SthE 166: Dorian Winter. Entpersonalisiertes Ins-Dasein-Bringen

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studien zur theologischen ethik 166 Herausgegeben von Daniel Bogner und Markus Zimmermann


Dor i a n Win t e r

Entpersonalisiertes Ins-Dasein-Bringen Eine theologisch-ethische Kritik am reproduktionsmedizinischen Selbstverständnis

Schwabe Verlag, Basel Echter Verlag, Würzburg


Die Druckvorlage der Textseiten wurden vom Departement für Moraltheologie und Ethik der Universität Freiburg i. Ue. zur Verfügung gestellt. Diese Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt. Die vorliegende Arbeit wurde von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ue. als Dissertation angenommen. Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung, keine kommerzielle Nutzung, keine Bearbeitung 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Dorian Winter, veröffentlicht durch Schwabe Verlag Basel, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz. Jede kommerzielle Verwertung durch andere bedarf der vorherigen Einwilligung des Verlages. Gestaltungskonzept Umschlag: icona basel gmbh, Basel Gestaltungskonzept Inhalt: Stellwerkost Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg Satz: Kathrin Staniul-Stucky, Université de Fribourg, Departement für Moraltheologie u. Ethik, Av. de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg i. Ue. Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4907-6 (Schwabe) ISBN eBook (pdf) 978-3-7965-4921-2 (Schwabe) DOI 10.24894/978-3-7965-4921-2 (Schwabe) ISBN Printausgabe 978-3-429-05932-3 (Echter) ISSN 0379-2366 (Studien zur theologischen Ethik) Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


INH A LT S V ER ZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Thematische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Methodische Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3 Stand der Literatur und Verortung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.4 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2 Die Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos und deren Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1 Die Bedeutung des moralischen Status des menschlichen Embryos für eine Ethik der Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . 31 2.2 Die Kontroverse um den Menschen und seinen «Beginn» . . . . . . . . 35 2.3 Lebensrecht als Universalitätsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.4 Konsequenzen aus der Statusdiskussion: eine Überleitung . . . . . . . 59 3 Grammatik der Verfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1 «Absage an die Geschaffenheit» (Romano Guardini) als Versuchung autonomer Urheberschaft über den Menschen . . . . 64 3.2 Vom «Beginn» zum «Ursprung» des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.3 Die Unmöglichkeit der Nicht-Existenz als Schaden: ontologische Abklärungen in ethischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . 84 3.4 Hermeneutische Dimensionen des Kindsbegriffs in normativer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.4.1 Das Kind als «Leerraum» (Ferdinand Ulrich) . . . . . . . . . . . . . . 88 3.4.2 Von der Elternschaft zur Kindschaft: Offenbarungen eines Perspektivenwechsels . . . . . . . . . . . . . . 94 3.5 Die Unzulänglichkeit des reinen Kindeswohlarguments . . . . . . . . 100 4 Menschenwürde und Reproduktionsmedizin: eine Rekonstruktion . . . . 111 4.1 Konturen der Menschenwürdekontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.2 Selbstzwecklichkeit als Referenzpunkt für Menschenwürde und die Grenzen kantianischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3 Selbstzwecklichkeit als Kontingenzwahrung . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.3.1 Die ethische Relevanz der Kontingenzwahrung . . . . . . . . . . . . 128 4.3.2 Grenzenbestimmungen der Kontingenzreduktion . . . . . . . . . 137 4.3.3 Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis . 144 4.3.4 Der locus theologicus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154


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4.4 Selbstzwecklichkeit im Licht phänomenologischer Alteritätsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.4.1 Der methodische Mehrwert phänomenologischer Ethik . . . . . . 165 4.4.2 Radikale Alterität als Bedingung für Selbstzwecklichkeit . . . . . . 167 4.4.3 Das kontingente Ereignis als Bedingung für Alterität . . . . . . . . 173 4.5 Der Ertrag für das Menschenwürdeverständnis: ein Zwischenfazit . 180 5 Dispensierte Leiblichkeit: Kritik des reinen Intentionalismus . . . . . . . . 183 5.1 Sexualität und Prokreation als Paradigma des modernen LeibIntention-Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.2 Leibvergessenheit als moralanthropologische Konsequenz des neuzeitlichen Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.3 Leiblichkeit unter dem Vorwurf des Biologismus . . . . . . . . . . . . . 201 5.3.1 Genese und Form des Vorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.3.2 Das Problem der Leibdegradierung im postmodernen Dekonstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.4 Segmentierte Elternschaft als Phänomen eines reinen Intentionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5.4.1 Der konzeptionelle Intentionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5.4.2 Die Konstitution von Elternschaft als salomonisches Problem: zur politisch-ethischen Tragweite des reinen Intentionalismus . . 227 5.4.3 Zur familienethischen Tragweite des Eindeutigkeitsverlusts . . . . 236 5.5 Vom Leibsein als Praxis zur prokreativen Verantwortung . . . . . . . 242 5.5.1 Das Problem eines vergeistigten Verantwortungsbegriffs . . . . . 244 5.5.2 Prokreative Verantwortung als integrale Verantwortung . . . . . . 250 5.6 Leiblicher Sinn – sinnvoller Leib: Überlegungen zu einer Tendenz anthropologischer Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5.6.1 Die Einheit von Leiblichkeit und Intention im lehramtlichen Referenzsystem: Anknüpfungspunkte und Aporien . . . . . . . . 260 5.6.2 Entfremdung einer genuinen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 5.6.3 Entsinnlichung des Leibes und die Tektonik personaler Sinnerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 5.6.4 Instrumentalisierung des Leibes als Konsequenz des Sinnverlusts . 280 5.7 Von der Selbst- zur Fremdbestimmung: eine Kritik am Konzept «reproduktive Autonomie» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 5.7.1 Das «liberale» Konzept reproduktiver Autonomie . . . . . . . . . . 284 5.7.2 Disperse Autonomie: Heteronomie im Gewand der Autonomie . 287 5.7.3 Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen negativer und positiver Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 5.8 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294


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6 Diffusionierte Herkunft: Überlegungen zur Genealogie und Identität . . 297 6.1 Genealogie, Identität und Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . 297 6.2 Der Verlust generativer Bezüglichkeit: eine Kritik an der Nihilisierung der Bedeutung von Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.3 Theologische Sondierungen zur Bedeutung von Generativität und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 7 Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7.1 Die bioethischen Herausforderungen als Anfrage an theologische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7.2 Schlusswort: Prokreation oder die Ehrfurcht vor dem Präzedenzlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

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VORWORT Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2022 als Dissertation von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) angenommen. Prof. Daniel Bogner danke ich für die Geduld und Offenheit, die er mir während der Entstehung der Arbeit entgegenbrachte. Ihm wie auch Prof. Joachim Negel gebührt der Dank für die Erstellung der Gutachten. Namentlich danken möchte ich einigen wichtigen theologischen Wegbegleitern und Freunden in chronologischer Reihenfolge: Katharina Pultar, Stephan Tilch, Felix Bonfeld, Theresia und Konstantin Kamp. Dem Austausch mit ihnen über das Selbstverständnis akademischer Theologie verdanke ich sehr viel. Den Unterstützern meiner These danke ich für den moralischen Rückhalt während der letzten Jahre. Den Kritikern meiner These danke ich dafür, dass ich mich durch sie zur besonderen Präzisierung an den inhaltlich sensiblen Stellen der Arbeit gezwungen sah. Kathrin Staniul-Stucky sei ausdrücklich für die Mühen gedankt, die mit der sprachlichen Korrektur und der Drucklegung meiner Arbeit einhergingen. Der wesentliche Teil der Arbeit entstand während unserer Familiengründung und parallel zu meiner beruflichen Tätigkeit in der Seelsorge. Meiner Frau Christina, die mir zeitlich und logistisch den Rücken frei gehalten hat, verdient den mit Abstand größten Dank. Sie und mein ältester Sohn Konstantyn hatten (zu) oft das Nachsehen, damit dieses Buch entstehen konnte. Die Idee zu dieser Arbeit entstand aus einer persönlichen Irritation. Medial wurden gerade Mitte der 2010er die technologischen Entwicklungen der Reproduktionsmedizin und die Möglichkeiten von Familiengründungen dank Leihmütter als gesellschaftlicher Fortschritt gefeiert und forciert. Die unkritische Selbstverständlichkeit, mit dem explizit oder implizit ein Recht auf «Kinderhaben» und damit verbunden auf «Kinderbeschaffen» formuliert worden ist, bereitete mir nachhaltig Sorgen. Dieser Arbeit liegt daher keine andere Absicht zugrunde, als jedwede Vorstellung fundamental zurückzuweisen, ein Kind sei etwas prinzipiell Verfügbares. Dass dieses Vorhaben so viele Schichten tangieren würde, habe ich anfangs nicht kommen sehen. Es ist mir ein dringliches Anliegen, ausdrücklich zu unterstreichen, dass mir jede Absicht fremd ist, wie auch immer Betroffene zu diskreditieren. Die existenziellen – und damit auch wesentlich ethischen – Fragen, die nur allzu oft in der Reflexion ausgeblendet und/oder marginalisiert werden, müssen dennoch gestellt und ausformuliert werden. Diese Arbeit will zu diesem schwierigen, aber notwendigen Anliegen einen Beitrag geleistet haben. 1 Mellingen, im November 2023 Dorian Winter 1 Im vorliegenden Band wird das generische Maskulinum verwendet. Es bezieht sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.



1 EINLEIT UNG 1.1 Thematische Hinführung Gut fünfzig Jahre schon ist eine ethische Diskussion über medizinische Praktiken im Gange, die sich im weitesten Sinne unter dem Begriff «Reproduktionsmedizin» subsumieren lassen. Begonnen hat die Debatte mit einer Grundsatzdiskussion über das Verfahren der In-Vitro-Fertilisation, mithilfe derer im Jahr 1978 erstmals ein gesundes Kind geboren werden konnte. Hauptachsen der Diskussion waren und sind bis heute die Frage nach dem Embryonenschicksal sowie die Frage nach der moralischen Bewertung der «Künstlichkeit» dieses Verfahrens. Sukzessiv gewann die Methode der außerkorporalen Zeugung an gesellschaftlicher Akzeptanz, während mit den biotechnologischen Entwicklungen immer neue Detailfragen auf den Schreibtischen der akademischen Bioethik zu liegen kamen und nach ethischen Stellungnahmen verlangten: Leihmutterschaft, Klonen, embryonale Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Kryokonservierung, Keimbahntherapie, Ektogenese – diese Gegenstände decken den thematischen Großteil dessen ab, was gegenwärtig unter den Begriff der Reproduktionsmedizin fällt. Unlängst haben auch diese Bereiche durch immer neue Anwendungsoptionen und -modalitäten, deren Aufzählung hier nicht geleistet werden kann, immer präzisere Detailfragen an die Medizin- und Bioethik adressiert. Die Bio- und Medizinethik hat auf den Trend fortschreitender Fragmentierung der Gegenstände durch eine Präzisierung auf die fragmentierten Gegenstände ihrerseits reagiert. Der Preis des Mithaltens mit den neuen tagesaktuellen Herausforderungen ist der Verlust des grundsätzlichen Horizontes, der schon aus rein wissenschaftsökonomischen Gründen nicht in jedem Beitrag bedacht werden kann. Mit anderen Worten befindet sich die Ethik unter dem Zeitdruck, rechtzeitig ihre Stellungnahme abgeben zu müssen. 1 Je enger der Gegenstand ethischer Reflexion gefasst wird, desto mehr rücken Prämissen in den Bereich des Vorausgesetzten. Anstelle der Frage nach dem Grundsätzlichen und den größeren Zusammenhängen «steht vielmehr stets ein eng begrenzter Verhandlungsgegenstand zur Debatte: eine technische Neuerung, eine bestimmte aktuell beunruhigende und möglicherweise regelungsbedürftige

1 In gleicher Weise drückt sich auch Petra Gehring aus: «Tatsächlich stehen bioethische Kontroversen stets im Zeichen der Dringlichkeit: Eine neue, spektakuläre technologische Option – sagen wir: die Stammzellenforschung – soll sofort realisiert werden oder aber sofort verhindert. Die Politik wiederum will ebenfalls zügig den volkswirtschaftlich vorteilhaften gesetzgeberischen Kompromiss. Zeitdruck und Ethik gehören zusammen […].» (P. Gehring, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a. M./New York 2006, 9.)


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Technologie» . Harald Seubert spricht an der Stelle von «der dominierenden Problematik […], dass zwischen allgemeiner und applikativer Ethik und ihren Bereichen eine immer tiefer liegende Differenz besteht» 3. Tatsächlich scheint eine Grundlegung des Verhältnisses zwischen allgemeiner und angewandter Ethik eines der gegenwärtig am meisten unterschätzten Desiderate der praktischen Philosophie zu sein. 4 Der Meinung schließt sich auch Gernot Böhme an, der die Ansicht teilt, «dass die Trennung von theoretischer und angewandter Ethik überhaupt das Wesen der Ethik verfehlt» 5. Der Moraltheologie wäre diesbezüglich sogar eine prinzipiell größere Sensibilität zu attestieren, insofern sie viel unbefangener dazu neigt, angewandte Fragen aus der Perspektive ihrer Fundamentalmoral heraus anzugehen. Je häufiger sich dieser Prozess wiederholt und verselbstständigt, desto mehr erscheinen ursprünglich problematisierte Prämissen als apriorisch geklärte Selbstverständlichkeiten. 6 Gibt man sich mit diesem Umstand zufrieden, ließe dies jeden Versuch, etwas zur Grundsatzdiskussion beizutragen, wie ein anachronistisches Unterfangen aussehen. Ein weiterer Aspekt, der sich in die Beweiskette der beklagten Fragmentierung fügt, besteht darin, die ethische Frage unter das Vorzeichen einer partikularen Perspektive zu stellen. Zahlreich sind die Sammelbände zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin, die unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand versammeln. Sie informieren den Leser dann in aller Regel, und dies in den seltensten Fällen repräsentativ, über juristische, medizinische, philosophische, 2

2 Ebd. 9. 3 H. Seubert, Lebensethik und die Tektonik praktischer Vernunft. Philosophische Überlegungen zu einer gesuchten Disziplin, in: R. Kühn/J. E . Schlimme/K. H. Witte (Hrsg.), psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, Bd. 4 Lebensethik, Freiburg i. Br./München 2009, 28. 4 Die Beobachtung erinnert an Günther Anders’ Kritik an einem philosophischen Habitus, welcher meint, Philosophie verspiele ihre Legitimität, wenn sie sich mit «Spezial- oder gar Tagesthemen» anstelle des «Ganzen» befasse (G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. 1, München 71992, 9–12). Schon beinahe anekdotischen Charakter hat es, dass eine der Größen der deutschsprachigen Moraltheologie des 19. Jahrhunderts, Johann Baptist von Hirschler, in den 1830er-Jahren gleich zu Beginn seiner dreibändigen Moraltheologie die gleiche Feststellung machte, nämlich dass «zwischen dem gewöhnlichen reinen, und angewandten Theil der Moral, wenigstens zur Zeit noch, ein rechter organischer Zusammenhang nicht ersichtlich ist» (J. B. v. Hirscher, Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit, Bd. 1, Tübingen 21836, VI). 5 G. Böhme, Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur, Frankfurt a. M. 2008, 11. 6 Zu dieser Verselbstständigung trägt gewiss auch der wissenschaftssoziologische Sitz im Leben der fragmentierten Bereichsethiken bei, die im Gegensatz zu einer allgemeinen Ethik sich viel stärker in einer «institutionell und wissenschaftlich präformierten Welteinstellung» wiederfinden (H. Seubert, Lebensethik und die Tektonik praktischer Vernunft, 29).


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theologische, feministische, soziologische, kulturelle, geschlechterspezifische, historische Perspektiven, ohne in der Sache als Ganzes etwas beigetragen zu haben. Ein solches Vorgehen entspricht freilich dem wissenschaftssoziologischen Trend hinsichtlich bioethischer Fragen und hat auch seine eigene Berechtigung. Das Interesse nahezu aller Fachbereiche der geistes-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Fakultäten unterstreicht nicht zuletzt die epochale Bedeutung des sich hier vollziehenden Paradigmenwechsels, umso folgerichtiger ist die Befragung des je eigenen Faches auf die Möglichkeiten einer spezifischen Beitragsleistung. Die Gefahr, die von der Fragmentierung in Teilperspektiven ausgeht, liegt letztlich in der Fragmentierung des eigentlichen Gegenstandes, mehr noch in seiner Auflösung in partikulare, untereinander unvermittelte Perspektiven. Diese Arbeit nimmt den Anfangsverdacht unzureichend reflektierter Prämissen und der Verlusthaftigkeit des «Grundsätzlichen» in der reproduktionsmedizinischen Gesamtdebatte zu ihrem eigentlichen Anlass. Sie sieht es als zwingende Aufgabe von Geisteswissenschaften an, auf verselbstständigte Prämissen in Debatten hinzuweisen und sie zu problematisieren. 7 Sie will so zu einem Bewusstsein beitragen, dass die fragmentierte Debatte letztlich Teilfragen eines umfassenderen Problems 8 behandelt, welchem man dem Anspruch nach nur gerecht wird, indem Grundsätzliches und Konkretes sich gegenseitig beleuchten. Klaus Demmer hat diesen Anspruch in vorzüglicher Weise folgendermaßen formuliert: Allenthalben in den Geisteswissenschaften gilt es als eine Binsenwahrheit, dass man den Bezug zum Ganzen wahren muss. Die Reduzierung des Blicks auf Einzelfragen dient zwar der Präzision, schadet aber der Tiefe. Der Moraltheologe darf sich dieser Einsicht nicht verschließen. Er muss für das Hin und Her der Denkbewegungen offenbleiben. Denn der Interessierte will wissen, wie die innere Kohärenz einer Disziplin in jeder konkreten Problemlösung anwesend ist. Im Fragment will er das Ganze erkennen können. Denn nur unter dieser Voraussetzung lassen sich Argumentationen nachvollziehen. Im Übrigen liegt in dieser Erwartung auch ein unverkennbarer Reiz. Wie konsistent ist ein Denkgebäude? Wie sehr ist es belastbar? Stößt es irgendwann einmal an eine Grenze, sodass Selbstkorrektur zum Gebot wird? 9

Eine Auseinandersetzung, die alte und neue Fragen grundsätzlicher Natur zur Sprache bringen will, steht vor ihrer ersten Herausforderung, ihren Untersuchungsgegenstand adäquat zu definieren. Alle ethischen Fragen, die menschliche

7 «[A]uf blinde Flecken von Praxis und Diskurs aufmerksam zu machen [und] deren implizite ideologische Vorannahmen zu benennen», so verstehen ihren theologischen Anspruch auch prominente Vertreterinnen theologischer Ethik (R. Ammicht Quinn u. a., Frauen in der Praxis der Reproduktionsmedizin und im bioethischen Diskurs – eine Intervention, in: K. Hilpert/D. Mieth (Hrsg.), Kriterien biomedizinischer Forschung. Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs, Freiburg i. Br. 2006, 444–470, 444). 8 Vgl. H. Seubert, Lebensethik und die Tektonik praktischer Vernunft, 29. 9 K. Demmer, Angewandte Theologie des Ethischen, Freiburg i. Ue. 2003, 9.


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Prokreation tangieren, sind auf fundamentaler Ebene Fragen, die das «Ins-DaseinBringen» eines Menschen zum Gegenstand haben. Wenngleich hier Heideggersche Semantik anklingt, so hat dieser Begriff mit seiner philosophischen Programmatik zunächst wenig zu tun. Keine andere Formulierung bringt den Fundamentalcharakter pointierter und prämissenfreier sowie semantisch unverdächtiger zum Ausdruck. 10 Damit wird zugleich auch deutlich, dass es eben nicht die isolierte Frage des biotechnologischen Verfahrens ist, die Gegenstand der ethischen Kritik ist. Die Verfahrensfrage ist nur insofern ethisch interessant, als sie den Ursprung eines Menschen zum Gegenstand hat, seine Existenz stiftet, ihn ins Dasein bringt. Moderne reproduktionsmedizinische Verfahren können in ihrer Unmittelbarkeit etwas leisten, was der Menschheitsgeschichte bis dato verwehrt blieb, nämlich Menschen machen, sie re-produzieren. Dass selbstverständlich von Reproduktion gesprochen wird und der Ausdruck «baby making» im angloamerikanischen Raum ein geläufiger Terminus in der bioethischen Literatur ist, deutet darauf hin, dass die Irritationsschwelle diesbezüglich nicht besonders niedrig gelegt ist. Das Überführen menschlicher Fortpflanzung aus dem Bereich personaler Beziehungen in den Bereich technischen Denkens nenne ich «entpersonalisierte Prokreation». Dieser Vorwurf ist freilich nicht neu. Auf ihn trifft man gelegentlich in bioethischen Abhandlungen, aber mehr noch in technologiekritischen Arbeiten, für die die moderne Reproduktionsmedizin ein paradigmatisches Beispiel darstellt. Den Begriff der Entpersonalisierung der Fortpflanzung kennt auch die deutsche Parlamentsgeschichte. 1988 formulierte die SPD-Bundesfraktion in ihrem Antrag zur Regulierung künstlicher Befruchtung durch den Gesetzgeber Folgendes: Die Aufspaltung und damit Entpersonalisierung menschlicher Sexualität und Fortpflanzung, aber auch die Möglichkeit, menschliche Eigenschaften mit Hilfe der neuen Verfahren zu standardisieren, Menschen zu normen und schließlich zu züchten, gefährden die Menschenwürde. 11

Ein paar Wochen später holte sich der unterfränkische, exponiert konservative CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis den selten ihm gewidmeten Beifall der Grünen-Fraktion ab, als er vor dem Plenum von einer «Entpersonalisierung des Zeugungsvorganges» 12 infolge technisch vorgenommener Befruchtung sprach.

10 In der Ethik der Reproduktionsmedizin bediente sich bereits David Benatar des Begriffs «bringing into being». Vgl. D. Benatar, The Unbearable Lightness of Bringing into Being, in: Journal of Applied Philosophy 16.2 (1999), 173–180. 11 Deutscher Bundestag, Drucksache 11/1662 der 11. Wahlperiode vom 18. Januar 1988, Bonn 1988, 1, online: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/11/016/1101662.pdf (22.02.2022). 12 Ders., Stenographischer Bericht der 62. Sitzung der 11. Wahlperiode (Plenarprotokoll 11/62 vom 26. Februar 1988), Bonn 1988, 4306, online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/11/11062.pdf (22.02.2022).


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Nun sind parlamentarische Debatten traditionell Diskursräume von ausgesprochen hoher Schlagwortdichte, zu der die semantische Überspitzung dazugehört. Dennoch scheint hier ein Begriff von beeindruckender philosophischer Dichte geprägt worden zu sein, der, wenngleich er auch nicht weiter rezipiert wurde, eine grundsätzliche Verschiebung des Fortpflanzungsverständnisses infolge moderner Fortpflanzungstechnologien markiert. Aufgabe dieser Arbeit wird es sein, die reproduktionsmedizinische Diskussion kritisch auf die Bedeutung des Ins-Dasein-Bringens eines Menschen gegenzulesen und so das Grundsätzliche nicht nur in die Diskussion zurückzuholen, sondern auch bisher unbemerkte Aspekte des Grundsätzlichen ans Tageslicht zu heben. Wie der Untertitel bereits suggeriert, gilt die Kritik dem, was als «reproduktionsmedizinisches Selbstverständnis» aufgefasst wird. Der Begriff des Selbstverständnisses, wie er in dieser Arbeit zur Anwendung kommt, lehnt sich an Arnolds Gehlens Definition von «apriorische[n] Vorstellungen einer Kultur» 13 an. Die Rede vom Selbstverständnis meint daher die unhinterfragten Prämissen infolge eines begrenzten Nachfragens. Dieser Vorwurf wird im Verlauf der Arbeit nur bedingt den reproduktionsmedizinischen Praktikern oder den in Anspruch nehmenden Menschen gemacht, sondern dem Mainstream der dazugehörenden ethischen Reflexion, unabhängig seiner weltanschaulichen Beheimatung, also jenen, deren genuine Aufgabe eigentlich im vertieften Nachdenken bestünde. 1.2 Methodische Reflexionen Widmen wir uns zunächst einer Beobachtung über die jüngere Literatur zu ethischen Fragen der Biotechnologie im Allgemeinen und deren Methode. Dabei lassen sich zwei Trends nachzeichnen, die in methodologischer Hinsicht problematisierungswürdig erscheinen. Auf der einen Seite lässt sich das Phänomen eines methodischen Reduktionismus beobachten. Wir finden ihn insbesondere in den Reihen einer institutionellen angewandten Ethik. Das methodische Verfahren ähnelt darin einer Gleichung mit zwei Variablen, die dadurch aufgelöst wird, dass eine Variable durch ein der Moralphilosophie entlehntes Theorem ersetzt und so ein augenscheinlich eindeutiges Ergebnis errechnet wird. Insbesondere utilitaristische Paradigmen, die ja ihrem Wesen nach kalkulatorisch sind, fügen sich diesem Verfahren reibungslos. Daneben sind es Beiträge aus den Reihen der analytischen Moralphilosophie, die Eindeutigkeit zu gewinnen meinen, indem sie Einwände gegen Positionen als Scheinprobleme zu enttarnen versuchen. Man verspricht sich szientistische Eindeutigkeit auf dem Feld genuin nicht-szientisti13 A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, in: K.-S. Rehberg (Hrsg.), Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, Gesamtausgabe Bd. 6, Frankfurt a. M. 2004, 1–137, 39.


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scher Reflexion, und so wundert es kaum, dass es vor allem Mediziner und Naturwissenschaftler auf dem Gebiet der Medizinethik sind, in deren Bereich solche methodische Verkürzungen besonders stark auffallen. 15 Nun wird man einwenden können, wie angewandte Ethik sonst zu funktionieren habe, wenn nicht moralphilosophischen Theorien folgend? Gewiss ist an die Beantwortung einer ethischen Frage im Bereich angewandter Ethik der Anspruch einer konsistenten Systematik zu stellen, und damit sind Rückgriffe auf moralphilosophische Grundprinzipien als Basis einer moralischen Antwort unumgänglich. Ein unterschätztes Problem liegt aber im Transfer von allgemeiner Moralphilosophie zu Begründungen im Spielfeld konkreter Ethik. Auf eine zunehmende Differenz zwischen beiden Bereichen wurde bereits hingewiesen. Ein methodischer Reduktionismus tritt dann ein, wenn ein moralisches Phänomen einem Paradigma unterworfen wird, ohne sich zuvor ausgesprochen haben zu können. So nämlich wird die Frage übergangen, welche Methode dem Gegenstand überhaupt angemessen ist. Auf die Weise wird riskiert, dass eine dem Gegenstand fremde Methode den Gegenstand verfehlt oder Aussagen formuliert, die über den Gegenstand nichts in ethischer Hinsicht Dienliches aussagen. Die Beschwörung der Notwendigkeit einer Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie wird hier ihren Anteil daran haben. Das Primat der Methode gemäß der metaphorischen Variablen, nach der alles aufzulösen sei, droht das eigentliche Phänomen zu verfehlen und es damit intentional misszuverstehen. Ein solches Verfahren immunisiert sich gleichzeitig gegen die gegenläufige Erkenntnis der Möglichkeiten und Grenzen klassischer moralphilosophischer Theoreme in einer Welt immer neuartiger moralischer Fragestellungen. Und so werden immer wieder im Verlauf der Arbeit die Grenzen apriorisch-formalistischer Ansätze, die dem Gegenstand gegenüber notwendigerweise indifferent sind, aufgezeigt. Auf der anderen Seite hingegen existiert eine Neigung, sich in methodischer Formlosigkeit zu verlieren. Zu beobachten ist dies insbesondere bei Arbeiten aus dem Bereich nicht genuin normativ arbeitender Wissenschaften. Ihre Stärke liegt oft in einer Weitung des hermeneutischen Umfelds eines moralischen Phänomens und in ihrer Kontextualisierungsleistung. Damit dienen solche Beiträge bestenfalls einer gesteigerten Sensibilisierung und wirken so einer reduktionisti14

14 Paradigmatisch, wenn auch nicht dezidiert der analytischen Schule zugerechnet, formuliert Gregory Bateson diesen Anspruch: «Die Ethik kann jetzt mit Hilfe formalen Denkens, strenger Logik, Mathematik und alldem untersucht werden und steht auf einer anderen Grundlage als bloß beschwörender Predigten» (G. Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt a. M. 21983, 23). 15 Diese macht sich schon an der Form erkennbar, wenn beispielsweise (v. a. im amerikanischen Raum) analog zu klinischen Studien, drei- bis fünfseitige medizinethische Artikel publiziert werden, deren Autorenanzahl die eigentliche Seitenanzahl deutlich übersteigt.


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schen Verkürzung entgegen. Weil sie sich aber nur beschränkt bis gar nicht einer moralphilosophischen Absicherung verpflichtet fühlen, bleibt die Begründungsleistung ihrer Schlüsse defizitär. Dies äußert sich meist dadurch, dass partikulare Perspektiven, so legitim und wichtig sie auch sein mögen, nicht selten den Anspruch erheben, einen hinreichenden Grund für die Bewertung einer wesentlich komplexeren Frage geliefert zu haben. Damit wird nicht nur die bereits beklagte Fragmentierung vorangetrieben, sondern auch ausgeblendet, dass Perspektiven in einer Wertehierarchie stehen können und unterschiedlich zu gewichten sind. Diese Gewichtung nennt man schließlich Ethik. Über den quantitativen Anteil dieser beiden Tendenzen unter den einschlägigen Publikationen kann hier keine empirisch gesicherte Aussage gefällt werden. Die Beschäftigung mit der Materie im Rahmen der vorliegenden Untersuchung indiziert aber die Legitimität, diesbezüglich von wirkmächtigen Trends zu sprechen. Die Frage der Methode hat für diese Arbeit sodann eine doppelte Bedeutung: Einerseits ist methodisch so vorzugehen, dass das untersuchte moralische Phänomen nicht durch vorschnellen Formalismus intentional verkürzt wird. Gleichzeitig ist der prinzipielle normative Anspruch zu wahren. Andererseits rückt die Methode selbst als Untersuchungsgegenstand immer wieder in den Vordergrund. Es wird zu zeigen sein, wie sich das beklagte Selbstverständnis und das diskursprägende methodische Vorgehen gegenseitig beeinflussen. Damit ist diese Arbeit nicht nur eine Kritik am modernen reproduktionsmedizinischen Selbstverständnis, sondern auch eine Kritik an der Art und Weise, wie auf diesem Themengebiet Ethik betrieben wird. Die Darmstädter Philosophin Petra Gehring spielt auf diese Probleme in ihrer Ethikkritik an: Wer sich auf Ethik fixiert, namentlich auf die so genannte angewandte Ethik, die in der Politikberatung und in Ethikkommissionen Entscheidungshilfen gibt, beantwortet gleichsam nur noch eine gegebene Problemstellung. Was wegfällt, sind Fragen, die Distanz suchen. Reflektierende Fragen. Und vor allem: Vorüberlegungen zum Problem selbst. Gefragt wird nicht mehr beispielsweise: ‹Was geschieht hier?›, ‹Wissen wir bereits, wo genau das Problem liegt?› oder gar: ‹Woher kommt das Problem?›. Ethik leistet keine analytische Beschreibungsarbeit. Sie überspringt wichtige Vorfragen. Sie reduziert Probleme der Beschaffenheit und der Macht des Gegebenen auf die Frage: ‹Was sollen wir tun?› 16

Gehring stellt mit ihrer generalisierenden Formulierung Ethik im Allgemeinen in Frage, indem sie diese auf die Kantsche Frage «Was sollen wir tun?» reduziert. Dieser Kritik folge ich ausdrücklich nicht, denn ihr unterliegt eine Reduktion der Disziplin der Ethik auf pure unmittelbare Sollensfragen. Dass ihre Kritik empirisch auf zahlreiche Beiträge, die als Bioethik etikettiert werden, zutrifft, soll wiederum nicht bestritten werden. Meiner Ansicht nach aber sollte eine adäquate Bioethik eben diese nicht gestellten Fragen im Rahmen ihrer eigenen Reflexion stel16 P. Gehring, Was ist Biomacht?, 8.


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len und in ihrer Schlussfolgerung berücksichtigen. Sie sollte entsprechend – bei aller Bescheidenheit, mit der diesem Begriff zu begegnen ist – dem Anspruch nach holistisch sein. Denn [w]enn wir uns fragen, ob die Bioethik ihre epochale Lage und die mit ihr zusammenhängenden Herausforderungen schon erkannt hat, dann lautet die Antwort: nur teilweise, oder genauer formuliert: soweit sie nur auf die biomedizinischen Probleme beschränkt bleibt, gar nicht 17.

Eine reduzierende Ethik ist prima facie immer schon eine reduzierte Ethik. Gehrings Kritik macht nur dann Sinn, wenn sie dem reduzierten Selbstverständnis einer partikularen Prägung von Ethik folgt, die, mag sie in den gegenwärtigen Diskursen auch wirkmächtig sein, nicht die Exklusivrechte am Ethikbegriff verdient. Diese Arbeit ist gemäß ihrem eigenen Anspruch am ehesten der Tradition des Personalismus zuzuordnen. Während der Begriff Personalismus in der katholisch geprägten Philosophie des englischen, polnischen und spanischen Sprachgebietes floriert, ist es um ihn in jenem Sprachraum, in dem er von Friedrich Schleiermacher kreiert wurde, leise geworden. Der polnische Bioethiker Tadeusz Biesaga teilt das fundamentale Prinzip des Personalismus in drei Axiome: homo homini res sacra; homo homini summum bonum; persona est affirmanda propter se ipsam. 18 Damit ist in vortrefflicher Weise das normative System markiert, das meiner These einer entpersonalisierten Prokreation zugrunde liegt und in dem sie sich zu explizieren hat. Der Personalismus ist ein gewissermaßen axiologisches Prinzip und keine Methode im engeren Sinn. Vielmehr ist er methodisch pluralistisch, vereint thomistische, phänomenologische, christliche wie marxistisch inspirierte Strömungen unter einem begrifflichen Dach. 19 Symptomatisch für personalistisches Denken ist gerade die Überwindung der innerphilosophischen Bereichsgrenzen und die Einbeziehung erkenntnistheoretischer, metaphysischer, sozial-, geschichts-, naturphilosophischer sowie in besonderer Weise anthropologischer Betrachtungen in die ethische Untersuchung. Dem Anspruch nach ist der Personalismus ein holistischer Versuch, der menschlichen Person und dem ihr Gesollten gerecht zu werden. Es verwundert daher nicht, dass personalistisches Denken eine gesteigerte Sensibilität gegenüber reduktionistischen Ansätzen in der Ethik

17 B. Ošl aj, Bioethik im Zwiespalt: Historisch-anthropologische Überlegungen zur Herkunft und Zukunft der Bioethik, in: W. Schweidler/ders., Natürliche Verantwortung. Beiträge zur integrativen Bioethik, St. Augustin 2014, 112–122, 114. 18 Vgl. T. Biesaga, Is Personalism or Utilitarianism an Adequate Foundation of Medical Ethics?, in: A. J. Schauer u. a. (Hrsg.), Ethics in Medicine, Göttingen 2001, 23–30, 23. 19 Einen einschlägigen geistesgeschichtlichen Überblick bieten J. M. Burgos, An Introduction to Personalism, Washington D. C. 2018; J. O. Bengtsson, The Worldview of Personalism. Origins and Early Development, Oxford 2006.


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aufweist. Ein personalistischer Ansatz im Gebiet angewandter Ethik kann nicht zufriedenstellen, wenn er sich auf eine apriorische Deduktion beschränkt. Man kommt, folgt man den drei genannten personalistischen Grundsätzen, durch apriorische Überlegungen gewiss sehr weit, aber nie über allgemeine Sätze hinaus. Die Konfrontation mit einer konkreten Fragestellung und insbesondere die negative Erfahrung von Grenzüberschreitungen im Sinne von Handlungen und Zuständen, die der menschlichen Person nicht gerecht werden, lassen eine Bestimmung der normativen Grenze erst in präziser Weise zu. Gerade der Umstand, dass der geistesgeschichtliche Sitz im Leben personalistischer Ansätze der einer Antwort auf Formen der Verfehlung der menschlichen Person ist, 20 gepaart mit einer methodischen Offenheit, offenbart die Stärke, auf geschichtliche Situationen eingehen zu können, ohne dabei relativistisch in Geschichtlichkeit aufzugehen. 21 In seiner Kritik an Hegel formuliert Karl Marx zwei Formen der Kritik, die vulgäre und die wahre Kritik. Unabhängig der Etymologie und Wertung der Begriffe, markiert die Unterscheidung zwei Formen von kritischen Verfahren, die für die Präzisierung des Anliegens dieser Arbeit hilfreich sind. Unter vulgärer Kritik versteht Marx das Aufzeigen von Widersprüchen formaler und logischer Natur. Die wahre Kritik dagegen weist nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit. Sie faßt sie in ihrer eigentümlichen Bedeutung. Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen. 22

Was Marx als vulgäre Kritik bezeichnet, ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit, insofern breit rezipierte Argumente auf ihre argumentativen Schwächen zu untersuchen sind. Damit ist, in völliger Übereinstimmung mit Marx, noch keine wesentliche Überzeugungsarbeit geleistet. Die Konsistenz und die analytische Sauberkeit der argumentativen Herleitung sind der ethische Unterbau einer normativen Begründung, nicht deren Quelle. Ein akademischer Fall, in dem der Nachweis 20 So lässt sich beispielsweise der Personalismus Max Schelers als Antwort auf den ethischen Formalismus Kants, der Emmanuel Mouniers auf soziale Verelendungen in kapitalistischen Gesellschaften, der Romano Guardinis auf die Entfremdung der technologisierten Neuzeit und der der philosophischen Schule von Lublin auf die marxistisch-leninistische Leitphilosophie der kommunistischen Welt verstehen. 21 Es böte sich an, die personalistische Tradition daraufhin zu untersuchen, ob sie nicht in prädestinierter Weise dazu geeignet wäre, der theologischen Ethik ein System anzubieten, das die Kontinuität theologischer Prinzipien mit der Anschlussfähigkeit an geschichtliche Fragen und Phänomene versöhnen kann. 22 K. Mar x, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: K. Mar x/F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1976, 203–333, 296.


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formal-logischer Inkonsistenz zur unmittelbaren Umkehrung der moralischen Überzeugung beim Betreffenden geführt hat, ist mir bisher nicht bekannt. Dennoch ist dieser Aufweis notwendig, um gegenüber weitestgehend unhinterfragt tradierten, aber wirkmächtigen Argumentationsfiguren den gemachten Vorwurf der Oberflächlichkeit nachzuweisen. In diesem Sinne folge ich Marx’ Analyse, dass nur eine weit ausholende, fundamentale Kritik, die die Genese des kritisierten Objekts nachvollzieht und problematisiert, überzeugenden Charakter haben kann. Ein «Einspruch gegen das Bestehende» kann im Rahmen einer genealogisch verfahrenden Kritik nur «aus dem Grund des Bestehenden» selbst entwickelt werden. 23 Nun stellt sich die Frage, welchen Grund man eigentlich heben möchte und welche Erkenntnis man sich davon verspricht. In diesem Fall ist es die axiologische Grammatik anthropologischer Natur, die einer Position, einer ethischen Anschauung und ihrem argumentativen Gewand zugrunde liegt. Diese axiologische Grammatik gilt es zu rekonstruieren und sie als eigentlichen Gegenstand der Kritik zu behandeln. Im Vordergrund der Untersuchung steht folglich und in guter personalistischer Tradition nicht die Frage nach dem rechten Sollen, sondern die Frage nach der rechten – dem Sollen zugrunde liegenden – Anthropologie. In besonderer Weise erweist sich das phänomenologische Denken für dieses Anliegen als zielführend, fordert es doch, wie es der Thomist Louis-Bertrand Geiger gesagt hat, «jedes Objekt der Untersuchung in seiner Ursprünglichkeit ‹erscheinen zu lassen›» 24. Allein schon die Absicht, dem moralischen Gegenstand gerecht zu werden und von ihm aus ethische Horizonte zu beleuchten, spült den Ethiktreibenden bewusst oder unbewusst in das Fahrwasser der Phänomenologie. Diese Phänomenologie versteht sich nicht einfachhin als reine Beschreibungswissenschaft, sondern verfolgt den Anspruch, «bestimmte Phänomene erst gegen die Verdeckungs- und Verdrängnistendenzen der durchschnittlichen Lebensform auf[zu]decken» 25. Das phänomenologische Vorgehen habe nach Helmuth Plessner darauf zu achten, dass es «die Nähe zur Sache […] nicht durch Theorien über die Sache» verdirbt. 26 Heinrich Rombachs These, wonach die Phänomenologie in besonderer Weise neue Horizonte eines bekanntes Gegenstandes 23 C. Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2018, 11 f. 24 So beginnt Geiger sein Vorwort zu H.-E . Hengstenberg, Sein und Ursprünglichkeit. Zur philosophischen Grundlegung der Schöpfungslehre, München 1958, XVII. 25 G. Böhme, Das Gegebene und das Gemachte, in: M. Grossheim/S. Kluck (Hrsg.), Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung, Freiburg i. Br. 2010, 140–150, 140. 26 H. Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs, in: Ausdruck und menschliche Natur (Gesammelte Schriften VII), Frankfurt a. M. 22016, 67– 129, 76.


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eröffnen könne, verifiziert sich, denn tatsächlich sind es v. a. Phänomenologen, zu deren Forschungsgebieten die Bioethik noch nicht einmal zählt, die sich als die zuverlässigsten Zeugen des dieser Arbeit zugrundeliegenden Anfangsverdachts bewähren. Sie machen Aspekte, die für eine Ethik der Reproduktionsmedizin von Relevanz sind, sichtbar, die bei spezialisierten Bio- und Medizinethikern keine Beachtung finden, und so taugen ihre Analysen dazu, den beklagten Defiziten der Debatte konstruktiv zu begegnen. Die Welt der Phänomenologie hat bis auf wenige Ausnahmen nicht in erkennbarer Weise den offensiven Anschluss an die Debatten angewandter Ethik gesucht. Andersherum wird sie als Quelle normativer Reflexionen kaum wahrgenommen. Erst in den letzten Jahren ist ein erkennbar gestiegenes Interesse an Dialog und Rezeption wahrnehmbar, wenngleich wir uns immer noch in einer Pionierphase zu befinden scheinen, was das Ausloten der Möglichkeiten phänomenologischen Denkens für angewandte Fragestellungen angeht. Die phänomenologische Rezeption hat nicht den Anspruch, klassisch normative Reflexionen zu ersetzen. Ein solcher Anspruch würde die Phänomenologie methodologisch vermutlich überfordern. Ihre Rezeption dient stattdessen einer gründlicheren Aufarbeitung des moralischen Phänomens. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Theologischen einer theologischen Arbeit. Die Frage nach den Quellen einer theologischen Ethik, spätestens wenn es um Fragen der angewandten Ethik geht, zieht eine starke Ambivalenz mit sich. Sie gehört zu den unterschwelligen Tiefenfragen des Faches, welches gleichzeitig beachtliche Mühe damit hat, eine klare Antwort hierauf zu formulieren. Dass sich verschiedene Traditionen des Umgangs in der jüngeren Theologie herausgebildet haben, ist begrüßenswert, zeugt dies doch von einer prinzipiellen intellektuellen Offenheit. Umso mehr wäre es deplatziert, das Fehlen einer einheitlichen Antwort zu beklagen; und nebenbei bemerkt wäre eine wie auch immer verstandene prinzipielle Einheitlichkeit einer Geisteswissenschaft auch nicht würdig. Je nach konfessionellem, sprachlichem und wissenschaftssoziologischem Sitz im Leben wird man verschiedene Antworten auf die Frage nach genuin theologischen Quellen und Methoden bekommen bzw. rekonstruieren können. Die Ansätze reichen von einer reinen Lehramtsexegese (katholische Neigung) oder einer reinen Bibelhermeneutik (protestantische Neigung) einerseits bis zu einem kategorischen Ausklammern der Bedeutung genuin theologischer Überlegungen andererseits. Die erste Verkürzung kommt schnell an ihre Grenzen. Selbst das Anerkennen solcher autoritativen Quellen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alle ethischen Anwendungsfragen von unmittelbarem kirchlichem oder biblischem Interesse sind. Die Beobachtung manch stark ausgereizter her27

27 Vgl. H. Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg i. Br./München 2 1988, 15.


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