Beat Münch. Die Geschichte der Ehrenpromotion an der Universität Basel 1823–2015

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Die Geschichte der Ehrenpromotion an der Universität Basel

1823 – 2015





Beat Münch

Die Geschichte der Ehrenpromotion an der Universität Basel 1823–2015

Schwabe Verlag


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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Eine kurze Geschichte des Doktorats . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1

Zwischen Magister und Doktorat: 12.–16. Jahrhundert . . . . . . . .

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1.2

Das Doktorat als Grad ehrenhalber in England und Amerika: 15.–18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3

Krise der akademischen Grade in Europa: 17.–18. Jahrhundert . . .

34

1.4

Erneuerung: 18.–19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

2. Entstehung und Kodifikation des Ehrendoktorats an der Universität zu Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

3. Das Ehrendoktorat an der Universität Basel . . . . . . . . . . . . .

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3.1

Die Universität: Stationen der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . .

75

3.2

Die Entwicklung des Ehrendoktorats an den Fakultäten . . . . . . .

77

3.3

Feste und Jubiläen als Impulsgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

3.4

Unterschiedliche Handhabung der Ehrenpromotion an den Fakultäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

3.5

Fehlende gesamtuniversitäre Formalisierung . . . . . . . . . . . . .

107

3.6

Zwischen Verdienst und Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

3.7

Integration in den Dies academicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

3.8

Späte Ehre für die Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

3.9

Das Ehrendoktorat an der Universität Basel 1823–2015: Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138


6

Inhalt

4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Verzeichnis der Ehrenpromotionen an der Universität Basel: 1823–2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.1

Ehrenpromotionen 1823–2015 chronologisch . . . . . . . . . . . . .

169

5.2

Ehrenpromotionen 1823–2015 alphabetisch . . . . . . . . . . . . . .

397

6. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

Handschriftliche Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

418

Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Ein Buch über die Ehrenpromotionen an der Universität Basel zu schreiben, entspricht zunächst der banalen Intention, eine Wissenslücke zu füllen. Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts werden Männer und über hundert Jahre später auch Frauen an der Universität Basel honoris causa promoviert. Eine Gesamtschau dieser ehrenhalber verliehenen akademischen Grade existiert bis heute nicht. Es ist das Ziel dieser Arbeit, ein historisches Verzeichnis vorzulegen, das alle in Basel vorgenommenen Ehrenpromotionen seit den Anfängen bis 2015 auf‌listet. Als Nachschlagewerk soll es gleichzeitig Auskunft über die Gründe für die Ehrung und die Biographie der mit dem Doktortitel ehrenhalber Ausgezeichneten geben. Das Jahr 2015 ist als Enddatum des Verzeichnisses nicht historisch begründet; es markiert den Beginn einer Neuorganisation der regelmässigen Auf‌listung der jährlichen Ehrenpromotionen auf der Website der Universität Basel. Darüber hinaus sucht das Buch den geschichtlichen Kontext der Ehrenpromotion zu erhellen und darzulegen, wie es am Anfang des 19. Jahrhunderts zur Einführung der Ehrenpromotion allgemein und speziell in Basel kam. Dabei ist auch zu berücksichtigen und zu erklären, dass die Tradition der Verleihung von Graden ehrenhalber im angelsächsischen Bereich wesentlich älter ist als im kontinentalen Europa. Der einführende Teil dieser Arbeit widmet sich der Darstellung der historischen Zusammenhänge und zeigt auf, wie sich die Ehrenpromotion insgesamt in die historische Entwicklung der akademischen Grade einordnet. Den Anstoss zu dieser Arbeit hat nicht zuletzt der ehemalige Rektor der Universität Basel, Prof. Dr. Dr. h. c. Antonio Loprieno, mit der mir als seinem Adjunkten beiläufig gestellten Frage gegeben, ob sich die bestehenden Informationslücken nicht durch entsprechende Quellenforschungen beheben liessen. Die Anregung hat mich ermuntert, mich in das vom Staatsarchiv Basel-Stadt gehütete Universitätsarchiv zu vertiefen und die Geschichte der Institution zu rekonstruieren. Als kritischem Leser des noch von ausufernder Information geprägten ersten Resultats der Nachforschungen gebührt Antonio Loprieno an dieser Stelle grosser Dank. Meine Forschungen haben in hohem Masse von der tatkräftigen und kompetenten Unterstützung des Staatsarchivs Basel-Stadt profitiert. Dabei sind insbesondere dessen Anstrengungen hervorzuheben, den Zugang zu den Quellen während der Corona-Epidemie nicht vollständig abreissen zu lassen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei an dieser Stelle für ihre fachkundige Hilfe und ihr Verständnis für meine Anliegen gedankt. Ein spezieller Dank geht auch an die


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Vorwort

Universitätsarchivarin, Susanne Grulich Zier, die meinen Bemühungen jederzeit mit ihrem Fachwissen und den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dienlich war. Prof. Dr. Susanne Burghartz und Prof. Dr. Georg Kreis haben meine Nachforschungen in zahlreichen Gesprächen mit ihrem tatkräftigen Interesse unterstützt, die Resultate meiner Arbeit in die von ihnen verantwortete Online-Geschichte der Universität Basel (https://unigeschichte.unibas.ch) einzubringen. Ein besonderer Dank gebührt zum Schluss Altrektor Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Gäbler. Er hat die Redaktion dieses Buches mit seinem umfassenden historischen Wissen kritisch begleitet und es mir damit auf besondere Weise ermöglicht, in der oft nicht einfach zu übersehenden Landschaft der Geschichte der akademischen Grade an den vielen Wegkreuzungen nicht auf Abwege zu geraten. Beat Münch


Einleitung

«Ich bitte den Dekan, die Dekanin der … Fakultät, eine Ehrenpromotion vorzunehmen». Diese Formel wiederholt der Rektor und seit einiger Zeit die Rektorin seit mehreren Jahrzehnten mehrfach am Dies academicus der Universität Basel. Die Festversammlung erwartet die Ankündigung mit einer gewissen Spannung. Sie erfährt erst durch die in der wohlgesetzten, früher lateinischen, heute deutschen oder englischen Begründung die Identität und die Verdienste der Geehrten, die unter Applaus ihre Ernennungsurkunde entgegennehmen. Das sich jährlich wiederholende Ritual überdeckt dabei den Umstand, dass die Tradition der Verleihung von Ehrendoktoraten am Dies academicus erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts begann. Die Einrichtung selbst entstand vor 200 Jahren und gehört damit nicht zum historischen Gründungserbe der Universität. Die Ehrenpromotion findet in den zahlreichen Werken zur Geschichte der Universität Basel kaum Erwähnung. Nur Andreas Staehelin widmet dem Ehrendoktorat in seinen Abhandlungen zur Geschichte der Universität Basel jeweils kurze Abschnitte, ohne jedoch näher auf die Institution einzugehen.1 Demzufolge gibt es bis heute keine historische Gesamtdarstellung der Entwicklung des Doktorats honoris causa an der Universität Basel, und es fehlt damit auch eine vollständige Auf‌listung der Ehrenpromotionen. Das Ziel dieser Arbeit ist es, diese Lücke zu schliessen. Eine ausführliche Recherche führte zurück bis zu den Anfängen der Institution im Jahre 1823. Die Einträge in den Fakultätsprotokollen und die ebenfalls seit 1823 fast vollständig vorhandenen, bis weit ins 20. Jahrhundert in lateinischer Sprache abgefassten Promotionsurkunden sowie zahlreiche weitere Quellen erlaubten es, die Verleihung von Ehrenpromotionen an der Universität Basel über die Zeit lückenlos zu erheben. Da es sich bei den Ehrendoktoren und später auch bei den Ehrendoktorinnen vielfach um historisch bekannte Persönlichkeiten handelte, war mit wenigen Ausnahmen die Identifikation sowie die Erstellung des Lebenslaufes der Geehrten möglich. Die Ausführlichkeit und die Genauigkeit der Angaben für die einzelnen Personen sind je nach Quelle allerdings unterschiedlich. Dabei leisteten die mittlerweile zahlreich in gedruckter und digitaler Form vorhandenen biographischen Lexika einzelner Länder, Regionen oder auch Insti-

Staehelin, Andreas, Geschichte der Universität Basel 1632–1818, 2 Bde., Basel, 1957; Ders. Geschichte der Universität Basel 1818–1835, Basel, 1959.

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Einleitung

tutionen hilfreiche Dienste. Die vollständige Aufzählung der 786 zwischen 1823 und 2015 verliehenen Ehrenpromotionen findet sich mit einer Zusammenfassung der Begründung für die jeweilige Verleihung sowie eines Biogramms als letzter, aber zentraler Teil dieses Buches. Die Ehrenpromotion ist heutzutage eine Auszeichnung, die weltweit zahllose Hochschulen vergeben. Sie baut nicht auf einem Studium oder auf Prüfungen auf. Im Gegenteil, die Geehrten erhalten sie unabhängig von einer spezifischen akademischen Vorleistung, auch wenn viele von ihnen bereits mit Preisen bedachte Akademikerinnen oder Akademiker sind. Aufgrund ihres historischen Prestiges zieht sie nach wie vor Aufmerksamkeit auf sich. Im deutschen Sprachraum entstand die Praxis der Ehrenpromotion im frühen 19. Jahrhundert in einer bewegten Zeit, in der die Universitäten gegen ihren Niedergang kämpften und Europa sich nach der napoleonischen Zeit geopolitisch neu ausrichtete. Die Ehrenpromotion ist damit als Teil der universitären Erneuerungsbestrebungen zu verstehen, überkommene Strukturen zu überwinden und den Verfall des historischen Graduierungssystems aufzuhalten. In Basel bildete das Universitätsgesetz von 1818 den Ausgangspunkt dieser Entwicklung. Es stellte einen radikalen Schnitt dar, indem es die Hochschule vollständig der Regierung und dem von ihr eingesetzten Aufsichtsgremium, der Kuratel, unterordnete und ihre historischen Befugnisse bis hin zur Bestimmung der Lehrpläne auf‌hob. In diesem staatlichen Korsett musste die Universität den akademischen Rahmen neu definieren, was insbesondere Promotionsordnungen für die Verleihung von Graden betraf. De facto überdauerte nur das Doktorat die alte Zeit, allerdings in neuer Form. Die Ehrenpromotion war dabei eine Variante des durch ein Studium ordnungsgemäss (rite) zu erwerbenden Grades. Was zunächst als Einheit erscheint, entwickelte sich im Laufe der Zeit unterschiedlich. Die Rite-Promotion wurde zur Grundlage der akademischen Karriere, die Ehrenpromotion weitete ihren Adressatenkreis aus und fand als gesellschaftlich beachtete Auszeichnung, die auch der Selbstinszenierung der Universität diente, letztlich ihren Hort im feierlichen Rahmen des Dies academicus. Die Basler Geschichte der Ehrenpromotion ist nicht einfach als lokales Phänomen zu betrachten. Sie ist ein Teil und auch ein Produkt des wechselhaften Geschicks der Grade seit den Anfängen der Institution Universität. Bemerkenswerterweise hat die Verleihung von Graden ehrenhalber in den angelsächsischen Universitäten eine viel längere Tradition als im kontinentalen Europa. Die historischen Unterschiede zwischen den honorary degrees und dem Doktor h. c. bestehen bis heute, obwohl dies in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr geläufig ist. Eine gedrängte Zusammenfassung der Geschichte des Doktorats, die diese Studie einleitet, sucht diese Entwicklung zu verdeutlichen. Der Umweg über England, wo die erste Ehrenpromotion im 15. Jahrhundert stattfand, und über Amerika, wo das Harvard College im 17. Jahrhundert den ersten Doctor of Sacred Theology ehrenhalber verlieh, ist lohnend. Denn das Phänomen fand dort eine geradezu inflationäre Verbreitung, die für die spätere Entwicklung der Einrichtung im kon-


Einleitung

tinentalen Europa den Hintergrund lieferte. Dies umso mehr, als offensichtlich die Einführung des Ehrendoktorats in unseren Breitengraden nicht primär von den angelsächsischen Gepflogenheiten beeinflusst war, auch wenn sich die Traditionen heute zunehmend annähern. Damit sind die vier Schritte gesetzt, mit denen diese Untersuchung argumentiert. (i) Die Ehrenpromotion als globales Phänomen entsteht aus der Geschichte der Universität und der damit zentral verbundenen Tradition der Grade. (ii) Sie hat einen angelsächsischen Strang, der sich unabhängig von der kontinentaleuropäischen Geschichte entwickelt. (iii) Der europäische Ehrengrad ist ein Resultat der Reform der im 18. Jahrhundert in die Krise geratenen kontinentaleuropäischen Universität. (iv) Die Universität Basel ist ein Beispiel dieser Entwicklung, deren besondere Form den lokalen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen entspringt. Methodisch beansprucht diese Untersuchung, die Geschichte der Ehrenpromotion an der Universität Basel aufgrund schriftlicher Quellen darzustellen, die sich in erster Linie im Universitätsarchiv finden, das Teil des baselstädtischen Staatsarchivs ist. Die Qualität des Materials beeinflusst dabei die Aussagekraft der Befunde. Diese ist im Hinblick auf die Ehrenpromotion als eher schmal zu beurteilen. Die Fakultäten haben dem Archiv oft nur zögerlich Unterlagen zur Vorgeschichte der Auszeichnungen anvertraut, so dass vielfach nicht mehr als Beschlüsse in den Protokollen und dazugehörige Promotionsurkunden zu finden sind. Die Untersuchung konzentriert sich somit in erster Linie auf eine lückenlose Aufstellung der Ehrenpromotion und die Identifikation der geehrten Personen. Die jeweilige Begründung für die Ehrung findet sich in den oft blumig und in gedrechseltem Latein formulierten Laudationes. Das am Ende der Untersuchung stehende Verzeichnis der Ehrenpromotionen reduziert diese auf eine möglichst konzise Kurzform, wobei die ausführlichen Texte jederzeit im Archiv einzusehen sind. Hinweise zur Vita in Form eines Biogramms erlauben die historische Verortung der geehrten Personen, wobei Quellenangaben eine weiterführende Information ermöglichen. Die Entwicklung der Ehrenpromotion in Basel ist in einem eigenen Textabschnitt dargestellt und geht auf verschiedene Aspekte ein: Die Kompensation von fehlenden Abschlüssen mit Ehrendoktoraten bei den Professoren in der Anfangszeit, die Ehrenpromotion als Teil der Festkultur, die Reduktion des Doktorats auf die Ehrenpromotion bei der theologischen Fakultät im 19. Jahrhundert, die Heterogenität der Handhabung der Ehrenpromotion in den verschiedenen Fakultäten oder die spät einsetzende Ehrung von Frauen, die auf die allgemein konservative Haltung der Universität verweist, sind dafür einige Beispiele. Die Schilderung orientiert sich dabei an den durch die Quellen belegten Fakten. Es wäre jedoch vermessen, daraus eine Inter­pretation der Entwicklungsgeschichte der Universität ableiten zu wollen. Immerhin vermag die Darstellung der Ehrenpromotion über die Dauer von zweihundert Jahren einige Schlaglichter auf einzelne historische

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Einleitung

Momente zu werfen, die für das Verständnis der Gesamtgeschichte der Hochschule von Bedeutung sind. Die einführende Darstellung der Entwicklung der universitären Grade und der Ehrenpromotion unter Einbezug der Tradition der honorary degrees in England und Amerika beruhen nicht auf eigenen Forschungen, sondern auf einer selektiven Auswertung der fast uferlosen Literatur zur weltweiten Geschichte der Universität. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Arbeiten zum Doktor honoris causa sowohl im angelsächsischen wie im kontinentaleuropäischen Raum eher spärlich sind, da die Institution nicht das Kerngeschäft der Universität betrifft und vielfach einen schlechten Ruf geniesst. Entsprechende Forschungen könnten viele Lücken auch in dieser Darstellung schliessen. Ziel dieses Resümees ist es zuvorderst, das Verständnis der Ehrenpromotion in seinen historischen Kontext einzubetten und damit die lokale Basler Tradition in die von Anfang in der Geschichte angelegte raumübergreifende Dimension der universitas deutlich zu machen. Die Entwicklung der Ehrenpromotion in Basel könnte wohl so oder ähnlich für zahlreiche andere Universitäten erzählt werden und damit auch einen Beitrag zu Reflexion über die historische Einrichtung und ihre mögliche Erneuerung leisten.


1. Eine kurze Geschichte des Doktorats

1.1 Zwischen Magister und Doktorat: 12.–16. Jahrhundert Die unterschiedliche Entwicklung der Grade und vor allem auch der Ehrenpromo­ tion im kontinentalen Europa und in der angelsächsischen Welt geht auf die Anfänge der Universität zurück, in denen der Nachweis für ein abgeschlossenes Studium noch je nach geographischer Provenienz unterschiedlich geregelt war. Die frühe Universität entstand sowohl in Bologna wie in Paris als Verband von Schulen oder von Korporationen, in denen sich Lehrer und Scholaren aus allen Teilen Europas sammelten, um sich dem gelehrten Wissen ausserhalb der teils einengenden Mauern klösterlicher Schulen zu widmen. In der Auseinandersetzung mit der regionalen und kirchlichen Obrigkeit gewannen diese Verbände über die Zeit einen Rechtsstatus, der sie als gesellschaftlich anerkannte Institutionen etablierte. Im oft kontrovers geführten Dialog mit den städtischen oder kirchlichen Autoritäten ging es um Lehrbefugnisse, das Graduierungswesen oder das Recht, sich zu Körperschaften zusammenzuschliessen, insgesamt also um Rechte, die für die Organisation der Universität eine zentrale Rolle spielten und sie für lange Zeit bestimmten.2 Zwei unterschiedliche Entwicklungsstränge lassen sich dabei beobachten. In Bologna entstand die universitas scholarium; die universitas magistrorum et scholarium nahm ihren Anfang in Paris.3 Beide beeinflussten die weiteren Universitätsgründungen und die Entwicklung der Grade in Europa und in der angelsächsischen Welt auf je eigene Weise. In Bologna4 kam es im Laufe des 11. Jahrhundert zur Gründung mehrerer Rechtsschulen, die dank ihrer Reputation gegen Ende des Jahrhunderts einen

2 Siehe dazu A History of the University in Europe, Walter Rüegg Hsg., 4 Bde., Cambridge etc., 1992–2011, Vol. 1: Universities in the Middle Ages, 1992. 3 Classen, Peter, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, Schriften der Monumenta Germaniae Historica, Hsg. Johannes Fried, Stuttgart, 1983, 2. 4 Die Literatur zu den Anfängen der Universität ist zahlreich und weit gefächert. Die vorliegende Darstellung konzentriert sich auf die Entstehung der Grade. Dazu wurden u. a. folgende Werke konsultiert: A History of the University in Europe, Vol. 1: Universities in the Middle Ages, 1992; Fisch, Stefan, Geschichte der europäischen Universität. von Bologna nach Bologna, München, 2015; Boehm, Laetitia, «Die Verleihung akademischer Grade an den Universitäten des


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1. Eine kurze Geschichte des Doktorats

grösseren Zustrom an Scholaren aus verschiedenen Ländern erlebten. Die Studenten begannen sich nach ihrer Herkunft in «Nationen» zu organisieren und diese in universitates 5 mit von ihnen gewählten Rektoren an der Spitze zusammen­ zuschliessen. Die nationes selbst dienten der gegenseitigen Hilfe und dem Schutz vor Übergriffen aus der lokalen Bevölkerung oder vor obrigkeitlicher Willkür. Die Stadt versuchte anfänglich die Studentenkorporationen aufzulösen oder zumindest zu behindern. Im Kern drehten sich dabei die Auseinandersetzungen um die Verleihung der licentia docendi, der Lehrbefugnis, die mit weitgehenden Immunitätsgarantien und politischen Rechten verbunden war, über die die Stadt die Kontrolle behalten wollte. Zudem suchte man die Vergabe der Lehrbefugnis an minus docti ad docendum, also an pädagogisch Unbegabte, im Interesse der Wahrung der Reputation zu verhindern. Papst Honorius III. entschied schliesslich die Auseinandersetzungen im Sinne eines Kompromisses. Sein Dekretale von 1219 bestimmte, dass die Würde dem offenstehe, der vom Kollegium sorgfältig geprüft war und anschliessend vom zuständigen Vertreter der kirchlichen Obrigkeit der Stadt feierlich die licentia docendi erhielt und damit den Titel eines Doctor führen durfte. War Bologna die Hochburg der Rechtswissenschaften, so konnte Paris6 dieses Attribut für die Theo­logie für sich in Anspruch nehmen. Die Gründung der ­Hohen Schule von Paris ging auf einen Zusammenschluss von klassischen geistlichen Schulen, unter anderem der Kathedralschule von Notre Dame, zurück. Im Unterschied zu Bologna stützte sich die Entwick‌lung in Paris sowohl auf die Verbände der Magister wie auf die der in nationes organisierten Studierenden. Die Angst vor einem Wildwuchs an den Schulen hatte ähnlich wie in Bologna längere Auseinandersetzungen zwischen Magistern, Scholaren und der städtischen sowie der

14.–16. Jahrhunderts», Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität, 1958/1959; diess., «Akademische Grade», in Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Rainer Christoph Schwinges Hsg., Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Basel, 2007; Baur, Sebastian, Vor vier Höllenrichtern … Die Lizentiats- und Doktorpromotionen an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, Rechtshistorische Reihe, Frankfurt a. M., 2009; Baumgärtner, Ingrid, «De privilegiis doctorum. Über Gelehrtenstand und Doktorwürde im späten Mittelalter», in Historisches Jahrbuch, im Auf‌trag der Görres-Gesellschaft herausgegeben, Laetitia Boehmet et al. Hsg., Freiburg i. Br., München, 1986; Rüegg, Walter, «Themen, Probleme, Erkenntnisse», in Geschichte der Universität in Europa, Vol. I, Walter Rüegg Hsg., München 1993. 5 Universitates nennt man im Mittelalter ganz allgemein Personenverbände der verschiedensten Art, z. B. den Klerus in einer Diözese, die Bürger einer Stadt oder eben auch eine Schule (Classen, 2). 6 Siehe zur Entstehung der Pariser Universität auch die konzise Darstellung bei Benoit, Paul, «La théologie au XIIIe siècle: une science pas comme les autres», in Éléments d’histoire des sciences, Michel Serres Hsg., Paris, 1989, 179–185


1.1 Zwischen Magister und Doktorat: 12.–16. Jahrhundert

kirchlichen Obrigkeit zur Folge. Schliesslich griff der den entstehenden Schulen geneigte König vermittelnd in den Streit ein und erreichte einen Kompromiss. Den Korporationen wurde erlaubt, neue Mitglieder ohne Einwilligung des Kanzlers der Notre Dame aufzunehmen. Gleichzeitig dämmte man den Wildwuchs an Angeboten durch detaillierte Studienprogramme, Curricula und Examina ein. Zudem wurde bestimmt, dass die Magister die Kandidaten für eine licentia docendi examinieren und dem Kanzler vorschlagen durften. Das 1215 im Auf‌trag von Papst Innozenz III. durch den Kardinallegat Robert de Courçon für das Magisterium der Theologen und der Artisten erlassene Statut gab dem Ganzen einen rechtlichen Rahmen und gilt heute als Gründungsdokument der Pariser Universität. Im Unterschied zu Bologna bildete sich in Paris eine Dreistufigkeit der Lehrbefugnis und der Grade heraus: Bakkalaureat7, Lizentiat und Magistrat. Diese Ordnung wurde später oft mit der im Mittelalter gebräuchlichen hierarchischen Einteilung in Lehrling, Gehilfe und Meister verglichen. Anders als in Bologna war der höchste akademische Grad in Paris demzufolge der Magister. Das bedeutet, dass die Grade des Magisters und des Doktors an den europäischen Universitäten zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert als gleichwertig zu betrachten waren. Die Austauschbarkeit der Begriffe liegt in deren Herkunft, die nach Laetitia Boehm in der römisch-antiken Sozialwelt zu suchen ist, auf die sich die mittelalterliche Scholastik bezog. Die Begriffe magister und doctor wurden dort sowohl für Lehrwie Führungsfunktionen verwendet.8

Die Herkunft des Begriffs baccalaureus ist nicht zweifelsfrei gesichert. Das Französische Etymologische Wörterbuch (FEW): https://apps.atilf.fr/lecteurFEW/index.php/, Tome 1, 198 f. (zuletzt abgerufen Oktober 2022). verweist unter dem Etymon «*baccalaris» auf das altfranzösische bacheler, das einen «jeune homme oder einen jeune homme qui aspirait à devenir chevalier» bezeichnete. Der baccalaureus an der Universität würde damit metaphorisch das Verhältnis vom Knappen zum Ritter auf die akademische Welt übertragen. Laut FEW ist die Etymologie und Bedeutungsgeschichte des Begriffs schwierig zu beurteilen. Die Form baccalarius bezeichnet in frühen spanischen Urkunden sowie in Südfrankreich den Besitzer einer baccalaria, eines grösseren, aus mehreren Gebäuden bestehenden Bauernguts. Ein baccalarius war demzufolge ein wohlhabender Mann, der im gesellschaftlichen Rang zwischen dem einfachen Bauern und dem Edlen stand und nach Ritterwürden strebte. Die Latinisierung von baccalarius zu baccalaureus ist laut FEW eine universitäre Schöpfung und beruht auf einer falschen Etymologie des Wortes, das man mit der Bezeichnung von laurus für Lorbeerzweig und von bacca für Beere, das heisst mit dem Bild des Lorbeerkranzes als Siegeszeichen in Verbindung brachte. Diese Erklärung ist jedoch nicht eindeutig mit Quellen zu belegen. 8 Boehm, «Akademische Grade», 14. Der magister peditum war zum Beispiel der Führer der Fusstruppen, der doctor rhetoricus oder der doctor gladiatorum waren jeweils Lehrer ihrer Disziplinen. 7

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1. Eine kurze Geschichte des Doktorats

Das Recht, überall zu lehren Im Zusammenhang mit der Entstehung der Grade und der mit ihnen verbunden Rechte stellte die Ausdehnung der Lehrerlaubnis über die verleihende Universität hinaus einen wesentlichen Entwick‌lungsschritt dar. Im Jahre 1233 erhielt die Universität Toulouse als erste von Papst Gregor IX. eine Lizenz zur Lehre nach dem Vorbild der Pariser Statuten, die für ihre Scholaren ohne weitere Überprüfung überall gelten sollte. Aufgrund ihrer Gültigkeit «für Lehr- und Graduierungsbefugnis im nominell gesamtchristlichen europäischen Raum»9 entwickelte sich die licentia ubique docendi zur allgemeinen Voraussetzung für die Errichtung von ursprünglich studia generalia genannten Universitäten und die Rechtskraft der an ihnen vergebenen Grade.10 Die mit diesen Privilegien ausgestatteten Universitäten hoben sich so von den klösterlichen studia particularia mit eingeschränkten Befugnissen ab. Das Privileg der universellen Geltung von akademischen Graden und der damit verbundenen Lehrbefugnis förderte die Autonomie der Uni­versitäten, denn sie errangen damit eine über die lokalen Grenzen hinausgehende Kompetenz für die Regelung der Studien und der Studienabschlüsse.11 Zudem bildete dieses Recht die Grundlage für die Bildung des rasch wachsenden europaweiten Netzwerkes an Hochschulen, in dem Lehrende und Studierende zirkulierten.12 Vier Fakultäten Die licentia ubique docendi wurde zum Ausgangspunkt für die künftige Ausgestaltung der Grade als Stufenleiter für die Lehrbefähigung.13 Sie führte aber nicht unmittelbar zu einer Angleichung der Graduierungspraxis unter den Universitäten. Diese war zunächst vom Gründungsmodell abhängig. Die italienischen Universitäten wie Padua, Florenz oder Perugia folgten dem Modell von Bologna und vergaben nur das Doktorat.14 Die nördlich der Alpen ab dem 14. Jahrhundert

9 Ibid., 17; Horn, Ewald, Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten: vormehmlich seit dem 16. Jahrhundert: Mit einem Anhang enthaltend ein Verzeichnis aller ehemaligen und gegenwärtigen deutschen Universitäten, Zentralblatt für Bibliothekswesen. Beiheft, Leipzig, 1893, 103. 10 Boehm, «Die Verleihung akademischer Grade», 171. 11 Rüegg, 34. 12 Siehe zu den Details dieser Entwick‌lung die Ausführungen von De Ridder-Symoens, Hilde, «Mobility», in A History of the University in Europe, Vol. II: University in Early Modern Europe, Walter Rüegg Hsg., Cambridge, 1996. 13 Boehm, «Akademische Grade», 17. 14 Baur, 7.


1.1 Zwischen Magister und Doktorat: 12.–16. Jahrhundert

entstehenden Universitäten15 folgten der Pariser Ordnung und übernahmen die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts übliche Einteilung in die vier facultates oder scientiae der Theologie, der Jurisprudenz, der Medizin und der artes liberales, der «Freien Künste».16 Schon vor der Gründung der Universitäten war es für einen Gelehrten üblich, dass er als Erstes einen Bildungsgang nach dem Auf‌bau der sieben freien Künste durchlief. Dies schlug sich in der Universität in einer Rangordnung in eine untere Fakultät und drei obere Fakultäten nieder. Die Einteilung entsprach der mittelalterlichen Wissenschaftshierarchie, in der die Theologie die Königsdisziplin bildete, zu der die artes liberales die Vorstufe darstellten. Der Erwerb des magister artium galt so schon früh als Voraussetzung für die Aspiration auf einen Grad in den höheren Fakultäten.17 Was zunächst eine Gewohnheit war, entwickelte sich bald an den meisten Universitäten zur Regel.18 Die ursprüngliche Hierarchie der Grade verschob sich, denn auch die dem Pariser Muster folgenden Universitäten übernahmen im Laufe des 15. und 16. Jahrhundert das Doktorat als Bezeichnung für die Abschlüsse in den oberen Fakultäten. In den artes liberales als unterer Fakultät blieb der oberste Abschluss der Magister, da er nicht als gleichwertig mit dem Doktorat in den oberen Fakultäten galt. Es bildete sich so am Übergang zur Neuzeit eine Stufenleiter der Grade und der Lehrbefähigung heraus, die vom Bakkalaureat über das Magisterium in den artes liberales zum Doktorat in den oberen Fakultäten reichte.19

Prag 1348, Krakau 1364, Wien 1365, Heidelberg 1386, Köln 1388, Erfurt 1392. Rüegg, 61; Boehm, «Die Verleihung akademischer Grade», 164. Die oft gestellte Frage nach der Fakultätseinteilung, die aus heutiger Sicht willkürlich erscheint und die Naturwissenschaften vermissen lässt, ist hier nicht zu diskutieren. Benoit, 179, hält dazu fest: «En fait, les disciplines scientifiques, au sens actuel du terme, ont été délaissées au profit de l’étude de la langue, grammaire, rhétorique, dialectique consacrée par l’étude des textes alors connus de la logique d’Aristote.» Damit wird gesagt, dass das Organon im Zentrum der Aristoteles-Rezeption durch die Scholastik stand. Die unsystematische Überlieferung der Schriften von Aristoteles zu Physik, Biologie oder Metaphysik verhinderten die Entstehung einer über eine Naturphilosophie hinausgehenden Wissenschaft von der Natur. «Naturwissenschaften» im heutigen Sinn beginnen sich erst mit der Überwindung des Aristotelismus im 16. und vor allem 17. Jahrhundert anzubahnen. Rechtswissenschaften und Medizin hingegen haben als praktische Wissenschaften eine ununterbrochene, bis in die Antike reichende Tradition. 17 Boehm, «Die Verleihung akademischer Grade», 166–169. 18 Siehe etwa für Tübingen Knapp, Theodor, «Zur Geschichte der akademischen Würden vornehmlich an der Universität Tübingen», Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, NF 2, 1938, 48, oder für Basel Staehelin, Universität Basel 1632–1818, 150–182, um nur zwei Beispiele zu nennen. 19 Boehm, «Akademische Grade», 17. 15 16

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1. Eine kurze Geschichte des Doktorats

Herausragende Stellung des Doktorats Das Doktorat ist der einzige Grad, der mit wenigen Anfechtungen über die ganze Geschichte der Universität Bestand bis in die Moderne hatte.20 Seine heraus­ ragende Stellung gewann es schon früh in Bologna. Die Universität kannte dort anfänglich keine vier Fakultäten und bestand zunächst als Rechtsschule, die in der Gesellschaft hohes Ansehen genoss. Die juristische Gelehrsamkeit war insbesondere für die kleinteilige Landschaft der italienischen Stadtstaaten im ausgehenden Mittelalter von grosser Bedeutung. Juristen besetzten führende Rollen als Berater und Beamte in städtischen und fürstlichen Regierungen. Die Doktoren von Bologna sorgten für die Ausbreitung des gelehrten Rechts zunächst in Italien und durch die Internationalität ihrer Scholaren zeitverschoben auch im Kaiserreich. Ein juristischer Grad wurde vielenorts zur Voraussetzung für eine Anstellung als Beamter. Die sozial- und realpolitische Funktion der Rechtsdoktoren, ihr Erfolg, aber auch ihr Anspruch bezüglich der exklusiven Auslegung des Rechts bewirkte längerfristig einen Aufstieg der Juristen, die auf der sozialen Stufenleiter in die Nähe des Adels rückten.21 Die Rechtsgelehrten erwarben sich neben dem Geblütsadel (nobilitas ex genere) und neben der durch Weihe herausgehobenen Geistlichkeit das Attribut des «Geistesadels» (nobilitas propter scientiam). Berühmte Juristen erhielten gar das Recht, das Adelsprädikat eines Ritters (eques) zu führen.22 War der Doktortitel durch seine Verbindung mit der licentia docendi anfänglich noch eine Berufs­bezeichnung, so entwickelte er sich im ausgehenden Mittelalter zu einer Würde und erlangte eine exklusive Funktion. Deshalb war der Erwerb des Grades vor allem für nichtadlige Absolventen aufgrund der mit ihm verbundenen Nobilitation von Bedeutung.23 Es ging letztlich um eine Form der Ehre, die das soziale Ansehen steigerte und von entsprechenden Privilegien begleitet war.24 Konkret brachte dies dem Doktor Steuervergünstigungen ein, eine bevorzugte Stellung zum Beispiel in der kirchlichen Rangordnung etwa bei Prozession oder bei festlichen Tafeln (Präzedenz), ritterliche Attribute wie das Tragen eines Degens, Sonderrechte vor Gericht beispielsweise durch die Bewahrung vor Folter.25 Das in Paris übliche Magisterium hat eine solche Vorzugsstellung nie erlangt. Nach Laut Frijhoff, Willem, «Graduation and Careers», in A History of the University in Europe, Vol. II: University in Early Modern Europe, Walter Rüegg Hsg., Cambridge, 1996, 365, wurde der Doktortitel sehr rasch zum Äquivalent der Graduierung schlechthin, unabhängig vom eigentlich erworbenen Grad. 21 Baumgärtner, 300–302. 22 Ibid., 302. 23 Stichweh, Rudolf, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität: zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozess ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert), Frankfurt a. M., 1991, 344 f. 24 Baur, 50; Boehm, «Akademische Grade», 14, 25; Stichweh, 344. 25 Boehm, «Akademische Grade», 25 20


1.1 Zwischen Magister und Doktorat: 12.–16. Jahrhundert

dem Beispiel von Bologna verbreiteten sich der Doktortitel und die mit ihm verbundenen Privilegien zunächst in Paris und später in den Universitätsgründungen des 14. Jahrhunderts nördlich der Alpen. Auf die «Aristokratisierung» des Doktorats verweist auch der zunehmende Pomp beim Promotionszeremoniell, bei dem der Promovend mit Hut, Mantel und Ring geschmückt wurde und wie etwa in Basel das Recht erhielt, das obere Katheder zu besteigen, was seine Lehrbefugnis und die Aufnahme in die Korporation der Professoren symbolisierte.26 Die gesellschaftliche Förderung von Graduierten gegenüber dem Geburtsadel war durchaus im Machtinteresse der Kirche und teilweise des Kaisers. Das Tridentische Konzil unterstützte im 16. Jahrhundert diese Entwick‌lung, indem es für höhere Kirchenämter das theologische oder kanonische Lizentiat beziehungsweise das Doktorat verlangte.27 Der Nimbus der Nobilitation begleitete das Doktorat bis in die Gegenwart und wurde durch seine Überhöhung im «Doktor der Philosophie» als Ausweis umfassender wissenschaftlicher Bildung oder als besondere Ehrung mit dem Doktor honoris causa in der Humboldt’schen Reform zusätzlich gefördert. Diese an eine Vorzugsstellung in der ständischen Ordnung gemahnende Auszeichnung ist gerade in demokratischen Staaten als ein wesentlicher Faktor für den anhaltenden Erfolg des modernen Ehrendoktorats zu betrachten, mit dem in einer Gesellschaft, die keine Standesunterschiede mehr kennt, eine soziale Distink­tion zu erreichen ist. Der Magister und der Humanismus Die Stufenleiter der akademischen Grade hatte sich im Laufe des Mittelalters aus den beiden in Paris und Bologna entstandenen Universitätstypen heraus verfestigt. Dies verweist auch auf eine gewisse strukturelle Angleichung zwischen den cis- und transalpinen Universitäten. Die Stabilität des Erreichten geriet jedoch an der Schwelle zur Neuzeit zum einen durch den Humanismus der Renaissance und zum anderen durch die Reformation ins Wanken. In beiden Fällen wurden dabei ganz konkret Teile des Graduierungssystems in Frage gestellt. Der Magistergrad kam ab dem 16. Jahrhundert als höchs­ter Abschluss der artes liberales zunehmend unter Druck. Dies hängt unter anderem mit der Aufwer26 Siehe dazu: Staehelin, Universität Basel 1632–1818, 155–177. Füssel, Marian, «Talar und Doktorhut. Die gelehrte Kleiderordnung als Medium sozialer Distinktion», in Frühneuzeit­liche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa, Barbara Krug-Richter und Ruth E. Mohrmann Hsg., Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Köln / ​ Weimar / Wien, 2009a; Ders., «Rituale in der Krise? Zum Wandel akademischer Ritualkultur im Zeitalter der Auf‌k‌lärung», Paideuma: Mitteilungen zur Kulturkunde, 55, 2009; Boehm, «Akademische Grade», 25. 27 «Akademische Grade», Ibid.

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1. Eine kurze Geschichte des Doktorats

tung der Freien Künste durch die Errungenschaften des Renaissance-Humanismus zusammen, in deren Folge auch die Absolventen dieser Fakultät nach dem Doktortitel strebten. Die mit dem metaphorischen Begriff der Renaissance bezeichnete Epoche der Hinwendung zur Antike hatte einen prägenden Einfluss sowohl auf Kunst und Architektur wie auf Literatur und Wissenschaft. Dabei entwickelte sich ein neues Bildungsideal, für das die ständig wachsende Zahl von Editionen wiedergefundener Texte klassischer Autoren die Grundlage bildete. Coluccio Salutati (1331–1406), seines Zeichens Kanzler der Republik Florenz, bezeichnete die damit verbundenen Bestrebungen als studia humanitatis, dies im Gegensatz zu den studia divinitatis.28 Die humaniora, wie man die studia auch nannte, zielten darauf ab, durch die Beschäftigung insbesondere mit der in der klassischen Literatur überlieferten Sprache, Rhetorik, Dichtkunst und Ethik zu einer Einheit von Wissen und rechtem sittlichen Handeln und damit zur wahren Menschlichkeit zu gelangen.29 Die im 14. Jahrhundert in Italien einsetzende Forschung nach den Quellen antiker Überlieferung bildete den Anfang der modernen Philologie, mit deren Hilfe sich antike Texte in ihrer Originalversion rekonstruieren liessen.30 Dazu gehörten etwa Methoden zur Etablierung der Genealogie verschiedener Textfassungen zur Überprüfung ihrer Echtheit.31 Grundlegend war dabei auch die Rekonstruktion des klassischen Lateins, dessen durch die Scholastik geprägte Form die Humanisten als barbarisch erachteten, womit sie gleichzeitig sowohl die mittelalterlichen Grundlagen der artes liberales und der Theologie in Frage stellten. Diese Entwick‌lung beschränkte sich nicht auf Italien. Etwas zeitversetzt fasste der Humanismus auch jenseits der Alpen Fuss, zunächst rezeptiv und zunehmend mit einer eigenen Ausprägung, für die in herausragender Weise die Person von Erasmus von Rotterdam steht.32 Bildeten die studia humanitatis bei Salutatis noch einen Gegensatz zu den studia divinitatis, so strebte Erasmus eine Einheit aus den Lehren der antiken Kultur und der heiligen Schriften an, denn nur durch das Verständnis der Klassiker (zu denen auch die Kirchenväter zählten) werde man zum

28 Bod, Rens, A new History of the Humanities: the Search for Principles and Patterns from Antiquity to the Present, Oxford, 2013, 145. 29 Scheible, Heinz, «Humanismus», in Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörter­ buch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, Dieter Betzet et al. Hsg., Tübingen, 2000, 1942. 30 Diese Entwick‌lung ist im Detail nachgezeichnet im Kapitel «Early Modern Era: The Unity of the Humanities» in: Bod, 142–249. 31 Die grundlegende Methode für das Auf‌finden der ältesten Textversion, die als Original betrachtet wurde, entwickelte Angelo Poliziano (1454–1494), ibid., 149. Die Echtheitsfrage beschäftigte besonders Lorenzo Valla (1406–1457), der auf spektakuläre Weise die sogenannte Konstantinische Schenkung als Fälschung entlarven konnte, ibid., 148. 32 Scheible, 1942.


1.1 Zwischen Magister und Doktorat: 12.–16. Jahrhundert

wahren Menschen – und zum Christen.33 Erasmus wurde damit zur Galionsfigur des sogenannten Bibel-Humanismus.34 Dabei verlagerte sich die philologische Methode auf die Bibelwissenschaft und die Theologie. Es galt, im humanistischen Sinne ad fontes zu gelangen, was im Falle der Bibel nur indirekt über die griechische Vorlage möglich war. Erasmus erweiterte mit diesem Vorgehen das Prinzip des Vordringens zur ältesten Quelle um dasjenige des Rückgriffs auf die originale Sprache, wobei er auch hebräische Texte beizog.35 Damit etablierte er gleichzeitig die Kenntnis des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen als Grundlage theologischer Studien. Sein Anstoss zur Errichtung des Collegium trilingue in Löwen, an dem die drei Sprachen auf gleichem Niveau gelehrt wurden, belegt dieses von allen Bibel-Humanisten geteilte Bestreben.36 Der Humanismus in der Renaissance des Spätmittelalters hat viele Facetten und umfasste zahlreiche, teils gegensätzliche Inhalte. Seine Gemeinsamkeit liegt in der Methode, sich die Antike zu erschliessen, und in seiner Kritik an der mittelalterlichen Scholastik.37 Entsprechend ist auch seine Wirkung unterschiedlich zu beurteilen. Heinz Scheible bezeichnet die in der Rhetorik, im Griechischen und Hebräischen errungenen Kenntnisse sowie das Selbstbewusstsein der eigenständigen Persönlichkeit seit dem 16. Jahrhundert als «bleibenden Besitz der meisten Gebildeten Europas».38 Darüber hinaus ist der Befund unterschiedlich. So hatten die Bibel-Humanisten zweifellos einen starken Einfluss auf die Reformation,39 ohne sich mit dieser zu identifizieren, da sie die «Hochschätzung des Allgemeinmenschlichen» durch diese gefährdet sahen.40 Hingegen war die Etablierung des

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Augustijn, Cornelis, Erasmus von Rotterdam: Leben – Werk – Wirkung, München, 1986,

34 Ibid., 100; Junghans, Helmar, «Der mitteldeutsche Renaissancehumanismus», Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig – Philologisch-historische Klasse, Band 139, Heft 1, 2004, 38. 35 Bod, 152–153. 36 Ibid., 153. 37 Junghans, 6; Spitz, Lewis W., «Humanismus / Humanismusforschung», in Theologische Realenzyklopädie, Gerhard Müller Hsg., Berlin / New York, 1986, Bd. XV, 639–640. 38 Scheible, 1942 39 Junghans, Helmar, Der junge Luther und die Humanisten, Weimar, 1984, 189, reiht beispielsweise den jungen Luther noch unter die Bibelhumanisten ein. Dies lässt sich auch für den Schweizer Reformator Huldrych Zwingli feststellen, wie Ulrich Gäbler bestätigt: «Andererseits lässt sich bei Zwingli in seiner vorzürcherischen Zeit keinerlei Reserve gegenüber dem Humanistenfürsten erkennen, so dass er als uneingeschränkter Erasmianer und herausragender Anhänger des biblischen Humanismus gelten kann, als er zum 1. Januar 1519 nach Zürich kommt.», Gäbler, Ulrich, Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Mit einem Nachwort und Literaturnachträgen von Martin Sallmann, 3. Auf‌l., Zürich, 2004, 42. 40 Augustijn, Cornelis, Erasmus, der Humanist als Theologe und Kirchenreformer, Studies in medieval and Reformation thought, Vol. 59, Leiden, 1996, 151.

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