Die Malerei des Milan Kunc

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Zeitschrift f端r internationale Kunst Erscheint sechsmal im Jahr 20. Jahrgang

Heft 4

Juni 1984


Axel Hinrich Murken

Ikonen der Gegenwart

Die Malerei des Milan Kunc

Abb. 2 So/itude - Sehnsucht eines Stadtmädchens. 1983. Acryl mit Dispersionsfarbe. 163 x 248 cm. Foto: Anne Gold.

Die ungewöhnlich dichte , fast stürmische Bilderflut, die man seit Beginn der achtziger Jahre in Kunstmuseen, Kunstmessen und Galerien ebenso wie in kurzzeitig improvisierten Ausstellungshallen allerorts sehen kann , hat - allen Unkenrufen zum Trotz - bis heute kaum etwas von ihrer Faszination verloren . Es ist das Resultat einer in den vergangenen Jahren entstandenen Renaissance der lange Zeit schon totgesagten Malerei . Sie lässt sich gegenwärtig in ihrer Spontaneität und unorthodoxen Haltung , die gleichzeitig von einer überraschenden Volkstüm lichkeit gezeichnet ist. noch kaum überschauen .

Während am Beginn dieser neu einsetzenden Maibewegung, die Europa ebenso erfasst hat wie die USA, besonders Künstlergruppen von sich reden machten, scheinen heute mehr einzelne Maler die wesentlichen Akzente zu setzen . Zu den herausragenden Persönlichkeiten dieser neuen Künstlergeneration gehört sicherlich der seit 1970 in Düsseldorf ansässige Milan Kunc . Er hat seit Mitte der siebziger Jahre ein äusserst phantasievolles zeichnerisches und bildnerisches Werk geschaffen . Obwohl Milan Kunc von Anfang an in engem Kontakt mit der sich in Berlin , Düsseldorf und Köln seit 1978 intensiv entwikkelnden Maiszene stand, fallen auf der einen Seite seine altmeisterliche Malweise und auf der anderen Seite seine von Tagträumen bestimmten Bildsujets aus dem Rahmen der von spontanen, schnellen Gesten und hitzigen Emotionen geprägten Malerei, die bisher im Mittelpunkt der Diskussion stand . 99


Man hat die plötzliche Aktualisierung der Malerei in den achtziger Jahren in Anlehnung an den Fauvismus und Expressionismus vor dem Ersten Weltkrieg bisher sehr generalisierend in Ermangelung einer besseren Charakterisierung unter dem Begriff «Die neuen Wilden» (les Nouveaux Fauves) zusammengefasst. Ausschlaggebend dafür war eine 1980 in der Aachener Neuen Galerie, Sammlung Ludwig, durchgeführte Ausstellung, die Arbeiten von Künstlern wie Georg Baselitz, Louis Cane, Jörg Immendorf, Neil Jenny, Robert Kushner. Markus Lüpertz oder Susann Rothenberg in diesem Kontext präsentierte. Heute würde man die damals vorgestellten und schon bekannten Maler nicht mehr so ohne weiteres im Vergleich zu der ihnen nachfolgenden jüngeren Malergeneration als «wilde Maler» bezeichnen können . In Aachen hatte mehr eine Malerei im Vordergrund gestanden, die man bei den deutschen Vertretern wie Baselitz, Kiefer oder Penk treffender als Post-Pop-Malerei und

ration als Epigonen von Ernst Ludwig Kirchner oder Henri Matisse einschätzen möchte . Die Bildwelten haben sich in den vergangenen fünf Jahren immer mehr zu einer kritischen, oft karikierenden Spiegelung heutigen Geschehens angesichts eines pessimistisch gestimmten Zeitgeistes entfaltet. So ist es nicht verwunderlich, dass ganz private Erlebniswelten mit kollektiven Ängsten und Freuden dargestellt werden. Dabei werden vielfältige Anregungen aus den Bilderwelten der grossstädtischen Subkultur aufgenommen und umgeformt. Der Trivialität des von Massenmedien beherrschten Alltags setzen diese Künstler unter der Verwendung ähnlicher, leicht eingängiger Bildmittel ein neues, uneingeschränktes Freiheitsempfinden entgegen, w ie es sich in der allen so verständlichen Sprache der Grafitti-Malerei oder den Comics schon Jahre zuvor bemerkbar gemacht hat. Am deutlichsten kommt wohl derzeit die Wiederentdeckung der volkstümlichen Kunst der Strasse bei den jungen französischen Malern zum Vorschein, die man unter dem Begriff «Figuration libre» zusammenfasst. 2 Die heutige Malerei hat aber trotz aller Unterschiedlichkeit der sie tragenden Künstler insofern etwas Gemeinsames, als sie sich als eine Mischung dessen zusammenfassen lässt, was man als Punk, Kitsch, Sonntagskunst, Kinderzeichnungen oder schizophrene Malerei bezeichnet hat. Wie immer man zu dieser neuen Malerei und ihren Quellen stehen mag, so darf man heute doch schon angesichts der überbordenden Fülle der Bilder und der fast unübersehbaren ikonographischen Vielfalt von einem kunsthistorischen Phänomen sprechen . Man kann auch zugleich mit Recht feststellen, dass sich im Vergleich zu der vorhergehenden Epoche der KonzeptKunst und der Minimal Art ein Bruch, ja ein ekklatanter Methodenwechsel Mitte der siebziger Jahre vollzogen hat. Der Konzeptkunst, die in den siebziger Jahren beherrschend war und selbst die führenden Vertreter der Pop-Malerei mitbestimmt hat, lag ein vorwiegend rationales, manchmal mathematisches

Abb. 3 Frühstück im Freien. 1976. Öl auf Leinwand. 110x 75 cm. Foto: Anne Gold

bei den französischen Malern als Pattern-Painting beschreiben möchte . Nichtsdestoweniger fielen seinerzeit schon bei den Ausstellungsvorbereitungen dem verantwortlichen Leiter Wolfgang Becker einige Gemeinsamkeiten mit der Malerei um 1900 bis 1910 auf, die sich vor allem auf den spontanen malerischen Gestus, auf die grelle Farbigkeit oder die stark persönlich gefärbten Bildinhalte bezogen . 1 Sicherlich kann man diese Merkmale gleichfalls in den Bildern der jungen, die heutige Kunstszene in Atem haltenden Maler finden , die bis auf wenige Ausnahmen nach 1945 geboren wurden . Doch die künstlerische Entfaltung, die gegenwärtig Mitteleuropa erlebt, zu der sich eine neue Kunstszene in Italien, in Frankreich und nicht zuletzt in der DDR gesellt, ist weit über das hinausgegangen , was man nur als Neuauflage der Kunst von vor dem Ersten Weltkrieg zu sehen vermag . Darüber kann auch nicht der Augenschein hinwegtäuschen, dass man auf den ersten Blick den einen oder anderen Maler dieser Gene100

Abb. 4 Der neue Typ. 1975. Öl auf Leinwand. 70 x 60 cm. Foto: Anne Gold


Kalkül zugrunde . Philosophie und Kunst gingen hier häufig eine Synthese ein, in der die drängenden, den Mann auf der Strasse bewegenden Alltagsprobleme kaum einen Spielraum hatten . Es war eine esoterische Kunstrichtung, die nur die happy few der Insider, die intellektuellen Kenner sozusagen vom Stuhle reissen konnte . Sicherlich kann man schon heute die Feststellung treffen, dass sich mit der Wiederentdeckung der Malerei als ein wesentliches kulturelles Ausdrucks- und Sprachmittel, in dem der Freiheit - im Gegensatz zum Alltag - kaum Grenzen gesetzt zu sein scheinen, in der Kunst ein ähnlicher Paradigmawechsel durchgesetzt hat, wie ihn zuvor schon der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn bei der Untersuchung der wissenschaftlichen Revolutionen für die Entwicklung der Physik konstatiert hatte . Er schreibt in seinem 1962 zum ersten Mal vorgelegten Buch «The structure of scientific revolutions»:

man von einem kunsthistorischen Methodenwechsel sprechen kann. Denn gerade die allgemeine Meinung hat sich in den verschiedensten Epochen immer gegen solche Paradigmawechsel (paradigma gr. = das Muster) mit mehr oder weniger starker Bremsfunktion gestemmt, wenn sie die bisherigen ästhetischen Übereinkünfte und die einmal gewonnenen Ideale in Frage gestellt sah . Die traditionszerstörende Wirkung, die mit jeder Revolution einhergeht, wird somit auch für die Malerei der achtziger Jahre indirekt bestätigt. In der Kunstgeschichte lassen sich natürlich für einen solchen Paradigmawechsel allen geläufige Umwälzungen der Bild- und Architekturauffassung als Beispiel heranziehen, wie etwa der Übergang von der Spätgotik zum Barock oder vom Manierismus zur Klassik. In dem bisher kurz skizzierten Rahmen der gegenwärtig diskutierten Malerei spielt, wie schon eingangs erwähnt, das bildnerische Werk von Milan Kunc eine nicht zu unterschätzende Rol-

Abb. 5 Atomic nude. 1982. Öl auf Leinwand. 116x 184 cm. Foto: Anne Gold. U. Kantor Gal/ery, Los Angeles.

trJede (Revolution) von ihnen forderte von der Gemeinschaft, eine altehrwürdige Theorie zugunsten einer anderen, nicht mit ihr zu vereinbarenden, zurückzuweisen. Jede brachte eine Verschiebung der für die wissenschaftliche Untersuchung verfügbaren Probleme und Massstäbe mit sich, nach denen die Fachwissenschaft entschied, was als zulässiges Problem oder als legitime Problemlösung gelten sollte. Und jede wandelte das wissenschaftliche Denken in einer Weise um, die wir letztlich als eine Umgestaltung der Welt, in welcher wissenschaftliche Arbeit getan wurde, beschreiben müssen.» 3 Diese Kriterien lassen sich in der Tat auch. für den Wandel in der Kunst von der bilderfeindlichen «Kunst im Kopf» zur emotionsgeladenen Malerei nachweisen, die randvoll mit einen Jeden betreffenden Motiven aus dem allgemeinen Kulturgut und der Alltagswelt angefüllt ist. Dieser Wandel lässt sich aber nicht nur in der Ikonographie und der damit verbundenen Darstellung finden, sondern auch die vehemente Ablehnung dieser Malerei als Kitsch, Greuel oder Schmiererei durch die Kritik einer breiten Öffentlichkeit spricht für die Richtigkeit, dass

Abb. 6 Femme fatale arctique. 1981. Dispersionsfarbe auf Leinwand. 130 x 120 cm. Foto: Anne Gold. 101


le. Sein Werk passt in die bisher zur Malerei gefundenen Kategorien kaum hinein. Die sogenannte Wilde Malerei wird von diesem Maler mit leichter Hand unterlaufen. Der 1944 (7) in Prag geborene Milan Kunc kam 1970 nach Düsseldorf, wo er sein in der Tschechoslowakei begonnenes Kunststudium fortsetzte. Schon bald geriet er dort unter den Einfluss des Akademieprofessors Joseph Beuys und später Gerhard Richters, die ihn weniger in seiner Bildthematik und Malweise als vielmehr in einem kompromisslosen Künstlertum beeinflussten. Zugleich stiess Milan Kunc zu einem Zeitpunkt zur um die Düsseldorfer Kunstakademie sich entfaltenden Szene, als der Bildhauer und Zeichner Joseph Beuys und einige seiner Schüler mit ihren Ideen, ihren Kunstaktionen. Happenings und Performances auf die Strasse gingen und das Volk zu animieren versuchten . Schon damals wurde vor allem in Düsseldorf neben Berlin damit begonnen, der konzeptionellen Kunst eine sehr in-

Abb. 7 Venus in Gefahr. 1982. Öl auf Leinwand. 150 x 130 cm. Foto: Anne Gold. Privatbesitz.

dividuelle Mythologie entgegenzusetzen, die ihr Weltbild aus dem archaischen und transzendentalen Kulturgut schöpfte. Auf der anderen Seite hatten damals schon einige Künstler wie Gerhard Richter, Sigmar Polke oder Anselm Kiefer durch eine konsequente Anwendung der Malerei die Grundlage für deren allgemeine Aktualisierung geschaffen . Sicherlich müsste man in diesem Zusammenhang auch noch andere früh in den siebziger Jahren der elementaren Malerei verpflichtete Maler wie Dieter Krieg nennen oder auf die Münchener Malergruppe «Spur» hinweisen . Doch soweit man es heute sehen kann, kamen wohl die entscheidensten Impulse für die gegenwärtige kraftvolle, dynamische Malerei aus dem Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie der siebziger Jahre. Die schon erwähnten Maler, wie auch zeitlich etwas später Jörg Immendorf und der damals noch in der DDR lebende Künstler A . R. Penck, setzten die von Joseph Beuys wesentlich mitgetragene eigenwillige kunstphilosophische Strömung in eine bunte, von Energie geladene Bilderwelt um, die die persönliche Auseinandersetzung mit den bedrückenden Hinterlassenschaften der jüngsten Ge102

schichte und den Phänomenen des politischen und sozialen Alltags auf sehr persönliche Art und Weise bildnerisch darzustellen versuchte. Milan Kunc geriet damit gleich nach seiner Ankunft in Düsseldorf in ein aussergewöhnlich spannungsgeladenenes Netz künstlerischer Ambitionen und Diskussionen, die den Kunstbegriff nach allen Seiten zu verändern strebten. So ist es auch nicht erstaunlich, dass man Milan Kunc im Oktober 1972 als gelehrigen Schüler vor dem Portal der Kunstakademie auf der Eiskellerstrasse wiederfand, wo er dem vor die Tür gesetzten Kunstprofessor Joseph Beuys seine ersten, in monochromem Stil gehaltenen Bilder zur Korrektur vorführte. Schon bald anschliessend entwickelte Milan Kunc ein von einem «peinlichen» Surrealismus beeinflusstes Oeuvre , in dem er Tagträume mit Pinsel und Farbe auf die Leinwand bannt . Seit etwa 1975 entstanden märchenhafte Bilder, die Kunc seitdem mit grosser Intensität und Durchhaltevermögen malte . Anscheinend liess er sich dabei wenig von anderen, Ende der siebziger Jahre aktuellen Strömungen berühren, die sich aufgrund der Wiederentdekkung des Werkes von Francis Picabia bei Polke und seinen Epigonen breitmachte . Wenn sich auch Milan Kunc an der einen oder anderen öffentlichen Maiaktion beteiligte oder auch auf die Strasse ging, so blieb dies nur episodenhaft für sein malerisches Werk. Wesentlicher war demgegenüber die zeitweise Zusammenarbeit mit Peter Angermann und Jan Knap, die er während seines Kunststudiums in Düsseldorf kennengelernt hatte . Im Jahre 1979 schlossen sich diese drei Künstler zur losen Künstlergruppe «Normal» zusammen und stellten hier und da als Gruppe aus. 4 Ein Einstieg in die so widersprüchlich mit den Stilmitteln der klassischen Malerei und des sogenannten Kitsches operierende Bilderwelt von Milan Kunc lässt sich wohl am besten bewerkstelligen, wenn man sie sich chronologisch vor Augen führt . Am Beginn dieses bis heute so faszinierend konsequent durchgehaltenen Werkes, das Milan Kunc selbst als «Malerei der kontrollierten Torheit» tituliert hat, holte sich Milan Kunc hauptsächlich Anregungen aus dem Milieu der bürgerlichen Wohn- und Amtsstuben mit ihren auf den ersten Blick so harmlos anmutenden Bildsujets . Durch wenige kleine, aber sarkastische Veränderungen bekommen diese «Abmalungen» eine zynisch-satirische Komponente . Dies gilt besonders für eines seiner frühesten realistischen Bilder, auf dem ein deutscher Schä ferhund, der mit Jackett, Hemd und Fliege ausgestattet wird, eine charakteristische menschliche Note erhält (Abb. 4). Dabei braucht man heute kaum noch darauf hinzuweisen, dass der Begriff des Zynismus sich vom griechischen «kyne» = der Hund ableitet. s Dieses wie dann die in den folgenden Jahren bis 1978 gemalten Ölbilder sind von allgemeinen wie spezifischen Alltagsthemen getragen, die oft an die unmittelbare Sprache der Comics oder der Kaufhauskunst erinnern . Sie werden in einem betont naiven, von schlichtem Gemüt geprägten Kontext gestellt und auf diese Weise als übersteigerte Volkskunst dem Auge des Betrachters nahegebracht. Dies geschieht aber bei Milan Kunc auf solche Art, dass das Superkitschbild in seiner drastischen Übersteigerung schon wieder als Meisterwerk imponiert. Als Beispiel könnte man dafür das Gemälde mit den drei Plüschtieren anführen, die auf einer Wiese picknicken (Abb. 3) . Auch die politisch gefärbten Bilder, die die altbekannten WerbeEmbleme von Coca Cola mit denen von Macht und Politik wie Hammer und Sichel vermischen. kann man noch dieser Kategorie zurechnen (Abb. 14) . Die Huldigung des Westens an den Konsum und die östliche Ideologie werden in dieser Reihe von Bildern miteinander vermischt und vereinigt, was Kunc als eine Art «Prolet Pop» sieht. Seit 1979 drehen sich seine Bildsujets um bekannte Figuren aus dem Reich der Fabel, des Märchens und der Sage. Der schlaue Fuchs aus der Fabel Aesops, der Froschkönig und das Dornröschen sind in dieser Bilderwelt ebenso zuhause wie der


mittelalterliche Ritter, die Loreley, Tristan oder Paris. sowie der Comic-Held «Supermann. Manchmal wird von Kunc beides miteinander verbunden, so dass ein so unnachahmliches Werk wie die «Mythologische Landschaft» entstanden ist (Abb. 1) . Die ganze Szene mit der auf einem Einhorn sitzenden Loreley. die den müden Superman mit Flötentönen zu ermuntern trachtet, ist vor dem Hintergrund einer Burg in ein prächtiges Rosarot und Grün getaucht. Die Kitschigkeit der Farben und der Sujets vom Einhorn bis zum feuerwerksähnlichen Sonnenuntergang sind in ihrer süsslichen Farbenwahl auf faszinierende Art aufeinander abgestimmt . Schon seit Ende der siebziger Jahre misst Kunc seine Malerei auch an klassischen Motiven der Kunstgeschichte . Die Vorlagen beispielsweise alter Meister der italienischen Hochrenaissance wie Tizian oder Botticelli oder der deutschen Spätgotik wie Dürer, werden von ihm völlig auf die Gegenwart umgemünzt, indem etwa die traditio-

nellen Aktdarstellungen in lümmelnde, respektlose Hippies mit Zigarette , Coladose und Telephon verwandelt werden . Diese überraschende Umsetzung alten Formengutes zu ikonenhaften Bildern , die den Nerv des Zeitgeistes unmittelbar treffen. lässt sich sehr anschaulich an dem Bild «Atomic Nude» demonstrieren (Abb. 5) . Der Tizians ruhender Venus aus dem Jahre 1538 nachempfundene Akt atmet den selbstverständlichen Zigarettendunst unserer Zeit. Noch deutlicher w ird der Hintergrund verändert . Er zeigt dort, wo sich bei Titzian zwei reichgekleidete Frauen über eine Brauttruhe beugen , einen Fensterausschnitt mit der Silhouette eines Atomkraftwerkes. Ebenso selbstverständlich greift Kunc in seinem Bild «Venus in Gefahr» das grossformatige Werk «Geburt der Venus» von Sandro Botticelli aus dem Jahre 1485/ 86 auf (Abb. 7). Statt in klassischer Haltung mit Spiel- und Standbein auf einer Muschel zu stehen, balanciert die Venus von Milan Kunc mühsam . sich

Abb. 8 Mein Haus. 1982. Dispersionsfarbe und Acryl auf Leinwand. 220 x 240cm. 103


absonderlich verdrehend auf einem schwimmenden Autoreifen, mit dessen Hilfe sie auf die Insel zutreibt, die in ihren Konturen und dem beigefügten Kopfskelett an Böcklins Toteninsel erinnert. Zu diesem Themenkreis zählt auch das grossformatige Bildnis «Solitude - Sehnsucht eines Stadtmädchens» (Abb . 2) . Kunc bettet hier den Frauenakt in die tropische Vegetation einer Südseeinsel. Die romantisierende Darstellungsweise der Pflanzen und des Straussvogels spielt ebenso wie die sich naiv kräuselnden Wellen auf die Kunst des Zöllners Henri Rousseau an . Doch andererseits ist das gesamte Bild in der Kontrastierung vom agressiven Hund mit den Wolfszähnen und dem sanft hingestreckten Mädchen, das notdürftig in einen mit Tigerflecken durchsetzten Stoff gehüllt ist, und der gekonnten Verbindung von hellen und dunklen Farbfeldern offensichtlich dem Psychologisierungsdrang unserer Gesellschaft verpflichtet . Hier

Abb. 10 Befreiung. 1983. Acryl mit Dispersionsfarbe. 282 x 162 cm. Foto: Anne Gold.

Abb. 9 Disco. 1982. Öl auf Leinwand. 225 x 125 cm. Foto: Anne Gold. 104

kommt gleichfalls das Motiv der Einsamkeit, der menschlichen Isolation zum Ausdruck, das Kunc immer wieder a~fgegriffen hat. So beispielsweise in dem Bild «Femme fatale Artique» von 1981 (Abb . 6). Der Künstler hat die Loreley-Schönheit auf das Eis gesetzt. Sei einer Übersicht über das Kuncsche Werk müssen auch mehrere Zyklen von Paarbildern erwähnt werden, die Kunc in den vergangenen Jahren in vielfältigen Variationen immer wieder gemalt und gezeichnet hat . Als typisches Beispiel mag für diesen Themenkomplex das «Disco»-Bild aus dem Jahre 1982 vor Augen geführt werden (Abb. 9). Ein durch und durch melancholisches Paar hält sich in einer tristen Atmosphäre gegenseitig eng umschlungen . Das giftig bläuliche Scheinwerferlicht überzieht die Gesichter gleichsam mit depressiver Schminke, zu dem sich die eingeblendeten Paradiesträume auf dem Arm des Mannes in unerwartetem, doch sprechendem Kontrast abheben . Milan Kunc hat in den vergangenen drei Jahren auch eine Reihe von Bildern geschaffen, die man mit mittelalterlichen Totentänzen vergleichen könnte. Diese bei Milan Kunc voll mit Ironie und auch mit Melancholie angefüllten Bilder knüpfen an das alte Thema der Vanitas-Motive wieder an, wie es deutlich in dem 1982 entstandenen Werk «Mein Haus» zum Tragen kommt (Abb. 8) . Der Künstler selbst hat seinen Elfenbeinturm


in die Augenhöhle transponiert; darüber auf dem Schädeldach regt sich schlichtes Leben . In diesem Bild irritieren gleichfalls, neben einigen abgenutzten Klischees, die vom Bläulichen ins Rosarote zerfliessenden Farben, die man eher von einer italienischen Postkarte mit der Stimmung eines Sonnenunterganges gewohnt ist . Sehr häufig tauchen andere Symbole des Todes in Form von Gerippen, Extremitäten, Knochen, Schädeln oder Resten von Tierkadavern in seiner Bilderwelt auf. Manchmal konfrontiert er auch in traditioneller Weise den Knochenmann mit einem jungen Mädchen (Abb. 11). Es gibt auch Bilder von Milan Kunc, wo das Skelett schon bei den Lebenden durchscheint, wie es sarkastisch in dem kleinen Gemälde «RöntgenSonnenuntergang» der Fall ist (Abb. 12). In konsequenter Weiterführung bereichert er diesen, von der Kunstgeschichte schon lange überlieferten ikonographischen Spielraum durch die zentralen Anordnungen von Gehirnen, um die sich auf die

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Abb. 12 Röntgen-Sonnenuntergang. 1982. Öl auf Leinwand. 50 x 60 cm. Foto: Anne Gold. Privatbesitz.

Abb. 11 Frau und Tod. 1982. Buntstiftzeichnung. 30 x 21 cm. Foto: A. H. Murk.en. Privatbesitz.

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eine oder andere Weise charakteristische Metaphern unserer Zeit gruppieren. Dies gilt etwa für das Werk ccAm Abgrund der Freiheit» , in dessen Mittelpunkt ein Grosshirn liegt, das anstelle des Schädels oder der Gesichtsfassade einen Tempelportikus aufweist (Abb. 15). Das palastartige Gebilde wird von einem gepflegten, sauber abgezäunten Park umgeben, in dem Luxuswagen, Swimming-pool und Tennisplätze einen hermetisch abgeriegelten Paradiesgarten unserer Zeit ä Ja DenverClan signalisieren. Es gibt andere Kuncsche Bilder, die das Gehirn sozusagen auf kleinbürgerlicher Ebene in ein Hexen- oder Schrebergartenhaus verwandeln oder es ruht wie eine gestrandete Qualle in einer Landschah mit verendenden Baumstrümpfen, wo nur noch aus den Gehirnfurchen Früchte spriessen . Die Hoffnungen, die damit an den menschlichen Schöpfergeist allen pessimistischen Weltgefühlen zum Trotz kundgetan werden, kommen

Selbstporträt imponiert der Künstler als Mars, mit Pinsel und Palette ausgerüstet. Links im Bild erkennt man wie in einer metaphysischen nächtlichen Strassenlandschah eine Gruppe von Menschen, die völlig distanziert ist vom dem Tun und Bemühen des Künstlers sich anzupassen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Leider konnte man bisher nur selten eine grössere Zahl von Bildern aus dem schon grossen Oeuvre von Milan Kunc sehen, das wie ein märchenhaftes, in vielen Facetten spiegelndes Panoptikum unserer Zeit anmutet . 6 Noch weniger konnte man sich bisher eine Vorstellung von seinem zeichnerischen Werk machen, das naturgemäss viel unmittelbarer den fast unerschöpflichen Fundus von Bildideen dieses mit grosser Disziplin malenden Künstlers vor Augen führt. In diesem Medium, ob er nun mit Buntstiften, Kohle, Filzstiften, Kugelschreiber oder Bleistift zeichnet, erweist sich Milan Kunc als ein Künstler, der

Abb. 14 Coca Cola. 1978. Öl auf Leinwand. 230 x 130 cm. Abb. 13 Der wahre Avantgardist versucht vergebens, in die Schublade zu passen. 1982. Öl auf Leinwand. 203 x 214 cm. Foto: Anne Gold.

sehr deutlich in einem der jüngsten Bilder ccBefreiung» zum Tragen (Abb. 10) . In fast psychologischer Manier stellt das Gemälde eine Traumvision dar, in der das Gehirn mittels einer Rakete in den Weltraum geschossen wird . Die Schädelhöhle fällt am Fallschirm zur als Kubus deformierten Erde zurück . Dieser dynamische Vorgang ist eingerahmt von verschiedenen Symbolen des Lebens, die das Geschehen kommentieren. Versucht man abschliessend ein Resümee zu dem künstlerischen Schatten von Milan Kunc zu ziehen, so fällt einem in erster Linie die ungewöhnlich reiche und dichte Phantasiewelt auf, die in seinen Bildern mit fast altmeisterlichem Können in Szene gesetzt wird . Nur schwer kann man diesen Künstler, den man sicherlich, wie eingangs schon angedeutet, in engem Zusammenhang mit der Maibewegung der achtziger Jahre sehen muss, der einen oder anderen Richtung zuweisen . Milan Kunc hat das auf seine Weise einmal ironisch-spöttisch in einem Bild ccDer wahre Avantgardist versucht vergebens in eine Schublade zu passen» parodiert (Abb. 13) . In diesem 106

sein Handwerk souverän beherrscht. Spontaner, ironischer als in seinen Bildern, die häufig mit einer Mischung von Acryl und Ölfarben gemalt sind, artikuliert sich auf dem Zeichenpapier ein hellwacher, kritischer Geist. Zusammenfassend kann man wohl mit Recht behaupten, dass im letzten Jahrzehnt in Düsseldorf von Milan Kunc ein kontinuierliches Werk von grosser malerischer Qualität geschaffen worden ist . Seine technische Universalität und künstlerische Spannweite erlauben ihm gleichsam im Märchengewand gleichnishafte bis surrealistische Gemälde entstehen zu lassen . Es sind zu Bildern gewordene Fabeln, die man sicherlich in die Nähe der volksnahen Bilder von Hieronymus Bosch, William Hogarth oder Honore Daumier rücken kann , die die bildnerische Kraft haben könnten. bald zu Ikonen unserer Zeit heranzureifen .


Anmerkungen

• Seit dem Buch von Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main 1983 ist dieser Begriff in aller Munde. Er wird auch neuerdings unentwegt im Zusammenhang mit der Malerei der Gegenwen bemüht .

' Vgl . dazu den von Wolfgang Becker herausgegebenen Katalog: Les Nouveawc Fauves. Die Neuen Wilden. Neue Galerie, Sammlung Ludwig. Aachen. 19. 1. bis 21 . 3 . 1980. Im Vorwort äussert sich Wolfgang Becker auch dazu : •Ich habe den Titel cles Nouveaux Fauves - Die Neuen Wilden• in der Ausstellung • Paris- Berlin» im Pariser Centre Pompidou gefunden. weil ich dort die Frage ungenügend beant wortet fand, we s den cFau ves• und dem deutschen Expressionismus um 1910 ge· meinsam war und was sie trennte, und weil ich für diskussionswürdig halte zu un· tersuchen, ob Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten heute wieder auftreten. wenn wir davon ausgehen. dass hier w ie dort Rückbezüge zum Fauvismus - Ex pressionismus sichtbar sind .• 4

• Man konnte allerdings seit 1979 In verschiedenen Einzelausstellungen in privaten Galerien schon einen guten Einblick in das Werk von Milan Kunc gewinnen. Bemer kenswert ist dabei , dass dieser Künstler schon früh in Holland, Frankreich und den USA beachtet worden ist. Im April 1983 hat der Kunstverein für die Aheinlande und für Westfalen in der Düsseldorfer Kunsthalle ebenso w ie das Museum in Groningen, Niederlande, eine grössere Retrospekt ive von Milan Kunc präsentiert . 4

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1 Vgl. dazu auch: Arm in Wildermuth: Neue Tendenzen in Frankreichs MalereiDurchbruch zur freien Figuration . Kunst·Bulletin des Schweizerischen Kunstvereins (19841. H. 2, S. 2- 11.

, Thomas S. Kuhn: Oie Struktur wissenschaftlicher Revolutionen . 5. Aufl. Frankfun am Main 1981. ' Eine der wesentlichsten Ausstellungen dieser Künstlergruppe zeigte die Neue Galerie - Sammlung Ludwig in Aachen vom 17. 10. bis 17. 11. 1981 .

Abb. 15 Am Abgrund der Freiheit. 1982. Dispersion und Acryl auf Leinwand. 165x 163 cm. Foto: Anne Gold. Privatbesitz.

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