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Die Profis Ein Heft über unsere Verkaufenden Posieren in Yoga-Stellung und andere Verkaufsmethoden

Ein Schwatz mit Sommaruga und Tschäppat: unsere Berner Verkäuferin und die Politiker

Nr. 342 | 23. Januar bis 5. Februar 2015 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Schön und gut. Ab sofort sind die trendigen Surprise-Caps und Surprise-Mützen mit eleganter Kopfwerbung wieder erhältlich. Beide Produkte in Einheitsgrösse. Jetzt Zugreifen!

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*gemäss Basic 2008-2. heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch Seite bitteMACH

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Herzlichen Glückwunsch! Die Gewinner des Kreuzworträtsels in der Ausgabe Nr. 340 sind: 1. Jacqueline Otter aus Zürich gewinnt ein halbes Jahr Surprise im Abo. 2. Danielle Destraz Kaune aus Basel gewinnt eine Teilname für zwei Personen am Sozialen Stadtrundgang. 3. Renata Rindisbacher aus Bern gewinnt eine Surprise-Tasche. Lösungswort: Taj Mahal

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Titelbild: Philipp Baer

Editorial Hinstehen BILD: ZVG

Vor vielen Jahren hat uns Christoph Schlingensief ein E-Mail-Interview gegeben und dabei manche Sätze hingeschrieben, die gut klangen, die sich mir damals aber nicht ganz erschlossen. «Arbeitslosigkeit sollte man als Kapital einsetzen», war so einer. Schlingensief hatte damals gerade Arbeitslose aus ganz Deutschland versammelt und war mit ihnen vor Helmut Kohls Ferienhäuschen am Wolfgangsee baden gegangen – in der Absicht, mit dem Wasser, das dabei verdrängt wird, die Residenz des Kanzlers zu fluten. Ich weiss nicht, ob er die Arbeitslosigkeit damit tatsächlich als Kapital einsetzte, aber er nutzte sie als starkes politisches Symbol. Der Satz kommt mir in Gesprächen mit unseren Verkäufern seither immer wieder in den Sinn. Denn hier wird das Kapital sichtbar: in den Persönlichkeiten und in ih- DIANA FREI ren Ansichten, Erfahrungen, Überlegungen. Wer einen Tag lang hinsteht und vom REDAKTORIN Trottoirrand aus die Menschen beobachtet, sieht die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Natürlich ist es nicht wünschenswert, dass eine Gesellschaft sozial benachteiligte Menschen hervorbringt, aber ihr Blickwinkel tut uns gut. Denn sie sehen was, was wir nicht sehen. Ihre Sichtweise ist letzten Endes der Kunst nicht unähnlich: Sie ist ganz oft ein Korrektiv zur Leistungsgesellschaft, ein alternativer Denkansatz und ein guter Ausgangspunkt, um Werte zu hinterfragen. Deshalb haben wir mit der vorliegenden Ausgabe den Verkaufenden und ihren Gedanken ein Sonderheft gewidmet. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass einer der ersten Surprise-Verkäufer heute nicht nur Performancekünstler ist, sondern sich seinerzeit nicht einmal bewusst war, dass er bei Surprise in einem sozialen Projekt war, das für sozial Benachteiligte gedacht ist. Für ihn war es einfach eine Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu gehen. Und vielleicht hätte Verkäufer und SP-Mitglied Markus Christen nicht solch konkrete Ideen für eine bessere Sozialpolitik, wenn er nicht bis vor Kurzem Sozialhilfeempfänger gewesen wäre. Und Nicolas Gabriel hätte ohne stundenlanges Auf-dem-Trottoir-Stehen (in Yoga-Positionen!) für sich vielleicht nie erkannt, dass die Welt «voller unausgesprochener Aufforderungen» ist, wie er selber sagt. Nun stellen wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, auch einmal auf die Strasse – in einer Aktion, bei der Sie unsere Verkaufenden begleiten dürfen. Die Idee ist im Rahmen der Verkäuferwoche entstanden, die das International Network of Street Papers INSP durchführt. Surprise gehört dem INSP an und macht mit der Aktion bei der «Vendor Week» – der internationalen Verkäuferwoche – vom 2. bis 8. Februar mit. Wir wünschen Ihnen für einmal also nicht nur gute Lektüre, sondern auch guten Verkauf! Herzlich Diana Frei

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@strassenmagazin.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise Neu jetzt auch ganz einfach online spenden! http://www.vereinsurprise.ch/spenden-surprise/ SURPRISE 342/15

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10 Verkauf Das Team vom Bahnhof Zürich Ruedi Kälin will’s genau wissen: Er betreibt den Surprise-Verkauf, wie andere eine Firma führen. Mit seinen Kollegen tauscht er Verkaufszahlen aus, und er verlangt von ihnen Auskünfte über Standorte und Wetterverhältnisse. Zusammen mit Peter Conrath, Markus Thaler und Ewald Furrer hat er ein unschlagbares Team aufgebaut. Die Standorte rund um den Bahnhof Zürich teilen sich die vier, aber sie schwärmen bis nach Aarau und Chur aus.

16 Politik Prominente Kundschaft Lisbeth Schranz ist unsere Polit-Beobachterin in Bern: Seit 15 Jahren verkauft die bald 72-Jährige Surprise im Bahnhof und auf dem Märit. Bundesrätinnen, Fraktionspräsidenten und der Stapi kaufen bei ihr, viele von ihnen sind immer wieder für ein Schwätzchen zu haben. Wir wollten von Lisbeth wissen, welche Erfahrungen sie dabei gemacht hat und welchen Blick sie auf Bundesbern hat.

BILD: ANNETTE BOUTELLIER

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Inhalt Editorial Ich sehe was, was du nicht siehst Die Sozialzahl Kaufen mit knappem Budget Aufgelesen Gedenktafel für Big-Issue-Verkäufer Zugerichtet Dümmer als die Polizei erlaubt Hausmitteilung Steigender Verkaufserfolg Starverkäufer Haile Abraha Asrat Porträt Kunstperformance statt Wohnung Meine Strategie Posen und Überzeugungen Icon Poets live Gewürfelte Inspiration Kultur Hirschhorn in der Bronx Ausgehtipps Dr. Jekyll/Mr. Hyde in Luzern Verkäufermeinung Markus Christens Sozialpolitik Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

BILD: PHILIPP BAER

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BILD: CRISTINA CHOUDHARY

20 Comic Falscher Eisbär

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Selbst Erlebtes, gemischt mit Erzählungen von Freunden und Bekannten, dazu ein guter Schuss Fantasie: So beschreibt Surprise-Verkäuferin Cristina Choudhary, was sie seit Jahrzehnten zu Zeichnungen und Gemälden inspiriert. Schon als Kind, sagt sie, sei der Farbstiftkasten ihr grösster Schatz gewesen. Heute verarbeitet sie ihre Erlebnisse auch mit Aquarell- und Ölfarben. Für die vorliegende Ausgabe hat Cristina Choudhary eine neue Bildergeschichte gezeichnet – über einen Eisbären in der Hundemeute.

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Ausgabenpost en im Grundb 2

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Die Sozialzahl Das soziale Existenzminimum Armutsbetroffene Haushalte werden in der Sozialhilfe bis zum sozialen Existenzminimum materiell unterstützt. Gemäss den Richtlinien der Schweize rischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS setzt sich dieses sozi ale Existenzminimum aus vier Komponenten zusammen. Der Grundbedarf, die Miete, die Krankenversicherung und die situationsbedingten Leistungen sollen zusammengerechnet die gesellschaftliche Teilhabe armutsbetroffener Menschen auf bescheidenem Niveau ermöglichen. Die Höhe des sozialen Existenzminimu ms hängt wesentlich vom Wohnort ab. Mieten und Präm ien für die Krankenversicherungen, aber auch die situation sbedingten Leistungen, etwa die Haftpflichtversicherung oder der Musikunterricht für ein Kind, fallen von Kanton zu Kanton, ja von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich aus. Darum hat die SKOS auch keine gesamtschweizerische Armutsgrenze fixiert. Einzig beim Grundbedarf wird davon ausgegangen, dass dieser im ganzen Land in etwa gleich hoch sei. Für eine Person stehen 986 Franken, für eine Familie mit zwei Kindern 2110 Franken zur Verf ügung. Die SKOS empfiehlt, dass die Beträge analog zu den Renten der AHV und der Invalidenversicherung sowie den Ergänzungsleistungen regelmässig der Teuerung angepass t werden. Der Grundbedarf steht für die Ausg aben des täglichen Bedarfs zur Verfügung. Aus diesem sind Essen und Trinken, Kleidung und Schuhe, Aufwendungen für Hygiene, Kommunikation und Mobilität zu bezahlen . Aus den Erhebungen des Bundesamtes für Statistik über das Ausgabeverhalten der Haushalte mit tiefen Einkommen weis s man, dass diese etwa die Hälfte für Ernährung und Bekl eidung verwenden (müssen). Weil die grossen Detailhandels ketten im ganzen Land

Sonstiges der Schweiz

Quelle: Bundesa

mt für Statistik

/SKOS

ahrungsmittel festlegen, aber dieselben Preise für die Grundn n sfirmen schweizweit dieselbe auch Filialen von Bekleidung bis S SKO der rf eda der Grundb Preisschilder verwenden, wird gelegt. fest ig äng tabh nor heute nicht woh etwas genauer an, fällt orb enk War den Schaut man sich rung und Bekleidung ist im dreierlei auf. Der Anteil für Nah halten sehr hoch. Dafür fehVergleich zu Mittelschichtshaus und Ferien. Zudem sind die len Ausgabenposten für Bildung ion und Mobilität sehr beBudgetposten für Kommunikat , wo sich armutsbetroffene scheiden. Damit wird deutlich n müssen. Haushalte primär einschränke edarfs wird grundsätzlich Die Verwaltung dieses Grundb lten überlassen. Sie müssen den armutsbetroffenen Hausha entscheiden, wie viel Geld sie wie alle anderen auch selber en. Damit erübrigen sich die für welche Bedürfnisse ausgeb schen, die von der SozialhilStammtischdiskussionen, ob Men oder dreimal in der Woche fe unterstützt werden, rauchen armutsbetroffenen Menschen Fleisch essen dürfen. Auch von n beschränkten Mitteln verantwird erwartet, dass sie mit ihre . Die Sozialhilfe kann allerwortungsvoll umgehen können als Überforderung erweisen dings einschreiten, wenn sich dies Mittel nur wochenweise übersollte. So ist denkbar, dass die rn getrennte Konti erhalten, wiesen werden oder dass die Elte oblemen zu kämpfen hat. wenn ein Elternteil mit Suchtpr g nach einer deutlichen AbSeit Jahren steht die Forderun esondere für Einzelpersonen, senkung des Grundbedarfs, insb t um Franken und Rappen geim Raum. Dabei kann es nich rage zu beantworten, ob Arhen. Vielmehr ist die Grundsatzf lichen Leben in begrenztem mutsbetroffene am gesellschaft r nicht. Ende Januar wird die Rahmen teilhaben dürfen ode und Ausgestaltung des GrundSKOS einen Bericht zur Höhe die Ergebnisse darf man gebedarfs veröffentlichen. Auf spannt sein. PFE L @VERE INS URP RISE CAR LO KNÖ PFE L (C.K NOE WO MM BILD : SOP HIE AMM ANN ,

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Gekappt Freiburg. Laut der deutschen Bundesnetzagentur, der unter anderem für den Strommarkt zuständigen Behörde, wurde im Jahr 2013 exakt 344 798 Haushalten der Strom abgestellt – und zwar weil die Bewohner die Stromrechnungen nicht mehr bezahlten konnten oder wollten. Das sind 23 000 Haushalte mehr als im Vorjahr. 200 000 Haushalte davon sind solche, die Hartz IV beziehen. Insgesamt wurde sage und schreibe 7 Millionen Haushalten angedroht, den Strom zu kappen.

Eingerichtet Dortmund. In der 570 000-Einwohner-Stadt Dortmund leben derzeit gegen 2000 Asylbewerber, 1600 von ihnen in eigenen Wohnungen. Das ist auch erklärtes Ziel der Stadt: «Menschen leben in Wohnungen, nicht in Einrichtungen», lässt sich eine Behördenvertreterin zitieren. Die Bevölkerung des Quartiers, in dem die «Zentrale Unterbringungseinrichtung» mit ihren rund 300 Asylbewerbern liegt, zeigt sich übrigens solidarisch: Ein Student und zwei Lehrerinnen wollen Nachhilfe geben, Anwohner Flüchtlinge auf Behördengängen begleiten und für Schüler ein Sportangebot schaffen.

Verewigt London. In Edinburgh ist eine Gedenktafel für den verstorbenen Big-Issue-Verkäufer John White enthüllt worden. White war im vergangenen August im Alter von 69 Jahren einem Krebsleiden erlegen. Die Gedenktafel hängt an seinem einstigen Verkaufsplatz. Darauf prangt Whites Verkaufsspruch «Don’t be shy, give it a try» – etwa: Keine Angst, probier’s mal. Zudem heisst es, White werde «von der lokalen Gemeinschaft zutiefst vermisst werden».

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Zugerichtet Justitia lacht zuletzt Wenn Filmheld Danny Ocean, verkörpert von George Clooney, mit seinen Jungs einen Coup plant, ist eine kriminelle Intelligenz und Eleganz am Werk, die dem Zuschauer Bewunderung abringt. Im realen Leben hingegen ist Kriminalität oft die Berufswahl von Brutalen und Skrupellosen oder Schwachköpfen. Die Allerdümmsten von ihnen werden gleichwohl berühmt: Ihr kriminelles Unvermögen macht sie zum Gaudi der Leser der «Vermischten Meldungen». Ein 25-jährige Russe brach erfolgreich in ein Ferienhaus im Tessin ein, köpfte zur Feier des Tages eine Flasche Champagner und kochte sich ein leckeres Häppchen, worauf ihn die Lust auf ein warmes Bad übermannte. Der Hausbesitzer hörte das Wasser rauschen, als er ins Wochenendhaus kam. Der Russe hingegen hörte die Polizisten, die das Badezimmer umstellten, nicht. Sie erwischten ihn im Wortsinn mit heruntergelassener Hose. Alkohol, Drogen und Müdigkeit sind ein Garant für Kunstfehler. So schlief ein Mann am Boden eines St. Galler Supermarkts ein, in den er nachts eingebrochen war. Die Einbruchwerkzeuge hatte er noch in der Hand, in der Sporttasche fanden die Polizisten grosse Mengen verschreibungspflichtiger Betäubungsmittel, die der Einbrecher zuvor in einer Apotheke gestohlen hatte. In Basel wurde ein Mann verhaftet, der dank seines Handys identifiziert werden konnte. Er hatte es am Tatort vergessen, nachdem er es zum kostenlosen Aufladen an die Steckdose gehängt hatte. Und in Zürich stand ein 23-Jähriger vor dem Bezirksgericht, der einen Getränkekiosk ausgeraubt hatte. Er war ganz

cool hineingelaufen, hatte eine Flasche Wodka aus dem Kühlschrank genommen und bezahlt. Als der Kassierer die Kasse öffnete, griff der Dieb ins Notenfach und wieselte weg. Sein Portemonnaie, das er zur Bezahlung des Wodkas gezückt hatte, liess er in der Hektik zurück – samt Identitätskarte. Einen Eintrag in der Rubrik «Dümmer als die Polizei erlaubt» verdiente sich ein 28-jähriger Autofahrer aus Aargau: Ihn stoppte die Polizei, als er ohne Führerausweis in seinem BMW unterwegs war. Einem BMW, der notabene gar nicht eingelöst war. Er musste deshalb das Auto stehen lassen und erhielt die Auflage, den Wagen in den nächsten Tagen vor dem Polizeiposten abschleppen zu lassen. Zwei Tage später staunte ein diensthabender Polizist nicht schlecht, als er vor dem Polizeiposten unbekannte Männer beobachtete. Diese machten sich an dem BMW auf dem Parkplatz zu schaffen und fuhren mit «quietschenden Reifen» davon. Die Polizei suchte den Autobesitzer auf. Und dieser gab zu, er habe sich in der Nacht nach Schafisheim fahren lassen, anschliessend gestohlene Nummernschilder an sein Auto montiert und dieses weggefahren. Seine Begründung: Er könne sich den Abschleppdienst nicht leisten. Vielleicht einfach sehr verwegen war der Räuber, der mit zwei Kumpanen auf einem Parkplatz ein Ehepaar überfiel. Der 20-Jährige war von den äusseren Reizen des weiblichen Opfers dermassen angetan, dass er die Frau unbedingt wiedersehen wollte. Im entwendeten Portemonnaie fand er ihre Visitenkarte, und zwei Tage später rief er sie an und bat die Frau um ein Date. Sie gab dem Bittsteller einen Korb und der Polizei einen Tipp. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 342/15


Hausmitteilung Das Jahr 2014 aus der Sicht des Präsidenten

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Touren zeigen die von uns betreuten Stadtführer ihre eigene Lebenswelt und besuchen Institutionen wie Gassenküchen oder Notschlafstellen. In Basel begann das Projekt im Herbst 2013. Seitdem wurden bereits 370 Rundgänge mit insgesamt rund 5000 Teilnehmenden durchgeführt. In Zürich erfolgte der Start im Herbst 2014. In kurzer Zeit waren alle Touren bis zum Jahresende ausgebucht. Das neuste Projekt heisst «Café Surprise». In Bern, Zürich und Basel können die Gäste in Restaurants einen zusätzlichen Kaffee bezahlen. Dieser wird später einer bedürftigen Person gratis abgegeben. So kann auf einfache Weise Solidarität gelebt werden. Das Angebot wurde anfangs nur ungenügend wahrgenommen, unterdessen hat es sich eingependelt. Das Jahr 2014 war durch Kontinuität gekennzeichnet. Zusammen mit dem Vorstand wurde ein breit angelegter Strategieprozess durchgeführt. Als Ergebnis sind Ziele geklärt, die Abteilungen besser vernetzt und das Verhältnis zur Trägerschaft intensiviert worden. Der ehrenamtlich tätige Vorstand des Trägervereins konnte als neues Mitglied Sylvia Egli von Matt, ehemalige Direktorin des Medienausbildungszentrums MAZ in Luzern, willkommen heissen. Damit sind die vielfältigen, breit gefächerten Kompetenzen sinnvoll ergänzt worden. Die Vorstandssitzungen verliefen konstruktiv, anregend und in einem Klima der Wertschätzung. In finanzieller Hinsicht wird das Geschäftsjahr mit einem verkraftbaren Verlust enden.

Das Herzstück unseres Unternehmens sind die Verkaufenden. Sie stehen bei jedem Wetter auf der Strasse und lassen sich auch dann nicht entmutigen, wenn viele Passanten vorbeieilen oder abschätzig reagieren. Ihr Aufsteller sind jene Menschen, die stehen bleiben, ein paar Worte wechseln und ein Magazin kaufen. Dazu gehören wohl auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser. Für Ihre Treue sage ich Ihnen herzlich danke. Und nicht zuletzt bedanke ich mich bei allen Spenderinnen und Spendern. Da wir ein privates Unternehmen sind, das keinerlei öffentliche Gelder erhält, sind wir auf Ihre Unterstützung auch weiterhin dringend angewiesen. ■

BILD: ZVG

Seinerzeit hatte alles mit einem bescheidenen Heft angefangen, schwarz-weiss auf billigem Papier. Die «Arbeitslosenzeitung» eröffnete Arbeitslosen und Armutsbetroffenen schon damals eine Verdienstmöglichkeit, gab ihnen eine Aufgabe und brachte sie in Kontakt mit andern Menschen. Weil die Verkaufenden den Mut hatten, zu ihrer Situation zu stehen, machten sie sichtbar, dass es auch in der reichen Schweiz Armut gibt. Und das gilt heute mehr denn je. Der Verkaufserfolg ermöglichte es uns in den folgenden Jahren, das Magazin bis zur heutigen Qualität zu verbessern. Der Vorstand ist stolz auf dieses Produkt. Auch die Lesenden schätzen es, jedenfalls hat der Verkauf im vergangenen Jahr zugenommen. Weil sich die Verkaufenden auch mit andern als nur finanziellen Problemen herumschlagen müssen, bieten wir ihnen Beratung und weitere Unterstützung an. Wir haben zudem Freizeitangebote entwickelt, die gerne genutzt werden. Surprise organisiert für Armutsbetroffene die Schweizer Meisterschaft im Strassenfussball und entsendet eine Mannschaft zum Homeless World Cup. In unserm Strassenchor erleben viele Betroffene Harmonie und Freude. Mit seinen öffentlichen Auftritten beweist der Chor, dass man sich in Notlagen nicht zu verstecken braucht. Armut zum öffentlichen Thema zu machen, war uns stets ein Anliegen. Diesem Ziel dienen auch die Sozialen Stadtrundgänge, die wir in Basel und neuerdings in Zürich durchführen, andere Städte sollen folgen. Auf verschiedenen

Starverkäufer Haile Abraha Asrat Rino Schwenk aus Kriens schreibt: «Surprise-Verkäufer Haile Abraha Asrat vor der Kantonalbank in Luzern besticht durch seine beharrliche Ruhe. Eigentlich immer, wenn ich in der Nähe bin, sehe ich ihn, ein Exemplar von Surprise hochhaltend, seine Arbeit verrichten. Ich wünsche ihm jede Menge Kundschaft und werde auf jeden Fall weiter bei ihm Surprise kaufen.

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Porträt Spätzünder, Durchstarter Der Musiker und Künstler Domenico Billari schlug sich in seiner Jugend als Surprise-Verkäufer durch. Über den Systemverweigerer von damals schüttelt der heute 37-Jährige den Kopf. Ein Enfant terrible will Billari aber bleiben. VON OLIVIER JOLIAT (TEXT) UND MATTHIAS WILLI (BILD)

Werke, von Video-Instellationen über Fotografien bis zu Gemälden – letztere als Allegorie auf Demonstrationen auch mal mit Rauchbomben gefertigt statt mit Pinsel. Am spektakulärsten sind jedoch die Performances. Für seine Abschlussarbeit «Walking on the moon but on earth» hängte sich Billari etwa an eine ganze Traube Wetterballons, die mit Helium gefüllt waren, und dozierte in seinem Italo-Englisch über den Menschen und die Gravitation. Tippte er mit seinem Zeh auf den Boden, entschwebte er federleicht in die Höhe. Gemeint war dies auch als ein Verweis darauf, wie leicht der Mensch vom Boden der Realität abhebt. Diese Gefahr sieht Billari bei sich selbst jedoch kaum, obwohl seine Werke international auf reges Interesse stossen und er schon den einen oder anderen Preis gewonnen hat. «Das Geld ist Rettung auf Zeit, um mich bis zum nächsten Projekt durchzuschlängeln. Aber ich will nicht

Kaum 17 Jahre alt war Domenico Billari, als er die Schule abbrach. Er verstand nicht, was sie ihn am Gymnasium lehren wollten. Das lag weniger daran, dass er mit 13 Jahren erst einmal wieder Deutsch lernen musste, als seine Familie nach sieben Jahren Kalabrien in die Schweiz zurückkehrte. «Es war meine Jugendrebellion», sagt er. «Ich wusste zwar schon damals, dass ich die Welt nicht retten kann. Aber ich wollte etwas verändern und war anti alles, das nach System roch.» Die Schule stand zuoberst auf der Streichliste. Musik und Sprayen statt Mathe und Sprachen war seine Devise, parallel dazu verliess Billari auch sein Familienheim. «Ich zog von einem besetzten Haus zum nächsten. Das war kein Problem, denn in Basel gab es Ende der Neunzigerjahre viele alternative Orte und Projekte.» Eines davon war das 1997 gegründete Strassenmagazin Surprise. Billaris damalige Freundin erzählte ihm von dieser VerdienstFür seine Abschlussarbeit hängte sich Billari an eine ganze Traube möglichkeit. «Der Heftverkauf hat mir damals Wetterballons, die mit Helium gefüllt waren. So dozierte er über den definitiv den Arsch gerettet», erinnert er sich. Menschen und die Gravitation. Dass es ein soziales Projekt ist, wusste er nicht: «Für mich war es einfach ein links-alternatives einfach Werke produzieren, die sicheres Geld abwerfen.» Angebote daMagazin, gemacht für Arme.» Auch den meisten Passanten auf der zu hat er von Galerien schon erhalten. Doch da stellte er sich lieber wieStrasse war Surprise unbekannt: «Viele meinten, ich verkaufe Basler der quer: «Ich suche auch in diesem System nach einer Alternative und Fasnachtsplaketten.» Wie lange er das Strassenmagazin verkaufte, weiss arbeite nur dann an meiner Kunst, wenn ich inspiriert bin.» Neue Orte er nicht mehr genau. Es war irgendwann einer von vielen Jobs, um sich und Menschen sind für Billari noch immer die besten Ideenlieferanten. über Wasser zu halten. «Obwohl ich nie genug Geld für das normale GeDeshalb nutzte er die Möglichkeiten eines internationalen Atelieraussellschaftsleben hatte, fühlte ich mich nicht randständig. Ich war eintauschprogramms und lebte in Paris, Rom und Rotterdam. In der niederfach anders.» ländischen Hafenstadt hat er auch momentan wieder sein Atelier. «In Auch in der Besetzerszene suchte er seinen eigenen Weg. Zu viele erkleinen Städten findet man mehr Freiräume, zahlbare Ateliers, und der gaben sich den Drogen oder dem Alkohol. Billari wollte seinen Kopf Austausch unter den Kunstschaffenden ist besser. Auch Basel ist für nicht betäuben, sondern kreativ nutzen. «Ich traf zum Glück immer auf mich alles andere als provinziell. Hier suchen die Leute aktiv nach interintelligente Personen, die anders dachten und vor allem etwas auf die essanten Alternativen.» Beine stellten.» Der Graffiti-Sprayer lernte schnell andere Querdenker Im Dezember war er wieder hier, um seine Familie zu sehen und um aus der Hip-Hop-Szene kennen. Bald griff Billari unter dem Pseudonym Musik zu machen. Aktuell arbeitet er an neuen Songs mit Elektro-ProMimmo auch zum Mikrofon und gründete mit dem damals in Basel lebenden Italiener Fumo und den DJ-Brüdern Goldfinger Brothers die Forduzent Dario Rohrbach, und nächsten Herbst soll mit den Goldfinger mation Tempo al Tempo. Die Truppe erspielte sich mit satten Beats und Brothers das zweite Album von Tre Cani entstehen, dem Nachfolgeproitalienischen Raps, die trotz politischen Inhalten auch fernwehgetränkjekt von Tempo al Tempo. «Das kollektive Schaffen einer Band findet te Italianità verströmten, ein schnell wachsendes Publikum. Als Billari auch in meiner Kunst statt. Selbst wenn am Ende nur mein Name drauf18 wurde, zogen Tempo al Tempo los auf ihre erste Europa-Tour. «All die steht, stehen viele dahinter, damit es überhaupt funktioniert.» Gerne geunterschiedlichen Städte, Orte und Menschen kennenzulernen war unhören bei seinen grossen Performances auch Helikopterpiloten und glaublich inspirierend», erinnert sich Billari. Kranführer dazu. Rückblickend war die Tour auch das letzte Kapitel in Billaris autodiIst es für einen ehemaligen Surprise-Verkäufer nicht seltsam, wenn er daktischer Lebensschule als Kunstschaffender. Ihm wurde klar, dass er heute noch immer keine eigene Wohnung hat, aber für Performances das Handwerk von der Pike auf lernen musste, um in der Kunst weiter10 000 Franken ausgibt? «Manchmal reicht in der Kunst eine kleine Geszukommen. «Ich sagte mir: Nimm die Musik mit, vergiss alles andere te, aber manchmal willst du halt etwas Grosses machen, und dann und erfinde dich neu.» So machte er die Aufnahmeprüfung für die Hochbraucht es diese Mittel. Aber wenn ich als Spätzünder in der Kunstwelt schule für Gestaltung und Kunst und stieg mit 27 Jahren in den Grundetwas aus meiner Biografie mitnehme, dann ist es, dass ich als Enfant kurs für Fine Arts ein. «In den drei Jahren lernte ich alle Techniken. Das terrible auch mit wenig Geld grosse Ziele erreichen kann. Ich muss einwar unglaublich stimulierend.» Entsprechend variantenreich sind seine fach daran glauben und es unbeirrt durchziehen.» ■

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Verkauf Vier Männer und eine Mission Die Surprise-Verkäufer Ruedi Kälin, Peter Conrath, Markus Thaler und Ewald Furrer sind von Aarau bis Chur in fliegendem Wechsel unterwegs. Sie decken als Viererteam mehrere Standplätze ab und organisieren sich nicht nur selbst, sondern arbeiten auch stetig an der Verbesserung ihrer Verkaufsmethoden. Ein Gespräch über streng getaktetes Verkaufen und die gekonnte Analyse von Verkaufszahlen.

VON DIANA FREI (INTERVIEW) UND PHILIPP BAER (BILDER)

Markus, ihr verkauft in Aarau, Chur, Landquart, Zug und Zürich. Wenn du aufstehst am Morgen, woher weisst du, wo du hingehst? Markus: Wir schreiben uns SMS oder telefonieren am Vorabend. Peter: Früher machte Ruedi für uns einen festen Arbeitsplan, und an den hat man sich gehalten. Aber heute ist es nicht mehr ganz so fix, weil drei von uns auch noch die Sozialen Stadtführungen von Surprise machen und ich 80 Prozent in der Migros arbeite. Ewald, du verkaufst noch nicht lange. Ewald: Ja, erst seit Oktober. Ich habe bei Surprise zuerst nur als Stadtführer angefangen, weil jemand ausfiel. Ich bekam einen Verkäuferausweis, aber verkauft habe ich nicht. Bis mir Ruedi über den Weg lief, der fand: Du bist ja blöd, wenn du nicht verkaufst.

gemacht: das Wetter angesehen, den Standort, den Wochentag. Damit ich ungefähr weiss, welche Tage wo gut laufen. Das finde ich wichtig. Die Zahlen hast du explizit von ihm verlangt? Ruedi: Ja (lacht). Ich habe auch begonnen, neue Standorte dazuzugewinnen. Zug zum Beispiel habe ich mit einem Kollegen zusammen aufgebaut. Auch Luzern und Chur. Was heisst aufgebaut? Ruedi: Aufgebaut! Da musst du auch bleiben, wenn du schlechte Stunden hast.

Du hast dich anfangs gegen den Surprise-Verkauf gesträubt? Ewald: Ja, ich bin immer vorbeigelaufen und dachte: Das wäre nicht mein Ding, dastehen und nichts machen.

Damit du den Platz als Verkaufsstandort etablieren kannst? Ruedi: Ja, du musst Präsenzzeit haben. Sehr viel Präsenzzeit. Und auch stehenbleiben, wenn du null machst. Dann darfst du nicht einfach ins Café gehen. Peter: Aber in Schaffhausen gibt es ausser Ruedi und mir keinen festen Verkäufer, und es ist trotzdem ein Top-Ort. Ich weiss nicht, ob die Leute dort sozialer eingestellt sind als anderswo.

Was hat dich gestört? Fandest du, man stellt sich aus? Ewald: Ja, schon irgendwie. Ich stand dann an meinem ersten Tag an der Europaallee, und es liefen Leute an mir vorbei, die waren wie eine Wand vor mir. Ich hab’s mal gezählt: Am Morgen, wenn ein Zug angekommen ist, kommen 140 Leute pro Minute an mir vorbei.

Oder sind Schaffhauser einfach besser gelaunt als andere? Peter: Das möchte ich nun nicht unbedingt sagen, aber in Schaffhausen habe ich bisher keine negative Bemerkung über den Surprise-Verkäufer gehört – bis auf ein einziges Mal. In Zürich hingegen ist mir das schon ein paar Mal passiert.

Und mit der Zeit hast du dich dran gewöhnt? Ewald: Es war nicht nur das Gefühl, an das ich mich gewöhnt habe. Ich habe mir später auch überlegt: Wenn ich nun einfach am Bahnhof stehen und die Leute anschauen würde, käme nach spätestens zwei Stunden eine Polizeikontrolle und würde mich wahrscheinlich wegschicken. Aber so kann ich einfach dastehen und die Leute beobachten.

Was sagen denn die Leute? Peter: Meistens: «Du würdsch gschiider go schaffe.» Wobei die Aussage in Schaffhausen dafür krasser war als diejenigen, die in Zürich gemacht werden. Da lief eine Frau vorbei und raunte mich an: «Schiissipapier hani sälber gnueg dihäi.»

Ruedi holt immer wieder neue Leute ins Team. Zum Beispiel dich, Markus. Wie kam das? Markus: Wir haben im Gespräch gemerkt, dass wir die gleichen Hobbys haben, die gleichen Sportarten mögen. Ich habe früher auch Fussball gespielt, und im Eishockey sind wir Fans der gleichen Mannschaft. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm zusammenarbeiten wolle, weil er verschiedene Plätze hat. Damit man sich gegenseitig vertreten kann. Und wenn Ferien sind, kann man in eine andere Stadt ausweichen, die später Schulferien hat. Ferien und Feiertage habt ihr euch im Jahreskalender notiert. Ruedi: Ja. Zudem hat mir Peter früher Ende Monat immer seine Verkaufszahlen gegeben. Die habe ich mir aufgeschrieben und Vergleiche SURPRISE 342/15

Wie hast du da reagiert? Peter: Ich habe ihr gesagt, sie soll das Heft kaufen oder ich gäbe ihr gerne ein Probeheft, das soll sie erst mal lesen und dann ihr Urteil bilden. Du hast dich verteidigt. Aber wie hast du dich gefühlt? Peter: Schlecht. Das hat mich schon getroffen. Aber die Geschichte ging auf eine gute Art weiter: Im Schaffhauser Anzeiger haben sie mich porträtiert, und da stand das auch drin. Nachdem der Artikel erschienen war, kam diese Frau nochmals vorbei und kaufte ein Heft. Ruedi: Die Leute in Zug sind aber auch sehr freundlich. Peter: Trotzdem war es dort sicher am schwierigsten, den Aufbau des Standplatzes zu erarbeiten. Ruedi: Viele haben mir gesagt: Ruedi, hör auf in Zug. Das bringt gar nichts. Und wenn man mir das sagt, dann mache ich es erst recht. Ich

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habe mit Peter zusammen auch Luzern als Verkaufsort aufgebaut. Es ist wie bei einer Eishockey-Mannschaft. Wenn sie neu aufgestellt ist, ist sie noch nicht gut. Der Trainer muss dann gezielt Impulse setzen, und das ist im Verkauf auch so. Auch in Landquart bin ich nun dran. Dort lief es bisher nicht so gut, weil wir es nicht richtig durchgezogen haben. Jetzt mache ich es konsequent. Ihr reist die ganze Zeit herum, habt ihr ein GA? Peter: Ich habe ein GA, weil ich früher immer schwarzgefahren bin, und meine Schwester fand, die Bussen werden zu teuer. Da hat sie mir ein Monats-GA eingerichtet, damit ich in Raten zahlen kann. Unterdessen kann es mir mein Bruder vorfinanzieren, und ich zahle es bei ihm ab. Ruedi: Ich habe mein eigenes System: Jeden Fünfliber, den ich bekomme, lege ich für die Bahnreisen zur Seite. Das ist meine Reisekasse. Markus: Ein Problem haben wir aber an allen Standorten: Im Sommer, wenn es richtig warm ist und die Sonne scheint, läuft es gar nicht gut. Weil alle in der Badi sind? Markus: Oder in den Ferien. Ich habe schon gehört, dass man im Sommer auch mehrere Glace pro Tag in die Hand gedrückt bekommt. Stimmt das? Ruedi: Ich bekomme auf der Bahnhofbrücke oft einen Zmittag spendiert. Dann gehe ich in die Bahnhofshalle picknicken und habe schon wieder einmal das Essen gespart. Peter: Ja, aber wenn du Glace bekommst, musst du die sofort essen. Ruedi: Ich bekomme immer nur eine Glace aufs Mal. Und wenn ich die fertig gegessen habe, bekomme ich die nächste. Peter: Aber essen musst du sie trotzdem! Du, Peter, findest es eher mühsam, wenn du etwas geschenkt bekommst? Peter: Also mühsam … Ich habe es gern, wenn ich etwas bekomme. Und ich habe auch gern Glace. Aber es behindert mich, ja. Markus: Am schönsten und besten ist es, wenn die Leute fragen. Und wenn es etwas ist, das du mitnehmen kannst. Was ist wichtig beim Verkaufen? Peter: Die Leute anschauen, freundlich sein: Das ist das A und O. Und wenn du den Namen von Stammkunden weisst, möglichst den Namen behalten. Damit habe ich zwar manchmal Mühe, aber das verzeihen sie dir noch. Was sie dir aber nicht verzeihen: wenn du sie nicht wiedererkennst. Eine Strategie, die mir Ruedi beigebracht hat, ist: Präge dir irgendein Merkmal an einem Kunden ein. Wenn du an einem Ort neu anfängst, suche dir zehn Leute aus, die ein bestimmtes Merkmal haben. Und diese zehn grüsst du jeden Tag, jedes Mal, wenn du sie siehst. Ihr verkauft ja Surprise, um Geld zu verdienen. Wenn ihr aber da steht, seid ihr gleichzeitig eine Art Symbol dafür, dass es auch in Zürich nicht nur Banker mit Vorzeige-Karrieren gibt. Ihr seid Stellvertreter für andere, die von wenig Geld leben. Seht ihr euch selber auch in dieser Rolle? Peter: Eigentlich nicht. Aber als ich 2010 keinen festen Job mehr hatte, verkaufte ich ausschliesslich Surprise. Da fand mein Bruder: Was, mit diesen Drögelern und Alkoholikern gibst du dich ab? Da habe ich harsch reagiert und gesagt: Lerne erst mal einen von ihnen selber kennen. Es kommt nicht auf’s Aussehen an, sondern darauf, dass man sich selber hilft. Mein Bruder hatte Ruedi vor Augen, der ja gar keine Drogen nimmt, aber halt aussieht wie ein Landstreicher. Wenn du irgendwann wieder einen rechten Job bekommen willst, darfst du dich nicht mit solchen Leuten abgeben, meinte mein Bruder also. Da habe ich schon für Ruedi und die Surprise-Verkäufer ganz generell Partei ergriffen. ■

Der Städtevergleich: wie man wo Surprise verkauft Aarau Die Uhrzeit: Aarau läuft sehr gut, aber man muss früh dran sein, am besten von 7.15 bis 8 Uhr. Noch früher sind die Leute zu gestresst und rennen vorbei. Bis 13 Uhr muss man seine Hefte verkauft haben, nachher läuft nicht mehr viel. Die Leute: In Aarau bekommen Surprise-Verkäufer nie ein schlechtes Echo. «Besser als gar nichts machen», ist das Unfreundlichste, was man zu hören bekommt. Manchmal beobachten Leute den Verkäufer über Monate hinweg. Sie schauen, wie er sich gibt und wer er ist, und plötzlich kaufen sie ein Heft. Möglicherweise wollen sie erst wissen, ob er raucht, trinkt oder sein Geld auf ungute Art verschleudert. Chur Die Uhrzeit: In Chur muss man nicht vor 9 Uhr beginnen. Da läuft gar nichts, weil noch niemand auf der Strasse ist. Chur funktioniert frühmorgens nur im Bahnhof zwischen 7 und 7.30 Uhr. Am Abend läuft es von 16.30 bis 17.45 Uhr gut, nach 18 Uhr ist es gelaufen. Ausgenommen es regnet: Dann kaufen die Leute nochmals von 19 bis 19.30 Uhr. Die Vermutung: Die Leute halten sich drinnen auf und haben daher vielleicht schon ein Bier getrunken. Dann kaufen sie eher. Die Leute: Chur hat eine ganz andere Atmosphäre als andere Städte. Hier hört der Verkaufende oft: «Du machst einen guten Job.» Oder: «Man sieht dich bei jedem Wetter.» Es gibt sehr viele ältere Leute, die ein Gespräch beginnen und einem einen Fünfliber schenken. Eine Frau sagt zu Ruedi Kälin immer: «Schön, dass Sie wieder da sind! Dann kann ich mal wieder mit jemandem reden.» Landquart Die Uhrzeit: Landquart ist im Aufbau. Hier läuft es am Mittag und Abend aber bereits gut, vor allem am Freitag, weil da die Leute einkaufen gehen. Der neue Standort befindet sich näher am frisch umgebauten Coop, was eine Verbesserung ist. Die Leute: Die Landquarter sind nett. Zug Die Uhrzeit: Auch in Zug muss man eher früh dran sein. Von 10.40 bis 14 Uhr läuft es gut. Hier läuft der Verkauf, und das Trinkgeld ist gut. Es gibt nicht viele Orte, an denen beides dermassen gut läuft. Die Leute: Die Zuger sind spendabel. Gewisse Leute sind auch sehr gesprächig, vor allem die älteren Damen. Zürich Die Uhrzeit: In Zürich muss man um 8 Uhr spätestens am Ort stehen. Der Sihlquai und die Sihlpost laufen am Morgen sehr gut. Die Leute: In Zürich werden nach offizieller Verkaufsstatistik des Vereins Surprise am meisten Hefte verkauft. Es liegt auf der Hand, dass in der Menge der Begegnungen hier manchmal böse Kommentare fallen. Peter Conraths Vermutung: «Wahrscheinlich, weil es hier am meisten Sozialhilfeempfänger gibt, die man als Schmarotzer anschaut. Obwohl von uns vieren niemand Sozialhilfe bezieht.» Dafür gibt es viele Stammkunden, die gerne einen Schwatz halten. Schaffhausen Die Uhrzeit: Am besten läuft es von 9.30 bis 14 Uhr, weil die Leute dann einkaufen gehen. Sehr gut sind Dienstag und Samstag, weil es Markttage sind. Die Leute: In Schaffhausen sind die Leute ganz anders als irgendwo sonst: freundlicher und offener. Auch Leute, die keine Stammkunden sind, nehmen sich spontan Zeit für ein kurzes Gespräch. Quelle: Das Team vom HB Zürich

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Verkauf Ruedis Tasche Agenda 2014 & 2015: «Hier drin schreibe ich auf, ob es regnet oder die Sonne scheint, meine Stunden mit den genauen Uhrzeiten und Pausen und was ich an Trinkgeld gemacht habe. Wenn eine Woche vorbei ist, zähle ich alle Hefte zusammen und rechne die Einnahmen aus. Wir stehen mit einer Ausgabe zwei Wochen auf der Strasse, da vergleiche ich jeweils die Zahlen der ersten mit der zweiten Woche. Ich verkaufe jeweils in der zweiten Woche besser. Und warum? Weil mein System dementsprechend eingerichtet ist. Ich plane mir die Standplätze jeweils so ein, dass ich in der zweiten Woche besseren Umsatz mache. Das ist gut für die Motivation.»

Statistik-Mappen: «Die Daten aus der Agenda übertrage ich jeden Tag in meine Monatsstatistik und vergleiche sie immer mit dem Vorjahr. Ich habe alle Statistiken bis 2008 konsequent nachgeführt und archiviert.»

Joghurtbecher: «Hier drin ist mein Wechselgeld.»

Schilder: «In der ersten Woche benutze ich ‹Heute neu›, in der zweiten ‹Investieren Sie in etwas Sinnvolles›. Bei der Sihlpost darf ich sie an der Baustellenwand ankleben, auf der Brücke hänge ich sie ans Geländer. Und sonst lege ich sie an einer Ecke unter meine Tasche, damit sie nicht weggewindet werden.» SURPRISE 342/15

Couvert: Hier drin sind mehrere kleine Couverts: Im ersten lege ich jeden Tag was für den Mietzins zur Seite. Im zweiten den Kredit, um neue Hefte anzukaufen. Hier kommen jeden Tag 18 Franken hinein, das reicht für sechs Hefte. Ins dritte kommen drei Franken für mein Teleclub-Abo, das entspricht einem verkauften Heft. Ins vierte kommen die Einnahmen meiner Stadtführungen, die ich auch mache, ins fünfte jeden Tag zehn Franken, damit ich an Eishockey-Matches kann, und ins sechste mein Feriengeld. Mein Feriensystem funktioniert so: Wenn ich in einer Stunde vier Hefte verkaufe, geht eins ans Feriengeld. Wenn ich weniger mache, gibt’s kein Feriengeld. So schaffe ich mir meinen eigenen Anreiz.»

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Wer kein Surprise will, kriegt «20 Minuten»: Hans Rhyner in der Migros Seebach.

Meine Strategie «Ein Energielevel, das die Leute spüren» Die Surprise-Verkaufenden machen sich als Selfmade-Männer und -Frauen selber zu Verkaufsprofis. Sie verbringen etliche Stunden pro Tag auf der Strasse oder vor einem Einkaufszentrum und finden dabei eines sicher heraus: Was bei den Menschen ankommt. VON AMIR ALI (AUFGEZEICHNET) UND ROLAND SOLDI (BILDER)

Hans Rhyners Methode (60, Standort Migros Seebach, Zürich) «Im Kontakt mit Menschen zählen die ersten paar Sekunden – nicht nur, aber vor allem dann, wenn man ihnen etwas verkaufen will. Ich nehme ich immer einen Stapel Gratiszeitungen mit zu meinem Standplatz vor der Migros Seebach, denn dort gibt es keine Zeitungsbox. Ich biete den Leuten ein 20 ‹Minuten› an, auch wenn sie mir kein Surprise abkaufen – das wird sehr geschätzt. Anderen, die zum Beispiel an Krücken daherkommen, mache ich das Einkaufswägeli bereit und trage ihnen nach dem Einkauf die Taschen über die Strasse zur Bushaltestelle. Und wenn Mütter mit ihren Kindern kommen, schenke ich den Kleinen einen Kaugummi. Dieser zwischenmenschliche Kontakt ist nicht nur für das Geschäft nützlich. In erster Linie tut es mir einfach sehr gut. Und das ist am Ende das Wichtigste: Jeder Verkäufer muss mit ganzem Herzen bei der Sache sein. Sonst funktioniert es nicht. Das hat mich die Erfahrung gelehrt: Ich bin schon mein halbes Leben Verkäufer. Über zehn Jahre lang war ich im Aussendienst für die Firma Just tätig und ver-

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kaufte deren Naturkosmetik: Seifen, Shampoos, Fusscreme. Ich war der klassische Vertreter, fuhr mit dem Velo durch die Gemeinden um den Zürcher Flughafen und ging von Haus zu Haus. Die Just-Produkte waren echte Qualitätsware: sehr begehrt, aber teuer. Da braucht es einen Türöffner, und ich machte den Leuten immer ein kleines Geschenk, eine Tube Fusscreme oder einen Lavendel-Duftspray zum Beispiel. So etwas wirkt Wunder, es ist eine persönliche Wertschätzung und gleichzeitig eine langfristige Investition in die Kundenbeziehung.» Nicolas Gabriels Methode (50, Standort Uraniabrücke, Zürich) «Dass ich beim Verkaufen meine Posen mit den ausgebreiteten Armen oder dem Yoga-Griff einnehme, hat verschiedene Gründe. Einmal die Sichtbarkeit: Mein Platz ist auf einer Brücke, und da ist es wichtig, dass ich von beiden Seiten her zu sehen bin. Aber es geht mir auch um meinen Körper. Man kann es mit Yoga vergleichen. Man steht den ganzen Tag da, und der Körper gibt Signale. Auf die reagiere ich immer sofort, auch wenn ich spaziere oder zuhause im Wohnzimmer sitze. Und eben auch beim Verkaufen. Ich arbeite mit meinem Körper – das ergibt SURPRISE 342/15


So fällt man nicht nur auf, sondern tut auch etwas für seinen Körper: Nicolas Gabriel in Yoga-Pose bei der Uraniabrücke.

ein Energielevel, das die Leute spüren. Mir sagen viele Kunden, dass sie deswegen stehen geblieben sind und das Heft gekauft haben. Meine Erfahrung ist: Das Spüren ist wichtig, das Sehen weniger. Beim Verkaufen brauche ich ein gewisses Energielevel, damit die Leute mich wahrnehmen. Die Welt ist voller unausgesprochener Aufforderungen. Wenn an meinem Verkaufsplatz Abfall auf den Parkbänken liegt, räume ich ihn weg. Das tue ich nicht, um mich anzubiedern, sondern weil ich es will.

Aber die Leute spüren dadurch meine Präsenz: Da ist einer und tut etwas für uns alle. Und dann kommt auch etwas zurück. Wenn ich einen Schritt auf meine Umgebung zugehe, dann öffnet sie sich. Ich kann ziemlich genau sagen: Wenn ich das tue, dann dauert es fünf Minuten, und ich verkaufe das erste Heft. Wenn ich nichts tue, passiert auch mal eine Stunde nichts.» ■

Möchten auch Sie Ihr Verkaufstalent testen?

Wann und wo? Zürich Montag 2. Februar und Donnerstag 5. Februar, Engelstrasse 64, Tel. 044 242 72 11/079 636 46 12 oder zuerich@vereinsurprise.ch Basel Montag, 2. Februar und Freitag 6. Februar, Verein Surprise, Spalentorweg 20, Tel. 061 564 90 83/85 oder basel@vereinsurprise.ch Bern Montag, 2. Februar ganzer Tag und Donnerstag 5. Februar, Verein Surprise, Pappelweg 21, Tel. 031 332 53 93/079 389 78 02 oder bern@vereinsurprise.ch

Einladung zum Rollentausch Im Rahmen der internationalen Woche der Strassenzeitungen vom 2. bis 8. Februar 2015 laden wir unsere Leserinnen und Leser ein, die Seite zu wechseln. Begleiten Sie einen Surprise-Verkaufenden und verkaufen Sie selbst – ob eine Stunde oder länger – das Strassenmagazin Surprise. Warum? Ein Perspektivenwechsel schafft neue Einsichten. Wer schaut hin und wer sieht weg? Woran erkennt man Surprise-Leserinnen und Leser? Wie ist das Gefühl, in der Öffentlichkeit zu stehen – und das mehr oder weniger beachtet? Mit Ihrer Teilnahme zeigen Sie Ihre Solidarität und Ihre Wertschätzung für die Menschen am Rand, die ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Sie helfen, Armut und den Weg aus ihr heraus sichtbar zu machen. Mit dem Verkauf unterstützen Sie «Ihren» Verkäufer oder «Ihre» Verkäuferin direkt. Der Verkauf des Strassenmagazins ist besonders im Winter eine harte Arbeit, die viel Durchhaltevermögen verlangt. Unsere Verkaufenden geben Ihnen Tipps, berichten von ihren Erfahrungen und teilen ihr Wissen über den öffentlichen Raum, in dem alles sichtbar, aber nicht alles offensichtlich ist. Unsere Verkaufenden freuen sich auf Sie! SURPRISE 342/15

Sie können den ganzen Vormittag bis 14 Uhr in den Verkauf einsteigen. Kommen Sie nach Voranmeldung direkt zu unseren Geschäftsstellen. Wie? Sie begleiten von unseren Geschäftsstellen aus einen Verkäufer/eine Verkäuferin zu einem der Verkaufsplätze. Sie werden mit einem Verkäuferausweis und einer Surprise-Kappe oder einer Surprise-Tasche ausgestattet. Die Magazine erhalten Sie von «Ihrem» Verkaufenden. Ihr Verkaufserfolg kommt ihm oder ihr zugute. In unseren Geschäftsstellen gibt es heisse Getränke und Gelegenheit für Fragen und Gespräche. Bitte melden Sie sich vorher telefonisch oder per Mail an.

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Politik Unsere Frau in Bern

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Lisbeth Schranz (72) ist Surprise-Verkäuferin der ersten Stunde in Bern. Seit 15 Jahren beobachtet sie das Politgeschehen von der Strasse aus, wo Bundesrätinnen, National- und Regierungsräte an ihr vorbeikommen und mit ihr einen Schwatz halten oder einfach ein Heft kaufen. Wir wollten von Lisbeth wissen, welche Erfahrungen sie dabei gemacht hat und wie sie das politische Geschehen aus ihrer Warte beurteilt.

VON FLORIAN BLUMER (INTERVIEW) UND ANNETTE BOUTELLIER (BILD)

Lisbeth, welche Politiker kaufen bei dir Surprise? Die Bundesrätinnen Simonetta Sommaruga und Eveline WidmerSchlumpf zum Beispiel. Frau Widmer-Schlumpf ist eine sehr regelmässige Surprise-Käuferin: Wenn sie ins Wochenende geht, kauft sie das Heft entweder bei mir in Bern oder dann in Chur, wie sie mir einmal sagte. Frau Sommaruga hat nicht mehr so viel Zeit, seit sie im Bundesrat ist. Oder Stadtpräsident Alexander Tschäppät samstags auf dem Münstergass-Märit – wenn er nicht gerade voll im Stress ist. Das ist bei allen Politikern so: Wenn im Kopf ihr Programm läuft, kannst du nichts machen. Und wenn die National- und Ständeräte am Montag zu Sessionsbeginn mit Sack und Pack ankommen – ich sage dem für mich «der Einmarsch der Gladiatoren» – und das Hotel beziehen und sich akklimatisieren müssen, dann sind sie nicht ansprechbar. Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss kauft das Heft immer noch, wenn sie nach Bern kommt. Sie hatte schon immer ein Herz für Strassenverkäufer. Ueli Leuenberger, der ehemalige Präsident der Grünen, nimmt sich gerne Zeit für ein Schwätzchen. Da geht’s zum Beispiel um Gesundheitliches oder er erzählt auch mal, was er vorhat, das Schulreisli der Parlamentarier zum Beispiel. Vor Weihnachten, als er von der Budgetdebatte kam, meinte er: «Jetzt bin ich wirklich müde. Jetzt brauche ich Ferien.»

Eveline Widmer-Schlumpf kauft Surprise immer auf dem Nachhauseweg ins Bündnerland.

Kaufen nur linke Politiker das Heft? Nein, Politiker von links bis rechts kaufen Surprise. Der Berner SVPRegierungsrat Christoph Neuhaus meinte einmal: «Ich kaufe jetzt ein Heft – obwohl sie immer auf der SVP herumhacken.» Ein Politiker – ich sage besser nicht, wer das war – sagte einmal, er sähe mich immer herumstehen und fragte, warum ich das tue. Ich sag-

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Grünen-Nationalrat Ueli Leuenberger hält gerne mal ein Schwätzchen mit Lisbeth.

te, ich verdiene mir mit dem Heftverkauf meine Ergänzungsleistungen zur AHV – ich hätte Anrecht darauf, will aber unabhängig bleiben. Er fragte, ob ich nicht Krankenkassenvergünstigung bekäme. Als ich bejahte, meinte er, ich hätte also noch zu viel. Aber ich muss doch auch ein bisschen Reserve haben, damit ich auch bezahlen kann, wenn einmal eine etwas höhere Rechnung kommt. Politiker, die Surprise nicht kennen, fragen auch immer wieder mal, was das sei. Als ich es einmal CVP-Fraktionschef Urs Schwaller erklärte, rechnete er nach und meinte, dass ich, um 1000 Franken zu verdienen, ganz schön viel herumstehen müsse. Ja, das muss ich. Surprise verkaufen ist arbeitsintensiv. Diejenigen Politiker, die nicht nur Gratiszeitungen lesen, sind überzeugt vom Projekt. Sie sehen, dass wir dadurch, dass Surprise ohne staatliche Unterstützung auskommt, helfen, Steuergelder zu sparen.

Was gefällt dir am politischen Bern? Ein Tag, den ich besonders gern habe, ist der 1. Mai. Ich nehme Hefte mit und gehe an den Umzug. Dort kaufe ich den 1.-Mai-Bändel, am Abend gehe ich ans Risotto-Essen, an dem man damit gratis teilnehmen kann. Es ist eine gemütliche Stimmung, wenn alle auf den Bänken sit-

Der Berner SVP-Regierungsrat Christoph Neuhaus kauft das Heft, obwohl Surprise «immer auf der SVP herumhackt».

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zen. Wenn das Wetter schön ist, dann ist der 1. Mai wirklich ein Feiertag. Ich gehe allgemein gerne an Demos, dort erfährt man mehr als in der Zeitung. Mich interessiert, was auf den Transparenten steht, oft sind es Dinge, über die man schmunzeln kann. Und mich interessiert, was geredet wird. Ganz schön fand ich letztes Jahr, als der Politiker und Slam-Poet Etrit Hasler zum Thema Dichtestress an der Demo gegen Ecopop auf der Bühne sagte, dass es genügend Platz für Ausländer gäbe – wenn wir im Zug nur die Taschen vom Sitz nehmen würden. An den Demos gehen auch die Surprise-Verkäufe gut.

CVP-Fraktionschef Urs Schwaller zeigte sich beeindruckt, wie viel es braucht, bis man als Surprise-Verkäuferin 1000 Franken verdient hat.

Was würdest du ändern, wenn du selbst Politikerin wärst? Erstens würde ich Surprise kaufen und Tageszeitungen lesen, dann wäre ich informiert, was läuft. Aber als Surprise-Verkäuferin habe ich nicht viel Zeit für anderes. Am Abend bin ich froh, wenn ich bei mir zu Hause die Tür schliessen kann. Ich muss mich ziemlich anstrengen, bis ich mein Einkommen beisammen habe. Surprise verkaufen ist ein Fulltimejob, wenn man gleich viel verdienen will, wie wenn man Sozialhilfe beziehen würde. Zudem erzählen einem viele Mitmenschen ihre Sorgen – da mag ich nach Feierabend nicht auch noch Politik machen. Das überlasse ich denen, die dafür bezahlt werden. Man kann aber die Politiker nicht für alles verantwortlich machen. Wenn es Krawalle gegeben hat, gibt es immer viel Gesprächsstoff, dann rede ich mit den Leuten über die Hintergründe. Ich glaube, die Gewalt an Demos hat damit zu tun, dass viele Kinder zu wenig Aufmerksamkeit bekommen zu Hause. Ich sehe sie, wenn sie am Bahnhof herumhängen am Freitagabend, weil niemand zu Hause ist. Vor den Krawallen in Zürich hörte ich eine Gruppe reden: Was machen wir heute? Gehen wir nach Zürich? Diesen Kindern fehlt eine Perspektive. Eltern müssen sich engagieren, sie dürfen sie nicht sich selbst überlassen. Wie sagt man doch: Zu Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland!

Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss hatte schon immer ein Herz für Strassenverkäufer.

Ueli Maurer recht, der im Surprise-Interview 2007 sagte: «Wir werden das Drogenproblem nicht mehr in den Griff kriegen.»

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga hat nicht mehr so viel Zeit, seit sie im Bundesrat ist.

Neben den Politikern: Wer kauft Surprise bei dir? Von der arbeitenden Bevölkerung sind es viele Junge zwischen 20 und 30, sie machen vielleicht ein Drittel meiner Kunden aus. Sonst sind es die verschiedensten Leute. Weniger gut läuft es bei pensionierten Frauen, die in die Stadt zum Lädelen kommen – sie interessieren sich meistens nicht mehr dafür.

Denkst du, die Leute kaufen das Heft vor allem, weil sie dich und Surprise unterstützen wollen, oder lesen sie es auch? Das ist natürlich schwierig zu sagen. Aber es ist jedenfalls so, dass etwa eine Stunde lang Flaute ist, nachdem der Gratis-Blick geliefert wurde. Die Leute suchen also schon etwas zum Lesen. Und viele Kunden sagen mir, dass ihnen der Inhalt des Hefts gefällt.

Berns Stadtpräsident Alexander Tschäppät kauft Surprise am Samstag auf dem Münstergass-Märit.

Was sagen die Leute, warum sie kein Surprise kaufen? Am häufigsten höre ich: «Ich muss auf den Zug.» Ältere Leute sagen oft, dass sie schon einen Berg Papier zu Hause hätten. Einer sagt immer: «Denen im Bundeshaus musst du Surprise verkaufen!» Das tue ich ja – ein Freiburger Politiker, dessen Namen ich nicht nennen will, sagte mir allerdings einmal: Wenn ich Ihnen heute ein Heft abkaufe, stehen Sie morgen ja trotzdem noch da. Schön fand ich, als mir eine Frau aufrichtig sagte: «Diesen Monat liegt’s bei mir nicht drin.» Und auch ganz ehrlich fand einer einmal: «Ich trinke lieber ein Bier für dieses Geld.» ■

Du hast deinen Standplatz in der Bahnhofsunterführung beim Eingang Neuengasse, wo du auch viele Drogenabhängige kennengelernt hast. Was ist deine Meinung zur Drogenpolitik? Obwohl Frau Dreifuss dafür ist – ich würde die harten Drogen nicht legalisieren. Aber ich finde, dass die Gesundheitskosten, die der Drogenkonsum verursacht, wenn Leute davon krank und arbeitsunfähig werden, von den Händlern bezahlt werden müssten. Letztlich gebe ich SURPRISE 342/15

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Comic Der B채r ist los

Schlotter!

Von Cristina Choudhary

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Mal nachprüfen, ob die Kohle reicht … … leer! Aber ich hab noch was in den Hosentaschen …

Ein Eisbärkostüm müsste man haben … kuschelig warm …

Hat geklappt! Grüezi.

???

Kläff!

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Stöhn … … sie erkennen mich nicht! Dabei gehöre ich praktisch zum Rudel! Knurr.

ENDE

Interview «Ich spinne alles weiter» INTERVIEW: AMIR ALI

Cristina, seit wann zeichnest du? Schon als Kind wollte ich immer zeichnen. Ich erinnere mich noch, wie ich mir zu Weihnachten einen Farbstiftkasten wünschte. Ich bekam ihn aber erst ein paar Jahre später und musste ihn dann mit meiner Schwester teilen. Die ging sehr unsorgfältig mit den Stiften um, was mich sehr störte. Ich spitzte sie immer und behandelte sie sehr sanft. Sie waren wie ein Schatz für mich. Zeichnest du Dinge, die du selbst erlebst? Es ist eine Mischung aus Autobiografischem und Geschichten, die mir andere Menschen erzählen. Dazu kommt eine gute Portion Fiktion. Alles, was ich erlebe oder höre, spinne ich vor meinem inneren Auge weiter. Meist sind es lustige Dinge, die mir einfallen, auch bei traurigen Anlässen. Das ist mein Charakter.

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BILD: ZVG

Cristina Choudhary, 66, hat diese Geschichte eigens für diese Ausgabe gezeichnet. Sie ist seit über sieben Jahren bei Surprise und verkauft das Magazin vor dem Coop beim Bahnhof Wipkingen in Zürich. Dann ist es für dich eine Art Verarbeitung? Verarbeitung und Vergnügen. Viele Zeichnungen habe ich ursprünglich für jemanden gemacht, um etwas mitzuteilen. Als Liebesbrief zum Beispiel, oder als Kündigung von einem Job. Ich habe sie dann nicht abgeschickt, aber für mich war es, als hätte ich es ausgesprochen. Die Dinge waren dann erledigt. Wie häufig zeichnest du? Phasenweise täglich, oft auch in der Nacht. Ich mache Farbstiftzeichnungen, Ölbilder und Aquarelle. Ich versinke einfach in der Arbeit und habe es lustig, ganz für mich allein. Wie kam es zu diesem Comic, den du für Surprise gezeichnet hast? Nun, ich fror beim Verkaufen und stellte mir vor, ich hätte ein Eisbärenkostüm. Dann habe ich die Idee einfach weitergesponnen. Vor Hunden habe ich aber keine Angst, im Gegen-

teil. Ich passe auf die Hunde auf, während ihre Herrchen am Einkaufen sind. Und mit dem Hund eines Kunden gehe ich regelmässig spazieren. Die Hunde sind meine Freunde. ■ SURPRISE 342/15


Literaturspiel Wilde Geschichten aus dem Schüttelbecher BILD: ZVG

Beim rasanten Würfelspiel Icon Poet messen sich jeweils vier Wortkünstler in Sprachwitz und Kreativität. In 180 Sekunden entstehen aus fünf zufällig gewürfelten Icons die unglaublichsten Geschichten, die dann dem Publikum zum Bewerten vorgetragen werden. VON MONIKA BETTSCHEN

Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal ein Spiel gespielt? Nein, kein einsames Solitaire am Bildschirm in der Mittagspause und auch keine Online-Pokerrunde. Gemeint sind echte Gesellschaftsspiele, die man mit der Familie und später auch im Klassenlager gespielt hat: Erinnern Sie sich an den Geruch der Jasskarten oder an das Geräusch beim Mischen der Würfel im Schüttelbecher? Genau hier, bei dieser Mischung aus Unkontrollierbarkeit und Spannung, setzt das Würfelspiel Icon Poet an. Die Magie liegt in seiner Einfachheit: Aus einem Satz aus 36 Würfeln mit total 216 verschiedenen Icons wählen die Spielenden jeweils fünf aus. Zu einem vorgegebenen Alltagsszenario wie etwa einem Heiratsantrag sind sie dazu herausgefordert, innerhalb von 180 Sekunden eine Geschichte zu erfinden, in der die fünf erwürfelten Zeichen vorkommen. Eine Sanduhr garantiert, dass die Zeit für alle Mitspieler unbestechlich gleich schnell zerrinnt. Nicht nur die Autoren schreiben in dieser Zeit, auch das Publikum greift zu Stift und Papier und erfährt am eigenen Leib, wie sich Kreativität unter enormem Zeitdruck wie durch ein Brennglas hindurch zu bündeln vermag. «Während des Schreibens herrscht eine Totenstille im Raum, diese totale Konzentration ist beeindruckend», sagt Andreas Frei, der dieses Spiel zusammen mit seinen Brüdern Lukas und Ueli erdacht und entwickelt hat. Die Gebrüder Frei entwickeln seit 16 Jahren erfolgreich Spiele für Kinder und Erwachsene. «Wir entwickeln Spielkonzepte, die man nicht bloss konsumieren kann, sondern bei denen man aktiv mitdenken muss», sagt Andreas Frei. Seit drei Jahren findet im Zürcher Cabaret Voltaire «Icon Poet live» statt: Schreibduelle. Das Konzept wird nun seit Anfang 2015 auch auf die Städte Bern und St. Gallen ausgeweitet. Bekannte Namen wie Hazel Brugger, Charles Lewinsky oder Knackeboul begeisterten bisher die wachsende Fangemeinde mit ihren aus der Spontaneität geborenen Sprachperlen. «Selbstverständlich gelingt nicht immer ein grosser Wurf, aber dies ist auch gar nicht der Anspruch von Icon Poet. Wir wollen die Leute unterhalten und das Entstehen von Kreativität zeigen. Es freut uns, wie viele Autorinnen und Autoren bisher schon bei uns mitgemacht haben», so Frei. Falls ein Autor merkt, dass er partout keine gute Story zusammenbekommt, gibt es die Möglichkeit, einen GhostwriterJoker zu ziehen. «Dabei fragt der Autor ins Publikum, ob ihm jemand seine Geschichte spenden würde. Wenn sich ein Freiwilliger meldet, gibt das nochmals eine andere Dynamik. Manche Menschen sind die geborenen Performer, andere lesen ab Blatt, das ist eine tolle Mischung.» Icon Poet funktioniert aber nicht nur auf der Bühne. Der Würfelsatz sowie Spielregeln und Anregungen wurden in Buchform integriert und lassen sich überallhin mitnehmen. Ob eingeschneit in einer Berghütte oder im Osterstau vor der Gotthardröhre: Icon Poet trägt das Potenzial in sich, selbst an den ungewöhnlichsten Orten neue Welten zu eröffnen. Da wundert es kaum, dass dieses Spiel genau aus einer solchen Situation heraus entstanden ist. «Während einer Afrikareise Ende der NeunSURPRISE 342/15

Würfeln Sie die Ideen aus sich heraus: Icon Poet.

zigerjahre regnete es sintflutartig, und wir drei Brüder vertrieben uns die Zeit damit, um die besten Schlafplätze im Autodachzelt zu würfeln. Nach und nach entstand ein Spiel, mit dem es heute möglich ist, jede erdenkliche Geschichte zu erzählen», sagt Andreas Frei, der bei der Spielentwicklung für den Bereich Grafikdesign zuständig ist. «Die Herausforderung war, sich auf Icons zu beschränken, die überall auf der Welt gleich verstanden werden. Bei Schere oder Totenschädel ist das auch der Fall, aber etwa bei der schwarzen Billardkugel mit der Acht mussten wir feststellen, dass diese nicht von allen Menschen sofort erkannt wird. Von zu Beginn über 1000 Zeichen reduzierten wir in den vergangenen Jahren auf die heute 216 Icons.» Wer glaubt, dass noch lange nicht alle Geschichten dieser Welt erzählt worden sind, dürfte Icon Poet lieben. Das Spiel für zu Hause ist im Buchhandel erhältlich. ■

Icon Poet live: Do, 29. Jan., 26. Feb., 26. März, 30. April, 28. Mai je 20 Uhr, Cabaret Voltaire, Zürich; Sa, 14. Feb., 14. März, 11. April, 9. Mai je 20 Uhr, Turnhalle PROGR Bern; Do, 19. Feb., 19. März, 23. April, 21. Mai je 20 Uhr, Militärkantine St. Gallen. www.gebruederfrei.ch

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BILD: ZVG

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Kultur

Horror und Science Fiction aus der Blume.

Thomas Hirschhorn lässt sich in seiner Arbeit nicht gerne stören.

Buch Orchideenfieber

Kino Kunst im Realitätscheck

In H. G. Wells’ Horror-Kurzgeschichte «Die seltsame Orchidee» lehrt eine tropische Pflanze den Helden das Fürchten und uns das Gruseln.

Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn stellte einen Pavillon über den Philosophen Antonio Gramsci mitten in die New Yorker Bronx. So prallt Konzept-Kunst auf soziale Problemzonen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON THOMAS OEHLER

1905 veröffentlichte der Pionier der Science-Fiction-Literatur H. G. Wells – bekannt durch seine Klassiker «Der Krieg der Welten» und «Die Zeitmaschine» – die mit britischem Humor gespickte Horror-Kurzgeschichte «Die seltsame Orchidee». Damit bezog er sich auf den OrchideenBoom des 19. Jahrhunderts, ausgelöst durch die 1818 erstmals nach London eingeführten Knollen. Die Farbenpracht dieser tropischen Gewächse schlug wie eine Bombe ein – ein regelrechtes Orchideenfieber brach aus, Sammler zahlten horrende Preise, für die Orchideenjäger nicht selten ihr Leben riskierten und auch verloren. Davon ist das beschauliche Leben des Protagonisten und Orchideenliebhabers in Wells’ Kurzgeschichte weit entfernt. Vielmehr leidet WinterWedderburn daran, dass bei ihm nie etwas Aussergewöhnliches geschieht. Bis er eine Knolle ersteht, von der es heisst, man habe sie unter dem toten, von Blutegeln ausgesaugten Körper eines Orchideenjägers gefunden – man ahnt schon, in welchen Fängen Winter-Wedderburn seine Leidenschaft auszuhauchen droht. Nun ist diese Geschichtenblüte in der Büchergilde Gutenberg in limitierter Auflage erschienen, als Nr. 42 der Tollen Hefte, einer vom Comicfan Armin Abmeier 1991 gegründeten und nach seinem Tod von der Künstlerin Rotraut Susanne Berner weitergeführten Reihe. Die Bilder der in Berlin lebenden Illustratorin Katja Spitzer wurden, wie bei allen Tollen Heften, in einem aufwendigen Verfahren hergestellt: mit fünf speziell ausgesuchten Sonderfarben, die erst beim Druck übereinandergelegt wurden. Der Lohn dieser Mühe ist eine Leuchtkraft, die uns in die Farbexplosion eines Gewächshauses voller Orchideen hineindeliriert. Das macht das sanfte Gruseln zu einer wahren Augenweide. Und wen es dann so richtig gepackt hat, für den findet sich als Beilage ein Spiel, mit dem man sich, gemeinsam mit anderen Verwegenen, durch eine gefahrvolle und süchtigmachende Orchideenjagd würfeln kann. H. G. Wells: Die seltsame Orchidee. Mit Bildern von Katja Spitzer.

Thomas Hirschhorn ist kein einfacher Künstler. Er provoziert bewusst. Mit scharfem Blick lotet er die Grenzen von Kunst und Politik aus. Dabei will weder ironisch noch ästhetisch sein, sondern – nach eigener Aussage – «Kunst politisch machen». Das heisst auch, dass er sie von der Galerie auf die Strasse bringt. Zum Beispiel baute er in armen Stadtteilen, wo wohl kein Bewohner je ein Museum betreten würde, Installationen auf, sogenannte «Monumente». Diese widmete er seinen liebsten Philosophen und unterzog sie so einer Prüfung in der prekären Wirklichkeit. 2013 platzierte Hirschhorn in einen kleinen Park in der südlichen Bronx von New York ein Monument zu Antonio Gramsci, dem 1937 verstorbenen italienischen kommunistischen Theoretiker. Dabei arbeitete er eng mit der lokalen Mietervereinigung zusammen. Für Aufbau, Unterhalt und Demontage der aus Paletten, Sperrholz, Plexiglas und Klebeband zusammengeschusterten Baracken wurden ausschliesslich Leute aus der Siedlung angestellt. Am Ende der Installation verloste er die verwendeten Geräte per Lotterie unter den Quartierbewohnern. Während der ganzen Zeit war Regisseur Angelo Alfredo Lüdin mit seinen Mitarbeitern anwesend. Das führte zu einigen Konflikten. Die Bitte der Filmcrew, einen für den Bau benötigten Stromgenerator zu verschieben, quittierte Hirschhorn beispielsweise mit einem Wutausbruch: Er wolle keine Rücksicht auf die filmischen Produktionsbedingungen nehmen. Im Gegensatz dazu fungierte das Filmteam immer wieder als Vermittler zwischen Hirschhorn und seinen Arbeitern. Denn diese wollten Hirschhorns leidenschaftliche aber auch sehr strenge Haltung zur Kunst nicht einfach hinnehmen. Lüdin folgt umsichtig den Bruchlinien zwischen Hirschhorns konzeptueller Kunst, der Lebensrealität der Bronx und auch den eigenen produktionstechnischen Ansprüchen. Das ist ein Balanceakt, der – wie Hirschhorns Projekt auch – jederzeit scheitern kann, es aber zum Glück nicht tut. Der Film ist also kritisch im doppelten Sinn. Das dürfte Hirschhorn vermutlich gefallen.

Die Tollen Hefte Nr. 42, Büchergilde Gutenberg 2014. 24.90 CHF

Angelo Alfredo Lüdin: «Thomas Hirschhorn – Gramsci Monument», CH 2014, 92 Min., mit Thomas Hirschhorn, Bewohnern der Sozialbausiedlung Forest u. a. Der Film läuft ab 29. Januar in den Deutschschweizer Kinos.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Von unserem Kolumnisten Tom statt von Thomy schmeckt’s besser.

Piatto forte Gute Vorsätze

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Privat-Pflege und Betreuung, Oetwil am See

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Praxis Colibri-Murten, Murten

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Schumann & Partner AG

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Bruno Jakob Organisations-Beratung, Pfäffikon

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Projectway GmbH, Köniz

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OfficeWest AG, Baden

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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ArchitekturPlus, Zürich

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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FC Basel 1883 U19 Team UEFA Youth League

Vorsätze, sich etwas bewusster zu ernähren, sind nur noch eine blasse Erinnerung. Die Versuchung des Hamburgers mit seinem weichen Brot, der Süsse des Ketchups und der Würze des Hackfleisches ist gross. Geben Sie der Versuchung nach Selbstgemacht nach, ist der Hamburger zwar immer noch üppig, aber slow statt fast. Diese Kolumne widmet sich den Saucen. Es gibt kaum einen Grund, Ketchup und Mayonnaise zu kaufen – sie schmecken selbstgemacht so viel besser. Die nächste Ausgabe lüftet dann das Geheimnis der besten Bunnies und der Füllung. Die Zubereitung der Mayonnaise ist schnell erklärt: Es geht darum, aus Eigelb, Senf und Öl eine Emulsion zu machen. Und dazu braucht es lediglich ein bisschen Handarbeit mit dem Schwingbesen. In eine Schüssel geben Sie ein Eigelb eines frischen und zimmerwarmen Eis, einen Esslöffel Senf, ein paar Spritzer frischen Zitronensaft und eine Prise Salz. Sobald alles gut verrührt ist, giessen Sie langsam aber konstant Öl in die Schüssel und rühren kräftig mit dem Schwingbesen. Die Masse sollte bald emulgieren. Solange Öl im dünnen Faden dazu giessen, bis Sie die gewünschte Menge erreicht haben. Über die Zutaten steuern Sie den Geschmack der Mayonnaise. Wenn Sie es pfiffiger mögen, nehmen Sie Dijonsenf. Und probieren Sie anstelle von Sonnenblumenöl Olivenöl. Was nicht funktioniert, ist biologisches Sonnenblumenöl: Die Sauce wird bitter. Nun zum Ketchup: Für vier Flaschen würfeln Sie drei Kilo vollreife Tomaten oder gleich viel abgetropfte Pelatiwürfel. Mit zwei entkernten Chilischoten und einem Stück geschälten und fein geraffelten Ingwer bei kleiner Hitze 30 Minuten leicht kochen lassen. Danach durch das Passe-vite drehen und das Püree zurück in die Pfanne geben. 250 Gramm Zucker, drei Deziliter milden Weissweinessig, je einen halben Teelöffel Paprika, gemahlener Koriander, Nelkenpulver und einen halben Esslöffel Meersalz dazugeben und ohne Deckel 45 bis 60 Minuten dicklich einkochen lassen. Das heisse Ketchup in 3-dl-Flaschen mit Schraubverschluss füllen. So kann das Ketchup mindestens zwei Monate aufbewahrt werden, und Sie sind jederzeit gewappnet, wenn Sie die Lust auf Soulfood übermannt.

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Homegate AG, Zürich

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GELD & SO MADLEN BLÖSCH, Basel

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LS Real GmbH, Zürich

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Echtzeit Verlag, Basel

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HERVORRAGEND.ch, Kaufdorf

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Inter-Translations SA, Bern

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Schluep Degen Rechtsanwälte, Bern

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Hürzeler AG Regensdorf, klimaneutrale

Bezugsquellen und Rezepte: www.piattoforte.ch/surprise

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Sie wollen weniger Fast Food essen? Das ist ein gutes Vorhaben. Auf einen Hamburger brauchen Sie deswegen trotzdem nicht zu verzichten. VON TOM WIEDERKEHR

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Druckerei, Regensdorf 21

Claro Weltladen, Sissach

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PS: Immotreuhand GmbH, Zürich

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ApothekenConsulting, Wohlen

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Balzli & Fahrer GmbH Filmproduktion, Bern

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Anyweb AG, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Ausgehtipps

Der Sohn macht’s nicht besser als der Vater.

Zürich Verfall einer Familie

Lebensretter und Schutzsuchender: Carl Lutz.

Luzern Vergessener Held Kennen Sie Oskar Schindler und seine Liste? Klar. Kennen Sie Polizeihauptmann Paul Grüninger? Wahrscheinlich auch, schliesslich wurde auch ihm und seinen Rettungstaten kürzlich ein Film gewidmet. Aber kennen Sie Carl Lutz? Mehrere 10 000 Juden hat der Vizekonsul der Schweizer Botschaft in Budapest während des Zweiten Weltkriegs vor dem sicheren Tod bewahrt, nach dem Krieg wurde er von seinen Vorgesetzten dafür gerügt. Das Historische Museum Luzern widmet dem «vergessenen Helden» der Schweizer Geschichte aus Anlass des Holocaust-Erinnerungstags am 27. Januar eine Ausstellung, die dem Vergessen entgegenwirken soll. (fer)

«Buddenbrooks» im Theater, das ist natürlich die Gelegenheit für alle Gymnasiasten, sich auf effiziente Weise ein Stück Weltliteratur anzueignen. John von Düffel, seines Zeichens renommierter Dramaturg und Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste, hat ganze Vorarbeit geleistet und die Bühnenfassung erarbeitet: Er hat aus dem epischen Stoff kurze, prägnante Spielszenen gemacht. Wir wissen: Es geht um den Niedergang einer reichen Kaufmannsfamilie, und das ist an sich schon dramatisch genug und Thomas Manns Sätze eh schon eine Freude. Gleichzeitig hat die Geschichte nichts an Aktualität eingebüsst, den die Konsuln (die heute vielleicht Banker, Manager oder auch einfach irgendwelche karriereversessenen Arbeitnehmer sind), denen ihre Firma mehr am Herzen liegt als ihre Familie, sind in den letzten Jahrzehnten sicher nicht weniger geworden. Persönliche Neigungen und Lebenswünsche müssen bei Buddenbrooks hintanstehen. Was zählt, sind: Disziplin, Fleiss und Sparsamkeit. Kann sein, dass eine solche Geschichte sogar Teenies interessiert. Und zwar nicht nur, damit sie sich in Ermangelung der nötigen Disziplin die Lektüre des Romans sparen können. (dif) «Buddenbrooks», von Thomas Mann/John von Düffel, mit Nicolas Batthyany, Katharina von Bock,

«Carl Lutz’ Zivilcourage», Sonderausstellung im

Pit Arne Pietz u. a., Di, 27. Jan. und

Historischen Museum Luzern, noch bis 1. März.

Mi, 28. Jan. je 20 Uhr, Theater Kanton Zürich im

Am Di, 27. Januar, 19.30 Uhr

Theater Rigiblick, Germaniastrasse 99, Zürich.

Gespräch mit Holocaust-Überlebenden.

www.theaterkantonzuerich.ch

www.historischesmuseum.lu.ch

Vielfalt macht die Welt bunt.

Basel Vielfalt feiern Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Das ist keine politische Aussage, sondern eine statistische. Politisch wird’s, wenn’s darum geht, was man damit macht. Man kann zum Beispiel Problem! rufen und damit Wahlen und Abstimmungen gewinnen. Man kann auf die wirtschaftlichen Vorteile verweisen und damit Wohlstand und Wachstum verteidigen. Man kann aber auch die Vielfalt sehen und einfach mal die Vorzüge des interkulturellen Zusammenlebens geniessen. Dies tun seit nun zehn Jahren verschiedene Migrantenverbände von Menschen mit Wurzeln in so unterschiedlichen Ländern wie Italien, Bulgarien oder Aserbeidschan zusammen mit unmigrierten Schweizerinnen und Schweizern im Querfeld. «Vielfalt» ist denn auch der Übertitel der Jubiläumsausgabe des Cinema Querfeld – und dass das etwas Schönes ist, lässt sich im Kinosaal erleben, beim Essen mit dem Gaumen spüren und, etwas Pathos sei an dieser Stelle erlaubt, beim gemeinsamen Feiern mit dem Herzen fühlen. (fer) 10. Interkulturelles Kinofestival Cinema Querfeld, Fr, 6. bis So, 8. Februar, u.a. mit «Der Imker», «Parada» oder «Die Welt ist gross und Hoffnung lauert überall», am Samstag Party ab 23 Uhr, am Sonntag Brunch um 10 Uhr, Gundeldinger Feld, Basel. Detailliertes Programm auf www.querfeld-basel.ch/cinema-querfeld

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© BIRGIT HEMMI, MÄNNEDORF

© INGO HÖHN

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Auch Mütter können sich in Mrs. Hyde verwandeln.

Innen trifft Aussen: Gertrud Debrunners «Entfaltung auf der Grenze».

Luzern Horrorgeschichten

Aarau Malen mit Freud und Jung

Das Luzerner Theater hat’s mit den Schauergeschichten. Die ehemaligen Hausautorinnen Martina Clavadetscher, Verena Rossbacher und Ivna Zic haben sich Dr. Jekyll und Mr. Hyde genommen und sich ihre heutigen Seelenverwandten vorgestellt. Da wird das abgründige Doppelwesen Jekyll/Hyde in einer modernen Variation zur Frau, deren Ich zersplittert, oder zu einem jungen Mann, der mit lustvollem Schaudern eine bürgerliche Existenz vernichtet, und zur Mutter, die ihr altes Leben über Bord wirft. Und man darf mit Georg Büchner fragen: «Was ist das, was in uns lügt, stiehlt und mordet?» Hier sieht man: Der Grusel hat sich schon immer mit ernsthaften moralischen (bis juristischen) Fragen verbunden. Die Schauergeschichten in Luzern gehen ab Ende Januar dann noch mit Frankenstein, nochmals Dr. Jekyll/Mr. Hyde und Dracula in eine letzte Runde: Dann künden die drei Archetypen der Horrorliteratur in einem weiteren Stück von den Schattenseiten der Seele. (dif)

Mit der Ausstellung «Auf der Grenze» richtet das Aargauer Kunsthaus den Blick nach innen. Gezeigt werden Künstlerinnen und Künstler unterschiedlichster Generationen, die in ihren Werken ihrem Seelenleben Ausdruck verleihen und damit Innen- und Aussenwelt, das Unbewusste und Bewusste verbinden. Einen besonderen Fokus legt die Ausstellung auf die wenig bekannte Arbeit der Zürcher Künstlerin Gertrud Debrunner (1902–2000), die bis Ende der Sechzigerjahre am Zürichsee lebte. Aufmerksamkeit erhielt Debrunner zu Lebzeiten mit ihren sogenannten Blindzeichnungen, die ausschliesslich Produkt ihrer inneren Wahrnehmung sind. Geprägt und inspiriert von den Lehren des ebenfalls dort wirkenden C.G. Jung suchte sie in ihrer Arbeit eine «nach innen orientierte Identität» und hielt der äusseren, objektiven Sicht auf die Dinge ihre innere, subjektivere entgegen. Aus Debrunners künstlerischem Nachlass ist eine Reihe von Arbeiten zu sehen, die im Spannungsfeld von Innen und Aussen jene Grenze markieren, der die Ausstellung nachspüren will. Ebenfalls unter dem Einfluss von Freud und Jung beschäftigten sich weitere Künstler der Epoche mit dem Un- und Unterbewussten. Neben vielen anderen sind Karl Ballmer, Emma Kunz, Louis Soutter und Ilse Weber in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses prominent vertreten. (ami)

«Strange Case(s) of Dr. Jekyll and Mr. Hyde», Sa, 24. und So, 25. Januar, Fr, 6., Mi, 11. und Sa, 28. Februar, je 20 Uhr, weitere Spieldaten im März und April. Weitere Produktion: «Dracula oder Frust der Unsterblichkeit», Premiere am Fr, 30. Januar, Luzerner Theater. www.luzernertheater.ch

«Auf der Grenze», noch bis So, 12. April, geöffnet Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr. www.aargauerkunsthaus.ch

BILD: ZVG

Zürich Balabala-Laika Etwas Brüderliebe in schweren Zeiten kann ja nicht schaden. Und wenn Russen und Ukrainer gemeinsam auf der Bühne das Jahr einholpern, stehen die Chancen gut, dass 2015 nicht ganz so düster wird, wie es 2014 vermuten liess. Die Berliner Band Apparatschik kam, als die Sowjetunion ging. Seit 1989 sind die vier Musiker mit Balalaika, Kontrabass-Balalaika, Akkordeon und Schlagzeug unterwegs – und begeistern über Landes- und Genregrenzen hinweg. Taiga Tunes und Soviet Grooves nennen sie es selbst, was soviel heisst wie Polka, Ska, Reggae und Rock’n’Roll mit einem guten Schuss Disco und Techno – Hauptsache, es wird auf den Tischen getanzt. Von diesen gibt’s im Helsinki zwar nicht allzu viele, dafür steht hinter der Bar der gute Grasowka-Büffelgraswodka bereit. (ami) Apparatschik, Fr, 6. Februar, Türe ab 20 Uhr, danach DJ Bandura. helsinkiklub.ch SURPRISE 342/15

Nein, da ist mit Sicherheit kein Wasser drin.

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Verkäufermeinung «Kooperation statt Konfrontation» Surprise-Stadtführer und SP-Mitglied Markus Christen hält die aktuelle sozialpolitische Praxis für zu wenig weitsichtig und bietet hier Vorschläge zur Verbesserung an. Zur Anschauung dient ihm seine eigene Geschichte. VON AMIR ALI (AUFGEZEICHNET) UND ROLAND SCHMID (BILD)

«Für mich sind in der Sozialpolitik zwei Aspekte ganz zentral: Einerseits muss mehr Wert auf Weiterbildung gelegt werden. Und andererseits sollte man langfristige gesundheitliche Probleme zu verhindern versuchen oder dann stärker berücksichtigen. Um die Wichtigkeit dieser Themen zu verstehen, braucht es ein wenig Kontext: Arme werden in der Schweiz und in ganz Europa immer mehr ausgegrenzt. Das passiert in kleinen Schritten. Neulich zum Beispiel hat Basel-Stadt beschlossen, dass Sozialhilfebeziehenden der Kabelanschluss nicht mehr extra bezahlt wird und die Klienten ihn über den Grundbedarf berappen müssen. Das ist ein schleichender Abbau, der zudem an den Parlamenten vorbei voranschreitet. Die Strenge der Ämter habe ich während meiner Zeit in der Sozialhilfe selbst erlebt. Ich habe drei Jahre Sozialhilfe bezogen, seit einem Jahr bin ich zum Glück wieder draussen. Gleich als meine Frau und ich uns damals anmeldeten, kürzte uns die Sachbearbeiterin den Grundbedarf – völlig zu Unrecht, wie sich nachträglich herausstellte. Wenn man amtsabhängig ist, muss man dauernd ganz genau hinschauen. Man kämpft permanent für seine Rechte, statt sich um eine Reintegration bemühen zu können. Mein Ansatz lautet: Bekämpft die Armut, nicht die Armen. Das geht nur zusammen mit den Betroffenen, nicht gegen sie. Das Amt und der Arbeitslose oder Ausgesteuerte müssen miteinander kooperieren statt auf Konfrontationskurs zu gehen. Der Sozialstaat – zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung – müsste mehr Gewicht auf die Weiterbildung legen. Als Anschauung dient hier meine eigene Geschichte: Ich bin gelernter Schriftsetzer. Das Metier entwickelte sich immer mehr ins Technische, was mir gar nicht entsprach. Also sattelte ich um und verdiente meinen Unterhalt während Jahrzehnten als Chauffeur im gewerbsmässigen Personentransport, also Taxi und Kleinbusse. 2009 passierte dann die Sache mit der Schlafapnoe: Auf einer Fahrt mit 16 Passagieren schlief ich im Gubrist am Steuer ein. Zum Glück passierte nichts Schlimmes, aber ich entschied mich, nicht mehr berufsmässig zu fahren. Mit Mitte 50 landete ich auf dem RAV. Ich habe dann aus eigener Initiative eine Ausbildung zum Hauswart begonnen, mit eidgenössischem Fähigkeitsausweis. Die Finanzierung für das erste Semester konnte ich in der Familie organisieren. Ich versuchte, das Amt dazu zu bringen, mir die restlichen drei Semester zu bezahlen. Die lehnten ab, weil meine Ausbildung bis 2012 gedauert hätte und meine Rahmenfrist auf dem RAV 2011 ablief. Ich musste die Ausbildung abbrechen und wurde ausgesteuert. Ich bin der Meinung, dass es hätte möglich sein müssen, diese Ausbildung zu machen. Mir schwebt ein Weiterbildungsfonds vor, der gespiesen wird von der öffentlichen Hand und den Unternehmen. Der zweite zentrale Punkt ist die Gesundheit. Armut macht sehr schnell einsam, und als Folge dessen sind Erkrankungen häufig, sowohl psychische als auch körperliche. Das hat immense Kosten zur Folge, welche die Allgemeinheit über die Krankenkassenprämien und die öffentliche Hand trägt. Der Anspruch hier müsste sein, dass auch Ar-

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mutsbetroffene weiter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Auch hier kann ich ein Beispiel aus eigener Erfahrung geben: Als ich arbeitslos wurde, musste ich aus Kostengründen zwei Vereinsmitgliedschaften aufgeben. Ein weiteres Beispiel: Meine Fotokamera ist ein Relikt aus besseren Zeiten. Ich fotografiere seit Jahren fast täglich. Wenn diese Kamera einmal kaputtgeht, werde ich mir keinen Ersatz und keine Reparatur leisten können. Dann bricht nicht nur ein Hobby, sondern ein Teil der Persönlichkeit weg. Das zeigt: Ausgrenzung geschieht schleichend. Und sie wird nicht durch bösen Willen verursacht, sondern ist strukturell bedingt. Ich halte die aktuelle Sozialpolitik für zu wenig weitsichtig. Wenn man von Kosten für Bildung und Gesundheit sprechen will, dann müsste man immer auch fragen: Was kosten uns die Menschen, wenn sie wirklich durchgefallen sind?» ■ SURPRISE 342/15


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

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342/15 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 342/15

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer), Diana Frei (dif, Heftverantwortliche), Mena Kost (mek) redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Philipp Baer, Monika Bettschen, Annette Boutellier, Cristina Choudhary, Olivier Joliat, Thomas Oehler, Roland Schmid, Roland Soldi, Matthias Willi Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 19 450 Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 342/15


Surprise Mehr als ein Magazin Vertrieb Basel Mit neuem Look ins neue Jahr Look und zauberten ihnen ein Lächeln ins Gesicht. Die Frisieraktion war teil der Abschlussarbeit der Coiffeurlehrlinge und die Verwandlung wurde durch Vorher-nachher-Bilder eindrücklich dokumentiert.

BILD: ZVG

BILDER: SHARON STUCKI, FOTOHAUS WOLF AG

Mehrere Verkäuferinnen und Verkäufer aus Basel kamen kurz vor Weihnachten in den Genuss eines kostenlosen professionellen Stylings. Drei angehende Coiffeurinnen verpassten ihnen einen neuen

Vertrieb Basel Merci beaucoup, les Gareçons! Völlig überraschend wurden die Basler Surprise-Verkaufenden im Dezember vom Restaurant Les Gareçons im Badischen Bahnhof zu einem festlichen Weihnachtsdinner eingeladen. Nach einem stimmungsvollen Apéro im Freien mit heissem Apfelpunsch am knisternden Feuer kamen wir in den Genuss eines köstlichen Dreigang-Menüs. Der Saal war festlich gedeckt und ein Pianist und eine Sängerin sorgten für musikalische Unterhaltung. Verkäufer Urs Saurer kam als Nikolaus und verteilte Gratishefte als Preise für sein selbst ausgedachtes Surprise-Quiz. Alle waren begeistert von dem Abend und dem liebevollen Engagement des Gareçons-Teams. Im Namen der Verkäufer und des Vertriebsteams Basel: Vielen Dank!

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