JB 41: Horst Dreier. Metamorphosen der Demokratie

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Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen

Band 41


Horst Dreier

Metamorphosen der Demokratie

Schwabe Verlag


Die Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen wurden im Rahmen der Römer-Stiftung Dr. René Clavel begründet von Dr. iur. Dr. phil. h. c. Jacob Frey-Clavel.

Direktorium: Prof. Dr. Gottfried Boehm · Prof. Dr. Gunnar Hindrichs · Prof. Dr. Kurt Seelmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright © 2024 Direktorium der Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen, Universität Basel, und Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Direktoriums der Jakob Burckhardt-Gespräche und des Verlags in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: icona basel gmbh, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design Satz: textformart, Göttingen Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-5043-0 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-5044-7 DOI 10.24894/978-3-7965-5044-7 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


Inhalt I

Krise der Demokratie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Urbild der Demokratie: Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Das Projekt der Moderne: Repräsentative Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die «Erfindung» der repräsentativen Demokratie in den Federalist Papers .. . . . . . . . . . . . . 2. Republik oder repräsentative Demokratie? . . . . . . . . 3. Die weitere Entfaltung der repräsentativen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Neuere Entwicklungen: Inter- und Supranationalisierung, Migration, soziale Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Veränderungen auf der Objektseite . . . . . . . . . . . . . . . Supranationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Veränderungen auf der Subjektseite: Migration . . . . 3. Veränderungen demokratischer Öffentlichkeit . . . . Die grundlegende Bedeutung öffentlicher Meinungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Formate: Digitalisierung und soziale Medien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturwandel der Öffentlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . V

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Schluss: Metamorphose oder Erosion?. . . . . . . . . . . . . . . . 61

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I Krise der Demokratie Wer heute von Demokratie spricht, kann von ihrer Krise nicht schweigen. Aber das gilt nicht nur für unsere Tage. Vielmehr scheint die Krise ein beständiger Begleiter der Demokratie zu sein.1 Nach Errichtung der ersten gesamtdeutschen Demokratie in der Weimarer Republik war in Büchern, Zeitschriften und öffentlichen Stellungnahmen kein Begriff so omnipräsent wie der der Krise.2 Nicht viel anders ist es in unseren Tagen: Trump, Brexit, der allgegenwärtige Populismus, die Entwicklungen in Polen, Ungarn und der Türkei – das alles sind Zeichen und Symptome, die die Anfälligkeit der Demokratie für ihre Aushöhlung, Verdrehung 1

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Als eines von zahllosen Beispielen: Wolfgang Merkel / ​Sascha Kneip, Demokratie in der Krise?, in: Andreas Kost / ​Peter Massing / ​​ Marion Reiser (Hrsg.), Handbuch Demokratie, Bonn 2021, S. 281–291 (281 ff.); im Überblick Adam Przeworski, Krisen der Demokratie, Berlin 2020. – Weltweite Bestandsaufnahme: Saliba Sarsar / ​R ekha Datta (Eds.), Democracy in Crisis around the World, Lanham 2021. Das reichte von: Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, Berlin 1919 und Richard Nicolaus von Coudenhove-Calergi, Krise der Weltanschauung, Wien 1923 sowie Moritz Julius Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925 über Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925 und Hermann Heller, Die Krisis der Staatslehre (Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 55 [1926], S. 289–316) bis hin zu Friedrich Darmstädter, Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates. Eine Untersuchung zur gegenwärtigen Krise des liberalen Staatsgedankens, Heidelberg 1930 sowie Arnold Köttgen, Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung, Tübingen 1931 und Erik Wolf, Krisis und Neubau der Strafrechtsreform, Tübingen 1933. – Die Liste einschlägiger Titel ließe sich leicht verlängern. Zusammenfassend Jens Hacke, Die Krise der Demokratie. Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik, in: Christian Schmidt / ​Benno Zabel (Hrsg.), Politik im Rechtsstaat. Baden-Baden 2021, S. 119–137.

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oder Sinnentstellung demonstrieren. Viktor Orbáns paradoxer Begriff der «illiberalen Demokratie» bringt das auf den Punkt.3 Freilich soll es in diesem Beitrag nicht um solche aktuellen Entwicklungen gehen, die uns allen ja schon durch bloße Zeitungslektüre geläufig sind. Wenn ich im Folgenden von Metamorphosen der Demokratie spreche, dann zielt die Formulierung nicht auf Viktor Orbán. Es geht um größere, um strukturelle und um längerfristige Veränderungsprozesse. Deswegen wollen wir zunächst sehr weit in der Geschichte zurückgehen und einen Blick auf die Urform der Demokratie in der griechischen Antike, genauer: in Athen, werfen (dazu II). Sie beruhte auf einem erstaunlich hohen Engagement der Bürger und war, in unseren heutigen Begriffen, überwiegend eine direkte Demokratie. Das unterscheidet sie fundamental von derjenigen Form, die im Grundsatz noch immer auch die unsere ist: die der repräsentativen Demokratie. Auch sie hatte ihre Erfinder, die die gewaltige Metamorphose von der direkten zur repräsentativen Demokratie zu Zeiten der amerikanischen und französischen Revolution ausführlich und klug begründeten. Diesem Umschwung widmet sich der nächste Teil (III). Das darauffolgende und zugleich das umfangreichste Kapitel schließlich wendet sich neueren Entwicklungen zu und wirft die Frage auf, ob es in den letzten Jahrzehnten womöglich weitere Transformationen oder gar Metamorphosen gegeben hat, die derjenigen von der direkten zur repräsentativen Demokratie vergleichbar sind (IV). Damit ist der Gang unserer Überlegungen grob umrissen. 3

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In seiner vielzitierten Rede vom Juli 2014, online verfügbar unter: http://www.kormany.hu/en/the-prime-minister/the-prime-minister-sspeeches/prime-minister-viktor-orban-s-speech-at-the-25th-balvanyossummer-free-university-and-student-camp. Vgl. dazu Jan-Werner Müller, Illiberale Demokratie?, in: Transit. Europäische Revue 48 (2016), S. 9–18 (9 ff.); Christian Hillgruber, Illiberale Demokratie – contradictio in adiecto?, in: Bonner Rechtsjournal 16 (2022), S. 115–121 (115 ff.).


II Das Urbild der Demokratie: Athen Am Anfang – am Anfang standen die Griechen. Denn sie haben ja nicht nur die Olympischen Spiele, die Tragödie und die Komödie, die Philosophie und die Wissenschaften erfunden,4 sondern, wenn wir dem Althistoriker Christian Meier Glauben schenken wollen, auch das Politische und mit diesem die Demokratie.5 Athen gilt als deren Geburtsstätte,6 die Stadt stellt gewissermaßen das Urbild der Demokratie dar.7 Denn um die Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts entstand in Athen eine Herrschaftsform, «deren Grad an Bürgerbeteiligung von keiner späteren Gemeinschaft je wieder erreicht worden ist»8. Dabei wurde der Name Demokratie erst um 430 v. Chr. 4

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Und zwar zumeist als Wettstreit organisiert. Für Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, herausgegeben von Jakob Oeri, 3. Aufl., Vierter Band, Berlin – Stuttgart o. J. [1909], S. 89 ff. machte das «agonale Prinzip» einen wesentlichen und originären Zug der griechischen Kultur aus. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt / ​M. 1980; H ­ enning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1: Die Griechen. Teilband 1: Von Homer bis Sokrates, Stuttgart – Weimar 2001, S. 7 ff. Siehe nur Angela Pabst, Die athenische Demokratie, 2. Aufl., München 2010, S. S. 11; Kurt Raaflaub, Der «große Sprung» in Politik und politischem Denken der frühen Griechen und das Ende einer OstWest-koine, in: Claudia Horst (Hrsg.), Der Alte Orient und die Entstehung der Athenischen Demokratie, Wiesbaden 2020, S. 71–105 (89 ff.). Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, 4. Aufl., P ­ aderborn 1995, S. 492; Linda-Marie Günther, Griechische Antike, 2. Aufl., Tübingen 2011, S. 178 spricht von der «ersten ‹Demokratie› der Weltgeschichte». Ottmann, Geschichte I/1 (Fn. 5), S. 92.

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gefunden, als die Sache schon lange praktiziert und noch mit Begriffen wie Isonomie9 und Isokratie umschrieben wurde, also: gleiches Recht und gleiche Herrschaft aller. Wesentliches Element dieser Demokratie ist somit die Freiheit und die politische – nicht aber die soziale – Gleichheit aller Bürger. Doch wer zählte zu den Bürgern? Waren es alle erwachsenen Personen? Natürlich nicht. Frauen, Sklaven, Metöken – und damit «der größte Teil der Bewohner einer Polis»10 – waren von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Aber der Kreis der an der demokratischen Selbstherrschaft beteiligten freien Männer war doch bemerkenswert weit gezogen11 – und nicht minder weit und intensiv war die Einbindung dieser freien Männer in die Institutionen und Organisationen der Polis. «Die Erteilung der politischen Rechte ohne Rücksicht auf Herkunft und Vermögen»12 – das war das Neue und im Grunde Revolutionäre. «Alle erwachsenen Männer sind Bürger; Vermögensqualifikationen gibt es entweder gar keine oder nur für wenige Ämter.»13 Henning Ottmann schreibt in seiner Geschichte des politischen Denkens: «Das auf den ersten Blick Erstaunliche ist das Ausmaß

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Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 46, 66 f. – Dazu näher Gerald Stourzh, Die moderne Isonomie, Wien – Köln – Weimar 2015, S. 21 ff. Jürgen von Ungern-Sternberg, Wer soll an der Polis teilhaben? Das Dilemma des Aristoteles, in: Hansjörg Reinau / ​Jürgen von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Politische Partizipation. Idee und Wirklichkeit von der Antike bis in die Gegenwart, Berlin – Boston 2013, S. 69–101 (71). Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 481: «Die ohne jeden Zweifel größte Leistung der athenischen Demokratie liegt in der Verwirklichung einer Gesellschaft von politisch gleichberechtigten Bürgern.» – Meier, Entstehung (Fn. 5), S. 41 spricht davon, dass es eine «relativ außerordentlich weitgehende praktische Deckung des Kreises der Beteiligten an Politik mit dem der davon Betroffenen» gab. Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 463. Raimund Schulz / ​Uwe Walter, Griechische Geschichte ca. 800– 322 v. Chr., Bd. 1: Darstellung, Berlin – Boston 2022, Bd. 1, S. 70.


der Bürgerbeteiligung, die Direktheit der Demokratie. […] Nie wieder haben sich (prozentual) mehr Bürger selber regiert als in der attischen Demokratie.»14 Wie das im Einzelnen funktionierte, lässt sich hier nicht en detail ausbreiten.15 Hingewiesen werden aber soll auf das ingeniöse Strukturmodell der athenischen Verfassung, das auf die Reformen des Kleisthenes zurückgeht. Mit diesem gelang eine Integration der Bürgergesellschaft, die ganz erheblich zu deren Stabilisierung beitrug. Grundlage der Struktur bildete die Tatsache, dass Attika in drei verschiedene Regionen zerfiel: die Stadt Athen selbst (nebst dem Hafen Piräus), das Binnenland und das Küstengebiet. Kleisthenes gruppierte die Demen, die Landgemeinden, nun zu insgesamt 30 sogenannten Trittyes («Dritteln»). Jeweils zehn von ihnen wurden der Stadt, dem Binnenland und der Küste zugeteilt. Nun folgte der entscheidende Schritt: «Je eine Einheit aus jeder dieser drei Zonen schloss er zu einer der zehn neuen Phylen zusammen. Dieser Verteilungsmodus stellte sicher, dass jede von ihnen Mitglieder aus allen Regionen – Städter, Küstenbewohner und Leute aus den Bergen – umfasste.»16 Man hat 14

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Ottmann, Geschichte I/1 (Fn. 5), S. 105. Ähnlich Peter Funke, Die griechische Staatenwelt in klassischer Zeit (500–336 v. Chr.), in: HansJoachim Gehrke / ​Helmuth Schneider (Hrsg.), Geschichte der Antike. Ein Studienbuch, 5. Aufl., Berlin 2019, S. 145–210 (195): «nirgendwo sonst aber wurde der demokratische Grundgedanke so konsequent und radikal verwirklicht wie im Athen der klassischen Zeit.» Vgl. näher Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 190 ff.; Mogens Herman Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995, S. 128 ff. (Volksversammlung), 184 ff. (Volksgericht), 233 ff. (Magistrate), 255 ff. (Rat der Fünfhundert); Funke, Staatenwelt (Fn. 14), S. 195 ff.; Thomas Gross, Die Verwaltung der athenischen Polis – ein Vorbild administrativer Demokratie?, in: Verwaltungsarchiv 113 (2022), S. 175–200 (178 ff.). – Knapp und präzise David Held, Models of Democracy, Second Edition, Cambridge 1998, S. 21 ff. Elke Stein-Hölkeskamp, Krise und Konsolidierung der Polis, in: Gehrke / ​Schneider, Geschichte der Antike (Fn. 14), S. 120–144 (142).

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dies salopp, aber durchaus zutreffend als «genialen Kniff»17 bezeichnet. Denn dadurch, dass die Phylen jeweils eine Mischung aus den drei Ortslagen darstellten, «erfuhren Bürger, die im Alltag bis dahin wenig miteinander zu tun hatten, fortan als Angehörige derselben Phyle gemeinsam eine neue Qualität von Zugehörigkeit und Gemeinschaft».18 Diese Phylen wurden zu tragenden Pfeilern der Staats- wie auch der Militärorganisation.19 Allein der Umstand, dass sich die unterschiedlichen Interessen von Zentrum, Küste und Binnen­ land in jeder von ihnen wiederfanden und zum Ausgleich gebracht werden mussten, wird zu einer Steigerung an Kooperations- und Kompromissbereitschaft geführt haben. Letztlich erwies sich somit ein «kompliziertes artifizielles Ordnungsprinzip»20 als sehr förderlich für die Repräsentation und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen und Orientierungen. Die Integrationskraft dieser Durchmischung dürfte kaum zu überschätzen sein. Zudem trug die Ausgestaltung der politischen Institutionen zur Bindung der Bürger an das Gemeinwesen bei. Nur die wichtigsten Einrichtungen seien stichwortartig genannt. – Im Zentrum stand die praktisch allzuständige Volks­ versammlung, an der jeder teilnehmen konnte, der in die Bürgerlisten eingetragen war. Also hatte «jeder männliche Bürger Athens nach Vollendung des 18. Lebensjahres volles Rede-, Antrags- und Stimmrecht».21 Man wird von mindestens 6.000 regelmäßigen Teilnehmern (das sind 20 Prozent der politisch berechtigten Bürgerschaft) und von zehn bis 17 18 19 20 21

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Schulz / ​Walter, Griechische Geschichte, Bd. 1 (Fn. 13), S. 133. Ebd. Dazu insbesondere Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 361 ff., 519 ff.; Michael Stahl, Gesellschaft und Staat bei den Griechen: Klassische Zeit, Paderborn 2003, S. S. 38 ff., 41 ff. Stein-Hölkeskamp, Krise (Fn. 16), S. 141. Funke, Staatenwelt (Fn. 14), S. 196.


40 Sitzungen pro Jahr ausgehen dürfen.22 Diese Volksversammlung fasste über alle wichtige (und viele nicht so wichtige) Angelegenheiten Beschluss: von der Getreideversorgung und der Sicherheit des Landes über Fragen des Kultes, der Verleihung des Bürgerrechtes und Verbannungen bis hin zu Erbansprüchen und Petitionen aller Art. – Dann gab es den Rat der 500, eine die Sitzungen der Volksversammlung vorbereitende und zum Teil auch lenkende Institution. Allein der Umstand, dass ohne einen entsprechenden Vorbeschluss des Rates über keinen Antrag in der Volksversammlung abgestimmt werden konnte, sicherte ihm eine wichtige Stellung. In diesen Rat entsandte jede Phyle 50 Mitglieder,23 die seit der Mitte des 5. vorchrist­ lichen Jahrhunderts per Los ermittelt wurden und nur für ein Jahr amtierten.24 Schon das wirkte einer Verfestigung von Amtsmacht entgegen. Hinzu kam der Umstand, dass die Geschäftsführung im Rat der 500 nur für 36 Tage aus22 23

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Ab dem 4. Jahrhundert waren 40 Sitzungen gesetzlich vorgeschrieben: Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 192; Funke, Staatenwelt (Fn. 14), S. 196; Gross, Verwaltung (Fn. 15), S. 179. Hier machte sich die Kleisthenische Reform besonders bemerkbar: «Die besondere Art der Rekrutierung des Rates sorgte für eine repräsentative Verteilung der öffentlichen Funktionen und sicherte so Kooperation und Kompromiss zwischen den verschiedenen Gruppen der Bevölkerung. Denn Bürger aus allen Landesteilen waren jetzt darauf angewiesen, auf neuartige, gewissermaßen institutionell intensivierte Weise in den Instanzen des Zentrums miteinander zu beraten und zu entscheiden. […] Die kleisthenische Neuordnung kann somit als ein Versuch angesehen werden, auf der Ebene der Politik sowohl die regionale Partikularität von Zugehörigkeit und Interessen als auch die Isolation der einzelnen Bürger bzw. der regionalen Kleingruppen und die aus beidem resultierende Passivität der Bürgerschaft zu überwinden. […] Auf lange Sicht wurde die Politisierung der Bürgerschaft ganz wesentlich vorangetrieben» (Stein-Hölkeskamp, Krise [Fn. 16], S. 142). Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 226 ff.; Gross, Verwaltung (Fn. 15), S. 181.

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geübt und der Vorsitzende in Rat und Volksversammlung durch das Los bestimmt wurde. Er amtierte jeweils nur für einen Tag. Das heißt also: «Die attische Demokratie war überhaupt gekennzeichnet durch extrem kurze Amtszeiten und einen häufigen Einsatz von Losverfahren.»25 – Schließlich sind als dritte Einrichtung die Gerichtsversamm­ lungen zu nennen.26 Bei ihnen handelte es sich um reine Laiengerichte, für die jährlich 6.000 Personen per Los bestimmt wurden – das macht ca. ein Fünftel der gesamten poli­tisch berechtigten Bürgerschaft aus. Bei der Verteilung der Richter auf die verschiedenen Gerichtshöfe war wiederum die gleichmäßige Berücksichtigung der Phylen von Be­ deutung, und natürlich spielte das Los wieder eine zentrale Rolle. Das Richteramt galt als «Ausdruck der politischen Macht des Bürgers» und damit als «Symbol der Demokratie».27 Möglichst alle Bürger sollten an diesem Amt beteiligt werden. Diätenzahlungen ermöglichten es auch ärmeren Bürgern, es zu übernehmen.28 Einen Juristenstand oder ein gelehrtes Recht gab es naturgemäß nicht.29 Vieles haben die Griechen erfunden – die Rechtswissenschaft zählt nicht dazu. – Hinzu traten die Amtsträger, die mit der Erfüllung verschiedener Verwaltungsaufgaben betraut waren.30 Deren Zahl wird auf 600 bis 700 geschätzt. Auch diese Personen wurden 25 26 27 28 29 30

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Ottmann, Geschichte I/1 (Fn. 5), S. 106. Eingehend zum Losverfahren in der attischen Demokratie Hansen, Demokratie (Fn. 15), S. 238 ff. Ausführlich Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 240 ff. Beide Zitate: Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 251. Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 329 ff., auch zu Tagegeldern für Amtsträger, die Vertreter im Rat der 500 und für den Besuch der Volks­ versammlungen. Näher Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 259 ff., 413 ff. Zum folgenden Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 269 ff.; Gross, Verwaltung (Fn. 15), S. 182 ff., 184 ff.


durch Los bestimmt und amtierten, meist als Kollegium, für ein Jahr. Die kollegiale Struktur diente der gegenseitigen Kontrolle und verringerte den Einfluss Einzelner. Niemand sollte dasselbe Amt mehr als einmal bekleiden. Nur für militärische Ämter und solche im Finanzbereich galt anderes: hier waren Wahl und Wiederwahl möglich.31 Alle Amtsträger waren «vor, während und nach ihrer Amtszeit ständigen Überprüfungen durch den Rat und die Volksversammlung ausgesetzt».32 Der hohe Personalbedarf führte allerdings dazu, dass viele Athener in ihrem Leben mehrere Ämter innehatten, deren Spezialisierung im Übrigen relativ stark ausgeprägt war. Insgesamt ist die Beteiligung der Bürger an der Polis also beeindruckend hoch. Man schätzt, dass mehr als fünf Prozent aller über 30-jährigen stimmberechtigten Bürger aktiv administrative Ämter ausübten oder im Rat der 500 vertreten waren. Zählt man noch die Mitglieder der Volksgerichte hinzu, kommt man auf die erstaunlich hohe Zahl von 25 Prozent.33 Diätenzahlungen, die es zunächst für die Mitwirkung im Rat oder die Übernahme eines Amtes, später auch für die Teilnahme an der Volksversammlung gab, ermöglichten auch ärmeren Bürgern die Mitwirkung.34 Man kennt die uns geläufige Unterscheidung zwischen ehrenamt­ lichen und professionellen Amtsträgern nicht, «weil alle Politik seine [scil.: des Bürgers] ureigenste Angelegenheit ist».35

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Funke, Staatenwelt (Fn. 14), S. 198. Funke, Staatenwelt (Fn. 14), S. 198. Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 273; Gross, Verwaltung (Fn. 15), S. 193. Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 329 ff.; Schulz / ​Walter, Griechische Geschichte (Fn. 13), S. 140 f. Ottmann, Geschichte I/1 (Fn. 5), S. 10.

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Die Bestimmung dieser Personen durch das uns Heutigen eher fremd gewordene Los bringt den egalitären Aspekt der griechischen Demokratie zum Ausdruck. Im Grunde gilt jeder Bürger als befähigt, staatliche Ämter auszuüben.36 Das Los verhindert Vorabsprachen und Kungeleien sowie die Bildung von Interessengruppen.37 Auch Korruption wird schwieriger. «Abhängigkeiten im vorpolitischen Raum, Absprachen und Bestechung sollten die Zusammensetzung der Gremien sowie deren Entscheidungen nicht beeinflussen.»38 So überrascht es nicht, wenn Aristoteles die Demokratie dadurch gekennzeichnet sieht, dass man hier abwechselnd regiert und regiert wird.39 Es handelt sich um ein frühes Rotationsprinzip, wenn man so will. Aristoteles spricht an mehreren Stellen seiner «Politik» davon, es sei das Wesen der auf Rechtsgleichheit gegründeten Demokratie, dass man abwechselnd herrsche und beherrscht werde.40 Darin liegt für ihn «das immer wieder eingeschärfte Grundprinzip der Bürgergemeinschaft».41 Ein guter Bürger müsse «beides verstehen und können, Herrscher und Untertan sein, und das ist des Bürgers Tugend, daß er die Herrschaft über Freie zu führen und zu ertragen wisse»42. Und im 6. Buch seiner «Politik» findet sich fast so etwas wie eine Kurzcharakteristik der attischen Demokratie, wenn es dort heißt:

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Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 272, 283; Gross, Verwaltung (Fn. 15), S. 192. Ottmann, Geschichte I/1 (Fn. 5), S. 109; Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 362. Schulz / ​Walter, Griechische Geschichte (Fn. 13), S. 142. Das war allgemeine Ansicht: siehe nur Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 355 ff. Aristoteles, Politik, 1261b 3, 1277a 25, 1277b 10, 1279a 8, 1317b 1. Ungern-Sternberg, Polis (Fn. 10), S. 78. Aristoteles, Politik, 1277b 13.


«Gemäß diesen Voraussetzungen und diesem Grundcharakter der demokra­tischen Staatsform ergeben sich für sie folgende Eigentümlichkeiten. Die Magistrate werden von allen aus allen gewählt. Alle herrschen über jeden und jeder im Turnus über alle. Die Ämter werden durch das Los besetzt, entweder alle oder doch diejenigen, die keine bestimmten Erfahrungen und Kenntnisse erfordern. Das Recht auf die Ämter hängt von keinem oder doch nur von einem sehr niedrigen Zensus ab. Kein Amt darf von dem nämlichen Mann zweimal bekleidet werden, oder es darf nur wenige Male oder bei wenigen Stellen geschehen, mit Ausnahme der militärischen Stellen. Die Amtsperioden sind alle oder soweit es die Stelle zuläßt von kurzer Dauer. Richter sind alle und alle dazu wahlfähig, und sie entscheiden über alles oder über das meiste und größte und wichtigste, wie über Rechenschaftsberichte, politische Sachen und die Privatverträge. Die Volksversammlung entscheidet in allen Angelegenheiten – eine einzelne Behörde über keine oder sehr wenige –; oder sie entscheidet doch in den wichtigsten Dingen.»43

Das politische Leben in Athen war somit gekennzeichnet von enormer Mobilität und einem erstaunlich hohen Engagement der Bürger.44 Das ganze System zielte auf eine «Minimierung» der Delegation von Herrschaft und ihrer Übertragung auf viele ehrenamtliche Amtsträger.45 Politische Aktivität konnte als Normalfall gelten. Es gab so etwas wie eine «Bürger-Identität».46 «Die Stadt war erfüllt von politischer Betriebsamkeit»47, die Bevölkerung geradezu zwingend politisiert. Dies schon deswegen, weil die vielen Ämter «faktisch von einem relativ hohen Prozentsatz der Bürger übernommen wurden».48 Und allen zeitgenössischen 43 44

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Aristoteles, Politik, 1317b 17 ff. Schulz / ​Walter, Griechische Geschichte (Fn. 13), S. 140: «politische Aktivität», «Vielgeschäftigkeit», «Dynamik des öffentlichen Lebens», «Handlungsdichte», «Geschäftigkeit»; dies., Bd. 2: Forschung und Literatur, Berlin – Boston 2022, S. 197: «demokratische Hyperaktivität». Pabst, Demokratie (Fn. 6), S. 20. Meier, Entstehung (Fn. 5), S. 247 ff.: «Die politische Identität der Athener und das Arbeiten der perikleischen Demokratie». Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 392. Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 397.

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und späteren Klagen über die vermeintliche Unbeständigkeit der Demokratie und ihrer Abhängigkeit von verführerischen Demagogen zum Trotz erwies sie sich doch insgesamt als derart stabil, dass sie anderthalb Jahrhunderte überdauerte, vom frühen fünften bis zum späten dritten vorchristlichen Jahrhundert.49 Insgesamt, so hat der Althistoriker Jochen Bleicken resümiert, ist die athenische Demokratie «der historische Beleg dafür, daß die unmittelbare Herrschaft einer Masse auch unter dem Vorzeichen einer radikalen Gleichheit über lange Zeit hindurch wirklich funktioniert hat».50

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Genauer legt man die demokratische Ära häufig auf den Zeitraum 507/8 v. Chr. (Reformen des Kleisthenes) bis 336 v. Chr. (Thronbesteigung Alexanders des Großen) fest, aber es gibt auch andere Vorschläge, z. B. 322 v. Chr. (Abschaffung der Demokratie unter dem Druck Mazedoniens). – Diskussion des Datierungsproblems etwa bei Stahl, Gesellschaft (Fn. 19), S. 64 ff. Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 682 f.; s. ferner ebd., S. 483: «Erstaunen, wenn nicht Bewunderung erweckt die Stabilität der Demokratie». So auch Moses I. Finley, Antike und moderne Demokratie, Stuttgart 1980, S. 37; ähnlich Gross, Verwaltung (Fn. 15), S. 191, 200; Schulz / ​ Walter, Griechische Geschichte (Fn. 13), S. 71.


III Das Projekt der Moderne: Repräsentative Demokratie «What Athens was in miniature, America will be in magnitude.»51 Mit diesem geradezu schlachtrufartigen Merksatz bringt T ­ homas Paine in kompakter Kürze den Umbruch zum Ausdruck, der die Entwicklung der Demokratie in den früheren britischen Kolonien und den späteren USA charakterisiert. Denn «in magnitude» bedeutet ja, dass sich die Demokratie nun in einem Großflächenstaat realisieren musste. Und das hat notwendigerweise zur Folge, dass sie anders als die athenische nicht auf die direkte Mitwirkung eines Großteils der Bevölkerung gegründet sein kann, sondern sich der Repräsentation bedienen muss. Diese Wandlung von einer direkten hin zu einer repräsentativen Demokratie stellt deren erste große Metamorphose dar.52 Diese Wandlung lässt sich zeitlich und räumlich ziemlich genau verorten, nämlich auf das Ende des 18. Jahrhunderts und damit auf die amerikanische und die französische Revolution.53

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Thomas Paine, Rights of Man, Part Two (1792), Penguin Classics 1985, S. 180. – Dazu Dolf Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Studien über Repräsentation, Vorschlag und Wahl, Stuttgart u. a. 1971, S. 59 ff., 70 ff. Kompakte Darstellung: Mogens Herman Hansen, The Transition from Direct to Representative Democracy, in: Michael Böss / ​ Jør­g en Møller / ​Svend-Erik Skaaning (Eds.), Developing Democracies. Democracy, Democratization, and Development, Aarhus 2013, S. 24–36. Aus darstellungstechnischen Gründen beschränke ich mich im Folgenden auf die jungen USA. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass es annähernd zeitgleich in Frankreich vor allem der Abbé Sieyes war, der ein in sich schlüssiges Konzept demokratischer reprä-

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Freilich: Dass sich Demokratie nun nicht in Gestalt einer direkten, sondern einer repräsentativen realisiert, sagt sich leicht und schnell. Tatsächlich war die Durchsetzung dieses Gedankens keineswegs einfach. Denn dass sich der vielschichtige und schillernde Repräsentationsbegriff   54 mit der Vorstellung einer Selbstherrschaft Freier und Gleicher im Konzept der Volkssouveränität verbindet, verstand sich keineswegs von selbst. Die repräsentative Demokratie musste also – nicht anders als die direkte – von Grund auf neu erfunden werden, um es einmal salopp aus­zudrücken. Allerdings war die athenische Demokratie nicht die praktische Umsetzung eines theoretischen Konzepts oder eines ideellen Bauplanes, sondern sie ergab sich sozusagen im Vollzug. Eine vorgängige Theorie, die der politischen Entwicklung den Weg hätte weisen können, hatte es in Athen gerade nicht gegeben. Das lag schlicht daran, dass «die Griechen sich von aller folgenden Geschichte durch eines unterschieden: sie hatten keine Griechen

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sentativer Herrschaft entwarf, bei dem vor allem der Gedanke der Arbeitsteilung eine zentrale Rolle spielte. Vgl. etwa Emmanuel Joseph Sieyès, Politische Schriften 1788–1790, übersetzt und herausgegeben von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1981, insb. S. 17 ff., 176 ff., 225 ff., 259 ff.; aus der überbordenden Sekundärliteratur siehe nur Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (1974), 4. Aufl. mit einer neuen Einleitung, Berlin 2003, S. 406 ff.; Stefan Breuer, Nationalstaat und pouvoir constituant bei Sieyès und Carl Schmitt, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 70 (1984), S. 495–517; Murray Forsyth, Reason and Revolution. The Political Thought of the Abbé Sieyès, New York 1987, S. 128 ff.; Thomas Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyès, Bern – Stuttgart – Wien 1994, S. 54 ff.; Ulrich Thiele, Sieyès und Bentham: die beiden Pioniere der repräsentativen Demokratie im Vergleich, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Repräsentation, Baden-Baden 2019, S. 59–78. Die ganze Breite und Tiefe von Wort- und Begriffsgeschichte ist ausgelotet bei Hofmann, Repräsentation (Fn. 53), passim.


vor sich».55 Ihre Demokratie war «nicht das Produkt einer poli­ tischen Idee, sondern der besonderen Umstände der athenischen Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts».56 Ganz anders verhalten sich die Dinge im Falle Amerikas. Zwar liegt auch hier eine konkrete historische Situation vor, auf die unsere Autoren reagieren. Doch in der Summe ergeben ihre Interventionen doch das einigermaßen geschlossene Bild einer konzeptuellen Durchdringung der Problematik, wie man in Großflächenstaaten eine Demokratie realisieren könne. Und diese Konzeptualisierung geht der Realisierung voraus, folgt ihr nicht nach. Diejenigen, die das Konzept der repräsentativen Demokratie am intensivsten diskutiert, elaboriert und etabliert haben, waren die Autoren der Federalist Papers. 1. Die «Erfindung» der repräsentativen Demokratie in den Federalist Papers Bei den Federalist Papers handelt es sich bekanntlich um die insgesamt 85 Artikel, die 1787/88 in verschiedenen New Yorker Zeitschriften unter dem Pseudonym «Publius»57 erschienen waren.58 Hinter «Publius» verbargen sich gleich drei verschiedene

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Christian Meier, Die Entstehung des Begriffs «Demokratie». Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie, Frankfurt / ​M. 1981, S. 9. Bleicken, Demokratie (Fn. 7), S. 55. Anspielung auf Publius Valerius Poplicola, einen Konsul aus der Frühzeit der römischen Republik; sein Leben wurde in Plutarchs «Parallelbiographien» dem Leben von Solon, dem großen griechischen Gesetzgeber, gegenübergestellt. Es gibt zahlreiche Textausgaben. Im vorliegenden Beitrag ziehen wir die wohl am weitesten verbreitete Edition von Clinton Rossiter heran: The Federalist Papers. Alexander Hamilton, James Madison, John Jay. Edited by Clinton Rossiter. With an Introduction and Notes by Charles R. Kesler, New York 2003. Hierauf beziehen sich die Seitenangaben in den folgenden Fußnoten.

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Autoren. Das waren Alexander Hamilton, später erster Finanzminister der USA; dann James Madison, der unter Jefferson erst Außenminister und später als dessen Nachfolger vierter Präsident der USA wurde; schließlich John Jay, später erster Chief Justice am neu gegründeten Supreme Court. Worum ging es in der Sache? Die Artikel bezogen Stellung in dem heftig geführten Kampf um die Annahme der amerikanischen Bundesverfassung, für die der Verfassungskonvent in Philadelphia im September 1787 einen Entwurf vorgelegt hatte.59 Dieser Entwurf konnte freilich nur Gültigkeit erlangen, wenn er in mindestens neun der 13 Einzelstaaten angenommen wurde, meistens durch sogenannte Ratifikationskonvente. Besonders wichtig war nun wegen dessen großer wirtschaftlicher und politischer Bedeutung die Zustimmung des Staates New York. Den zentralen Streitpunkt markierte der Übergang wesentlicher Kompetenzen von den bis dahin souveränen Einzelstaaten auf die Union: gemeinsame Währung, gemeinsamer Präsident, ein Bundeskongress mit relativ weitgehenden Gesetzgebungsrechten. Der Verfassungsentwurf zielte im Grunde auf nichts Geringeres als den Übergang von einem losen Staatenbund zu einem festen Bundesstaat. Unsere drei Autoren warben nun in ihren in verschiedenen New Yorker Zeitungen erschienenen Artikeln vehement für die Annahme dieser Bundesverfassung. Dabei zeigt sich, nebenbei gesagt, wie unterschiedlich man den Begriff federal bzw. föderal diesseits und jenseits des Atlantiks verwendet. In den USA sind die Föderalisten die Befürworter einer starken oder doch stärkeren Zentralgewalt, weswegen es auch schlüssig ist, wenn das FBI, das Federal Bureau of Investigation, eine Bundesbehörde 59

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Lebendige Darstellung der Beratungen: Dick Howard, Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie, Frankfurt / ​M. 2001, S. 243 ff.; material- und zitatenreich zur Vor- und Nachgeschichte Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic 1776–1787, Chapel Hill – London 1969, S. 471 ff.


bezeichnet. In Deutschland und gewiss auch in der Schweiz ist eine föderalistische oder föderalismusfreundliche Position ganz im Gegenteil jene, die die Glied- oder Einzelstaaten stärkt. Es war also denkbar unglücklich, wenn auch verständlich, dass die erste Übersetzung der Federalist Papers ins Deutsche unter dem Titel «Der Föderalist» erschien.60 Denn die amerikanischen federalists votierten für eine starke Zentralgewalt und nicht zugunsten der Einzelstaaten. Die Federalist Papers waren ihrer ursprünglichen Bestimmung nach also Mittel im öffentlichen Meinungskampf, sozusagen politische Publizistik. Tatsächlich haben sie aber im Laufe der Zeit eine weit darüber hinausreichende, ja überragende Bedeutung erlangt und gelten heutzutage als der wichtigste amerikanische Beitrag zur politischen Philosophie überhaupt.61 Neben der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der US-Verfassung von 1787 gehören sie zu den drei «sacred writings of American

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Der Föderalist von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Felix Ermacora, Wien 1958. – Heutzutage sind zwei Übersetzungen ins Deutsche gängig: (1) Alexander Hamilton / ​James Madison / ​John Jay: Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Mit einem englischen und deutschen Text der Verfassung der USA. Herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela Adams und Willi Paul Adams, Paderborn u. a. 1994. (2) Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, Die Federalist Papers. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993. Zur Einordnung der Bedeutung etwa: Morton White, Philosophy, The Federalist, and the Constitution, New York – Oxford 1987; Harald von Bose, Republik und Mischverfassung. Zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Frankfurt / ​M. 1989; Peter Graf Kielmansegg, Alexander Hamilton / ​James Madison / ​John Jay, Der Federalist (1788), in: Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, herausgegeben von Manfred Brocker, Frankfurt / ​M. 2007, S. 349–363; Roland Lhotta (Hrsg.), Die hybride Republik. Die Federalist Papers und die politische Moderne, Baden-Baden 2010.

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