Liah.

„Ich darf Spuren hinterlassen, ich darf SEIN. Und vor allem lieben. Allein dafür sind wir geschaffen, um zu lieben und zu sein. Du darfst ein Fass füllen, das aus Nichts besteht. Und du darfst es in vollen Zügen genießen.“

Was muss ein Mädchen in seinem kurzen Leben durchgemacht haben, wenn es mit 13 den Entschluss fasst, seine Eltern zu verlassen? Mit dieser Frage haben sich CHRISTINA ÖZLEM GEISLER und D E N N I S Z O R N in den Ort ohne Namen aufgemacht. Kennengelernt haben sie dort misstrauische, aber sehr starke junge Frauen, die einfach nur Teenies sein wollen – und es hier sein dürfen. c h . o e z l e m g e i s l e r @ g m a i l . c o m // h e l l o @ d e n n i s z o r n . c o m


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„HALT DICH

TANZ ZUM TONLOSEN BEAT Spür den Bass. Fühl die Vibration. Sieh Menschen und Lichter im Rhythmus tanzen. Auf einem Rapfestival in Essen feiern Gehörlose Musik. TEXT KRISTIN HÄFEMEIER

AN DEINER LIEBE

Konzentriert schaut die 26-jährige Laura Schwengber auf die Gesten und Lippenbewegungen des tauben Mannes vor sich. Marko Vuoriheimo ist Rapper und so etwas wie der Michael Jackson der tauben Musikszene. Der 37-Jährige wird gerade von einer Reporterin des Fernsehsenders Arte interviewt, Laura Schwengber dolmetscht. Am Ende ihrer Übersetzung reckt der Finne den Daumen in die Höhe und lobt sie. Laura Schwengber lächelt. Sie hatte sich sehr gefreut, dass sie als Dolmetscherin einspringen durfte. Marko Vuoriheimo nennt sich auf der Bühne Signmark und ist der erste taube Rapper mit einem Vertrag bei einem großen Platten-Label. Später wird er auf dem Festival „Rapklusion“ in der Weststadthalle in Essen auftreten. Er rappt in Gebärdensprache. Laura Schwengber begleitet alle hörenden Künstler vor Signmarks Auftritt. Sie übersetzt Musik für Gehörlose.

FEST.“

Stocksteif steht Laura Schwengber vor einer weißen Wand und starrt angespannt in die Kamera. Es ist das erste Musikvideo, bei dem die hauptberufliche Dolmetscherin und ihre Gebärden das Einzige sind, was im Video zu sehen ist. Für die Nachwuchsband „Neufundland“ gebärdet sie

FOTO COST ELLO PILSNER

vor Festivalbeginn die Coverversion eines Rockklassikers von „Ton Steine Scherben“. Ihre Haare sind kurz geschoren, so stechen die knallrot geschminkten Lippen und schwarz umrandeten Augen besonders hervor. Immer wieder zupft sie an ihrem schwarzen Oberteil. Schwarz, das bildet den besten Kontrast zu den Händen, ihren Werkzeugen, die auf den Einsatz warten. Aus dem Verstärker hallt der erste Trommelschlag. Sofort schlägt sie im Takt auf die Luft ein, bis die Gitarre einsetzt. In ihren Händen werden die Sticks zu Gitarrenhals und Plektron. Ihr Luftgitarrensolo beginnt. Mit leicht gebeugten Knien wippt Laura Schwengber zum Song „Halt dich an deiner Liebe fest“. Für diese Zeile aus dem Refrain formt sie mit Daumen und Zeigefingern zwei Kreise. Sie sind ineinander verschlungen wie Eheringe auf Hochzeitskarten. In einer fließenden Bewegung verwandeln sich die Ringe zum Herz, das sie schließlich an ihre Brust drückt.


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Laura Schwengber dolmetscht Musik in Gebärdensprache – hier auf dem Festival „Rapklusion“ in Essen.

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Während ihrer Vorbereitung auf Videos oder Konzerte denkt sich Laura Schwengber keine feste Choreografie aus. „Musik ist ganz viel Bauchgefühl und darauf verlasse ich mich“, sagt sie. Zum Textlernen hört sie die Lieder in einer Dauerschleife, am liebsten laut. In jedem Zimmer ihrer Wohnung hängen Lautsprecher. Die Vorbereitung für viereinhalb Stunden Einsatz auf dem Rapklusion-Festival fängt bei ihr drei Tage vor dem Auftritt an. „Stopp, das war gerade viel zu viel Liebe“, ruft Laura Schwengber während der fünften Aufnahme. Sie huscht hinüber zu ihrer überquellenden Schminktasche, tupft sich mit einem zerknautschten Taschentuch den Schweiß von der Stirn, pudert nach und hetzt zurück vor die Kamera. „Dreh die Lautstärke mal richtig hoch!“ Sie will nicht nur Text, Instrumente, Melodie und Rhythmus vermitteln, sondern das Gefühl, das ein Song in ihr auslöst. Darin unterscheidet sich für sie das Gebärden von Musik vom Dolmetschen für die Tagesschau. Emotionen müssen sich widerspiegeln. Am Ende der sechsten Aufnahme presst Schwengber beide Hände zu Fäusten geballt auf ihr Herz, lässt mit geschlossenen Augen das Kinn auf die Brust sinken und verharrt still, bis die letzten Töne verklungen sind. „Das war es! Das war super!“ Strahlend hüpft sie vor der Kamera auf und ab. Nicht jedem gefällt ihre Art, tanzend Gefühle zu transportieren. Sie macht es einfach so, wie es sich richtig anfühlt. Bisher konnte sie damit noch jedes Lied umsetzen. Längst nicht alle Lieder hört sie privat. Aber sie will nicht entscheiden, welche Musik Tauben übersetzt wird. Als Dolmetscherin sieht sie sich als Mensch, der Brücken baut. „Ich allein kann aber nicht die Brücke sein – auf der anderen Seite muss es auch jemanden geben, der sie annehmen will“, sagt Laura Schwengber. Soundcheck in der Weststadthalle in Essen. Der taube Signmark steht auf der Bühne. Die Beats arbeiten sich über den Betonboden bis ins Gebälk empor. Bässe lassen Tischplatten zittern. Signmark stellt den Fuß auf einen Verstärker, blickt zum Tontechniker und deutet nach oben: noch lauter, bitte.

Der taube Rapper spürt die Vibration der Bässe. Mit dem Hörgerät nimmt er Geräusche wie lautes Pfeifen, hohe Töne oder Autohupen wahr. Melodien erkennt er aber nur wenige. Den Klang von Gitarre oder Klavier hört er nicht. Auf der Bühne steht Signmark nie allein. Dreizehn Sänger begleiten ihn abwechselnd bei seinen Auftritten, damit sein gebärdeter Rap hörbar wird. Wie er es schafft, synchron zu seinen Stimmen zu gebärden, bringt der Rapper auf eine einfache Formel: Musik, sagt er, sei für ihn wie Mathematik. Er berechnet den Takt, kennt die Unterteilung in Strophen und Refrain. Alles andere ist Übungssache. Mit sieben Jahren gebärdete Marko Vuoriheimo zum ersten Mal für seine tauben Eltern Weihnachtslieder. Musik dolmetschen machte ihm Spaß, er trat in der Schule oder auf privaten Partys auf. Als er 21 Jahre alt war, beschloss der Finne, sein Hobby aufzugeben. Marko Vuoriheimo war mit Freunden in einer Bar unterwegs. Sie hatten Spaß, tanzten und er begann, eines der Lieder zu gebärden. Eine Frau schaute interessiert zu, versuchte ihn zu imitieren – zum Missfallen ihres Freundes. Er kam mit einer Gruppe Männer herüber, angetrunken. „Abnormal“ seien Marko und seine Gebärden. Dann prügelten sie los. Der hinzukommende Türsteher warf den tauben Musiker wegen seines störenden Verhaltens hinaus. Zuhause fasste Marko Vuoriheimo einen Entschluss: Er wollte über seine eigenen Themen rappen, die eines Tauben in einer hörenden Welt. Von der Bühne des Festivals blickt die stark tätowierte Rapperin Tice hinunter in die schummrige Halle. Etwa 100 Augenpaare schauen zurück. „Wer von euch kann mich gerade nicht wirklich hören?“, ruft sie mit rauchiger Stimme ins Mikrofon. Neben ihr auf der rechten Bühnenseite steht Laura Schwengber. Als sie ihre Gebärden beendet hat, strecken gut zwanzig Festivalbesucher die Hände hoch. „Mal einen ganz fetten Applaus, ich finde es


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Was der taube Rapper Signmark in Gebärdensprache performt, übersetzt seine Stimme Chikeoh in Gesang.

echt cool, dass ihr hier seid!“, sagt die Rapperin. Die tauben Festivalbesucher heben beide Hände in die Luft, drehen sie von links nach rechts und wieder zurück, ganz so, als wollten sie Glühbirnen festschrauben. Tonloser Applaus. Im Publikum steht Kathrin Müller, die sich mit beiden Händen einen roten Luftballon an den Bauch drückt. Ein bisschen schüchtern wippt sie mit. Kathrin Müller ist taub und arbeitet als Pädagogin in einem Internat für Gehörlose. „Rap gehört in die hörende Welt“, sagt die 36-Jährige. Sie findet es interessant, hörende Festivalbesucher zu beobachten, aber alles, was sie mit Hilfe des zitternden Luftballons wahrnimmt, ist die Vibration der Schallwellen. Durch den Ballon spürt sie den Bass noch stärker. Direkt vor Laura Schwengbers Teil der Bühne grölt ein Mädchen, lässt den Blick nicht eine Sekunde von der Dometscherin und imitiert die Bewegungen ihres Bühnenstars. „Ich denke, Taube besitzen eine viel sensiblere visuelle Wahrnehmung“, erklärt Laura Schwengber. Auch abseits der Bühne huschen die Blicke von tauben Menschen sofort zu ihr, wenn sie im Eifer des Gesprächs gestikuliert. Laura Schwengber wollte immer Musikerin werden. Sie lernte Blockflöte, Jazzdance, Ballet, wurde sogar Funkenmariechen, als sie in ihrer Heimatstadt Lübben im Spreewald keine andere Möglichkeit zum Tanzunterricht fand. Ihre Eltern wollten ihr den Gesangsunterricht nicht bezahlen, also trug sie mit 14 Jahren Zeitungen aus. Doch für ihren Traum von einer großen Gesangskarriere werde es nie reichen: Für dieses ehrliche Urteil ist Laura

Schwengber ihrer ehemaligen Gesangslehrerin heute noch dankbar. Damals aber brach für sie eine Welt zusammen. „Mach doch das, was du sowieso schon die ganze Zeit tust: Gebärden dolmetschen“, riet ihr bester Freund Edi. Als Edi acht Jahre alt war, lernte Laura Schwengber ihn im Modegeschäft seiner Mutter kennen. Sie war damals zwölf. Der Laden feierte Jubiläum, es gab Sekt und Amicelli. Dort sah Laura Schwengber, wie ein kleiner Junge die Schokolade auspackte und sie fein säuberlich vor sich stapelte. Sie setzte sich dazu und half ihm. Ihr neuer Freund war krank und würde innerhalb der nächsten Wochen ertauben und erblinden. Laura besuchte Edi weiterhin. Sie spielten Pokémon und begannen eigene Zeichen zu entwickeln: Einmal klopfen bedeutete sein Lieblingspokémon, zweimal ihres. Bis heute ist Edi ihr bester Freund. Während ihrer Ausbildung zur Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache bekam Laura Schwengber eine Anfrage vom NDR. Der Sender versuchte seit einem Jahr, einen Übersetzer für Musikvideos bekannter Künstler zu finden. Niemand traute sich das zu. Laura Schwengber probierte es aus. Neben riesiger Begeisterung gab es auch reichlich Kritik. Sollte so ein Prestigeprojekt nicht lieber ein tauber Muttersprachler übernehmen? War sie als Studentin nicht viel zu unerfahren? Ein Kritikpunkt, den sie heute einsieht.

Trotzdem: Die Entscheidung diese einmalige Gelegenheit wahrzunehmen, war richtig. „Mit meinem Gesang war ich auf der Bühne nie zufrieden, aber meine Gebärden kommen ganz automatisch – warum also nicht auf die Bühne gehen, wenn es den Leuten gefällt?“, sagt sie heute. Kathrin Müller, die Frau mit dem roten Luftballon, wartet vor der Bühne auf ihren Star. Die Beats wummern so heftig aus den Boxen, dass die Kleidung auf der Haut vibriert. Signmark springt auf die Bühne, Kathrin Müller kreischt, reißt den Luftballon in die Höhe, während der Finne seinen Rap beginnt. Er gebärdet mit den Händen, schneidet Grimassen und formt mit seinem großen Mund einen unhörbaren Text. Ein Mikro benutzt er nicht. Wer keine Gebärdensprache kann, versteht den ersten Song nicht. Denn erst zum zweiten Lied holt Signmark seine Stimmen auf die Bühne. Zwischen zwei Liedern fordert Signmark das Publikum zu einem Wettbewerb auf: Wer schreit lauter – Hörende oder Taube? Die Tauben gewinnen, dann setzen die Takte von „Deaf man‘s blues“ ein, eines von Signmarks erfolgreichsten Liedern. Laura Schwengber steht mitten im tanzenden Publikum und gebärdet den Refrain. Viele Menschen singen mit – in ihrer Sprache.

K R I S T I N H Ä F E M E I E R und C O S T E L L O P I L S N E R waren sprachlos beim Interview in Gebärdensprache. Ob Wut, Empörung oder Fröhlichkeit – die ausdrucksstarken Grimassen und Gebärden des tauben Rappers Signmark verrieten in manchen Momenten schon vor der Übersetzung durch den Dolmetscher, was der Finne sagen wollte. k r i s t i n . h a e f e m e i e r @ o n l i n e . d e // costello-pilsner@hotmail.com


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TEXT CHARLOT TE SCHULZE F O T O S E VA L U I S E H O P P E

F Beirut gilt als queere Partyhochburg in Nahost. Während im Iran Homosexuellen die Todesstrafe droht, können sie in der libanesischen Hauptstadt scheinbar unbehelligt feiern. Doch der Schein trügt. Auch hier ist Homophobie weit verbreitet – nur wenige Schwule und Lesben bekennen sich zu ihrer sexuellen Orientierung. Ihr Leben wird zum Versteckspiel.

DAS CHA M Ä LEON

assungslos starrt Mahdi Omar dem Taxi hinterher, dessen Rücklichter in der Dunkelheit von Beirut immer kleiner werden. Der Fahrer hat soeben Omars Handy geklaut, beim Aussteigen zog er ihm das Smartphone aus der Tasche. So wird es Omar später erzählen. Es war teuer und neu. Das ist allerdings nicht das, was im 25-Jährigen in dieser Samstagnacht die Panik aufsteigen lässt. Es ist das, was auf dem Smartphone gespeichert ist – die Fotos von Männern mit Kussmündern, die schwule Dating-App „Grinder“ – was für ihn und seine Freunde fatale Folgen haben könnte. Entsperrt der Taxifahrer Omars Handy, weiß er Bescheid: Über sein Leben als homosexueller Student in Beirut, sein Versteckspiel vor Eltern und Geschwistern. Der Fahrer hätte Zugriff auf Fotos, Klarnamen und Kontaktdaten. Artikel 534 des libanesischen Strafgesetzbuchs verbietet „sexuelle Beziehungen, die wider die Natur sind“. Der Artikel werde immer wieder so ausgelegt, dass Homosexualität zu einer Straftat wird, erklärt Genwa Samhat, die Direktorin von „Helem“. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich seit 17 Jahren für die Rechte von Homosexuellen, Transsexuellen und Transvestiten im Libanon ein. Mit Erfolg. Heute kann über die Rechte von Homosexuellen öffentlich diskutiert werden – in Medien, bei Veranstaltungen oder mit staatlichen Organisationen. Trotz dieser neuen Offenheit sind die Traditionalisten nach wie vor mächtig: Schwule und Lesben werden auch heute noch angeklagt, verurteilt, eingesperrt. Im Durchschnitt nimmt die Polizei, nach Angaben der Organisation Helem, pro Woche einen Homosexuellen fest. Genwa Samhat geht davon aus, dass im Libanon sogar täglich Homosexuelle verhaftet werden. Kommt es zu einer Anklage, zahlt die NGO die Kosten für den Anwalt und bei Schuldspruch die Kaution. Nur zwei Angeklagte wurden bisher von einem Richter frei gesprochen. Das letzte Mal 2014. Eine Transsexuelle hatte Sex mit einem Mann. Ihre eigene Mutter zeigte sie an. Der Richter allerdings sprach sie davon frei, gegen Artikel 534 zu verstoßen. Menschliches Handeln könne nicht widernatürlich sein. Eine solche Auslegung sei allerdings selten in den Gerichtssälen im Libanon zu hören, sagt Samhat. Zwei Wochen sind vergangen, seit der Taxifahrer Omars Smartphone geklaut hat. Nichts ist seither passiert. Am Morgen nach dem Diebstahl hat Omar, der eigentlich anders heißt, das Handy durch die Telefongesellschaft blocken lassen. Erleichtert ist er gewesen, dass das so schnell ging. Er hofft und glaubt nicht, dass der Taxifahrer in der kurzen Zeit den Code entsperren konnte. „Ich hatte echt Schiss! Ich wäre ja erpressbar gewesen“, sagt Omar. Erpressbar oder aber vor Gericht belastbar. Omar wirkt gelöst, lächelt viel. Mit Freunden verbringt er die Nacht in der Schwulen- und Lesbenbar „Bardo“ im Beiruter Stadtviertel Hamra. Er wippt zum Technobeat, in der Hand eine Flasche mit mexikanischem Bier. Das Bardo ist einer von vier


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religiösem Radikalismus und Moderne sei hier normal. Libanesischer Alltag eben. Es scheint, als wolle Omar die Konflikte und Unsicherheiten, die doch sein Leben mitbestimmen, nicht an sich heranlassen, als halte er sich fest an seiner Sicht der Welt, die ihm Sicherheit vorgaukelt. Mahdi Omar und seine Freunde wollen weiterziehen. Es ist ein Uhr. Kurz nachdem sie den Club verlassen haben, laufen sie an einem Kontrollpunkt des Militärs vorbei. Die wüssten, was los sei – hier liefen ja fast jeden Tag Schwule vorbei, sagt Omar. Der libanesische Soldat hebt kurz den Kopf, bevor er weiter geradeaus starrt. Auf der Website gayhop.com, einem internationalen Reiseführer für Schwule, wird Bardo erwähnt. Viele Touristen kommen hierher, aus England, den USA, aber auch aus Saudi-Arabien und Iran. Die Direktorin von Helem spricht von einer Drei-Klassengesellschaft im Umgang mit Homosexuellen. Schwule Touristen lasse der Staat in Ruhe, die besitzende Klasse im Libanon werde bis zu einem gewissen Grad diskriminiert, könne aber im Privaten ungestört ihre Homosexualität ausleben. Die untere soziale Klasse, Flüchtlinge eingeschlossen, treffe die ganze Härte des Staates.

ZEUGNISSE DES BÜRGERKRIEGS

Das Bardo ist einer von vier Orten in Beirut, an denen Homosexuelle ungestört feiern können. Unter den Gästen finden sich auch viele Touristen.

Orten in Beirut, an denen sich Homosexuelle zum Feiern treffen. Und es ist einer von den Orten, an dem Omar „Omara“ sein darf. „Viele von uns haben eine sehr weibliche Seite, können sie aber nur unter bestimmten Leuten, an bestimmten Orten ausleben.“ Lächelnd beobachtet er die tanzenden Männer. Omar mag diese Bar, wo er den Kopf zur Seite neigen, weiblich gestikulieren, er selbst sein kann. Er fühlt sich sicher. Doch nicht alle Nächte sind so ruhig wie diese.

E I N A N A LT E S T S O L L H O M O S E X U A L I TÄT MED IZI N ISCH NACHWEISEN Vor anderthalb Jahren im Spätsommer 2014 feierten Homosexuelle in einem Badehaus im Beiruter Vorort Bourj Hammoud eine Party. Plötzlich stürmte die Polizei das Badehaus und nahm 27 Männer fest. „Unsittliche Handlungen“ lautete der Vorwurf. Hatten die Männer damals Pech, mussten sie eine Untersuchung, einen sogenannten Analtest, über sich ergehen lassen. Dabei misst der Arzt den Durchmesser des Anus, um nachzuweisen, dass der vermeintliche Schwule Sex mit Männern hatte. Da der Test weder medizinisch noch ethisch vertretbar ist, konnte die NGO Helem durchsetzen, dass die Polizei ihn offiziell nicht mehr anwendet. Inoffiziell werde er allerdings immer noch praktiziert, berichtet Helem. Irgendwann sickert in der Nacht im Bardo die Nachricht durch, dass zwei Straßen weiter die radikal-islamische Hizbullah randaliert. Ein saudischer Fernsehsender hatte ihren Anführer parodiert, das wollen dessen Anhänger nicht einfach hinnehmen. Omar zuckt bei den Handyfotos mit vermummten Demonstranten und brennenden Plakaten nur mit den Schultern und wippt weiter im Takt mit dem Beat mit. Diese Spannung zwischen

Im Iran und Saudi-Arabien gilt Homosexualität als eine Sünde, die mit dem Tod bestraft werden kann. Im Vergleich dazu ist der Libanon fortschrittlich. Das ist auch auf die heterogene Gesellschaft zurückzuführen: Rund 40 Prozent der Libanesen sind Christen, 60 Prozent sind Muslime. Die Akzeptanz Andersdenkender trägt auch dazu bei, dass das Land momentan weitgehend von inneren Konflikten verschont bleibt. Der Libanon hat auch schon andere Zeiten erlebt. Die mit Einschusslöchern übersäten Villen in Beirut wirken auf Passanten wie erhobene Zeigefinger, die die Menschen an den Bürgerkrieg in den Siebziger- und Achtzigerjahren erinnern, der das Land fast zerriss. Mahdi Omar ist in einer Kleinstadt in der Bekaa-Ebene groß geworden, einer ländlichen Region nahe der syrischen Grenze. Alle zwei bis drei Wochen setzt er sich in einen Bus und fährt zu seinen Eltern und jüngeren Geschwister. Meistens mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Hin und wieder müsse er sich eben blicken lassen. Doch dafür, dass es sich nur um Anstandsbesuche handeln soll, sind die Fahrten in seine Heimatstadt vielleicht zu häufig. Sein Vater, groß und schwer, arbeitet als Landwirt, verdient gut und sorgt zusammen mit der Mutter dafür, dass der Wohlstand auch nach außen sichtbar ist. Eine Marmortreppe führt in die Villa mit Steinboden und weiten Räumen. Hinter dem Haus ein Hügel. Weinreben ranken sich an einem Gerüst empor. In der Steinwand des Hügels sind Höhlen. Mahdi Omar hat als Junge viel Zeit dort verbracht, hat Verstecken gespielt. Heute ist ihm die Gegend hier zu still, zu langweilig. Er steht auf einem Felsen vor den Höhlen und schaut auf sein Elternhaus, hinter dem sich das Bekaa-Tal zwischen zwei Gebirgsketten erstreckt. Eines Tages soll eines der Kinder mit den Enkeln hier wohnen, das wünschen sich die Eltern. Omar wird das nicht sein. Seinen Eltern sagt er das nicht. Er will nicht, dass sie jemals von seiner sexuellen Orientierung erfahren. Zu oft habe er seine Eltern und Geschwister abfällig über Schwule reden hören. Eklig und unnatürlich seien die. Omar sagt, er wolle dann immer laut aufschreien, sich verteidigen, klarstellen, dass Homosexuelle nicht anders sind als andere Menschen. Doch das würde ihn

verraten. Und so ist er stiller, wenn er seine Familie besucht, sein Lachen weniger hell, seine Bewegungen weniger weiblich. Mahdi Omar kann nur ahnen, was passieren würde, sollte seine Familie von seinem Leben in Beirut erfahren. Vor seinem fünf Jahre jüngeren Bruder habe er Angst, sagt Omar. Der ist größer als er und ein streng gläubiger Muslim. Für seinen Bruder ist Homosexualität „haram“, eine Sünde, die bestraft werden muss. Mahdi Omar beschreibt ihn als aggressiv und gewaltbereit. Seine Freunde haben ihn gewarnt: „Der würde dich erstechen, wenn er es wüsste“, habe einer gesagt. Tödliche Gewalt gegenüber Homosexuellen gehört im Libanon allerdings zur Ausnahme. In Befragungen der „Arab Foundation for Freedom and Equality“ gaben im letzten Jahr rund 80 Prozent der libanesischen Bevölkerung an, dass Homosexualität für sie zwar unmoralisch sei, Gewalt gegenüber Schwulen und Lesben lehnt die große Mehrheit aber ab. „Meine Eltern wären wohl einfach schockiert. Sie würden sich gegenseitig die Schuld dafür geben“, glaubt Omar. Wer weiß, ob er dann jemals wieder in das Haus seiner Eltern zurückkehren könnte. Aber weder sein Bruder noch die erste Reaktion seiner Eltern scheinen wirklich das zu sein, was Omar am Ende davon abhält, seinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Vielmehr ist es wohl die Befürchtung, nicht länger der gute Sohn zu sein. Er sitzt im verglasten Wintergarten auf einem der Sofas. In der linken Hand hält er eine Zigarette, an der er immer nur kurz zieht, bevor er sie wieder unter den Couchtisch hält. Sein Vater, der im Garten die Pflanzen kontrolliert, darf ihn nicht sehen. Es gehöre sich nicht, dass sich die Kinder vor dem Vater eine Zigarette anstecken. Auch wenn der selbst Raucher ist. Das sei respektlos. Eine ungeschriebene Regel, an die sich Omar hält. Er will nicht rebellieren.

gemocht werden, auch wenn das für ihn bedeutet, dass er nicht vollständig er selbst sein kann. Er sitzt im Schneidersitz auf seinem Bett und blättert in einem kleinen Notizblock, eine Art Tagebuch, in das er alle Treffen mit Männern einträgt. „Diaries, do not touch please, privacy“ hat er auf den Block geschrieben. Namen und Kontaktdaten hat er mit einem grünen Marker angestrichen. Er wolle nicht den Überblick verlieren und sich schützen. Damit seine Freunde nachlesen können, mit wem er sich getroffen hat, falls er aus ungeklärten Gründen verschwinden sollte. Er muss oft umblättern, bis er zu den Seiten kommt, die noch leer sind. „Natürlich träume ich davon, den ‚Einen‘ kennenzulernen, aber das ist schwer.“ Die Schwulen-Szene in Beirut sei sehr oberflächlich, das Aussehen wichtiger, als die große Liebe zu finden. Was für ein Leben hat ein schwules Paar schon, wenn es sich nicht auf der Straße zeigen, geschweige denn in eine gemeinsame Wohnung ziehen kann? Unter einem Stapel mit T-Shirts und Hosen versteckt, holt Omar eine pinkfarbene Perücke hervor. Er zieht sie sich über und lächelt. Auf die Straße würde er damit natürlich nicht gehen. Aber das ist okay, solange es Räume gibt, in denen er sich als Omara fühlen kann.

H E T E R O S E X U E L L E H E I R AT A L S A U SW E G Vollständig wird er dem Bild des guten Sohns allerdings nicht entsprechen. Alle seine Cousins und Cousinen, auch die Jüngeren, sind bereits verheiratet. Auch unter Homosexuellen im Libanon ist eine heterosexuelle Heirat nicht unüblich. Viele junge Schwule und Lesben werden ab Anfang 20 durch ihre Familien unter Druck gesetzt, einen Partner zu finden. Um nicht aufzufliegen, beugen sich viele dem Willen der Eltern. Doch das geht Omar zu weit. Er will keinen unbeteiligten Menschen unglücklich machen. Seine Mutter habe ihn allerdings entlastet. Er brauche nicht zu heiraten, wenn er nicht wolle, hat sie gesagt. Das irritiert, denn solche Aussagen sind selten im traditionellen Libanon. Als gäbe es eine Art mütterliche Ahnung, unausgesprochen und vage, die auch Omar nicht wahrhaben will. Zu Hause in seiner Wohnung in Beirut kichert Mahdi Omar und blödelt mit seinen zwei Mitbewohnern herum. Auch sie sind schwul. Ihr Vermieter habe ihnen verboten, Frauen in die Wohnung einzuladen. „Von Männern hat er aber nichts gesagt“, sagt Omar und lacht. Manchmal sei er überrascht, wie gut er schauspielern könne, sagt Omar. Lieber wäre es ihm, wenn er dieses Talent nicht ständig anwenden müsste, sagt er. Auch nicht in seiner WG. Seine Mitbewohner gehen davon aus, dass er Schiit ist. Er ist aber Sunnit. Sein schiitischer Vorname führte vor einigen Jahren zu dem Irrtum, den er bis heute nicht aufgeklärt hat. Zu positiv war die Reaktion auf seinen Namen, zu wichtig scheint die Glaubensrichtung seinen Freunden zu sein. Er will

Mahdi Omar raucht auf dem Balkon seiner Eltern. Die Gebirgskette im Hintergrund trennt den Libanon von Syrien.

C H A R L O T T E S C H U L Z E und E V A L U I S E H O P P E haben sich während der Recherchereise verliebt: in den weltbesten Hummus, in Busfahrten mit offenen Fenstern und arabischer Musik, die verschneiten Bergkuppen hinter Beirut und vielleicht auch ein bisschen in Mahdi Omar. l o t t a . s c h u l z e @ g m a i l . c o m // e v a l h o p p e @ g m a i l . c o m


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WO IST JUT TA SCHUL Z? Manche Menschen verschwinden aus der Welt und tauchen nie wieder auf. Zu ihnen gehรถrt Jutta Schulz. Am 2. April 2014 besichtigt sie ein Haus im Harz, seitdem fehlt von ihr jede Spur. Wurde sie ermordet? TEXT PHILIPP MANGOLD

FOTOS A NNA A ICHER


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Linke Seite: Das Haus, in dem Jutta Schulz lebte, bevor sie verschwand. Diese Seite: Viele Kleidungsst端cke von Jutta Schulz liegen noch heute im Haus, zum Beispiel diese Schuhe.


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Jutta Schulz konnte sich nicht von ihren Möbeln trennen. Bis heute stapeln sie sich in manchen Zimmern bis fast unter die Decke.

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er letzte Mensch, der Jutta Schulz gesehen hat, ist eine Immobilienmaklerin. Am 2. April 2014 um halb elf Uhr morgens zeigt sie Schulz ein Haus in Thale, einem Städtchen im Harz. Das Haus steht zum Verkauf, es ist groß und hat einen Hof, doch es muss renoviert werden. Später wird die Maklerin sagen, Schulz habe sich nicht anders verhalten als bei früheren Hausbesichtigungen. Sie sei gut gelaunt gewesen, entspannt, lustig. Und schnell entschlossen: Nach einer Viertelstunde erklärt Schulz der Maklerin, das Haus sei nicht nach ihrem Geschmack. Ob es noch ein anderes Objekt gebe? Die Maklerin verneint, Schulz schwingt sich auf ihr Fahrrad und fährt Richtung Ortsausgang davon, wo sie mit ihrem Lebensgefährten wohnt. Von diesem Moment an verliert sich ihre Spur. Jutta Schulz verschwindet. Vier Wochen später, am 1. Mai, erhält die Polizei in Köln einen Anruf. Eine Bardame vom Bordell „Eros Center“ sagt, eine Mitarbeiterin sei nicht zur Arbeit erschienen, ihr Name sei Jutta Schulz. Die Polizei beruhigt sie. Nicht jedem, der nicht zur Arbeit kommt, sei etwas zugestoßen. Trotzdem ruft ein Beamter beim Kommissariat in Halberstadt an, das für Thale zuständig ist. In Halberstadt ist keine Vermisstenanzeige eingegangen. Doch Jutta Schulz bleibt verschwunden. Am 5. Mai 2014 beginnt die Polizei Halberstadt zu ermitteln. Sie befragt Bekannte, Freunde, den Lebensgefährten von Jutta Schulz. Sie durchsucht Waldstücke im Harz und bittet die Beamten in Köln, mit Schulz’ Kolleginnen zu sprechen. Eine Spur finden die Polizisten nicht. Jedes Jahr verschwinden in Deutschland rund 100.000 Menschen. Viele laufen vor Problemen davon, sind depressiv oder verschuldet. Die meisten tauchen bald wieder auf. In etwa 1.000 Fällen wurden die Vermissten Opfer von Gewalttaten. 3.000 bleiben für immer verschwunden. Niemand erfährt je, was mit ihnen geschah. Jutta Schulz war 52 Jahre alt, als sie verschwand. Nicht depressiv, nicht psychisch labil. Sie hatte Freunde, einen Lebensgefährten, eine Arbeit, einen Hund. Auf den ersten Blick schien ihr Leben geordnet. Doch wenn man mit ihrem Lebensgefährten

spricht, mit Freunden und Kolleginnen, relativiert sich der Eindruck. Je näher man Jutta Schulz kommt, desto verworrener wirkt ihr Leben. Die Geschichte von Jutta Schulz‘ Verschwinden beginnt an einem Juniabend 2010 im Naturfreundehaus Blankenburg, zwölf Kilometer von Thale entfernt. Schulz kellnert bei einer Hochzeit, sie steht hinter der Bar und schenkt Getränke aus. Da sieht sie, wie ein Mann reinkommt: schwarze Reitstiefel, schwarze Reithose, anthrazitfarbenes Jackett, grauer Halbzylinder – Kutscher-Livree. Er läuft breitbeinig auf sie zu, bulliger Körper, ein narbiges, kantiges Gesicht. „Interessanter Mann“, raunt Schulz ihrem Kollegen zu. Der Mann bestellt ein Bier. Seine Stimme ist erstaunlich hoch, erstaunlich sanft. Auch er zeigt Interesse. Die Bardame gefällt ihm: Sie ist klein und schlank, ihre rot-braunen Locken fallen auf das schwarze Neckholder-Top, die Lederimitat-Leggins betonen ihre Beine. Die beiden kommen ins Gespräch. Noch heute ist der Kutscher Klaus Kroschwitz aus Thale erstaunt, wie schnell Jutta Schulz und er damals ein Gesprächsthema fanden, das sie beide interessierte: Bionahrung. Kroschwitz war einmal Biobauer, Schulz ist Bio-Fan. Als die Pferde draußen unruhig werden, muss Kroschwitz gehen. Sie verabreden sich für den nächsten Abend in einem Pub. Der Abend endet bei Kroschwitz im Bett. Kurz darauf zieht Schulz zu ihm nach Thale. Thale liegt in einem tristen Landstrich im Harz, Sachsen-Anhalt, 40 Kilometer entfernt erhebt sich der Brocken. Das Städtchen ist ein verwunschener Ort: Im Norden dräut ihm die Teufelsmauer, eine sagenumwobene Felswand, im Süden schmiegt es sich an den Hexentanzplatz, einen Berg, auf dem die Anwohner Ende April die Walpurgisnacht feiern. Hinter dem Hexentanzplatz windet sich das Bodetal: An den Steilhängen recken Eschen, Traubeneichen und Winterlinden ihre Äste in die Höhe, als wollten sie warnen vor den tödlichen Felsschluchten. In der Tiefe brodelt die Bode. 18.000 Menschen leben in Thale: Männer, die vor der Einfahrt fegen und die, fragt jemand nach dem Weg, erst misstrauisch gucken und dann wortlos hinter dem Hoftor verschwinden. Frauen, die Mülltüten aus dem Haus tragen und Fremden Geschichten über ihre Nachbarn erzählen, die wahlweise unheimliche Kerle seien oder männerverschlingende Frauen. Auch von einem unaufgeklärten Mordfall in Thale berichten sie. Hierher also zog Jutta Schulz: auf den Hof von Klaus Kroschwitz, mit seinen Pferden, Hühnern, Katzen, Hasen. Besucht man Kroschwitz heute, empfängt er in einem Haus, in dem die

Unordnung blüht. Aus Tüten und Kisten quillen, an Stangen drängen sich Kleider der Verschwundenen. Fotos stapeln sich auf dem Küchenregal: Jutta sonnt sich oben ohne, Jutta auf der Kutsche, Jutta mit Freunden an ihrem Fünfzigsten. Es ist stickig im Haus, überall kleben Rottweilerhaare: auf der Couch, auf dem Bett, auf dem Fußboden. Freunde von Jutta Schulz sagen, ihr sei die Unordnung von Anfang an peinlich gewesen, nie habe sie Gäste eingeladen. Kroschwitz jedoch erinnert sich gern an die erste Zeit mit ihr. Wie sie trinken gingen und tanzen und jede Woche ins Kino. Wie er den Pferdemist vom Hof mit der Kutsche wegbrachte, Jutta sich zu ihm auf den Bock setzte und sie umschlungen durchs Dorf fuhren. Das einzige Problem sei gewesen, dass es im Haus so wenig Platz gab. Die antiken Möbel, die Jutta Schulz seit DDR-Zeiten sammelt, passen nicht hinein. Sie mietet einen Laden in der Poststraße, stellt ihre Möbel hinein und nennt den Laden ihr „Antiquitätengeschäft“. Außerdem meldet sie ein Gewerbe an: „Lebenshilfe“. Sie interessiert sich für Psychologie, Buddhismus und Esoterik und hofft, damit Geld zu verdienen. Doch die Thalenser lassen sich nicht von ihr helfen. Schnell wird klar: Jutta Schulz hat ein Geldproblem. Es ist 2011, im August wird Schulz 50, und als wolle ihr das Schicksal ein Geburtstagsgeschenk machen, klingelt das Telefon. Eine alte Bekannte meldet sich. Eine Jobvermittlerin. Sie habe ein Angebot für sie, einen Traumjob: Bardame, zehn Euro die Stunde. Aber: in Köln, etwa 430 Kilometer von Thale entfernt. Und: Der Arbeitsplatz ist ein Bordell. Dort bekomme Schulz ein Zimmer gestellt. Doch sie werde pendeln müssen: Zwei Wochen Köln, zwei Wochen Thale. Schulz überlegt nicht lange. Klar nimmt sie die Stelle, sie kann das Geld gebrauchen, 1.200 Euro im Monat. Im Dezember 2011 hat Schulz ihren ersten Arbeitstag im „Eros Center“ in Köln. Man erklärt ihr das oberste Gebot für Bardamen: Fange nichts mit Gästen an. Jutta Schulz wird sich nicht daran halten. Als sie in Köln anfängt, ist sie eine unauffällige Frau. Den Prostituierten kommt sie vor wie ein Landei aus dem Harz. Doch das ändert sich bald. Die Prostituierten nehmen sie mit zum Friseur, zur Maniküre, zum Shoppen. Man kann sagen: Jutta Schulz takelt sich jetzt auf. Einmal, erinnern sich die Prostituierten, trägt sie ein so knappes Kleidchen, dass ihre Schamhaare zu sehen sind. Jutta Schulz trägt keinen Slip. Die Prostituierten ärgern sich über

Im Schlafzimmer hängen Fotos von Jutta Schulz an der Wand. Auf manchen ist sie nackt.

Der Porzellanbuddha sitzt bis heute auf der Bar im Kölner Bordell. Jutta Schulz hatte ihn einst mitgebracht.

die Konkurrenz. Sie fordern die Bardame auf, sich dezenter zu kleiden. Jutta Schulz gehorcht, doch für Flirts bleibt sie empfänglich. Ein paar Komplimente reichen, werden mehrere Prostituierte später sagen, und Jutta Schulz ist euphorisch. Sie wirkt wie jemand, der mit 50 seine Jugend nachholen will. Jemand, der für alles zu haben ist, zu allem bereit. Das ideale Opfer. Nicht lange nach ihrem 50. Geburtstag verschwindet Jutta Schulz. Niemand weiß, wo sie ist. Einen Tag lang. Zwei. Kroschwitz sorgt sich, erreicht sie nicht, weiß nicht weiter. Es werden drei Tage, vier. Von Bekannten hört er, sie sei bei einem anderen Mann, dem Mann einer Freundin, der schon auf Jutta Schulz’ Geburtstagsfeier stundenlang mit ihr zusammengesessen hatte. „Die Jutta“ und er vergnügten sich angeblich in einer Jagdhütte im Wald. Mehr als zwei Wochen lebt Kroschwitz ohne Lebenszeichen von ihr. Dann steht sie plötzlich vor ihm. Sie sei bei einer Freundin gewesen, sagt sie. Sie habe eine Auszeit gebraucht. Kroschwitz fragt nicht nach. Er konnte ihr nicht lange böse sein, sagt er heute, sie habe da ihre Mittel gehabt. Er lächelt. Doch es sei ihr wohl immer nur um sich selbst gegangen. Er sei ihr von Anfang an egal gewesen. So sieht er das mittlerweile. Wer rücksichtslos genug ist, für zweieinhalb Wochen zu verschwinden, ohne sich bei jemandem zu melden, der kann das wieder tun. Ist es so einfach? Hatte Jutta Schulz bloß keine Lust mehr auf ihren Kutscher? Im Frühling 2012 bringt Jutta Schulz eine Prostituierte aus Köln mit nach Thale. Die fährt nicht nur zum Spaß in den Harz. Denn in den Nachbarort Ballenstedt knattern Ende Mai 16.000 Harley-Davidson-Fans zur „Super Rallye“, Jutta Schulz und die Freundin wittern ein Geschäft. Sie drucken Flyer, auf denen sie für erotische Massagen im Antiquitätenladen werben. Kichernd erzählt Schulz einer Freundin in Leipzig von Seidenumhängen, die sie während der Massagen trugen. Die Prostituierte, die damals mit nach Thale


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In der Akte sammelt die Polizei Fotos aus Schulz’ Leben. Sie zeigen ihren Hund, alte Möbel, schicke Kleider. All das ließ Schulz zurück.

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kam, erinnert sich an ein paar furchteinflößende Biker und an wenig Geld, das die Frauen verdienten. Und sie erinnert sich daran, wie die Thalenser auf Jutta Schulz reagierten: Sie sei begafft und beleidigt worden, eine Frau habe ihr „Schlampe“ hinterhergerufen. „Die Leute in Thale haben Jutta gehasst.“ Im Sommer 2012 kauft Jutta Schulz für 50 Euro einen zweijährigen Rottweiler. In der ersten Woche richtet er ein Blutbad an. Bilanz: Sieben Katzen, fünf Hühner und zehn Hasen liegen tot auf Kroschwitz’ Hof. Jutta Schulz behält den Hund trotzdem. Er ist eines der Rätsel dieses Falles. Kroschwitz sagt zwar, sie habe den Hund nie bändigen können; niemals hätte sie ihn auf einer Flucht mitnehmen können. Doch alle anderen, die Jutta Schulz kannten, sagen: Schulz hätte ihren Hund, auch wenn sie ihn nie mit nach Köln nahm, niemals ganz zurückgelassen. Der Hund sei ihr Kind gewesen. Die Beziehung zu Kroschwitz aber verschlechterte sich weiter. Jutta Schulz findet Fotos, auf denen Kroschwitz’ 18-jährige Stieftochter im Bikini posiert. Es ist ihr, Schulz‘ Bikini. Eifersüchtig stellt sie Kroschwitz zur Rede. Er erklärt ihr, was er auch heute sagt, wenn man ihn darauf anspricht: Die Stieftochter sei eines Tages, während Jutta Schulz‘ Köln-Wochen, vorbeigekommen, sie habe sich Klamotten aus dem Schrank genommen und dann offenbar, ohne sein Wissen, Fotos von sich machen lassen. Jutta Schulz glaubt ihrem Lebensgefährten nicht. Sie löchert ihn wegen der Bikini-Fotos, immer und immer wieder. Doch er bleibt bei seiner Version, und irgendwann reden sie nicht mehr darüber. Überhaupt reden sie immer weniger. Klaus Kroschwitz erzählt, dass sie sich aus seinen Umarmungen gewunden habe. Eine Prostituierte sagt, dass Jutta geplant habe, mit ihr in Köln zusammenzuziehen. Nur die in Quedlinburg, elf Kilometer entfernt lebende Mutter habe Jutta Schulz noch in Thale gehalten. Und der Hund. Regelmäßig radelt Schulz von Thale ins zehn Kilometer entfernte Gernrode. Dort besucht sie eine Kartenlegerin. Im Herbst 2013 fragt sie, wann die Mutter sterben werde und wann der Hund. Die Kartenlegerin sagt: bald. Tatsächlich stirbt Jutta Schulz‘ Mutter Ende des Jahres. 2014. In Köln geht Schulz jetzt immer öfter zum Friseur. Sie lässt sich Augenbrauen und Lippen pigmentieren, kauft säckeweise Kleider und Handtaschen – teure Handtaschen. Die Freundinnen mutmaßen, Jutta habe jetzt einen reichen Freund. Beim Friseur erzählt Schulz, sie habe jemanden kennengelernt, einen jüngeren Mann, der ihr das Gefühl gebe, eine Frau zu sein. Auch mit der Kartenlegerin spricht sie über ihn, doch die rät von der Beziehung ab. Der Mann komme noch heute hin und wieder ins Bordell, berichten die Prostituierten. Wenn sie ihn auf Jutta Schulz ansprächen, raste er aus. Ihren Bekannten in Thale erzählt Schulz auch von zwei älteren Männern, die sie im Bordell kennengelernt habe. Den einen stufen die Prostituierten als Betrüger ein: Er wirke sympathisch, verbindlich, biete Hilfe bei Handwerksarbeiten im Haushalt an und verlange hinterher Unsummen dafür. Der andere Mann ist der interessantere: Er ist groß, muskulös, wirkt wohlhabend. Er kommt meist mit dem Motorrad, insgesamt drei Mal. Er verabredet sich mit Jutta Schulz, holt sie zum Rendezvous im schwarzen Mercedes ab. Seit ihrem Verschwinden war er nicht mehr im Bordell. Klaus Kroschwitz sagt, er wisse nicht genau, wann er Jutta Schulz das letzte Mal gesehen habe, es müsse irgendwann Anfang April gewesen sein – ob vor oder nach dem Besichtigungstermin mit der Maklerin, lässt sich nicht rekonstruieren. Ihre

letzte Begegnung jedenfalls schildert Kroschwitz so: Jutta Schulz sonnt sich im Hof auf einer Bank. Er reicht ihr ein Glas Rotwein, sie stoßen an. Dann erzählt er ihr, dass er die obere Etage des Hauses vermietet habe. Jutta Schulz habe ihm den Wein ins Gesicht gekippt. In der oberen Etage stehen ihre Kleider. Sie habe sich künstlich aufgeregt, sagt Kroschwitz. Sie habe nur einen Vorwand gesucht, ihn zu verlassen. Jutta Schulz, so erzählt er, fährt mit dem Fahrrad davon. Als er am Tag darauf von der Arbeit kommt, steht das Fahrrad im Hof. Sachen von ihr fehlen; so viele, dass sie sie nicht allein habe zum Bahnhof tragen können. Sie müsse mit dem Auto abgeholt worden sein. Die Leichenspürhunde haben auf dem Hof von Klaus Kroschwitz nicht angeschlagen. Ist Jutta Schulz verschwunden, weil sie genug hatte von ihrem alten Leben? Hat Klaus Kroschwitz sie im Streit erschlagen, wie die Nachbarn tuscheln („so ist das in Thale“, sagt Kroschwitz)? Hat einer der Männer aus dem Bordell sie getötet? Das sind die Fragen, auf die die Polizei bis heute keine Antwort gefunden hat. Vieles deutet auf ein Verbrechen hin, denn Jutta Schulz hatte wohl noch etwas vor. Am 1. April hat sie eine Fahrkarte nach Köln gekauft, für den 30. April – am 1. Mai muss sie wieder arbeiten. Am 2. April besichtigte sie das Haus in Thale. Für die letzten Arbeitstage hatte sie – entgegen ihrer Gewohnheit – ihre Rechnungen noch nicht geschrieben. Seit ihrem Verschwinden hat sie kein Geld abgehoben. Sie hat teure, neue Kleidung und Handtaschen in Köln gelassen. Sie hat ihren Hund zurückgelassen. Sie hat sich bei keinem Bekannten gemeldet. Jutta Schulz bleibt verschwunden. Sie ist eine von dreitausend.

Die Kartenlegerin in Gernrode fragte P H I L I P P M A N G O L D und A N N A A I C H E R nach ihren Geburtstagen. Dann rechnete sie eine Weile herum und bestätigte schließlich, was beide schon ahnten: Die Fotografin und der Journalist sind füreinander geschaffen – als Arbeitskollegen. Heiraten sollten sie auf keinen Fall. Ihre Lebensgefährten können aufatmen. p h i l i p p m a n g o l d 8 7 @ g m a i l . c o m // a n n a . a i c h e r @ g m x . d e

Klaus Kroschwitz, der Lebensgefährte von Jutta Schulz.


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ie Hand greift nur zögerlich nach dem Fischbällchen. Der Aal aus der Müritz soll mit den Fingern gegessen werden. „Könnte ich etwas Zitrone zum Fisch haben?“, fragt der Gast ein wenig schüchtern. „Wir haben hier keine Zitrone, die wächst nicht in unserer Region“, sagt die Kellnerin hinter dem Tresen und lächelt. „Ach so.“ Der Mann, Mitte 50, ist an diesem Februarabend mit seiner Frau aus Hamburg hergekommen, um die „jungen Wilden der neuen deutschen Küche“ zu erleben, wie er sagt. Argentinisches Filet, Foie gras, Kaviar – kennt doch jeder. Gegrillte Sonnenblumenwurzel und Dillblüten – das ist was Neues. In Wirklichkeit ist es etwas Altes, das vergessen wurde. Die Köche des Restaurants Nobelhart & Schmutzig am Checkpoint Charlie in Berlin trotzen den langen Kühlketten der globalisierten Nahrungsmittelproduktion. „Brutal lokal“ nennt Billy Wagner das Konzept seines Restaurants, das er vor knapp über einem Jahr eröffnet hat. Übersetzt heißt das: kein Olivenöl, keine Schokolade, keine Zitrone. Pfeffer? Nur in der Gewürzseife im Bad.

BRUTAL LOK AL Wo der Pfeffer nicht wächst: Ein Berliner Sterne-Restaurant kocht nur, was Bauern aus der Umgebung liefern. Regionales Essen macht sich gut auf Instagram, hat aber einen Beigeschmack. TEXT CHRISTINA ZUR NEDDEN

FOTO H A NNA H ADERS

Man könnte sagen: Kochen wie zu Omas Zeiten. Bloß, dass Oma nicht vom Guide Michelin mit einem Stern ausgezeichnet wurde. Die Deutschen sind der Lebensmittelskandale müde. Sie wollen wissen, woher ihr Essen kommt. In einer Umfrage der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom Februar dieses Jahres gaben mehr als 70 Prozent der Befragten an, dass in Zukunft unbedingt auf gute Nahrungsmittelproduktion geachtet werden solle. Der Markt reagiert: Bauernmärkte wie die „Food Assemblies“, die wöchentlich in 17 Städten in Deutschland stattfinden, werben mit Slogans wie „Gib deinem Bauern die Hand“ und „Es gibt ein Leben nach dem Supermarkt“. An den Wochenenden drängeln die Menschen sich auf Festivals mit Namen wie „Stadt Land Food“. Sie essen, was aus der Region kommt, aber bevor sie zubeißen, schießen sie schnell noch ein Foto, das sie über Instagram in die Welt schicken. Regional essen, das klingt nach Rückzug, nach Besinnung aufs Wesentliche. Doch es wird zelebriert wie ein Event. Auch im Nobelhart geht es um das Erlebnis. Auf dem Bewertungsportal Tripadvisor schwärmen Gäste von der „tollen

D E R P O P S TA R D E R GASTR O SZE N E

Billy Wagner eröffnete vor einem Jahr das Nobelhart & Schmutzig. Seinen Gästen muss er häufig erklären, dass ein junger Kohlrabi aus Brandenburg den gleichen Wert hat wie ein argentinisches Rinderfilet.

Show“. Und tatsächlich ähnelt das Restaurant einem Theater. Die Gäste sitzen nicht an Tischen, sondern aufgereiht am Tresen mit Blick in die Küche, die fast den ganzen Raum einnimmt. Die Küche ist die Bühne, die Köche sind die Schauspieler, die abwechselnd nach vorn treten und dem Gast erklären, was er da isst. Wer das Geschehen im Nobelhart eine Weile beobachtet, bekommt den Eindruck, dass die Gäste nicht nur zum Genießen gekommen sind. Auch nicht nur, um etwas zu erleben. Sie sind da, um etwas zu lernen. Sie haben eine spezielle Art von, nun ja: Bildungshunger. Jedenfalls scheint der Wirt das zu denken. Billy Wagner trägt rotes Haar und Bart, ein schwarzes Hemd mit knielangem Schoß vorn und hinten. Er fliegt hinter dem Tresen von rechts nach links, schenkt seinen Gästen Wein ein, erklärt ihnen, wie sie ihn trinken sollten – „über das Essen spülen, um die nötige Säure zum fettigen Schwein zuzugeben“. Der 34-Jährige wurde mehrfach als bester Sommelier Deutschlands ausgezeichnet. In der Gastro-Szene gilt er als Popstar. Im Nobelhart wird viel und oft erklärt. Dass der Küchenchef Micha Schäfer jeden einzelnen der 30 Produzenten aus der Region persönlich kennt. Dass er sich mit ihnen darüber unterhält, wann das Gemüse angebaut wurde und wie viel Zucker es schon entwickelt hat. Dass die Keramik, von der gespeist wird, handgefertigt wurde, von einem Mann, der zehn Jahre lang im Kloster in Japan lebte und jetzt in Prenzlauer Berg wohnt. Dass man hier von Menschen und nicht von Firmen ernährt wird. Bevor der Gang „Chicorée / Petersilie“ gegessen wird, hält Schäfer den Gästen ein Einmachglas mit Rapsöl unter die Nase. Es riecht nach Johannisbeerstrauch, erst jetzt soll man das Öl zusammen mit dem Salat erleben. Wer versucht, in die knapp 70-seitige Getränkekarte abzutauchen, liest weitere Belehrungen. Da stehen nicht nur Wein- und Spirituosensorten, sondern Sätze wie diese: „Schnaps ist der König des Alkohols, doch heute geht es fast ausschließlich um Marketing und nicht mehr um das Produkt. Heerscharen von Barkeepern arbeiten als willige Handlanger für die Industrie ... das ist eine Schmierenkomödie sondergleichen!“ und „Ein Wein ohne Hinweis auf seinen Boden kann kein guter Wein sein!“ und „Wir kaufen keine Getränke von einem Händler, der ein Arsch ist!“ Die Gäste nicken zu allem artig.


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Die jungen „early adopters“ aus New York, London und Berlin trinken keinen Mango-Smoothie mehr, sie nehmen jetzt den mit Grünkohl aus Brandenburg. Dass man sich in Zeiten von Massentierhaltung und Überfischung der Meere bewusst regional und saisonal ernähren soll, weiß

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die junge Avantgarde der Großstädte nur zu gut. Allerdings gibt es da ein Problem: Diese junge Avantgarde kann sich nicht unbedingt ein Essen in einem Sterne-Restaurant wie dem Nobelhart leisten. 80 Euro für ein Zehn-Gänge-Menü, dazu noch die Getränke.

S E LT E N E S GEMÜSE

Diese „weiße Zuckerwurzel“ wächst auf Olaf Schnelles Feldern in Mecklenburg. Der Gärtner beliefert das Nobelhart & Schmutzig und andere Gastronomen in Berlin.

IS T ES S E N AU S D ER R E G I O N B ES S ER FÜ R D I E U MW ELT ? Lebensmittel aus der Umgebung haben das Image, kürzere Transportwege und einen verringerten CO2-Abdruck zu haben. Doch regionale Produkte sind oft gar nicht klimafreundlicher als Lebensmittel, die von weiter weg herkommen. In Berlin schicken Bio-Großhändler wie „Terra Naturkost“ täglich bis zu 40 LKWs in die Region, um Höfe einzeln abzuklappern und Bio-Supermärkte in der Hauptstadt zu beliefern, sagt Michael Wimmer von der Fördergemeinschaft Ökologischer Landbau Berlin-Brandenburg. Kleinere Betriebe fahren ihre Produkte in geringen

Ladungen mehrmals wöchentlich selbst mit dem Auto in die Stadt, um sie auf Bauernmärkten anzubieten. Das stößt weitaus mehr CO2 aus als eine größere LKW-Ladung aus Südeuropa. Die schlechteste Umweltbilanz haben Restaurants, die mit Produkten aus ökologischem Landbau kochen. Sie brauchen eine spezielle Betreuung, sind auf Lieferungen am Wochenende und spontane Bestellmöglichkeiten angewiesen. Bisher will sich diesen Aufwand aber kein Bio-Lieferant leisten. „Das ist eine wahre Marktlücke“, sagt Wimmer.

Billy Wagners Gäste haben nicht unbedingt die Rettung der Welt im Kopf, wenn sie einen Tisch bei ihm reservieren. „Die Leute, die hierher kommen, sind 40 bis 60 Jahre alt, die haben oft veraltete Wertvorstellungen“, sagt Wagner. Schon einige Male hat Wagner erlebt, dass Gäste irritiert auf das viele Gemüse in seinem Menü reagiert haben. Weil man das einmal so gelernt hat: Man geht in ein Restaurant, und da gibt es Fleisch, am besten aus Argentinien oder einem anderen fernen Land. Es ist das alte Muster, das man von früher kennt, als Gemüse das Grundnahrungsmittel war: Wer Fleisch auf den Tisch bringt, dem geht es gut. Billy Wagner sieht seine Aufgabe nun darin, seinen Gästen klarzumachen, dass auch ein Gemüse etwas Besonderes sein kann. Er erklärt dann, dass die meisten Bauern ihren Kohlrabi groß wachsen lassen, um einen höheren Kilopreis zu verlangen, dass sein Küchenchef ihn aber jung und süß serviert, weil das besser schmeckt. Wagner sagt, dass er den Bauern denselben Kilopreis zahlt, den sie für einen ausgewachsenen Kohlrabi erhalten hätten, damit sie keinen Verlust machen. Im Restaurant gibt es jetzt den Nachtisch – Quitte, Blütenpollen und Traubenkernöl – mit einem glühenden Ast flambiert. Es riecht nach Lagerfeuer. Und nach Zivilisationsverweigerung. Eine Gärtnerei, die das Nobelhart mit Gemüse beliefert, beackert ihre Felder jetzt wieder mit Pferden. Geheizt wird mit Brennholz. „Es fühlt sich extrem richtig an, was wir hier machen“, sagt Wagner. „Es ist ganz schwer, das scheiße zu finden.“ An seinem Konzept hat er nichts auszusetzen. Rund 270 Kilometer nördlich von Berlin steht Olaf Schnelle auf einem Feld und zieht eine krakenartige, weiße Pastinake aus der Erde. Die „weiße Zuckerwurzel“ war einmal beliebter als die Kartoffel, „aber ihre längliche Form verwehrte ihr den Ruhm“, sagt der Gärtner und lacht. Neben der Pastinake wächst anderes seltenes Gemüse, zum Beispiel der pinke Sauerklee. Schnelle ist bekannt für seine Experimente. Vor zehn Jahren führte er die rot-weiß geringelte Bete in Deutschland ein. Die wollte ihm zuerst niemand abkaufen. Heute bestellen 15 Top-Gastronomen aus der Region sein Gemüse, wie Billy Wagner, der Schnelles Quitten zurzeit als Dessert serviert. Die meisten von Schnelles Kunden sitzen in Berlin. Sie zahlen gut, und er kann davon leben.

Was nervt, ist „die ewige Packerei“, sagt er. Wie in allen kulinarischen Theatern – den Bauernmärkten, den Stadt-Land-Food-Festivals, dem Nobelhart – gibt es den Bereich hinter den Kulissen. Und da findet sich vor allem eines: viel Verpackungsmüll. Olaf Schnelles Betrieb vertreibt seine Ware per Post. In der Saison, von Mitte März bis Mitte November, verschickt er jede Woche 30 Pakete an Restaurants. Schnelle hat zusammen mit einer Nachbarin ein Haus auf ihrem Hof zur Packzentrale gemacht. Sein Gemüse verschickt er in doppelwelliger Pappe. Andere Bauern rund um Berlin nutzen zusätzlich Styropor. „Das produziert abartig viel Müll“, sagt Schnelle. An das Nobelhart sendet Olaf Schnelle während der Saison ein bis zwei Pakete wöchentlich. Und natürlich ist Schnelle nicht der einzige Lieferant. Die meisten der Produzenten liefern ihre Ware per UPS oder DHL Express Versand ans Nobelhart. Der direkte Austausch mit Bauern, Fischern, Jägern und Förstern hat keinen Platz für Zwischenhändler. „Ein Zwischenhändler ist Logistiker und hat keine Ahnung von den Produkten. Wenn man den ausschalten kann und den Koch direkt mit dem Produzenten reden lässt, ist das natürlich viel besser“, sagt Billy Wagner. Das Nobelhart will selbst entscheiden, was auf den Tisch kommt und wann es geliefert wird. Und das kostet viel Geld. Für ein Stück Fisch zahlt man sechs bis 15 Euro pro Kilo, das Paket kostet dann noch einmal 12 bis 15 Euro. „Das Produkt ist gar nicht so teuer, der Gast zahlt eher für die Logistik“, sagt Wagner. Genau wie jeder Kunde, der in Berlin auf einem Biomarkt einkauft: Die Fahrtkosten stecken auch immer im Preis der angebotenen Ware. Das Nobelhart bekommt nicht nur Pakete von Olaf Schnelle. Manche Bauern kommen auch persönlich vorbei. Sie kommen aus Mecklenburg und Brandenburg, fahren zwei bis drei Stunden mit dem Auto nach Berlin, mit 100 Äpfeln im Gepäck, die sie auf einem der Berliner Biomärkte anbieten. Auf dem Heimweg machen sie noch einen Schlenker und fahren beim Nobelhart vorbei. Jeder dieser Bauern macht diese Fahrten für sich allein, mehrmals die Woche. Auf der Autobahn begegnet ihm dann vielleicht ein Laster, der die „normalen“ Supermärkte mit Tomaten beliefert. Umweltfreundlich, dank einer ausgeklügelten Logistik, die

DAS MENU

Die Speisekarte liest sich wie ein Einkaufszettel. Die einzelnen Gänge werden den Gästen von den Köchen erklärt.

viele kleine Fahrten mit wenig Ladung vermeidet. Brandenburg, obwohl so nah an Berlin, scheint dann manchmal weiter weg als Spanien, wo all die Erdbeeren, Tomaten und Zitronen angebaut werden, die es im Februar im Nobelhart nicht gibt. Gegen halb zehn am Abend ist es ruhig um den Touristen-Hotspot am Checkpoint Charlie. Aus dem Nobelhart tritt das Ehepaar aus Hamburg – heiter, gesät-

tigt und belehrt – auf die Straße. Sie halten Ausschau nach einem Taxi. Sie haben keinen Blick für die großen Lettern, die am Nachbarhaus prangen. „Deutsche Küche“ steht da – das Restaurant neben dem unscheinbaren Nobelhart. Es gibt Bockwurst, Krautwurst, Wienerwurst, Schinkenknacker, Currywurst, Kartoffelsalat und Buletten – alles unter zwei Euro.

C H R I S T I N A Z U R N E D D E N und H A N N A H A D E R S waren beide zum ersten Mal in einem Sterne-Restaurant und aßen dort den besten Nachtisch ihres Lebens. Außerdem wissen sie jetzt, dass Sattelschweine besser als andere Schweine schmecken. Die werden nämlich ohne Vorwarnung auf der Weide abgeschossen und empfinden somit keinen Stress, der ihr Fleisch sauer machen würde. c h r i s t i n a . z u r n e d d e n @ g m a i l . c o m // h a n n a h.a d e rs@h o t m a il.c o m


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DER ZORN DER ANDEREN

Hier wohnen die Vorzeige-Migranten. In der badischen Provinz scheinen die Russlanddeutschen blendend integriert – bis ihre Stadt tausend Flüchtlinge aufnimmt. TEXT TIMO NICOLAS

FOTOS LOU ISA BOESZOER MEN Y


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leich wird sich Wolfgang Müller den Zorn der Russlanddeutschen aufhalsen. Es ist der 24. Januar 2016, die Temperaturanzeige überschreitet 15 Grad. Der Oberbürgermeister von Lahr hat sich ins Zentrum der unangemeldeten Demonstration gekämpft. Nun steht er da, spärlich abgeschirmt durch den lokalen Polizeichef und seine zwei Kollegen, umringt von 350 aufgebrachten Menschen. Er führt das Megafon an die Lippen. „Sie fragen mich, warum muss das kleine Lahr 1.000 Flüchtlinge aufnehmen. Ich bin x-mal gefragt worden, warum muss das kleine Lahr 9.000 Spätaussiedler aufnehmen?“ Wütende Zwischenrufe, Pfiffe, ein Mann versucht, dem Bürgermeister das Megafon aus der Hand zu reißen. All das ist festgehalten auf Video, hochgeladen auf Youtube. Später wird Müller für seinen Auftritt Applaus von der Lokalpresse bekommen, viele Ur-Lahrer werden sehr angetan sein, also jene Menschen, die schon vor den Spätaussiedlern hier waren. Die Russlanddeutschen aber, die vor dem Rathaus stehen, sind empört. Wie kann er es wagen, sie mit den Flüchtlingen zu vergleichen? Sie, die ihre Heimat damals nicht verlassen hatten, sondern in sie zurückgekehrt waren? Seit der Demonstration hat sich eine neue Verunsicherung in die Stadt geschlichen. Dabei lief es doch endlich so gut, nach all den Berichten über Kriminalität, Drogen und die Russenmafia in den Neunzigerjahren. „Klein-Kasachstan“ hatte man die Viertel der Spätaussiedler genannt, von einem „Ghetto“ war die Rede. Nach Jahren war endlich Ruhe eingekehrt, keine schlechte Presse, keine besonderen Vorkommnisse. Ein Viertel der Bürger von Lahr sind Spätaussiedler. Manche in der Stadt sagen nun, man habe die Augen zu fest verschlossen. Man habe einen Frieden wahren wollen, den es vielleicht nie gab. An jenem viel zu warmen Januartag wurde Elena Rommes Identität geraubt. Die Demonstranten vor dem Rathaus hatten natürlich nicht vor, ihr zu schaden. Man war zwar wütend, aber doch

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nicht auf Frau Romme. Sie war doch eine von ihnen. Das gleiche Volk, das gleiche Schicksal, eine Spätaussiedlerin wie sie. Eine Deutsche. Doch am Nachmittag, als die Demonstration zu Ende war, schien Frau Romme genau das nicht mehr zu sein: eine Deutsche. Elena Romme kämpft für die Integration der Russlanddeutschen in Lahr. Sie hatte versucht, ihre Landsleute davon abzubringen, gegen Flüchtlinge auf die Straße zu ziehen. Vergebens: Rufe wie „Schwarze müssen raus“ hallten während der Demonstration über den Platz. Und für die anderen Deutschen, die Alteingesessenen in Lahr, war Elena Romme nun eine derjenigen, die Putin verehren, eine Russin, die sich nicht integrieren will. Wodka, Mafia, Stereotype. Lahr war schon immer eine Heimat für Heimatlose, für Vertriebene, für Soldaten, für Spätaussiedler. An den hügeligen Ausläufern des Schwarzwaldes gelegen, wenige Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Lahr ist ein Ort am Rande. Es gibt hier mehr Kasinos, als es gesund sein kann für eine Kleinstadt. Die vielen Hotels füllen sich im Sommer mit Touristen, die aber wenig Geld in Lahr lassen – sie kaufen eher im benachbarten Europapark fettige Würste und überteuerte Achterbahnfahrten. Lahr hat wenige Anziehungspunkte, man hofft auf die Landesgartenschau in zwei Jahren. Heute zieren die Stadt noch matschige Brachflächen. In zwei Jahren sollen hier Lilien und Pfingstrosen blühen.

„Schwarze müssen raus“, hallt es über den Rathausplatz. Einige hundert Meter neben einer der Brachflächen wuselt Elena Romme durch die Gänge ihres kleinen Supermarktes. Geräucherter Buckellachs, tiefgefrorene Pelmeni, mehr als dreißig verschiedene Wodkasorten und Pralinenschachteln, die großflächig mit Bildern der Basilius-Kathedrale bedruckt sind, die viele Deutsche für den Kreml halten. Der Mini-Markt ist das Zentrum russischen Lebens in der Stadt, für die vielen, die noch immer das Leben und die Speisen ihrer Kindheit schätzen. Russische Wortfetzen

fliegen über die dicht bepackten Regale, die Kundschaft ist treu und wohnt meist nebenan, in den alten, schmucklosen Kasernen der kanadischen Garnison. Bis Mitte der Neunzigerjahre hatten die Kanadier ihr Hauptquartier in Lahr aufgeschlagen, um im Fall der Fälle gegen sowjetische Invasoren kämpfen zu können. Die Sowjets kamen zwar – aber erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als die Kanadier schon weg waren. Da waren es natürlich keine Sowjets mehr, sondern wieder Russen, Tadschiken und Kasachen.

In den Neunzigern ging die Angst vor den Russen in Lahr um. Doch auch das ist eigentlich nicht korrekt. Denn in Wahrheit waren sie Deutsche. Russlanddeutsche. Anlass für die Demonstration auf dem Lahrer Rathausplatz ist eine weltpolitische Posse: In Berlin-Marzahn verschwindet ein 13-jähriges, russlanddeutsches Mädchen. Einen Tag später taucht das Kind wieder auf, erzählt den Polizisten, von „Südländern“ entführt und vergewaltigt worden zu sein. Wenige Tage später zeigen die russischen Hauptnachrichten eine Reportage aus Berlin, in der von Flüchtlingen die Rede ist, die sich sexuell an Kindern vergriffen hätten. Als Beispiel dient der Fall der 13-Jährigen. Daraufhin ziehen hunderte Russlanddeutsche unangemeldet vors Kanzleramt, um gegen die vermeintliche Untätigkeit der Ermittlungsbehörden zu protestieren – und gegen Flüchtlinge überhaupt. Eine Woche später schwappt die Protestwelle nach Süddeutschland über, in Bayern und Baden-Württemberg gehen Tausende auf die Straßen, wieder unangemeldet. Auch in Lahr. Obwohl das Mädchen die Vergewaltigung nur erfunden hatte. Und auf einmal war Elena Romme ein Teil dieser Bewegung, ohne es zu wollen. Russlanddeutsche, das war nun der Generalverdacht, seien aus Moskau gesteuerte Flüchtlingshasser. Romme empört sich: Sie, die 1991 mit 27 Verwandten nach Lahr kam, um endlich wieder in der Heimat ihrer Urgroßmutter zu leben, da sie als

Elena Romme sortiert Würste in ihrem MiniMarkt, dem russischen Herzen Lahrs.

Deutsche in der Sowjetunion nie wirklich akzeptiert waren – sie also sollte Flüchtlinge hassen? In Kasachstan sei ihre Familie beschimpft und diskriminiert worden, sie habe ihren christlichen Glauben im Versteckten ausleben müssen. Deutschland, das war ein verheißungsvolles Land, ein Land, in dem sie und ihre Kinder endlich akzeptiert werden würden. So hoffte sie. Als Deutsche in Deutschland. Anders als Elena Romme ist Olga Osipenko stolz auf die Menschen, die an jenem Januartag auf die Straße gingen. Die Enkelin einer Wolgadeutschen kam im August 1994 nach Lahr, zusammen mit ihren Eltern und ihrem einjährigen Sohn. Damals war sie 19 und wurde sehr schwer heimisch in ihrer neuen Heimat. Das verbindet sie mit Romme und den meisten anderen. Die Angst vor den Russen ging damals um, Olga Osipenko war nicht willkommen. Sie sprach kaum Deutsch, war alleinerziehend, Sozialhilfeempfängerin, Bewohnerin von spärlich eingerichteten 45 Quadratmetern, bezahlt vom Staat. Heute sitzt Osipenko hinter ihrem großen Schreibtisch und wedelt mit ihrem alten Tastenhandy durch die Luft. Sie fragt empört, wieso die Flüchtlinge alle ein iPhone besäßen. Als sie in Deutschland ankam, hatte sie nur einen kleinen Koffer dabei. 1998 kaufte sie einen Lastwagen, wollte eine Spedition gründen und ging daran fast bankrott. Nur dank dem

Ersparten ihrer Eltern konnte sie gerade noch ihre kleine Firma retten. Mit Erfolg: Heute besitzt sie zwei luxuriöse Häuser und eine Wohnung in Lahr. Sie ist Anfang Vierzig und will bald in den Ruhestand gehen, das Leben genießen. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen hätten sie damals nichts geschenkt bekommen, behauptet Osipenko, auch keine fertigen Wohnungen, alles mussten sie sich selbst einrichten, auf eigene Kosten renovieren. Auf ihrem Weg zur Arbeit fährt sie täglich an den Containerunterkünften der Flüchtlinge am Flugplatz vorbei. Wohnungen kann man das nicht nennen. Neben einem Nachtclub, dessen Türsteher selten einen Syrer hereinlässt, glänzen die weißen, zweistöckigen Containerreihen in der Wintersonne. Osipenko fährt jetzt immer einen Umweg, der Sicherheit wegen, einem „komischen Gefühl“ folgend. Sie hat sich und ihren Mitarbeitern Pfefferspray gekauft, Menschenansammlungen meidet sie, beim Einkaufen kommt nun immer ihre alte Mutter mit. Sie passt auf, dass kein Flüchtling ihrer Tochter etwas aus der Handtasche stiehlt. Bei den Russlanddeutschen kursieren düstere Geschichten über Belästigungen, Diebstähle, Angriffe auf Polizisten. Fast jeder kennt jemanden, dem etwas passiert sei, nur persönlich war man eben noch nicht betroffen, ja hatte meist noch nicht einmal Kontakt zu Geflüchteten. Die

Spätaussiedler sagen, die Straßen werden schmutziger. Und es gehe ja auch um die Kinder, die Mädchen, dagegen müsse man sich doch wehren. Russische Männer seien sehr wehrhaft. Im Gegensatz zu den Deutschen. Und man fragt sich verwundert, wieso die Deutschen denn nicht mit protestiert hätten an jenem Januartag, gegen die Flüchtlinge. Flüchtlinge wie die junge syrische Familie in dem Zimmer einer Unterkunft am Ortsrand von Lahr. Sie lebt auf spärlich eingerichteten 20 Quadratmetern mit Tisch, drei Stühlen, drei Betten. Der Vater sagt, er sei „very happy“, nicht mehr in der Turnhalle hausen zu müssen. Der Fernseher säuselt im Hintergrund, es laufen arabische Trickfilme, das Neugeborene schläft in den Armen der Mutter. Durch die geschlossene Türe hört man Schritte und das Rasseln eines Schlüsselbunds näherkommen. Es ist Silvia Abbes, energisch, braun gebrannt, Kettenraucherin. Seit Anfang der Neunziger arbeitet sie als Sozialarbeiterin in der Region. Früher war sie dafür zuständig, dass die Aussiedler ankommen, heute kümmert sie sich um Flüchtlinge aus Syrien, Gambia und dem Irak. Der wichtigste Unterschied zwischen damals und heute sei, dass früher täglich Busse mit neuen Menschen ankamen. Heute kommen die Busse nur einmal die Woche.


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lang traten die Spätaussiedler politisch nicht in Erscheinung, dann gehen sie ausgerechnet wegen der Flüchtlinge auf die Straße, heißt es. Und wenn sie bei Wahlen etwas zu entscheiden hätten, dann blieben sie abstinent. „Kann man denn von den Spätaussiedlern erwarten, dass sie nach zwanzig Jahren akzentfrei Badisch sprechen und Saure Leber mögen?“, fragt Oberbürgermeister Wolfgang Müller von der SPD und gibt damit schon eine Antwort. Die Russlanddeutschen seien ein Glücksfall gewesen für Lahr, das hat er damals gesagt, dazu stehe er noch heute. Wenn er über den Stand der Integration in seiner Stadt spricht, sagt er oft, es herrsche „versöhnte Verschiedenheit“. Man könnte auch sagen: Die Russlanddeutschen haben eine Parallelgesellschaft entwickelt.

In der Ringergemeinschaft Lahr trainieren fast ausschließlich Kinder von Spätaussiedlern. Bei ihnen ist Ringen noch immer populär.

Was dem Bürgermeister zu denken gibt: Sie glauben russischen Medien mehr als deutschen. Abbes hat einen strengen Blick und ein großes Herz. Wer keinen Ärger macht, respektvoll gegenüber anderen ist und ordentlich, den holt sie hierher, in das ehemalige Altenheim. Aber wehe einer versagt bei der Mülltrennung. Dann zerreißt sie schon mal einen vollen gelben Sack vor den Augen der Täter, so dass der falsch sortierte Müll auf den Boden scheppert. Danach, da ist sie sich sicher, mischt niemand mehr das verschimmelte Toastbrot unter das Plastik. Abbes kennt den Neid, den der Sozialstaat hervorrufen kann. „Damals hieß es, nur weil die mal einen Deutschen Schäferhund hatten, dürfen sie jetzt hierher.“ Wie sie es nur bei denen aushalten könne, wurde sie gefragt, bei denen die alle umsonst Häuser gebaut bekommen. Das stimmte natürlich nicht. Deshalb versteht sie die Abneigung der Spätaussiedler gegenüber den Neuankömmlingen auch nicht. Die Russlanddeutschen hätten das Sozialsystem damals genauso in Anspruch genommen wie die Flüchtlinge heute. Und in den Neunzigern gab es viel Wohnraum – heute sei er knapp.

In Lahr heißt es, man könne die Häuser der Russlanddeutschen an der Ausrichtung der Satellitenschüsseln erkennen. Ihre Kirchen an den dicken Schlitten, die auf den vollen Parkplätzen davor parken. Und ihre Kinder an den kurzen Hotpants (die Mädchen) und labbrigen Jogginghosen mit drei Streifen drauf (die Jungs). Zwar leben heute viele nicht mehr in den Kasernen am Kanadaring, dem „Klein-Kasachstan“ der Neunziger, doch die Kirchen der Russlanddeutschen sind tatsächlich voll und in den Ringer- und Turnvereinen der Stadt messen sich heute fast ausschließlich Spätaussiedlerkinder, während weißhaarige Deutsche nebenan stumm beim Bier in der Kneipe des Tennisvereins sitzen. Die Firmen der Russlanddeutschen florieren, schaffen Arbeitsplätze, vor allem für Russlanddeutsche und andere Migranten. In Lahr betont man bei jeder Gelegenheit, wie gut sich Russlanddeutsche und Ur-Lahrer verstehen. Trotzdem lebt jeder in seiner eigenen Welt, Berührungspunkte gibt es wenige.

Auch in der Politik. Es ist Ende Februar, kurz vor den Landtagswahlen. Die CDU baut einen Stand im Mini-Markt auf, Rommes kleinem Zarenreich. Drei Parteimitglieder stehen um den schmucklosen Tisch herum, darauf liegen Broschüren und Süßigkeiten in CDU-orangener Verpackung. Der Laden ist voll, der Stand kaum besucht. Die geschäftige Elena Romme versucht ihr Bestes, während der Arbeit ihre Landsleute an den Tisch zu lotsen. Seit ein paar Jahren ist sie in der CDU, sie wurde in den Ortschaftsrat gewählt, ein Stadtteilparlament. Die Wahlbeteiligung unter den Spätaussiedlern ist traditionell niedrig. Deshalb will sie mit gutem Beispiel voranschreiten, sie will ihre Landsleute davon überzeugen, wie wichtig eine lebendige Demokratie ist. Bis heute sitzt kein Russlanddeutscher im übergeordneten Gemeinderat. Wenn sich gelungene Integration an politischer Teilhabe misst, dann hat Lahr noch viel vor sich. Das sorgt für Unmut, auch unter Ur-Lahrern. Mehr als zwei Jahrzehnte

Lahr ist umrahmt von wirtschaftlich starken Regionen auf beiden Seiten des Rheins, es gibt genügend Arbeitsplätze, dadurch haben sich die Russlanddeutschen schnell auf eigene Beine gehievt. Natürlich gab es früher ein Problem mit der Kriminalität. Ladendiebstähle und Gewaltdelikte häuften sich, als die Spätaussiedler kamen. In der Stadt wurde daraufhin die Polizeipräsenz erhöht, russischsprachige Streetworker wurden eingestellt. Irgendwann hat man es in den Griff bekommen, heute ist Lahr so gefährlich, wie eine badische Kleinstadt eben gefährlich sein kann. Der Oberbürgermeister hat nichts dagegen, wenn die Spätaussiedler eher unter sich

bleiben. Aber ihm gibt zu denken, dass sie den russischen Medien mehr Glauben schenken als den Deutschen. Dieses Mal ist die Demonstration angemeldet. An dem Sonntag Anfang März überziehen Hagelkörner die Dächer der Lahrer Altstadt mit einer groben weißen Patina. Auf dem Rathausplatz bauen Spätaussiedler ein Podium und Lautsprecher auf. Heute soll es geordneter zugehen, 400 Teilnehmer werden erwartet. Veranstalter ist die Partei „Die Einheit“, eine Partei von und für Spätaussiedler. Sie wünscht sich mehr Polizei, weniger Sexualkundeunterricht in den Schulen und dass auch Kinder unter 14 Jahren vor Gericht gestellt werden können. Aber die Partei hat nicht mit Elena Romme gerechnet. In den Tagen vor der Demonstration ist sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt gezogen. Sie hat Plakate überklebt, die für die Demonstration werben. Sie ist eine Vertrauensperson, wenn andere Russlanddeutsche sie fragten „sollen wir hin oder nicht?“, sagte sie: Nein. Zu jedem Einzelnen. Wer sich zeigen will, seine Meinung vertreten will, der solle zur Wahl gehen, eine der etablierten Parteien wählen. Eine, die für alle Deutschen eintritt. Es sind nur knapp dreißig Spätaussiedler, die am Ende zum Podium auf dem Rathausplatz kommen. Ein versprengtes Grüppchen, von Polizisten in drei Kastenwägen erwartet. Die Beamten rücken gleich wieder ab und einige Dutzend Ur-Lahrer beobachten erleichtert die mickrige Versammlung, auf der ein ungeübter Redner seinen Text vorholpert. Auch Elena Romme ist zufrieden mit ihren Landsleuten. Sie hat in einer emotional aufgeladenen Zeit versucht, mit Argumenten zu überzeugen. Es scheint, als sei es ihr geglückt. In einer Stadt, die heute vor ähnlichen Problemen steht wie in den Neunzigern. Und die das damals überraschend gut gemeistert hat.

T I M O N I C O L A S und L O U I S A B O E S Z O E R M E N Y hatten sich nur zufällig bei einer russlanddeutschen Familie eingemietet. Als die Gastgeberin erfuhr, dass sie Journalisten sind, wurden sie auf Kaffee, Kuchen, Käse, Bier und Pizza eingeladen. Dass die Presse zu Besuch ist, passiere ja nur einmal im Leben. Eine Ehre sei das für sie – auch wenn deutsche Medien natürlich viel mehr lügen würden als die russischen. t i m o . n i c o l a s @ p o s t e o . d e // i n s t a x @ m a i l . d e

Die Journalistenschule in der Hauptstadt Kompaktkurse 2016 nur noch wenige freie Plätze Die Evangelische Journalistenschule (EJS) vermittelt in vierwöchigen Kompaktkursen für Volontärinnen und Volontäre aus Redaktionen, Agenturen und Pressestellen solides journalistisches Handwerk und legt die Grundlagen zum crossmedialen Arbeiten. · Recherchetraining · Online-Recherche · Grundlagen der Fotografie · Reportage · Nachricht, Bericht, Kleintexte, Stilkritik · Kommentar/Glosse · Kulturjournalismus · Presserecht · Interviewtraining vor der Kamera · Arbeiten als Freie Unsere Dozentinnen und Dozenten sind erfahrene Praktiker und arbeiten für angesehene Medien (Die Zeit, Der Spiegel, Evangelischer Pressedienst, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, taz - die tageszeitung, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg etc.) In den Seminarablauf sind Besuche bei der Bundespressekonferenz, dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und ein Theaterbesuch integriert. Die Seminarräume sind modern, verfügen über neueste Technik und liegen zentral in der Hauptstadt am Bahnhof Zoologischer Garten. Ein TV- und Hörfunkstudio ist vorhanden. TERMINE FÜR KOMPAKTKURSE 2016: Volontärkurs II: 30.05. bis 24.06. Volontärkurs III: 05. 09. bis 30.09. Volontärkurs IV: 31.10. bis 25.11. Gebühr jeweils 1.600 Euro (inklusive Seminarunterlagen, Bewirtung und ausgewählte Tages- und Wochenzeitungen). Teilnehmer maximal 14. Für unsere Kompaktkurse können wir die Anerkennung als Bildungsurlaub beantragen. Es besteht die Möglichkeit, die Kursgebühr mit einem Bildungsscheck zu bezahlen. Wir vermitteln Ihnen gerne Unterkünfte. Bei Interesse melden Sie sich bitte bei Sabine Seidel, Tel.: 030/31001-1217 sseidel@ev-journalistenschule.de


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Ein Stück Brot, etwas Gemüse – mehr können sich syrische Flüchtlinge im Libanon nicht leisten. Umgerechnet 70 Cent UN-Lebensmittelhilfe pro Tag müssen reichen, um satt zu werden. Viele Geflüchtete sind mangelernährt. Sogenannte „Community Kitchens“ versuchen, zumindest den Hunger einiger Flüchtlinge zu stillen. Das Projekt organisiert der Internationale Christlich-Orthodoxe Verband I O CC . Das Ziel: leere Mägen füllen und den Köchinnen eine berufliche Perspektive bieten. Eine Reportage in Bildern.

L I EFER H EL D EN TEXT CHARLOT TE SCHULZE

F O T O S E VA L U I S E H O P P E

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„W I R S I N D W I E S C H W E S T E R N “ , sagt

Angel Kendian, eine der acht Köchinnen. Religion und Herkunft spielen keine Rolle – hier arbeiten Christinnen mit Muslimas, Libanesinnen mit Syrerinnen zusammen. Mit einem Topf Linsensuppe können sie fünf Mägen füllen – und das ist alles, was zählt, sagt Kendian.


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O R A N G E N gehören einmal pro

Woche zum Lunchpaket. Den Speiseplan, eine Mischung aus syrischen und libanesischen Rezepten, stellen die Frauen selbst zusammen. Unterstützt werden sie dabei von Ernährungswissenschaftlern der American University of Beirut. Wenn der Arbeitstag der Köchinnen am Mittag endet, laden die Lieferanten die Mahlzeiten in das Auto und transportieren sie zu den Familien. Im Juni 2016 läuft die Finanzierung des Projekts aus – danach müssen die Frauen alleine klarkommen.

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D I E H E L F E N D E N werden meist

schon an der Haustür erwartet. Ein kurzes Hallo, ein dankbares Lächeln von den Empfängern, wenn sie das Essen entgegennehmen. Dann geht es zur nächsten Familie. Durch insgesamt vier Gemeinschaftsküchen in Tripoli und der Bekaa-Ebene erreicht die Organisation wöchentlich rund 3.000 Menschen. Besonders Kinder, Schwangere und Kranke sollen vor Mangelernährung geschützt werden. Sie werden bevorzugt beliefert.


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MIT MAN N UN D BEIDEN KINDERN

DIE JUNGE M U T T E R Alia H.,

deren richtiger Name hier nicht genannt wird, und ihre Familie bekommen mehrmals wöchentlich Mahlzeiten geliefert. Vor vier Jahren beschlossen sie und ihr Ehemann, die Heimat Syrien zu verlassen – ihr Mann sollte als Soldat in den Krieg ziehen, er aber wollte leben. Er floh allein in den Libanon, Alia H. folgte ihm schließlich einige Monate später.

D E R P L AT Z D E R KO C H N I S C H E reicht gerade

dafür aus, dass Alia H. Tee kochen und das Essen aufwärmen kann. Die junge Frau hofft, dass sie bald nach Hause zurückkehren können, sie wieder eine Küche und getrennte Schlafzimmer haben. Und vor allem: Fenster, die Sonnenlicht hereinlassen.

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Auf der Suche nach Libanons bester Falafel irrten C H A R L O T T E S C H U L Z E und E V A L U I S E H O P P E durch die Straßen Beiruts und mussten feststellen: Nicht jeder, der einem den Weg zeigt, kennt auch das Ziel. Nach einer Stunde standen sie schließlich vor zwei Imbissen mit demselben Namen. Ob sie sich für den richtigen entschieden haben? Zumindest war es die beste Falafel, die beide bis dato gegessen hatten. l o t t a . s c h u l z e @ g m a i l . c o m // e v a l h o p p e @ g m a i l . c o m

wohnt Alia H. in einem Vorort von Tripoli in einem Kellerraum ohne Fenster. In Syrien lebte sie mit ihrem Mann in dem großen Haus ihrer Schwiegereltern. Jetzt müssen sie sich zu viert ein kleines Zimmer teilen, in dem sie schlafen, essen und mit den Kindern spielen.

Diese Reise wurde ermöglicht durch Unterstützung der Diakonie Katastrophenhilfe.


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I N TO T H E WA L D Der Survivaltrend ist zurück. Was aber ist so faszinierend daran, ohne Not in Kälte und Dreck ums Überleben zu kämpfen? Ein Selbstversuch. TEXT FLOR IAN ZIMMER-A MR HEIN FOTOS MIR IA M KLINGL

Im dritten Stadium der Unterkühlung, kurz bevor man erfriert, wird man verrückt. Man fühlt sich plötzlich warm und leicht. Spätestens dann ist man verloren. Wie lange habe ich jetzt noch, bis mich die Kälte in den Wahnsinn treibt? 30 Minuten vielleicht oder eine Stunde? Es ist drei Uhr nachts, eine Februarnacht in einem Waldstück am Rande von Haustadt im Saarland. Ich liege zitternd in einer Laubhöhle, draußen sind es minus sechs Grad. Einige Stunden muss ich geschlafen haben, dann bin ich aufgewacht, weil die Kniegelenke schmerzen. Die Beine sind so starr von der Kälte, dass es mir schwerfällt, mich zu bewegen. Die Hände spüre ich überhaupt nicht mehr, ab den Knöcheln sind meine Arme zwei eisige Stümpfe. Wenn ich jetzt wieder einschlafe, werde ich vielleicht nicht mehr aufwachen. Der erste und

wichtigste Survival-Grundsatz lautet: Bleibe planungs- und handlungsfähig. Also los: Zeit für den Hampelmann. Durch das enge Eingangsloch meines Unterschlupfs robbe ich hinaus ins Freie und beginne sofort, auf und ab zu hüpfen. Meine Arme schwinge ich hoch über den Kopf und wieder runter. Erst jetzt nehme ich die Umgebung deutlicher wahr: den sternenklaren Himmel, den strahlend weißen Vollmond, den hartgefrorenen Boden. Ich kann weit hineinblicken in den Wald und hinunter ins Tal auf die mit Raureif überzogenen Felder und die ersten Häuser von Haustadt. Es wäre jetzt ein Leichtes, den Wald zu verlassen und in mein Auto zu steigen, das nur wenige hundert Meter entfernt am Dorfrand parkt. Kaum zehn Minuten müsste ich fahren, dann könnte ich mich in einer Pension


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D u m m : Barfuß Feuerholz sammeln. C l eve r : Den Regenponcho als Tasche nutzen.

unter die Dusche stellen. Heiß duschen, das wäre jetzt ein absoluter Traum – und ein Albtraum: Mein Vorhaben wäre kapital gescheitert. Ich hätte versagt. Ich unterziehe mich einem Winter-Survivaltraining. Das Ziel: Im Wald bei Minusgraden überleben, mit möglichst wenig Ausrüstung. Zwischendurch muss ich mich immer wieder daran erinnern, warum ich das eigentlich mache: Ich trainiere für den Krisenfall. Euro, Ukraine, Flüchtlinge, Klimawandel, Terror: Die Bedrohungslage, so suggeriert die tägliche Nachrichtenflut, ist so groß wie lange nicht. Der totale Finanzcrash oder ein Terroranschlag ungeahnten Ausmaßes, wochenlange Stromausfälle, leere Supermärkte und Bürgerkrieg – auch hierzulande. Im Internet versammeln sich immer mehr sogenannte „Prepper“ (aus dem Englischen: „prepare“ – „vorbereiten“), die an ein solches Endzeitszenario glauben und entsprechend vorsorgen. Wie man sich am besten für den Untergang der Gesellschaft präpariert, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen horten Vorräte wie

die Großeltern zu Kriegszeiten, tauschen ihre Bausparverträge gegen Goldreserven ein und bauen sich Schutzbunker in den Garten. Andere trainieren das Überleben in der Wildnis. Vom Manager bis zur Hausfrau treibt es an den Wochenenden Menschen aller Altersklassen und Milieus aus den Städten in die Natur, wo sie sich allein oder in Gruppen in Survival-Situationen testen. Auf Youtube tummeln sich selbsternannte Survival-Experten, die in kurzen Amateurvideos ihre Überlebenstechniken vorführen. Es ist ein wenig wie damals in den Achtzigerjahren. In den Wirren des Kalten Kriegs – zwischen Nato-Doppelbeschluss, Waldsterben und Tschernobyl – wappneten sich schon einmal tausende Deutsche in Survival-Kursen gegen den drohenden Super-GAU. Und auch wenn der Atomkrieg damals ausblieb: Auf Krisen vorbereitet zu sein, hat noch niemandem geschadet, denke ich – und mache mich auf in den Wald. Mein Training dauert zwei Tage und Nächte. Die erste Hälfte verbringe ich unter Anleitung eines Trainers, danach bin ich auf mich selbst gestellt. Um es wie John Rambo zu machen – halbnackt und ohne Equipment – fehlen mir Erfahrung, Fitness und wohl auch der Mut. Also habe ich dabei: ein Messer, eine Taschenlampe, eine Mütze, Skiunterwäsche, regenfeste Kleidung, eine Trinkflasche, einen Becher, einen Stoffbeutel, Arbeitshandschuhe, einen Feuerstahl und eine Rettungsdecke. Ankunft frühmorgens im „Saarvival-Camp“ von Peter Nietz, 35 Jahre alt, von Beruf Softwareentwickler und Wildnistrainer. Seiner Familie gehört das Waldstück, in dem ich das Überleben üben werde. An den Wochenenden betreibt Nietz hier eine Survivalschule. Sie besteht aus einer Feuerstelle, einem Unterstand und – als Zugeständnis an die Bedürfnisse dekadenter Großstädter – einem Plumpsklo. „Schon als Kind war der Wald mein Spielplatz“, sagt Nietz, „und er ist es bis heute geblieben.“ Nach dem Abitur geht er zur Bundeswehr und lässt sich zum Fallschirmjäger und Sanitäter ausbilden. Er trainiert frenetisch Kampfsport und reist dafür bis nach Japan. Die Lust an Extremerfahrungen: Sie prägt Peter Nietz‘ bisheriges Leben. Mehrere Jahre lang lässt er sich in den Überlebenstechniken der indigenen Völker Nordamerikas unterrichten. „Ich bin aber kein Indianer, sondern Saarländer“, sagt er. Wahrscheinlich könnte Nietz in den meisten Winkeln der Welt nackt mit einem Messer überleben. Viel spannender findet er es aber, sich daheim auszukennen, im mitteleuropäischen Mischwald. Am Lagerfeuer erklärt mir Nietz die erste und wichtigste Lektion des Survivals. Zum Überleben braucht man: Unterkunft, Wasser, Feuer und Nahrung. In dieser Reihenfolge, nicht anders. „Sacred Order“ – die Heilige Ordnung – so nennen das die Indianer. Weil ich innerhalb von drei Stunden

erfrieren oder überhitzen kann, aber drei Tage ohne Wasser und drei Wochen ohne Nahrung überleben kann, muss ich zuallererst einen Unterschlupf bauen, der mich vor Kälte und Hitze schützt. Erst danach soll ich mich aufmachen, um Wasser zu suchen. Drittens ist Feuer unerlässlich, als Wärme- und Lichtquelle bei Nacht und um das gesammelte Wasser abzukochen. Wenn all diese Punkte abgearbeitet sind, kann, viertens, die Suche nach Essbarem beginnen. Für Nahrung wurde in meinem Fall bereits gesorgt – und zwar reichlich. Zum Frühstück gibt es frische Brötchen, Erdnussbutter, Marmelade und Salami, dazu Obst, Eier und eine Kanne Tee. Ich bin enttäuscht: Survivaltraining hatte ich mir spartanischer vorgestellt. Ich war darauf eingestellt, lebende Insekten herunterzuwürgen und brackiges Wasser aus Pfützen zu trinken. Alles Quatsch, sagt Nietz. Besonders das Trinken aus Pfützen sei ein Survival-Mythos, mit dem er gerne aufräumen möchte. Im Notfall sei es lebenswichtig, das Wasser vorher zu entkeimen. Der Durchfall, der einem sonst blüht, trockne den Körper nur noch schneller aus. Nietz verpasst meinen Erwartungen gleich den nächsten Dämpfer: Die Laubhütte, in der ich schlafen soll, steht bereits. Sie wurde von Teilnehmern eines früheren Kurses errichtet. Um eine solche Hütte allein zu bauen, bräuchte ich sechs Stunden, meint

Nietz. Und die habe ich nicht. Mit Pech hätte ich bei Einbruch der Dunkelheit weder einen fertigen Unterschlupf, noch genügend Feuerholz und Wasser gesammelt. Ich lerne: Überleben ist etwas für Pragmatiker – und tröste mich damit, dass ich mich zumindest um Wasser und Feuer selbst kümmern muss. Durch das kniehohe Eingangsloch krieche ich mit den Füßen voraus ins Innere der Hütte. In der Nacht, erklärt Nietz, müsse die Hütte komplett mit Laub verschlossen werden. Das ist ein Problem, denn wenn ich mich mit meinen 1,92 Meter strecke, schaut mein Kopf aus dem Eingangsloch heraus. Ich baue also einen kleinen Vorbau aus Ästen vor den Eingang. Dann kommt die eigentliche Arbeit. Die Hütte muss mit einer halben Meter dicken Laubschicht bedeckt sein, sonst regnet und windet es herein. Obwohl das Laub im Wald bekanntlich überall herumliegt, brauche ich fast zwei Stunden, bis ich annähernd genug zusammen habe – soviel, dass ich locker einen Kleinbus damit füllen könnte. Danach bin ich dreckig, verschwitzt – und vor allem durstig. Eine Wasserquelle zu finden, ist im bergigen Saarland nicht schwer, erklärt Nietz. Wasser läuft von oben nach unten und sucht sich den Weg des geringsten Widerstandes. Das Camp liegt an den Ausläufen eines bewaldeten Hügels. Schon vom Tal aus war mir eine Schneise mit einem kleinen Flussbett aufgefallen. Mit unseren Wasserflaschen laufen wir also tiefer in den Wald hinein, hangaufwärts

E n g : Nachts wird

der Höhleneingang mit Laub verschlossen. Nichts für Menschen mit Platzangst.


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in Richtung der Schneise. Es ist mittlerweile Mittag geworden, die Sonne scheint, es ist trocken und angenehme sechs Grad warm. Als wir auf den Bach und weiter bergauf auf die Quelle stoßen, die als winziges Rinnsal aus dem sandigen Boden sickert, bin ich ratlos. Wie bitteschön soll ich das Quellwasser jetzt in meine Flasche abfüllen? „Ein schlauer Affe benutzt ein Werkzeug“, rät Nietz. Er stellt sich breitbeinig über den Quell und baut mit den Händen einen kleinen Staudamm aus Sand. Dann greift er ein Stück Holz und steckt es in den Staudamm. Das Wasser fließt an dem Stock entlang, Nietz muss nur noch seine Flasche darunter halten wie unter einen Wasserhahn. Sieht einfach aus, ist aber schwierig. Während das Wasser in Nietz‘ Flasche kristallklar ist, ist meine am Ende zu einem Drittel mit Schlamm gefüllt. Es sind Momente wie diese, die mir vor Augen führen, wie hilflos ich hier draußen bin. „Wir sind alle fette Hauskatzen geworden“, so beschreibt Nietz das Problem. Dass sich aktuell so viele Menschen für Survival interessieren, versteht er weniger als Symptom politischer Krisen, sondern als Ausdruck einer tiefen menschlichen Sehnsucht, aus dem Hauskatzendasein auszubrechen und in der Natur wieder zu sich selbst zu finden. „Wenn man zwei Tage lang alle existentiellen Grundbedürfnisse im Wald erledigt hat, gehen die meisten sehr geerdet wieder nach Hause“, sagt er. Survival also als radikales Gegenprogramm zum Berufsalltag in einer immer komplexeren, schnelllebigeren Welt. In Nietz‘ Kursen geht es deshalb auch nicht um harte Drills wie beim Militär. Er möchte mich für den Wald begeistern und behutsam an das Leben in der freien Natur heranführen. „Erweiterung der Komfortzone“ nennt er das. G e m ü t l i c h : Ein Regenponcho, eine Rettungsdecke, dazwischen eine Schicht Laub: Fertig ist der Notfall-Schlafsack.

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Doch längst nicht alle Survival-Fans zieht es nur wegen der friedlichen Naturidylle in den Wald. Besonders in den Facebook-Gruppen und Foren der Prepper wimmelt es nur so vor Verschwörungstheoretikern, Waffennarren und Rechtsradikalen, die gegen „den Staat“, „das System“ und „die Gutmenschen“ wettern und mitunter offen zur Gewalt an „schmarotzenden Wirtschaftsflüchtlingen“ aufrufen. Für diese gruselige Meute ist das Training im Wald kein Freizeitspaß, sondern bitterer Ernst. Bevor wir ins Camp zurückkehren, bittet mich Nietz, die Schuhe auszuziehen und mir die Augen zu verbinden. Dann führt er mich an der Hand noch ein Stück tiefer in den Wald hinein. Unsicher taste ich mich auf Zehenspitzen vorwärts, achte auf jedes Geräusch, höre die Bäume, wie sie im Wind ächzen und rauschen, höre das Rascheln des Waldbodens unter den nackten Füßen, das gleichmäßige Wummern in der Brust. Als mir Nietz nach zehn Minuten die Augenbinde abnimmt, scheinen meine Sinne um ein Vielfaches geschärft zu sein. Ich schaue wie durch ein Weitwinkelobjektiv und versuche, so viel wahrzunehmen wie irgend möglich. Unsere Augen seien geprägt durch das ständige Starren auf Bildschirme, erklärt Nietz. Im Wald wiederum sei das periphere Sehen wichtig, der unfokussierte, umherschweifende Blick. Und tatsächlich: Nach einigen Minuten fallen mir selbst kleinste Bewegungen von Vögeln in den Bäumen auf. Ich verspüre ein tiefes Glück und den Drang, laut zu lachen. In diesem Moment bin ich mit Nietz‘ abgespeckter Version des Survivals versöhnt. All die Krisen – die persönlichen wie die globalen – sind weit weg. Berauscht von den neuen Eindrücken entscheide ich mich, meine Schuhe auf dem restlichen Rückweg zum Camp aus zu lassen. Es ist der Nachmittag des zweiten Tages. Nietz hatte zum Abschied demonstrativ das Feuer gelöscht und den Proviant mitgenommen. Für den Rest der Zeit muss ich alleine klarkommen. Wie am Vortag ziehe ich die Schuhe aus und breche auf, um Feuerholz zu sammeln. Schnell muss ich aber feststellen: Barfuß Feuerholz sammeln war eine furchtbar dumme Idee. Mehrmals rutsche ich aus und muss mein mühsam gesammeltes Holz wieder vom Boden klauben. Meine Fußsohlen bluten, ich bin in umherliegende Kastanien getreten. Durch meine nasse, schlammige Jeans zieht die Kälte unter meiner Jacke den Körper hoch. Von der romantischen Waldstimmung ist nichts mehr übrig. Die Sonne ist bereits hinter den gegenüberliegenden Hügeln verschwunden, als ich hastig damit beginne, das Lagerfeuer aufzubauen. Meine Hände zittern. Jetzt beim Feuer machen zu scheitern, würde bedeuten, frierend und durstig schlafen zu gehen. Nach mehreren Versuchen, mit dem Feuerstahl Funken zu schlagen, züngelt mir endlich die erlösende Flamme entgegen. Ich seufze erleichtert auf.

Stundenlang starre ich ins Feuer und lasse mich von den Flammen hypnotisieren. Ich koche das Quellwasser in meinem Stahlbecher ab und trinke es in kleinen Schlucken. Es schmeckt nach Erde und Asche. Als der letzte Holzscheit in die Glut gewandert ist, schnappe ich mir meine Taschenlampe und die Rettungsdecke. Meine Hütte liegt erleuchtet im bleichen Lichts des Vollmonds. Das Bett aus Laub ist weich, der leicht modrige Geruch wirkt angenehm beruhigend. Irgendwo im Dach raschelt eine Maus, aus der Ferne ist das heisere Bellen eines Fuchses zu hören. Mit diesen Geräuschen im Ohr schlafe ich ein – bis die Kälte mich weckt.

Nach zwei Tagen im Wald und besonders der letzten Nacht, in der ich halb erfroren bin, schlurfe ich zurück in die Zivilisation – und bin heilfroh, dass der Weg nicht weit ist. Im Auto übermannt mich mein eigener Gestank: ein übles Gemisch aus Schweiß, Feuer und Moder. Hat das Training meine Überlebenschancen im Ernstfall erhöht? Ich werde es hoffentlich nie herausfinden. Was ich aber herausgefunden habe: Der Wald erdet einen Stadtmenschen wie mich – Typ Bürotier – erstaunlich schnell. Der Alltagsstress, die Krisenangst: Etwas ist doch in der Laubhütte erfroren.

F L O R I A N Z I M M E R - A M R H E I N und M I R I A M K L I N G L haben nicht nur die Wunder des Waldes kennengelernt, sondern auch die gastfreundlichsten Saarländer der Welt. An Hufabdrücken können sie jetzt das Alter von Rehen bestimmen, aus Ästen können sie tödliche Fallen und Spieße bauen – oder zur Not einfach nur einen Löffel. Die Zombie-Apokalypse kann kommen. f l o r i a n @ a d r h i n u m . d e // analoges.maedchen@googlemail.com

S t o l z : Ich habe Feuer gemacht. Das Wasser aus der Waldquelle muss abgekocht werden.


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SCHL ACHTEN, ABER SANFT In einer Fleischfabrik ersticht ein Arbeiter hunderte Schweine am Tag. Matthias Kürten tötet anders: behutsam und im Stall. Ein Schlachttermin. TEXT ANGELIKA FEY

D

FOTOS ALE X A NDER M A I

ie vier Schweine sind auf diesem Hof geboren und hier werden sie bald auch sterben. Mächtige Tiere sind es, jedes um die 100 Kilo schwer. Sie haben ein schwarzes, lockiges Fell, deshalb heißen sie Wollschweine. Archaisch wirken sie, fast wie Wildschweine. Für die vier Sauen beginnt dieser Tag wie jeder andere, nur eines ist neu: Sie sind im Stall eingesperrt und können nicht draußen im Matsch wühlen. Unruhig grunzen sie, schlagen mit dem Nacken gegen eine Metallwand. Sie haben Hunger. Am letzten Morgen ihres Lebens haben sie nichts mehr zu fressen bekommen. Die Wollschweine leben auf einem Hof am Ende einer schmalen Straße, die sich durch das Bergische Land in Nordrhein-Westfalen windet. Insgesamt sechs Höfe gibt es hier und knapp 30 Menschen. Still ist es, sehr still, nur die Vögel zwitschern. Oben auf der Bergkuppe hinter dem Hof erscheint ein weißer Lastwagen. Das ist Matthias Kürten. Er wird die Schweine schlachten. Kürten ist Metzger aus Wipperfürth, 38 Jahre alt. Sein Schlachthof steckt in einem Lastwagen, acht Meter lang, vier


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D I E S C H W E I N E H Ä L F T E N werden ins Kühlhaus auf dem Hof gefahren. Metzger Matthias Kürten passt auf,

dass der Traktor nicht gegen die Hauswand kracht.

Meter hoch. Der weiße Kasten ist als mobile Schlachtstätte zugelassen. Kürten ist groß und spricht einen rheinischen Dialekt. Seine Stimme ist sanft, er lächelt viel. Ein Metzger sei rau und brutal, besagt das Klischee. Aber Mara Frohn, die Chefin des Bauernhofs, sagt über ihn: „Er ist so gelassen.“ Der Metzger und die Bäuerin gehen zum Stall. Er trägt sein Stromgerät und ein Messer. Sie trägt eine Aluschale und einen Plastikeimer für das Blut. Die Schweine werden in Etappen sterben. Die ersten beiden Kandidaten warten in einer sechs Quadratmeter großen Bucht. Die anderen Sauen, in der Bucht daneben, leben zwei Stunden länger.

Auch nach 22 Jahren als Metzger hat er einen Kloß im Hals, wenn er einem Tier das Leben nimmt. Für Kürten ist Schlachten der unangenehme Teil seiner Arbeit. Das Verarbeiten des toten Schweins zu Wurst und Schnitzel macht ihm Spaß, er liebt die Handarbeit. Aber noch immer, auch nach 22 Jahren als Metzger, hat er einen Kloß im Hals, wenn er einem Tier das Leben nimmt. „Totmachen“ nennt er das, nicht „Töten“. Der Unterschied ist ihm wichtig. „Töten“ könne man nur einen Menschen. Wenn man dagegen ein Schwein schlachte, um es zu essen, dann sei das „Totmachen“. Wie viele Tiere er schon

totgemacht hat, will Kürten nicht sagen. „Ich mag es auch nicht, wenn ein Jäger seine Trophäen aufhängt.“ Würde er eine Zahl nennen, käme ihm das vor, als würde er sich mit dem Tod der Tiere brüsten. Kürten sprüht Flüssigkeit auf die Schweineköpfe. So leitet der Strom besser. Der Metzger steigt über die hüfthohe Wand zu den Tieren. Er umfasst eine große Zange, die ans Stromgerät angeschlossen ist. Noch laufen die Tiere um Kürtens Beine herum. Dann aber kippt die Besitzerin trockenes Brot in den Futtertrog und die Köpfe der Schweine senken sich. Kürten packt den Schädel einer Sau mit der Zange, drückt fest zu. Der Strom fließt. Die Sau bäumt sich auf und erstarrt. Einige Sekunden lang ist ihr Körper gestreckt. Kürten löst die Zange, die Sau sackt zusammen – sie ist betäubt. Das Bewusstsein des Schweins ist komplett ausgeschaltet, aber sein Körper scheint plötzlich umso lebendiger. Das Tier grunzt und stöhnt. Seine Beine fuchteln rhythmisch, als ob es über eine Wiese galoppieren würde. Das ist kein ästhetischer Tod wie in Filmen, sondern ein rohes Zappeln der Nerven. Schnell zieht Kürten das Messer und schneidet der Sau die Kehle durch, das Blut quillt ins Stroh. Mara Frohn reicht die Schüssel herüber, in ihr fängt Kürten das Blut auf. Mit einer Hand hält er das Vorderbein des Schweins, malt damit Kreise in die Luft und hebt so passend zum Pulsschlag den Brustkorb an, damit das Blut noch besser abfließt. „Jah, jah“, so spricht Kürten beruhigend auf die Sau ein, die ihn nicht mehr hört. Er krault das Schwein, das ihn nicht mehr spürt. Dann schlägt das Herz nicht mehr.

Das noch lebende Wollschwein steht in der Ecke und beobachtet, was passiert. Die Sau wirkt entspannt, nichts deutet für sie darauf hin, dass soeben etwas Bedrohliches geschehen ist. Kein Quieken, kein Warnlaut war zu hören. Das andere Schwein hat seinen Tod nicht kommen sehen. Es empfand, so wirkt es jedenfalls, keinen Stress und keine Schmerzen. Die ahnungslose Sau Nummer zwei folgt kurz darauf. Beide liegen sie nun nebeneinander, ihre aufgeschnittenen Kehlen dampfen in der Kälte. „Das sieht friedlich aus“, meint Mara Frohn. Sanfter könne ein Tier nicht sterben. Die Sauen wurden nicht verladen, mussten nicht in einen ihnen unbekannten Schlachthof. Auch das Leben der Schweine sei schön gewesen, vom Anfang bis zum Schluss, die ganzen eineinhalb Jahre – soweit das ein Mensch beurteilen kann. Die Muttersau habe ihre Ferkel unter freiem Himmel zur Welt gebracht. Nie seien die Ferkel von der Mutter getrennt worden. Im Sommer seien die Kleinen auf der Wiese herumgetapst. Ihr schlimmstes Erlebnis sei vermutlich ein Stromschlag am Elektrozaun gewesen. Als Kürten ein Junge war, hatten seine Eltern einen Bauernhof, ein paar Rinder und Schweine. Immer derselbe Mann kam auf den Hof und schlachtete dort die Tiere – ganz in Ruhe. Der Mann beeindruckte Kürten. Deshalb wollte er Metzger werden. Während der Ausbildung in einer kleinen Metzgerei in Bergisch-Gladbach hatte er wenig mit dem Schlachten zu tun, machte vor allem Wurst. Ab und zu holten sie Fleisch in einem größeren Schlachthof. Wie es dort zuging, erschreckte Kürten. Die Betäubungsmaschine funktionierte nicht richtig, deshalb musste sie bei den Tieren mehrmals angesetzt werden. Ein Arbeiter hatte einen Kasten Bier neben sich stehen. Er war schon mittags betrunken. Für Kürten war klar: Nach der Ausbildung wollte er nicht in solch einen Schlachthof. Er arbeitete in einem Hofladen.

Ein glückliches Schweineleben und ein stressfreier Tod sind in Deutschland selten geworden. Wie Tiere ohne Angst sterben, hat Kürten von dem alten Metzger gelernt, der früher bei ihnen auf den Hof kam. Der Mann war damals schon in Rente. Wenn Kürten im Hofladen Feierabend hatte, fuhren sie los. Der alte Metzger legte Wert darauf, dass alles ordentlich ablief. Kürten musste den toten Kühen die Beine mit einem feuchten Lappen sauber wienern, damit bloß kein Mistkrümel ins Fleisch fiel. Ein glückliches Schweineleben und ein stressfreier Tod sind in Deutschland selten geworden. Kleine Landwirte geben auf, die großen Fleischproduzenten dehnen sich aus. Das zeigt der „Fleischatlas 2016“, herausgegeben von einer den Grünen nahstehenden Stiftung und von den Naturschützern vom BUND. Nur wer in effektivere Abläufe investiert, kann sich auf dem Markt behaupten, denn deutsche Fleischkonzerne produzieren zunehmend für den Export. Ihre Konkurrenz, das ist die ganze Welt.

Auch Schlachthöfe und schlachtende Metzgereien gibt es in Deutschland nicht mehr so viele wie früher, die verbleibenden rund 5.000 Betriebe aber verarbeiten immer mehr Tiere. Das liegt vor allem an einer Hygiene-Verordnung der Europäischen Union, die seit sechs Jahren gilt. Sie schreibt vor, dass es getrennte Räume zum Schlachten und zum Zerlegen geben muss. Viele kleinere Schlachthöfe haben diese Räume nicht. Einige von ihnen gaben auf, andere machen seither nur noch Hausschlachtungen. Dann darf das Fleisch aber nicht verkauft, sondern nur von den Besitzern der Tiere gegessen werden. Kürten hat es anders gemacht, er hat Geld investiert. Eine halbe Million Euro. Er hat sich einen weißen Lastwagen gekauft und den Innenraum zum Schlachtraum ausgebaut. Bei Ebay hat er noch einen Anhänger ersteigert, und ihn in einen Zerlegewagen verwandelt, die notwendigen Geräte an die passende Stelle gesetzt: Fleischwolf, Verpackungsmaschine, Stopfmaschine. Kürten ist, nach Angaben von Experten in der Fleischbranche, der einzige mobile Metzger in Deutschland, der die EU-Zulassung hat. Zum weißen Lastwagen fährt Mara Frohn die toten Schweine mit einem Trecker. An den Zinken der Traktorschaufel baumeln die toten Körper. Frohn legt die Schweine neben dem Lastwagen ab. Der Innenraum liegt offen, wie eine Bühne. Heraus ragt ein elektrischer Hebekran. Mit ihm greift Kürten den Körper des ersten Schweins und hebt es in den Schlachtwagen. Die Sau plumpst in eine Wanne mit heißem Wasser. Darin wird sie gebrüht. Walzen schaben Haare, Dreck und die oberste Hautschicht ab. Am Ende ist das Tier blass-rosa, das dichte Fell ist verschwunden. Auf einem Tisch schneidet Kürten die Augen der Sau heraus und die Ohrmuscheln. Durch die Sehnen der Hinterbeine steckt Kürten große Haken. An ihnen zieht der Hebekran das Schwein empor. Es pendelt kopfüber in der Luft. Kürten schneidet das Tier auf. Aus der Brust fällt ein Pfropfen geronnenes Blut, das auf dem Boden wabbelt wie Pudding. Die Gedärme quellen heraus, ein Rest Kot fällt neben Kürtens Gummistiefel.

3 0 S E K U N D E N bis zum Tod. Das betäubte Schwein

blutet aus, bis sein Herz stoppt.


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Herz, Lunge, Milz und Leber wirft er in eine mit Wasser gefüllte Plastikwanne. Darin schwimmen die Organe wie rätselhafte Unterwasserpflanzen. Kürten duscht die Sau mit einem Schlauch ab, dann teilt er das Schwein mit einer Säge in zwei Hälften. „Jetzt ist es schon fast ein Braten“, sagt Mara Frohn. Sie putzt die Wanne, klaubt die schwarzen Haare von den Walzen, während Kürten das zweite Schwein zerlegt. Sie muss mithelfen, wie alle Kunden des mobilen Schlachters. Wer nur mit den Händen in den Taschen dasteht und schwatzt, muss sich einen anderen Metzger suchen. 80 Prozent der rund 250 Kunden seien „kleine Krauter“ wie Frohn, die ihre Tiere artgerecht halten. Wenn die Schweine bis zum Bauch im Mist stehen, kommt Kürten nicht wieder. „Manche Bauern sagen, ich sei hochnäsig, mehr Konkurrenz würde mir gut tun.“ Sein Service ist teurer. Im nächsten Schlachthof kostet das „Totmachen“ eines Schweins ungefähr 100 Euro, Kürten nimmt 150 Euro. Er arbeitet sechs Tage pro Woche, manchmal von morgens um sechs bis abends um zehn. Oft rufen andere Metzger an, wollen sich seinen Lastwagen und den Zerlege-Anhänger anschauen. Nachgemacht hat es Kürten aber noch keiner. Wieso hat er sich entschlossen, mobiler Metzger zu werden, als einziger in Deutschland? Eine Reihe von Zufällen, sagt er. Sein Mann Carsten habe ihn bestärkt. Mit Carsten ist Matthias Kürten seit zehn Jahren verheiratet. Über seinen Mann spricht er ganz selbstverständlich. Nicht alle Bauern im Bergischen Land finden diese Beziehung gut. „Rosettenstecher“ habe einer sie genannt. Aber viele würden gelassen reagieren und Kürten fragen: „Ach, was macht denn der Carsten?“ In eine andere Gegend ziehen wollten sie nie. Dafür gefalle es ihnen im Bergischen Land zu gut, sagt Kürten. Mit seinem Job als mobiler Metzger hat er etwas Neues gewagt. Ob er den Mut

Mara Frohn wischt sich die Tränen weg.

G L Ü C K L I C H E W O L L S C H W E I N E leben

auf Mara Frohns Hof.

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SUPPORT

IMPRESSUM EI N SI CH TEN 16 Magazin der Evangelischen Journalistenschule HER AUSGEBER Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten

MERLE ROSEN gestaltete das Magazin. Sie lebt und arbeitet als freie Art-Direktorin in Hamburg merle _rosen@ me.com

DR . S T E FA N WILLEKE Textchef, hauptberuflich Chefreporter, »Die Zeit« s t e f a n .w i l l e k e @ zeit.de

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DIREKTOR Jörg Bollmann P U B L IZIS T ISCH ER VO RS TA N D E JS Dr. Thomas Schiller LEITUNG EJS Oscar Tiefenthal (V.i.S.d.P) Evangelische Journalistenschule Jebensstraße 3 | 10623 Berlin otiefenthal@ev-journalistenschule.de CHEFREDAKTION Christian Engel CHEFS VOM DIENST Christina Özlem Geisler, Timo Nicolas STUDIENLEITUNG Christian Personn

S C H W E I N S I N A wurde gehäutet. Matthias Kürten und

Mara Frohn begutachten das Ergebnis.

dazu hatte, weil er schwul ist und im Bergischen Land ohnehin immer schon ein bisschen anders war als die anderen Männer? Das glaubt Kürten nicht. Bei Familie Frohn sind die zwei anderen Schweine fällig, noch warten sie im Stall. Als nächstes ist Sina an der Reihe, das Lieblingsschwein von Mara Frohns acht Jahre alter Tochter. Das Mädchen hat die Sau gebürstet und ist auf ihr geritten. Mara Frohn krault Sina noch einmal hinter den Ohren, da hat das Tier es besonders gern. Kürten legt die Zange an, die Besitzerin wendet sich ab. Als der Metzger sie bittet, ihm die Schüssel für das Blut zu reichen, hört sie ihn zuerst nicht. Mara Frohn wischt sich die Tränen weg. Auf diesem Hof kann keiner verleugnen, dass das Schnitzel auf dem Teller mal ein Tier war, mit einem eigenen Charakter und Lebenswillen. Mara Frohn und ihre Familie haben das Schwein selbst aufgezogen. Wenn das Tier geschlachtet wird, tut es auch den Menschen weh, die sich um das Schwein gekümmert haben. Mara Frohns Tochter hat den Schmerz akzeptiert und eine Lösung gefunden: Wenn das Schwein Sina schon sterben muss, dann will sie das Fell behalten.

A N G E L I K A F E Y ist seit 23 Jahren Vegetarierin, liebt Tiere und war überrascht, dass sie das Schlachten trotzdem nicht schlimm fand. Besonders spannend war es für sie, ein Schwein von innen zu sehen. A L E X A N D E R M A I isst gerne Fleisch und war froh, für eine Zeit dem Berliner Trend zum Veganismus zu entkommen. a n g e l i k a . f e y @ g m x . d e // f o t o @ a l e x a n d e r m a i . c o m

FRANK SC H U M AC H E R Abteilungsleiter Bildmedien beim Lette-Verein f.schumacher@ lette -verein.de

RUSSELL LIEBMAN freiberuflicher Fotograf, im Lette-Verein verantwortlich für »Fotoprojekte Essay« contact.x@ russell-liebman. com

CHRISTIAN PERSONN Studienleiter, arbeitet als Chefredakteur in Hamburg christian@ personn.com

TEX TCHEFS Tanja Stelzer, Dr. Stefan Willeke A R T- D I R E K T I O N Merle Rosen GRAFIK Maxim Lachmann REDAKTION Philipp Beng, Max Dinkelaker, Angelika Fey, Kristin Häfemeier, Florian Haenes, Philipp Mangold, Isabel Metzger, Martin Nejezchleba, Charlotte Schulze, Gesa Steeger, Christina zur Nedden, Florian Zimmer-Amrhein B I L D REDA K TI O N U N D BER AT U N G Russell Liebman, Frank Schumacher BILDBEARBEITUNG Christina Stivali

OSCAR TIEFENTHAL Herausgeber von »Einsichten 16«, als EJS-Schulleiter für Anzeigen und Vertrieb in diesem Magazin verantwortlich otiefenthal@ ev-journalistenschule.de

MAXIM L AC H M A N N unterstützte das Projekt als Grafikdesigner maxim.lachmann@ 16 b e l l s . o r g

FOTOS Hannah Aders, Anna Aicher, Louisa Boeszoermeny, Hannah Francke, Moritz Haase, Eva Luise Hoppe, Miriam Klingl, Neele Kilanowski, Alexander Mai, Marija Mihailova, Phuong Tran Minh, Costello Pilsner, Melanie Sapina, Nina Raasch, Dennis Zorn (Alle: Lette-Verein zu Berlin) ANZEIGENLEITUNG Oscar Tiefenthal SEK RE TA R I AT Dagmar Lopes, Sabine Seidel Bezug über Evangelische Journalistenschule Preis: 5,00 € plus Versandkosten Dagmar Lopes (dlopes@ev-journalistenschule.de) DRUCK UND VERARBEITUNG Möller Druck und Verlag GmbH Zeppelinstraße 6 | 16356 Ahrensfelde ISSN 1867-4135


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WENN ICH KÖNIG VON DEUTSCHL AND WÄR Für seine Untertanen ist er der Heilsbringer, für den Verfassungsschutz ein Spinner. Peter Fitzek regiert sein eigenes Königreich vor den Toren von Wittenberg. Ein Staatsbesuch. TEXT GESA STEEGER

FOTOS MOR I TZ H A ASE


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Wer in das Königreich hinein will, muss sich bei einem Grenzbeamten ausweisen. Sonst bleibt der Schlagbaum unten.

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er König fährt zu schnell. Sein blauer BMW rast mit 150 Stundenkilometer über die Landstraße nach Dessau. Draußen ziehen Industriebrachen, kahle Winterfelder und vergessene Kleinstädte vorbei. Die goldene Krone am Heck des Wagens strahlt in die Weite der Landschaft. König Peter ist in Eile. Im Amtsgericht Dessau-Roßlau erwartet man ihn bereits. Nicht als obersten Souverän, sondern als Angeklagten. Der König ist ein notorischer Verkehrssünder. Er fährt seit Jahren ohne Führerschein, auch an diesem Morgen im Februar. Das hat System. Zumindest in König Peters Welt, dem Königreich Deutschland. Das Königreich Deutschland ist vor allem ein theoretisches Konstrukt. Basierend auf einer absurden Theorie, nach der die Bundesrepublik ein juristisches Malheur sei und Deutschland noch immer in den Grenzen von 1937 existiere. Erdacht wurde es von Peter Fitzek. 50 Jahre alt, ausgebildeter Koch, ehemaliger Karatelehrer und seit dem 16. September 2012 selbsternannter Herrscher in seinem

Königreich. Den Auftrag zur Staatsgründung hat Fitzek angeblich von Gott persönlich erhalten, genauso wie den Auftrag, die Menschheit ins Licht zu führen. Rund 700 Menschen hat Fitzek bereits von seiner Idee überzeugt. Sie haben sich bei einem seiner Mitstreiter als Staatsangehörige registrieren lassen. Spricht man mit dem Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt über Peter Fitzek, fallen Wörter wie

Fitzek hat sich seinen eigenen Führerschein gebastelt. Auf seinen Nachnamen hat er verzichtet. In der Unterschrift taucht er trotzdem auf.

„krude“, „utopisch“ und „abwegig“. Das Königreich sei ein „esoterisch-ökologischer Scheinstaat“. Extremistische Tendenzen seien aber nicht zu erkennen. Peter Fitzek sei ein harmloser Spinner, kein gewaltbereiter Rechtsradikaler. Irgendwann soll das Königreich die Bundesrepublik ersetzen. So ist zumindest Fitzeks Plan. Bis es soweit ist, residiert er mit 20 Anhängern, seinem Volk,

auf einem verlassenen Krankenhausgelände am Rande von Wittenberg. Einem stillen Fleckchen, umringt von einem hohen Zaun und lichten Birkenwäldchen. Ein geteerter Rundweg führt vorbei an einem Gemüsegarten, verfallenen Schuppen und endet am Haupthaus. Groß, klotzig und grau. Baulärm dröhnt aus einem offenen Fenster. Das Gelände, das Fitzek 2012 kaufte, wurde nie ganz abbezahlt und bereits von einem Insolvenzverwalter weiterverkauft. Im Königreich stört das niemanden. Wer in das Königreich hinein will, muss vorbei an einem Grenzbeamten. Er nennt sich Martin, wie alle Bewohner lässt er sich duzen und duzt auch die Besucher. Martin ist ein junger Mann im grauen Strickpullover. Früher Zeitsoldat, heute Grenzer im königlichen Dienst. Meldet sich Besuch an, geht er auf seinen Posten. Sammelt Ausweispapiere ein, stempelt das Visum. Ein grünes Läppchen mit goldenem Rahmen, das die Einreise offiziell machen soll. Über eine breite Treppe und verwinkelte Gänge gelangt der Besucher schließlich in die Zentrale. Ein langer Flur im zweiten Stock des Haupthauses. Die Wände sind in warmen Orangetönen gehalten. Hinter Sperrholztüren liegen die Staatsorgane des Fitzekschen Reichs: das Medienamt, die Reichsbank, das Gesundheitshaus. Dieser neue Staat soll es besser machen als die Bundesrepublik. Die Staatsangehörigen sollen keine Steuern mehr bezahlen. Niemand soll zum Sozialfall werden. Unheilbare Krankheiten wie Krebs sollen durch Handauflegen geheilt werden. Hier wird an einem Staat gearbeitet, in dem es nur eine Wahrheit gibt. Die des Peter Fitzek. Amtsgericht Dessau-Roßlau. Fitzek hat sich fein gemacht. Die langen Haare sind streng nach hinten gebunden. Das Gesicht ist glatt und rosig. Fitzek verabscheut Barthaare. Alle vier bis sechs Wochen reißt er sich seine Stoppeln aus. Über seiner breiten Brust spannt sich ein nachtblaues Hemd, eine Krone in Gold über dem Herzen. Seine Bewunderer sammeln sich auf dem Flur zum Verhandlungssaal. Männer jenseits der 50, wenige Frauen. Sie sind nicht nur zur moralischen Unterstützung hier. Sie treten vor allem als Prozessbeobachter auf. Sie wollen sicherstellen, dass das Justizsystem der Bundesrepublik Deutschland Peter Fitzek einen fairen Prozess macht. An Fairness glauben hier die wenigsten seiner Anhänger. Eher an Willkür.

Der Angeklagte strahlt in die Kameras des Fernsehsenders MDR. Präsentiert stolz seinen selbstgemachten Führerschein. Seit er vor rund vier Jahren den regulären Führerschein zurückgegeben hat, fährt er mit einem grünen Kärtchen, selbst ausgedruckt und laminiert. Eine goldene Krone in der rechten oberen Ecke soll das Ganze amtlich machen. Nur leider erkennt kein

Polizist den Führerschein an. Darum ist Fitzek heute hier. Als Angeklagter, der zwischen Oktober 2012 und September 2013 acht Mal ohne gültigen Führerschein mit dem Auto unterwegs gewesen sein soll. Der Prozess beginnt. Wenn Fitzek „ich“ meint, benutzt er den Pluralis Majestatis: „Wir wohnen im Königreich Deutschland“

Peter Fitzek packt seine Prozess-Lektüre aus. Das Völkerrecht, ein Rechtswörterbuch und „Der Staat im dritten Jahrtausend“. Nach dem Prozess posiert er für die Presse im Auto.


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oder „Wir haben keinen Nachnamen mehr“. Fitzek wirft triumphierende Blicke ins Publikum. Seine Anhänger sind begeistert. Der Richter ist genervt. „Wir haben zwar unseren Führerschein abgegeben, aber nicht unsere Fahrerlaubnis.“ Das ist der Punkt, um den es Fitzek hier geht. In seinen Augen ist das hier ein Präzedenzfall. Wenn er den Richter

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dazu bekommt, anzuerkennen, dass das Königreich ein echter Staat ist und keine Halluzination, könnte bald jeder seiner Anhänger mit einem königlichen Führerschein durch die Gegend fahren. „Rechtssicherheit“, nennt Fitzek das. „Kompliziert“, meint der Richter. Noch komplizierter wird es, als in der zweiten Hälfte der Verhandlung plötzlich

20 Menschen leben im Königreich. Marco arbeitet als Pressesprecher.

ein Führerschein aus Paraguay auftaucht. Ausgestellt auf Peter Fitzek. Laut dem Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt eine Fälschung. Laut Fitzek ein ordentliches paraguayisches Dokument. Fitzeks Anwalt fühlt sich überrumpelt. Der Prozess wird vertagt. Nach der Verhandlung, im Kreise seiner Getreuen, gibt Fitzek sich empört. Er sei das Opfer einer Intrige des deutschen Staates. Die Behörden und der König. Eine Beziehung voller Wahnwitz. Neun Verfahren führte die deutsche Justiz gegen Peter Fitzek in den vergangenen zwei Jahren. Wegen Urkundenfälschung, Angriffen auf Behördenmitarbeiter, unerlaubten Versicherungs- und Bankgeschäften. Die Urteile und Briefwechsel mit Staatsanwälten füllen mittlerweile ganze Aktenschränke in deutschen Gerichten. Für Peter Fitzek ist dieser Prozessmarathon der Beweis dafür, dass er und sein Staat klein gehalten werden sollen. Für die Behörden ist Fitzek eher ein durchgeknallter Querulant, der an Wahnvorstellungen leidet. Interviewtermin in der Zentrale des Königreichs. Das Gespräch wird von Fitzek aufgenommen. An der Kamera: Marco Ginzel, 27 Jahre alt, Leiter des Medienamtes. Im Bildausschnitt: sein Mentor, königlich entspannt. Schon zu Beginn des Gespräches ist klar: es wird schwierig. Es geht um die angeblich satanischen Strukturen der BRD, Masken, Bastarde und die Frage, ob Menschen sich vor der Geburt aussuchen können, ob sie körperbehindert sind oder nicht. Zumindest Fitzek ist überzeugt von all diesen Dingen. Er erzählt von seiner Kindheit in der DDR, seinen Eltern. Die Mutter körperbehindert, die Schwester nervös, der Vater ein Trinker. Und er erzählt von dem kindlichen Wunsch nach einer besseren Zukunft. Die Bewohner des Königreiches sind zwischen 20 und 69 Jahre alt. Da ist der 28-jährige Martin, der früher bei der Bundeswehr war und keine Vorbilder fand, zu denen er aufschauen konnte. Da ist Matthias, 37 Jahre alt, der noch bis vor kurzem Manager im Konzern BASF war und nun nach einer Alternative zum Kapitalismus sucht. Da ist Brigitte, 53 Jahre alt, die als Heilpraktikerin neue medizinische Wege gehen wollte und immer wieder auf das Unverständnis von Ärzten stieß. Sie alle haben ihr bürgerliches Leben hinter sich gelassen, ein sogenanntes Seminar für Staatsangehörige

Die Krone ist nur Dekoration. Peter Fitzek verzichtet auf königliche Insignien.

besucht und gegen eine Gebühr von 397 Euro etwas absolviert, das hier „Prüfung in Staatskunde“ genannt wird. Im Königreich Deutschland bewohnen sie ehemalige Patientenzimmer. Eine Gemeinschaftskasse, in die Fitzeks Einnahmen aus seinen Seminaren fließen, deckt die Kosten. Gekocht und gegessen wird gemeinsam. Immer vegetarisch, immer bio. Morgens wird in Gruppen meditiert oder gespielt. Nach dem Mittagessen widmen sich alle Bewohner dem Aufbau ihres Reichs. Marco als Pressesprecher, Brigitte als Heilpraktikerin, Martin als Grenzer oder Handwerker. Andere Bewohner streichen Wände, reparieren die Heizung oder arbeiten im Garten. Auch Stefan Becker, 41 Jahre alt, lebte vor rund vier Jahren mit Peter Fitzek und dessen Anhängern zusammen. Nach sieben Wochen stieg er aus. Auch er sei damals auf der Suche nach einem Gegenmodell gewesen, sagt der gelernte Elektroinstallateur. Fitzeks Alternative schien ihm interessant. Erst nach und nach seien ihm Kleinigkeiten aufgefallen. „Die Leute

haben sich zum Rauchen versteckt“, sagt Becker. „Die hatten richtig Angst, erwischt zu werden.“ Er spricht von einer Sekte und von Gehirnwäsche. Über Fitzek sagt er: „Er weiß sich gut als Heilsbringer zu verkaufen.“ Nach seinem Ausstieg zog Becker mit seinem umgebauten Wohnmobil in eine Kommune in der Nähe von Bad Kreuznach in Rheinland-Pfalz. Becker ist der einzige Aussteiger, der reden will. Andere, die früher dazu gehörten, reagieren nicht auf Emails oder sie verweigern ein Treffen – aus Angst, „keine Zukunft mehr in Deutschland zu haben“, wie ein Ehemaliger schreibt. Amtsgericht Wittenberg. Wieder ein Prozess gegen Fitzek. Wieder Fahren ohne

Führerschein. Wieder will Fitzek über seinen Staat verhandeln. Doch der Richter bleibt hart. Der Richter und der Angeklagte geraten in einen Streit über die gegenseitige Form der Anrede. Fitzek will nicht als Peter Fitzek angesprochen werden, sondern als Angeklagter. Als der Richter das missachtet, nennt er den Richter abschätzig „Herr Waltert“. Fitzek muss 300 Euro Bußgeld zahlen. Er holt seine Brieftasche hervor, zählt das Geld ab, schreitet über das braune Parkett und wirft 350 Euro, in 50er Scheinen, auf den Richtertisch. „Trinkgeld“, sagt er. Am Ende bekommt er sieben Monate Haft ohne Bewährung. Sofort legt er Berufung ein.

G E S A S T E E G E R und Fotograf M O R I T Z H A A S E mussten im Königreich ihre deutsche Staatsbürgerschaft am Pförtnerhäuschen abgeben. Zumindest am ersten Tag. Danach ließ der Souverän Milde walten und erließ ihnen für die nächsten beiden Tage jegliche Formalitäten. Staatsbürger wollten sie trotzdem nicht werden. g e s a . s t e e g e r @ g m x . d e // h a a s e . m o r i t z @ g m a i l . c o m


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FRAG DEN RABBI

BEIM MORGENGEBET

in der Synagoge trägt Alexander Kahanovsky Tallit und Tefillin – den Gebetsmantel und -riemen.

Zwischen Tablet und Tora: Die Kahanovskys richten ihren Alltag streng nach jüdischen Gesetzen aus. Wie lebt eine moderne Familie nach jahrtausendealten Regeln? TEXT CHRISTIAN ENGEL

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ott hat seine Gründe. Davon ist Alexander Kahanovsky überzeugt. Auch wenn er die Gesetze des Ewigen nicht immer verstehen kann, befolgt der muskulöse 42-Jährige sie bis ins Kleinste. Schweinefleisch verboten. Fische mit Flossen und Schuppen erlaubt. Fleischiges und Milchiges nie zusammen essen. Das sind nur wenige der 613 Geund Verbote, die das Leben von Alexander Kahanovsky und seiner Familie regeln – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. „Das Judentum steckt im Detail.“ Der Rabbiner Kahanovsky steht vor der großen Bücherwand in seinem Wohnzimmer mit der mehrbändigen Ausgabe der Tora. Zum säuberlich getrimmten Bart trägt er ein weißes Hemd, auf dem Kopf sitzt die Kippa. Mit seiner 37-jährigen Frau Deborah und seinen drei Kindern kam er vor fünf Jahren von Frankfurt am Main nach Berlin – sie sind in den sechsten Stock eines Plattenbaus im Stadtteil Wedding gezogen. In Berlin hat das Ehepaar eine Gemeinschaft gefunden, die den Kindern mehr religiöse Bildung bietet – und in der sie von Freunden umgeben sind, deren Familien genauso streng nach jüdischen Religionsgesetzen leben. Die Gemeinde Kahal Adass Jisroel („Versammlung des Volkes Israel“) liegt nur wenige Gehminuten von der Wohnung der Kahanovskys entfernt. Synagoge, Rabbiner-Seminar und Kindergarten in

F O T O S M A R I J A M I H A I L O VA

der Brunnenstraße werden von der Polizei wegen möglicher Terroranschläge schwer bewacht. Tag und Nacht. Die junge Gemeinde pflegt eine typisch deutsche Tradition des Judentums – die moderne Orthodoxie. „Tora-Studium in Verbindung mit der Lebensweise des Landes“ lautet der Grundsatz des Gründers Esriel Hildesheimer, der auch der erste Rabbiner der von den Nazis 1939 aufgelösten Vorgängergemeinde war. In seinem Sinne leben die Mitglieder in zwei Welten. Sie wollen streng nach den Halacha leben, den jahrtausendealten jüdischen Religionsgesetzen – und in modernen Berufen wie Arzt oder Informatiker angesehene Bürger der deutschen Gesellschaft sein. Rund 80 Prozent der Gemeindemitglieder stammen aus der früheren Sowjetunion und sind erst nach deren Zusammenbruch nach Deutschland eingewandert. Die meisten kommen aus wenig oder nicht religiösen Familien, haben erst hier zum Glauben gefunden. Dafür wächst die Gemeinde umso stärker. Von 200 auf etwa 330 ist die Zahl der Mitglieder seit der Gründung 2013 gestiegen, 150 davon sind Kinder. Etwa zehn Neugeborene kommen pro Jahr dazu. Der Altersdurchschnitt liegt bei 25 Jahren. Die Gemeinde zieht Familien aus ganz Deutschland an, einige kommen sogar aus den USA oder Israel – warum diese Anziehungskraft?

D I E K I P P A trägt Alexander

Kahanovsky auch in seinem Wohnzimmer. Die traditionelle Kopfbedeckung ist ein Ausdruck von Gottesfurcht.

IM RABBI N ER-SEMI NAR

der Gemeinde studiert Kahanovsky seinen Glauben.


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Zehn Autominuten von der Gemeinde entfernt findet sich einer der Hauptgründe. In der Rykestraße liegt die Lauder Beth Zion-Schule, im Vorderhaus einer Synagoge. In der Ganztagsschule werden Kinder zweisprachig unterrichtet, auf Deutsch und Hebräisch. Sie lernen Werte und Traditionen, die jüdischen Feiertage und Gebete – zusätzlich zu allen Fächern des Berliner Lehrplans. Die Hälfe der Lehrer ist jüdisch. Wegen dieser Kombination aus weltlicher und religiöser Bildung schicken die meisten Gemeindemitglieder von Kahal Adass Jisroel ihre Kinder dorthin. Bei den Kahanovskys sind es beide Töchter. Deborah Kahanovsky arbeitet in der Zion-Schule als Lehrerin. Im Dachgeschoss der Schule haben die Kinder gerade den Sabbat geübt, den sie mit ihren Eltern am Abend feiern werden, die Gebete, das Segnen des Weins. Die Mädchen tragen Röcke zu ihren roten Schuluniformen, die Jungen haben die Köpfe mit Kippas bedeckt. Deborah Kahanovsky und mehrere andere Lehrer beobachten sie, während sie durch den schlichten Raum wuseln und die Teller von den zusammengestellten Schultischen räumen. Dann steht Deborah Kahanovsky auf und erzählt eine Geschichte: Zwei Freundinnen gehen, erschöpft von der Schule, nach Hause. Auf dem Weg begegnet ihnen die größte Nervensäge der Schulklasse und beginnt, sie zu ärgern. Während das eine Mädchen immer wütender wird, bleibt das andere ruhig. Als der Provokateur schließlich aufgibt und verschwindet, fragt das eine Mädchen ihre Freundin, wie sie nur so ruhig bleiben konnte. „Das Nerven geht vorbei, das ist nur eine Phase. Keiner macht das mit Absicht“, entgegnet diese. Die Moral, sagt Deborah Kahanovsky, sei diese: HaShem („Der Name“), wie sie Gott nennt, hatte Geduld mit seinem Volk, als es sich während Moses Abwesenheit mit dem Goldenen Kalb einen Götzen baute. HaShem hat seinem Volk vergeben. Deshalb könnten die Kinder das auch. Das sollen sie heute aus dem Unterricht für ihr tägliches Miteinander mitnehmen. Den Glauben im Alltag zu leben, wirft auch Fragen auf. Die erwachsenen Mitglieder der Gemeinde berät dabei Rabbi Shlomo Afanasev. An einem späten Sonntagnachmittag sitzt er am Eingang der Synagoge in der Brunnenstraße und deutet auf sein Smartphone. Um ihn herum ist es still um diese Zeit, nur ein einziger Mann betet. Der 35-jährige Afanasev, der früher einmal Betriebswirtschaft studierte, erklärt den Gläubigen, welche Speisen auf welche Weise gegessen werden dürfen – mit Hilfe seines Smartphones. Die Gemeindemitglieder senden ihm SMS mit Fotos aus dem Supermarkt – von Quark, Sahne, Salzgurken oder Gebäck. Andere schicken Fragen per Mail, einige veröffentlichen sie bei Facebook. Die Gruppe „Frag den Rabbiner“ hat inzwischen mehr als 2.200 Mitglieder. Darf man auf eine Kirchenuhr schauen oder wäre das ein Götzendienst, weil man einem christlichen Symbol huldigen würde? Die Antwort: Nein, die Uhr hat nichts mit dem Christentum zu tun und wurde ursprünglich nur als Zeitanzeige an Kirchen angebracht. Das sind einige der Fragen, für die

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der Rabbi Lösungen hat. Ist es erlaubt, eine Putzfrau privat zu bezahlen? Grundsätzlich schon. Nur wenn sie sagt, sie werde ihr Gehalt nicht versteuern, ist es verboten. In einer einzigen Situation könnten alle Regeln missachtet werden: Wenn es darum gehe, Leben zu retten. Ein Rabbi würde deshalb nie empfehlen, Arzt zu werden. Der Gläubige müsste dann wahrscheinlich den Sabbat brechen. Die Gemeinde strafe niemanden, der Religionsgesetze breche, sagt Afanasev. Wenn jemand etwa am Sabbat mit dem Auto fahren wolle, werfe man ihn deswegen nicht aus der Gemeinde. Schon allein deshalb, damit er danach nicht aus Wut gegen noch mehr Gebote verstoße.

DIESES JÜDISCHO RTH O D OXE KI N D ERB U C H gibt es nicht auf

Deutsch. Darum haben die Kahanovskys eine englische Ausgabe gekauft.

Alle Gebote einzuhalten – darauf achten die Kahanovskys penibel. Ihr geräumiges Wohn- und Esszimmer ist mit Kerzenhaltern und hebräischen Tora-Zitaten verziert. Während die Kinder eine Kissenburg auf der Couch bauen, erklärt das Ehepaar, wie grenzenlos die heutige Welt sei. Das sei gut, wenn es um Staaten gehe, aber schlecht im Alltag. Die Kahanovskys haben keinen Fernseher. Das soll die Kinder schützen vor der Welt da draußen: vor vulgären Sprüchen in Filmen, vor Gewalt und Sex. Die Sesamstraße und das Sandmännchen dürfen sie auf einem Tablet sehen. Die Erwachsenen lesen viel. John Irving, Oscar Wilde. Die meisten Bücher in den Schränken sind aber religiöser Natur. Für Alexander Kahanovsky sind diese Bücher an den Wänden beruflich wesentlich. Mehrere Jahre ist er nach Halle gependelt, um dort als Rabbi zu arbeiten, derzeit bildet er sich am Rabbiner-Seminar weiter, das ebenfalls in den Gemeinderäume von Kahal Adass Jisroel liegt. Auch an den Kahanovskys wiederholt sich das Muster der Gemeinde: Beide waren nicht immer so religiös. Deborah Kahanovsky kommt aus einer jüdischen Familie in Hamburg, die aber nicht so streng praktizierte. Ihr Mann stammt aus der Ukraine, seine Eltern waren noch weniger gläubig. Doch nun ist es den Kahanovskys sehr wichtig, ihre zwischen drei und acht Jahre alten Kinder streng religiös zu erziehen. Sie sprechen mit ihnen abwechselnd auf Hebräisch, Deutsch, Russisch – und auf Englisch, der Sprache der meisten jüdischen Kinderbücher. Die Kahanovskys leben gern in Berlin. Angst vor Antisemitismus oder sogar Terrorangriffen haben sie nicht. Sie seien noch nie beleidigt oder angegriffen worden. Und doch zieht Alexander Kahanovsky meistens eine Kappe über die Kippa, wenn er nach draußen geht.

C H R I S T I A N E N G E L und M A R I J A M I H A I L O V A holten für die Recherche ihren besten Zwirn aus dem Schrank. Eine passende Kopfbedeckung für ihren Besuch in der Synagoge mitzunehmen, haben sie trotzdem versäumt. Lektion: Es muss nicht immer eine Kippa sein. In der Not reicht auch ein auf den Kopf gelegter grüner Schal oder eine Schäfermütze. e n g e l c h r i s t i a n @ i c l o u d . c o m // m . m i h a i l o v a @ g m x . d e

D I E F Ü N FJ Ä H R I G E R A C H E L , Tochter der

Kahanovskys. Die Hälfte der Gemeindemitglieder sind Kinder.

DEBORAH K A H A N O V S K Y mit

der neunjährigen Danit. Die Mutter ist Lehrerin an der Lauder-Beth-ZionSchule, an der auch ihre Tochter lernt.


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WEIL ES IN VENEDIG STINKT

Die Kruses leben seit Generationen auf einer Hallig mitten im Meer. Ihr Zuhause wird immer wieder 체berflutet, der Klimawandel l채sst das Wasser weiter steigen. Doch die Flucht aufs Festland kommt f체r sie nicht in Frage. TEXT MAX DINKELAKER

FOTOS NEELE K ILA NOWSK I


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jell schaut aus dem Küchenfenster in Richtung Meer. Er trägt eine Arbeitshose, die gleiche, wie sie sein Vater in groß trägt, gespickt mit ähnlich vielen Flecken. Matsch, Gras, irgendwas vom Schaf, was man so abbekommt auf der Hallig. Vor ihm erstreckt sich das Land, das eines Tages ihm gehören wird. Auf dem eines Tages er mit dem Trecker Heuballen hin und her wälzen wird, auf dem er dafür verantwortlich sein wird, dass bei Land unter keine Schafe vom Meer geschluckt werden. Kjell ist neun Jahre alt und fängt jetzt an zu erklären, vom Vokabular her längst einer vom Küstenschutz und kein Drittklässler: „Ich sach ja immer: Die müssen einfach mal kapieren, dass wir die Gräben und Priele ordentlich befestigen müssen. Sonst schwimmen uns die Kanten auf Sicht ja alle wech.“ Kjell weiß genau, was er in Zukunft machen wird. Er wird den „Bauern machen“, wie er sagt, mit 16, und irgendwann den Hof von seinem Vater übernehmen. Also 90 Schafe, ein paar Landmaschinen und ein rotes Backsteinhaus. Und er wird für den Küstenschutz arbeiten. Wie sein Vater, wie alle Männer auf der Hallig, alle drei. Denn ohne den Küstenschutz würde es sein Zuhause, wenn er erst mal erwachsen ist, nicht mehr geben. Sein Zuhause ist die Hallig Nordstrandischmoor, gelegen mitten in der Nordsee, umzingelt vom Wattenmeer. Ohne Deich, schutzlos und flach. Und der Meeresspiegel steigt. Nordstrandischmoor, das sind vier Erdhügel, drei Familien und eine Schule. Die Hallig entstand als Bruchstück der ehemaligen Insel Strand bei einer Sturmflut im Mittelalter. Nur die vier Warften, NOMMEN KRUSE aufgeschüttete Erdhügel, ragen in die Höhe. Dort leben die 23 Nordstrandischmoorer geschützt auf ihren Höfen. Eine eingleisige, über einen Steinwall verlaufende Lorenbahn verbindet die Hallig mit dem Festland, eine enge Straße schlängelt sich über drei Kilometer von Warft zu Warft. Der Rest der Fläche: feuchte Salzwiese. Zerklüftet durch kleine Gräben und Kanäle, bewohnt nur von den Schafen der drei Hallig-Bauern, alle paar Wochen überschwemmt von der Nordsee. Seit 299 Jahren leben die Kruses auf Nordstrandischmoor, sie sind so etwas wie die Aborigines des nordfriesischen Wattenmeers. Die Kruses, das sind die 89-jährige Frieda, ihre Tochter Ruth, 52, deren 28-jähriger Sohn Nommen mit seiner Frau Stefanie, 26, sowie die Kinder Kjell und Emma, 1. Auf zwei Warften und Höfen haben sich die Kruses verteilt. Zwei Warften und Höfe, die dem Klimawandel nicht gewachsen sind. Zu hoch werden sich künftig die Sturmfluten auftürmen. Zu niedrig sind die alten Warften, zu marode die Häuser, in denen die Familie lebt. „Wir sind wirklich unter Zugzwang. Wenn die nächste große Sturmflut kommt, dann haben wir hier richtig Schaden“, sagt Nommen Kruse. Er ist zu Besuch bei seinen Nachbarinnen, also bei seiner Mutter und seiner Oma auf der Norderwarft. Nach einem langen Tag hat er es sich in der Stube – Eckbank, ein Käfig mit zwei Wellensittichen, NDR1 – gemütlich gemacht. Wie bei den anderen Familien auch, den „Zugezogenen“, wie Uroma Frieda sie nennt, also den seit knapp 100 Jahren hier lebenden Glienkes und Sieferts, ist vorrangig der Mann fürs Geldverdienen zuständig. Geldverdienen, das bedeutet: tagsüber beim Küstenschutz die Hallig sichern und abends die Schafe versorgen.

Während Mutter Ruth die Post durchgeht, tigert Nommens Frau Stefanie um eine kleine schwarze Plastikwanne herum. In der Wanne liegt ein bisschen Stroh und auf dem Stroh steht ein bisschen Lamm. Das Lamm heißt Bernhard und lebt seit kurzem in der Stube von Ruth Kruse. Zwei Tage ist Bernhard alt, seine Mutter zu krank, ihn zu ernähren. „Komm, jetzt hol den mal raus da, der muss doch mal laufen“, sagt Nommen. „Nee, der macht doch hier den ganzen Boden voll“, antwortet Stefanie. „Hast du noch Emmas Windeln da?“ „Jo. Aber die zieh ich dem doch jetzt nicht über!“ „Mensch, ich hab das schon gemacht, das geht super.“ Nommen steht auf, holt eine Windel seiner Tochter und zieht sie Bernhard über. Er hebt ihn aus der Wanne und stellt ihn mitten in die Stube. Etwas ungelenk und in Pampers geht Bernhard die ersten Schritte seines Lebens. Nach der Geburt sah es nicht so aus, als würde er es schaffen. Doch mit Überlebenskampf kennt man sich auf der Hallig aus. Zwei Warften weiter lebt Simone Schneider. Sie ist neu auf Nordstrandischmoor, erst seit knapp drei Monaten lebt sie in der Einsamkeit. Ihr Mann soll im Sommer nachkommen, bis dahin

„Wir sind wirklich unter Zugzwang. Wenn die nächste große Sturmflut kommt, dann haben wir hier richtig Schaden.“ sind Ihre einzigen Gesprächspartner ihre drei Schüler. Simone Schneider ist Lehrerin auf Nordstrandischmoor und die einzige Fremde. Bis zur 9. Klasse können die Kinder hier zur Schule gehen, den Hauptschulabschluss schafft man, ohne das Festland zu betreten. Gerade ist große Pause und Kjell tobt mit seinen beiden Klassenkameradinnen durch das Schulzimmer. Einen Jungen in seinem Alter gibt es auf der Hallig nicht. Nach der Pause steht eigentlich Sport auf dem Stundenplan. Sport im Winter meint im ersten Stock Gummitwist spielen oder ein bisschen Gymnastik. Platz für eine Sporthalle gibt es auf der Hallig nicht und draußen ist es im Winter zu matschig. Doch jetzt lässt Simone Schneider die Kinder erst mal an die Computer. Die zwei Mädchen wachsen zu Hause ohne Rechner auf, sie sollen lernen, wie man einen Ordner öffnet und ein Fenster schließt. Frau Schneider spricht ein bisschen leiser, wenn sie davon berichtet, dass die Kinder etwas weltfremd seien. Der weite Blick würde ihnen fehlen. Einmal habe sie ein Ratespiel gemacht. „Ich habe sie gefragt, welches Land ich meinen könnte. Pizza, Pasta, Mamma Mia, habe ich gesagt. Aber die Kinder hatten einfach keine Ahnung, was ich von ihnen wollte.“ Als im Unterricht gehäkelt wurde, fragten die Frauen aus Familie Kruse nach, wozu ihr Junge das denn lernen sollte. Auch Kjell selber hat eine klare Vorstellung davon, was er später können muss – und was nicht. „Einmal stand er vor mir und meinte: Ich kann kein Spiegelei. Aber ist ja auch egal, Papa kann das auch nicht.“

F A M I L I E : Stefanie Kruse trägt

Tochter Emma über den Halligmatsch (links), Lamm Bernhard trägt Windel in der Stube.

F R I E D H O F : Der Gedenkstein erinnert an die Verstorbenen, für die auf der Hallig kein Platz mehr war. Seit 1945 werden sie auf dem Festland begraben.


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Der Winter sei heftig gewesen, sagt Frau Schneider. 20 Mal Land unter seit sie hier ist, 20 Mal in knapp drei Monaten abgeschnitten von der Außenwelt, eingesperrt im Wohnzimmer. Beim ersten Mal stand das Wasser fünf Tage vor ihrem Haus. Irgendwann fing sie an, mit sich selbst zu reden. Auch das Essen wurde knapp. „Ich war nicht gut vorbereitet. Eine Scheibe Brot würde ich heutzutage nicht mehr wegschmeißen.“ Mittlerweile friert sie Wurst und Käse ein, ein Tipp der Nachbarn. Für die sind Überschwemmungen Alltag, nur die schlimmsten Stürme bleiben im Gedächtnis haften. Zum Beispiel Xaver: Im Dezember 2013 fegte der Orkan über Nordeuropa hinweg, auf Nordstrandischmoor schwappte das Wasser bis vor die Haustüren. Am bedrohlichsten war die Situation bei den Kruses. Die Wellen seien bis in den kleinen Stall direkt vorm Hauseingang seiner Mutter gekommen, sagt Nommen. Eigentlich sei sogar noch ein Meter mehr angesagt gewesen. „Und den Meter mehr, den will ich hier nicht erleben.“ Nommen sitzt noch immer bei seiner Mutter in der Stube und erzählt jetzt vom Pilotprojekt. 30 Millionen Euro will die Landesregierung bereitstellen, um die 32 bewohnten Warften auf den Halligen besser zu schützen. Mit der Warft von Nommen Kruse soll alles anfangen. Um den Erdhügel vergrößern zu können, soll das Haus, in dem er mit Stefanie und den Kindern lebt, komplett abgerissen werden. Die neue Warft würde die Regierung zahlen, das neue Haus nicht. 800.000 Euro soll die Bebauung kosten, sagt Nommen, 800.000 Euro, die er irgendwie auftreiben muss. Bislang fehlt ihm der Kredit. Doch das Pilotprojekt wäre für ihn der Startschuss zum Wachsen. Größere Maschinen, mehr Futter, mehr Vieh. Das alles hätte dann endlich einen geschützten Platz direkt vor der Haustür. „Manche halten mich für größenwahnsinnig,“ sagt Nommen. „Doch wie heißt das bei Deichkind? Denken Sie groß!“

HALLIGEN Zehn Halligen, sechs davon ständig besiedelt, liegen im nordfriesischen Wattenmeer. Die Halligen liegen bei Flut nur wenige Dezimeter oberhalb des Hochwasserpegels. Dadurch werden die sieben Halligen, die nicht durch Sommerdeiche geschützt sind, bei Wind- und Sturmfluten regelmäßig überspült. Die Halligen sind Überbleibsel einer untergegangenen Küstenlandschaft. Die Fläche der Halligen schrumpfte von knapp 100 km² im 17. Jahrhundert bis auf weniger als 30 km² zum Ende des 19. Jahrhunderts. Um den Landverlust aufzuhalten, werden die Halligen seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch Küstenschutzmaßnahmen wie Steinkanten stabilisiert. Heute leben etwa 250 Menschen auf deutschen Halligen, 23 davon auf Nordstrandischmoor. NORDSTRANDISCHMOOR

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1 Norderwarft (Ruth & Frieda Kruse) 2 Halber Weg (Nommen & Stefanie Kruse) 3 Friedhof 4 Schule (Simone Schneider) 5 Neuwarft (Glienke & Siefert) 6 Lorenbahnhof


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Die Stürme der letzten 89 Jahre hat Uroma Frieda Kruse miterlebt. 1936, da stand das Wasser im Wohnzimmer, seitdem verzichten die Kruses auf teures Mobiliar. Bei der Sturmflut 1962, der Hof auf der Norderwarft wurde gerade renoviert, musste sie im Rohbau ausharren. Und 1976, beim höchsten je auf der Hallig gemessenen Wasserstand, knallte es im Keller. Ein Jahr zuvor hatte Nordstrandischmoor Strom bekommen, nun war der Keller vollgelaufen und die neue Elektroheizung kaputt. „Rabiat war das damals“, sagt Frieda Kruse mit polterndem R. Vor dem Wasser habe sie sich nie gefürchtet, auch der Klimawandel beeindrucke sie kaum. Zu komfortabel erscheint ihr das heutige Halligleben. In ihrer Kindheit gab es weder die Lorenverbindung zum Festland noch fließend Wasser, die Männer arbeiteten noch nicht für den Küstenschutz, Touristen war die Abgeschiedenheit noch kein Geld wert. Für Menschen von der Hallig war die Stadt ein anderer Planet. Trotzdem traute sich Uroma Frieda im Rentenalter in die Fremde, bis nach Venedig reiste sie. „Ich hab nur gesagt, da stinkt’s! Aber ist auch klar, da gibt’s ja auch keinen Wasserauswechsel.“ Heute hätten es die Kinder leichter, viele seien oft auf dem Festland. Erst neulich seien Nommen und Steffi nach Berlin gefahren, zur Grünen Woche. „Die dachten, das sei so ähnlich wie dieser Bauernmarkt in Rendsburg. Nommen wollte da nach Landmaschinen gucken.“ Doch statt Trecker zu testen, irrt Nommen durch Menschenmassen. Einmal Berlin und nie wieder. Ob die Familie noch lange auf der Hallig bleiben kann, hängt auch von Nommens Chef ab, Johannes Oelerich. Er leitet den Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein (LKN) und sein Job ist es, Familien wie die Kruses vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Er sagt: „Wer knallhart betriebswirtschaftlich denkt, der kommt zu dem Schluss, dass die Leute umziehen sollten.“ Er sitzt in seinem Büro in Husum und erzählt von Strategien und der kulturhistorischen Bedeutung der Halligen. Er kramt Prospekte raus, blättert in Infobroschüren und schwärmt von vergleichbaren Projekten. Er rollt das R wie Uroma Kruse und kennt die Menschen von der Hallig seit Jahrzehnten. Er spricht es nicht aus, doch Johannes Oelerich macht sich Sorgen. Von einem Meeresspiegelanstieg zwischen 0,20 m und 1,30 m gehen verschiedene Institute bis 2100 aus. Der LKN kalkuliert mit einem halben Meter. „Wenn der Klimawandel irgendwo einen direkten Effekt hat, dann dort.“ Sicher, es wäre einfacher, die Landwirte sich selbst zu überlassen. Doch sind die Halligen auch ein natürlicher Küstenschutz, sie brechen die Wellen und nehmen dem Meer die Energie, bevor es auf die Deiche am Festland prallt. Auch die Landwirtschaft ist für Nordstrandischmoor wichtig. Mit jeder Überschwemmung trägt das Meer Sedimente auf die Hallig. Ist das Wasser wieder weg, trampeln die Schafe den Boden fest. So wächst Nordstrandischmoor zumindest ein bisschen mit dem Wasserpegel mit. Ohne Familien wie die Kruses, die mit der nötigen Erfahrung ihre eigene Hallig schützen, würde es schwer werden. Trotzdem ist das Pilotprojekt noch nicht in trockenen Tüchern. Oelerich sagt, so etwas brauche eben Zeit. 2016 wolle man die Planung abschließen, 2017 die Genehmigungen einholen, 2018 könne man dann die Warft und 2019 das Haus bauen. Bis dahin sind es noch drei Jahre, Nommen braucht neben dem Kredit vor allem Geduld. Zumal an einem Ort, an dem jede Kleinigkeit Zeit frisst. Zum Beispiel die Fahrt zum Schlachter. Zwei Schafe hat Nommen auf den Treckeranhänger geladen. Gemächlich

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A L L T A G : Nommen Kruse steuert seine Lore durchs Meer.

holpert er über seine Hallig, vorbei an der Schule, vorbei an den Höfen von Glienke und Siefert, bis er am Bahnhof ankommt. Der Bahnhof besteht aus Abstellgleisen, auf denen die Loren der verschiedenen Warften parken. Nommen springt vom Trecker und beginnt zu manövrieren, er muss die Güterlore hinter die Lok bekommen. Dann steigt er auf die Zuglore und wirft den Dieselmotor – einst Antrieb eines Rasenmähers – an. Langsam tuckert die Lore über den Damm. Die Flut hat eingesetzt, das Wasser kriecht immer näher. Am Festland wartet sein Auto, einen Anhänger hat er dort nicht. Also zehn Kilometer zur Tante fahren, da den Anhänger holen, dann zurück zur Lore mit den Schafen. Man könnte meinen, sie seien längst vor Langeweile umgekommen. Endlich steuert er den Wagen auf den Parkplatz des Schlachters,

der schon Feierabend gemacht hat. Der Schlachter weiß, für Nommen ist es nicht möglich, früher zu liefern. Also darf der die Tiere selber in die Box bringen und wiegen. Eins der zwei Schafe ist viel zu leicht, für die paar Kilo hat sich der Weg eigentlich kaum gelohnt. Der Rückweg übers Meer ist ungemütlich. Die Sonne ist weg, ein kalter Wind bläst ihm entgegen. Nommen hat die Hände tief in den Taschen vergraben und blickt in Richtung Heimat. Die vier Hügel ragen aus dem Meer empor wie Burgen, anhand der Lichter weiß er, welcher Nachbar grade in welchem Zimmer ist. Seit 28 Jahren der gleiche Blick. Weg vom Festland, rein ins Meer. Seit 28 Jahren die gleichen Sorgen. Wann kommt die Flut? Wie lange hält die Warft? Doch egal, wie hoch der Klimawandel das Wasser noch steigen lässt, egal wie widrig die Umstände in Zukunft auch sein mögen. Nommen und seine Familie suchen

keine Antwort auf die Bedrohung, sie stellen eine Frage. Eine Frage, die die Umzugsgedanken zerstreut und die sie alle, Generation um Generation, hat weitermachen lassen. „Was sollen wir denn anderswo?“

M A X D I N K E L A K E R und N E E L E K I L A N O W S K I sprachen in Anwesenheit der Kruses gefährlich oft von Insel statt Hallig. Rundeten das Bild der verkorksten Stadtkinder ab, als sie auf der Insel – pardon, Hallig – ohne Gummistiefel und mit Zutaten für nur eine warme Mahlzeit auftauchten. Waren froh, dass die Kruses in beiden Fällen aushalfen. m a x . d i n k e l a k e r1@ g m a i l . c o m // n e e l e k i l a n o w s k i @ g m a i l . c o m


9 8 // E I N S I C H T E N // D i e E J S s t e l l t s i c h v o r

DAS IST DIE EJS

Wir danken DEN MENTORINNEN UND MENTOREN D E S 11 . A U S B I L D U N G S J A H R G A N G S 2 0 1 5 – 2 0 1 6 : Dr. Bernhard Albrecht, stern, Hamburg Dr. Jacqueline Boysen, freie Journalistin, Berlin Anne Buhrfeind, chrismon, Frankfurt am Main Michael Elgaß, NDR, Haff-Müritz-Studio Neubrandenburg Dr. Claudia Ingenhoven, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg, Berlin Dr. Matthias Kamann, DIE WELT, Berlin Andreas Lorenz, ehem. DER SPIEGEL, Hamburg Jens Olesen, WDR, Köln Joachim Reuter, ehem. stern, Hamburg Erhard Scherfer, ARD-Hauptstadtstudio, PHOENIX, Berlin Christine Thalmann, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg, Berlin Janko Tietz, DER SPIEGEL, Hamburg Birgit Wentzien, Deutschlandfunk, Köln Dr. Stefan Willeke, DIE ZEIT, Hamburg Wolfgang Zügel, DIE WELT, Berlin OHNE SIE IST UNSERE AUSBILDUNG NICHT MÖGLICH: Dr. Alexander und Rita Besser-Stiftung Andere Zeiten e.V. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (ELKB) FAZIT-Stiftung Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Die Evangelische Journalistenschule (EJS) in Berlin ist eine leistungsstarke Medien-Ausbildungsstätte. Das belegt die Bilanz ihrer Absolventinnen und Absolventen. Sie arbeiten bei angesehenen Zeitungen, Zeitschriften, Online-Redaktionen, Rundfunkanstalten oder TV-Sendern. Viele von ihnen wurden mit Journalistenpreisen ausgezeichnet. Für die Qualität der Ausbildung spricht das vorliegende Magazin der Volontärinnen und Volontäre des 11. Jahrgangs. 1995 in Berlin gegründet, steht die EJS in der Tradition der Christlichen Presseakademie, der ältesten unabhängigen journalistischen Ausbildungseinrichtung in Deutschland. Die Journalistenschule ist ein Geschäftsbereich des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP), des zentralen Medienunternehmens der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ihrer Gliedkirchen und Werke. Die evangelische Kirche engagiert sich für eine fundierte Ausbildung von jungen Journalisten, um ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung in den Medien gerecht zu werden. Ein unabhängiger, couragierter, nachdenklicher und werteorientierter Journalismus ist nach Überzeugung der evangelischen Kirche unverzichtbar für Orientierung, Meinungsbildung und Verständigung in einer demokratischen Gesellschaft. Neben der professionellen Vermittlung des journalistischen Handwerks legt die EJS Wert auf die gründliche Reflexion ethischer Standards. Maximal 16 Volontärinnen und Volontäre durchlaufen in Berlin eine konsequent praxisorientierte und multimediale 22-monatige Ausbildung in Print-, Online-, Radio- und TV-Journalismus. Dazu gehören mehrmonatige Praxisstationen in allen Medien. Im Herzen Berlins stehen moderne Schulungsräume zur Verfügung. Die EJS hat ein eigenes Hörfunk- und TV-Studio, RechercheArbeitsplätze und eine Bibliothek. Außergewöhnlich ist die persönliche Betreuung der Volontärinnen und Volontäre durch Mentorinnen und Mentoren. Dabei handelt es sich um engagierte und angesehene Journalistinnen und Journalisten. Jedem EJS-Volontär steht ein Mentor für die Dauer seiner Ausbildung zur Seite. So entstehen Beziehungen, die oft weit über das Ende der Ausbildung hinaus andauern. Die Ausbildung an der EJS entspricht einem klassischen Volontariat und ist kostenfrei. Die Ausschreibungsbedingungen für unseren 12. Jahrgang finden Sie auf unserer Website.

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KEINE GLAUBENSFRAGE drehscheibe – wie Lokaljournalismus besser wird

Kontakt Oscar Tiefenthal, Schulleiter o t ie fe n t h a l@e v-jo u rn a list e ns c hu l e.d e

www.drehscheibe.org

Dr. Thomas Schiller, Publizistischer Vorstand t s c hil l e r@e v-jo u rn a list e ns c hu l e.d e Dagmar Lopes, Seminarbetrieb d l o p e s@e v-jo u rn a list e ns c hu l e.d e Sabine Seidel, Seminarbetrieb ss e id e l@e v-jo u rn a list e ns c hu l e.d e Weitere Informationen: www.evangelische-journalistenschule.de

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