ECHO Klassik Magazin 2012

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KLASSIK MAGAZIN 2012

DA S GROSSE H E F T DER PR EISTR ÄGER I N T E RV I E W S, H I N T E RGRÜ N DE U ND R EPORTAGEN ZUR ECHO KLASSIK GALA IN BERLIN

SENDETERMIN

14.10.2012 22 UHR IM ZDF

DA N I E L BA R E N BOI M WIRD FÜR SEIN L EBENSW ER K GE E H RT

MACHT FRIEDEN! W W W. E C H O K L A S S I K . D E


Z W E I W E LT S TA R S EINE MISSION O p er n -D iva C E CI LI A B ART OLI und K r imi -Q ue en D ON N A LE ON ent decken ein verge ssenes B a r ock- G enie…

19. 10. M ü nc hen , 22. 10. N ü r nb erg, 24. 10. L eip z i g, 29. 10. B erl i n , 22. 11. Kö ln , 27. 11. D or tmu nd , 30. 11. B aden -B aden

M I S S ION – DA S N E U E A L BU M 2 1 Wel tpr emier en i nk l . 4 D ue tte mi t Ph i l ipp e Ja r ou ss k y. A uc h a l s L t d . E d i tion mi t dem neuen Rom a n von D onna L e on erh ä l tl ic h . Meh r In fos: w w w. ce c i l i a b a r tol i . de

Decca / © Uli Weber

CE CI LI A B A RT OLI – L I V E


ECHO KLASS I K M AG A Z I N

INHALT Vorworte 2 Rückblick 6 Welt hören 8 Daniel Barenboim 12 Alison Balsom 16 Werner Güra 18 John Eliot Gardiner 18 C Major Entertainment 19 Maurizio Pollini 20 Rafał Blechacz 20 Riccardo Chailly 21 Claudio Abbado 21 Philippe Jaroussky 22 Hilary Hahn 24 Pera Ensemble 24 Freiburger Barockorchester 25 Renée Fleming 26 Anne-Sophie Mutter 27 Rudolf Buchbinder 28 Maximilian Hornung 28 Galatea Quartet 30 Nuria Rial 30 MDG-Preisträger 31 Joshua Bell 32 Chor des Bayerischen Rundfunks 32 Vasily Petrenko 34 Canadian Broadcasting Company 36 Erwin Schrott 36 Khatia Buniatishvili 37 David Garrett 38 MiloŠ Karadagli´c 39 Michala Petri 40 Eduard Brunner 40 Klaus Florian Vogt 41 Anna Prohaska 42 Tori Amos 44 Münchner Horntrio 46 Julian Steckel 47 L’ART POUR L’ART 47 Isabelle Faust 48

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er ECHO Klassik ist auch dazu da, dass die Klassik sich feiert. Und wenn sich die Musik feiert, feiert sie immer auch uns — die Menschen: große Gefühle, abgründige Emotionen — die Zerrissenheit des Daseins. Die Preisträger in diesem Jahr begreifen die Musik nicht als Dekora­tion oder Oberfläche. Eine neue Lust an Ausgrabungen, an Details und an Tiefe ist ausgebrochen: Countertenöre, Naturhornspieler, Trompeterinnen und Dirigenten begreifen die klassische Tradition wieder als Rückbesinnung, um das Zeitlose des Menschseins in die Gegenwart zu retten. So viel Neugier, so viele Neudeutungen alter Töne, so viel Aktualität in der Musik war lange nicht mehr. Auf der großen ECHO Klassik-Bühne und im ZDF werden leider wieder nur einige Künstler die Möglichkeit zum Auftritt haben. Im ECHO Klassik-Magazin haben wir sie alle. Und es lohnt sich, gerade jene Künstler zu entdecken, die noch nicht im Scheinwerferlicht stehen und den musikalischen Mainstream um die Seitenwege des Repertoires erweitern. Die ECHO Klassik-Jury hat 2012 viele Musiker gekürt, die sich seit Jahren mit ihrem Genre der Musik beschäftigen, die tief abgetaucht sind in die Strukturen des Klanges und in die Historie ihres Instruments, der Oper, des Konzertes oder der Kammermusik — und die uns mit ihrem Wissen und ihrer Virtuosität die Ohren öffnen. Die Klassik feiert sich selbst — und sie meint uns: den vollkommenen, unvollkommenen Menschen. Viel Spaß bei den Entdeckungen dieses Heftes, viel Spaß mit der neuen Klängen unserer alten Kunst — viel Spaß mit den Preisträgern des ECHO Klassik wünschen Ihnen Rebecka Heinz und Axel Brüggemann


E CHO KLA S S IK M AG A ZIN

„ECHO KLASSIK 2012“ – KLASSIK FÜR ALLE

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lassik-Offensive im ZDF: Schon im Sommer haben wir innerhalb einer Woche zwei Klassik-Highlights gezeigt, „Domingos Olympische Gala“ aus London und „La Bohème“ von den Salzburger Festspielen. Im Oktober folgt der nächste Doppelschlag: die Verleihung des „ECHO Klassik 2012“ und ein Konzert von David Garrett hintereinander am selben Abend. Unter den deutschen Hauptprogrammen ist das ZDF die Heimat der Klassik. Wir bieten den höchsten Anteil an klassischer Musik. Auf diese Position sind wir sehr stolz und bauen sie weiter aus: Gerade hat sich das ZDF über einen dreijährigen Rahmenvertrag die Übertragungsrechte an den attraktivsten Programmen der Salzburger Festspiele gesichert. Klassik gehört zu unseren Markenzeichen, zu unserer Identität als Sender. Höhepunkt des Klassik-Jahres im ZDF ist nunmehr zum 17. Mal die Verleihung des „ECHO Klassik“. Die Gala, in der die besten und erfolgreichsten Künstler des Jahres ausgezeichnet werden, zeigt die ganze Bandbreite und Dynamik der Klassik: der Weltstar Daniel Barenboim trifft auf die Newcomerin Khatia Buniatishvili, die pure Klassik des Leipziger Streichquartetts auf Crossover à la David Garrett. Für alle Zuschauer ist etwas dabei: für die Kenner genauso wie für diejenigen, die noch ihren Weg zur Klassik suchen.

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14.10.2012 22 UHR IM ZDF

Auch die neuen Moderatoren des „ECHO Klassik“ stehen für unterschiedliche Zugänge zu klassischer Musik: Rolando Villazón ist selbst ein Klassik-Weltstar, seine Begeisterung besonders für die Oper ist mitreißend. Sein Talent und seine vollkommene Hingabe zu seinen Rollen haben ihn zu einem der besten und beliebtesten Opernsängern unserer Zeit gemacht. Nina Eichinger interessiert sich schon seit ihrer Jugend für Klassik. Mit großer Entdeckerlust lädt sie das Publikum ein, ihr in diesen so anspruchsvollen wie schillernden Kosmos zu folgen. Das Konzerthaus Berlin ist der ideale Ort für die Verleihung des ECHO Klassik 2012, es bietet eine ausgezeichnete Akustik und zugleich ein stilvolles Ambiente für unsere TV-Gala. Und mit dem Konzerthausorchester wissen wir ein hervorragendes Ensemble an der Seite unserer Preisträger. Ich danke unserem Partner, dem Bundesverband Musikindustrie, dessen Kulturinstitut, die Deutsche Phono-Akademie, den ECHO Klassik verleiht, für die gute Zusammenarbeit und freue mich, sie in den nächsten Jahren fortzusetzen!

DR. THOMAS BELLUT INTENDANT DES ZDF


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EIN KULTURPREIS, DER AKZENTE SETZT

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erlin befindet sich in einem ständigen Wandel. Kreativität, Integration und Impulsivität werden hier nicht nur geprobt, sondern im täglichen Miteinander gelebt. Damit bietet Berlin auch eine ideale Kulisse für die Verleihung des ECHO Klassik, ein Kulturpreis, der die dynamischen Bewegungen in der Klassiklandschaft aufgreift und das Genre in seiner gesamten Vielfalt und Emotionalität abbildet. Wie viele andere Kreativbereiche erfindet sich auch die Klassik als Spiegel der Gesellschaft immer wieder neu und inszeniert sich vor einem zunehmend inhomogenen Publikum. Das zeigt sich auch in der diesjährigen Preisträgerliste, die zahlreiche internationale Weltstars und aufstrebende Nachwuchstalente umfasst. Spannend sind dabei vor allem auch die kreativen Grenzgänger, die wir in der Kategorie „Klassik-ohne-Grenzen“ auszeichnen. Der frische Wind dieser Projekte trägt dazu bei, die Klassik auch zu den Menschen zu bringen, die vorrangig von Pop- und Rockmusik geprägt sind. Es wird viel experimentiert — was wiederum der kreativen Vielfalt insgesamt zugutekommt. Der ECHO Klassik ehrt Künstler, die in den jeweiligen Kategorien herausragende Leistungen erbracht haben. Wer in welcher Kategorie das Rennen macht, entscheidet eine fachkundige Jury der Deutschen Phono-Akademie, dem Kulturinstitut des Bundesverbands Musikindustrie. Darüber hinaus trägt der Preis zu einer nachhaltigen Musik- und Kulturförderung bei. So wird mit dem ECHO Klassik nicht nur hervorragende Kunst auf Weltklasseniveau ausgezeichnet, sondern der Preis will die Künstler in ihrem kreativen Schaffen ermutigen und weiter inspirieren. Gerade den Nachwuchskünstlern bereitet die ECHO Klassik-Auszeichnung dabei oftmals den Weg auf die großen Bühnen der Klassikwelt, indem die Künstler die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen gebührt.

Mit dem ECHO Klassik wollen wir gezielt Akzente setzen, beispielsweise mit dem Lebenswerk, das in diesem Jahr an Daniel Barenboim verliehen wird. Der Pianist und Ausnahmedirigent hat in seiner Karriere eindrucksvoll gezeigt, dass mit Musik nicht nur künstlerische Grenzen, sondern auch Barrieren über Kulturen, Religionen und Nationen hinweg überwunden werden können. Als bewusstes Zeichen der Wertschätzung für die Künstler und ihre Kunst setzt der Preis darüber hinaus Akzente in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft, in der sich die Rezeptionsgewohnheiten von Kultur rasant verändern. Auch die Klassik ist längst in der digitalen Welt angekommen, mit den gleichen Chancen, aber auch mit den gleichen Herausforderungen, die diese Welt an sie stellt. Dabei muss eines klar sein: Kulturelle Vielfalt kann es nicht umsonst geben, hinter den kreativen Werken stehen Leistungen, die auch im digitalen Raum geschützt sein müssen. Ich möchte Sie herzlich dazu einladen, das kreative Spektrum der Klassik selbst kennenzulernen. Falls Sie am 14. Oktober nicht live dabei sein oder die Sendung im ZDF verfolgen können, gewinnen Sie mit der ECHO KlassikCompilation einen sehr guten Überblick über die diesjährigen Preisträger. Weitere Hintergründe und auch ganz persönliche Eindrücke gewinnen Sie zudem in diesem Magazin. Ich wünsche Ihnen eine spannende und entdeckungsreiche Lektüre! Ihr

PROF. DIETER GORNY VORSTANDSVORSITZENDER BUNDESVERBAND MUSIKINDUSTRIE E.V.


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GRUSSWORTE

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ie Verleihung des ECHO Klassik gehört zu den traditionellen Höhepunkten des Berliner Musiklebens. Zu dieser Gala trifft sich die Welt der Klassik in Berlin. Nationale und internationale Künstler werden durch die Deutsche Phono-Akademie geehrt. Für die einen ist der ECHO Klassik die Auszeichnung einer erfolgreichen Laufbahn; für die jungen Nachwuchskünstler unter den Preisträgern bringt die Ehrung mit einem der bedeutendsten Musikawards der Welt zusätzlichen Auftrieb am Beginn ihrer Karriere. Eine besondere Stärke des Preises liegt darin, dass er mit seiner spannenden Mischung aus klassischen Genres und Crossover immer wieder auch junge Menschen für die Klassik begeistert. So freue ich mich, dass das Konzerthaus am Gendarmenmarkt wieder den ebenso passenden wie würdigen Rahmen für die Gala bietet. In diesem Sinne heiße ich die Preisträger aus aller Welt herzlich willkommen in Berlin, gratuliere ihnen zur Auszeichnung mit dem ECHO Klassik und wünsche dem Publikum eine erlebnisreiche musikalische Gala. KLAUS WOWEREIT REGIERENDER BÜRGERMEISTER VON BERLIN

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ereits zum dritten Mal ist das traditionsreiche Haus am schönsten Platz der Hauptstadt auserwählt, um festlicher Rahmen für die Preisverleihung des ECHO Klassik zu sein. Dazu gehört, wie bereits im letzten Jahr, die musikalische Begleitung durch das Konzerthausorchester Berlin, dieses Mal unter der Leitung des jungen Dirigenten Vasily Petrenko. Für uns — das Haus, das Orchester und mich persönlich — ist es eine große Freude, an diesem besonderen Tag Gastgeber sein zu dürfen. Das Konzerthaus Berlin ist genau der richtige Ort für diese ansteckende Begeisterung — nicht zuletzt, weil viele der ausgezeichneten Künstler sich auch bei uns während der Saison 2012/13 präsentieren, darunter Isabelle Faust, Julian Steckel, das Quatuor Ebène und amarcord. Ich wünsche Ihnen allen, als Gäste und als auftretende Künstler, einen mitreißenden und bewegenden Abend und heiße Sie herzlich zum ECHO Klassik 2012 im Konzerthaus Berlin willkommen. PROF. DR. SEBASTIAN NORDMANN INTENDANT KONZERTHAUS BERLIN


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DER ECHO HAT SIE ALLE! K端nstler, Medienmenschen und Prominente zu Gast beim ECHO Klassik 2011


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WELT

HÖREN!


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Die Wirklichkeit hat der Kunst das Spektakel geraubt: Wir inszenieren uns auf Facebook, schauen Talkshows und glauben, dass Fakten reichen, um die Welt zu verstehen. Aber ohne Musik verlernen wir das Zuhören.

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er Dirigent Daniel Barenboim, der mit dem ECHO Klassik für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird, führt ein Leben in Musik. Im Interview mit diesem Magazin erklärt er, dass ein Leben in Tönen neue Perspektiven auf die Welt ermöglicht. Oft begegnen wir politischen Prozessen oder zwischenmenschlichen Problemen mit alltäglicher Rationalität. Wir glauben, dass die Summe aller Fakten automatisch zur Lösung führt: im Nahostkonflikt, in der Griechenland-Hilfe oder beim Ehestreit. Die Musik aber lehrt uns, dass es Dinge gibt, die rational nicht erklärbar sind, dass die Emotion durchaus eine his­ torische und politische Kraft darstellt — und dass Dialog nicht nur den Austausch von Fakten meint, sondern ein grundsätzliches Zuhören. Wer gemeinsam musiziert, glaubt Daniel Barenboim, befindet sich automatisch in einem diplomatischen Stadium. Er muss sein Gegenüber respektieren, ihm zuhören und — trotz aller Unterschiede — ein gemeinsames Ziel verfolgen. Das Ziel der Musik ist kein Kampf um Positionen, sondern um die Musik an sich. Ihr Ziel ist nicht die kompromisslose Verwirklichung der eigenen Meinung, sondern das gemeinsame Erreichen eines Ausdrucks menschlicher Sehnsucht, menschlicher Konflikte, Sorgen und Freuden. Manchmal hilft es, innezuhalten und die Welt unter musikalischen Aspekten anzuschauen — oder besser: ihr zuzuhören, um sie zu verstehen. In Barenboims West-Eastern

Divan Orchestra geht es nicht darum, dass jüdische, muslimische und christliche Musiker politische Kompromisse unter einen Klangteppich kehren. Im Gegenteil: Barenboim fordert von ihnen, ihre Positionen zu vertreten, sich zu streiten, zu schreien und zu weinen. Nur eines setzt der Dirigent voraus: Alle, egal, woher sie kommen, sollen bereit sein, die Meinung des anderen ebenso stehen zu lassen wie sie das von ihrer eigenen Meinung verlangen. So entstehen zuweilen unauflösbare Gegensätze. Grundsätzliche und unterschiedliche Weltanschauungen, die sich politisch und emotional beim besten Willen nicht auflösen lassen. Und genau an dieser Stelle beginnt die Rolle der Musik. Sie feiert diesen Zustand als menschlich. Sie hat die Kraft, das Unauflösbare stehen zu lassen — und aus Gegensätzen Klänge zu machen. Hier kommen Mozart, Beethoven und Tschaikowsky ins Spiel. Sie positionieren sich nicht für Israel und nicht für Palästina. Sie sprechen von allen Menschen — und davon, dass es einen humanistischen Geist gibt. Dass der Gedanke, der Ausdruck, die Sehnsucht des Miteinanders Menschenrechte aller Menschen sind. Nein, Musik macht die Welt nicht besser — aber sie ermöglicht uns ein anderes Verstehen. Umso erstaunlicher ist es, wie die klassische Musik aus der Öffentlichkeit verschwindet. Früher war es gang und gäbe, dass Aufführungen kleiner Theater in den großen Feuilletons besprochen wurden. Es war klar, dass Musiker


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ÜBERALL, WO MUSIK IST, EGAL, OB AUF DER GROSSEN BÜHNE ODER IM KLEINEN KELLER, ENTSTEHT EIN GEIST.

wie Herbert von Karajan, Leonard Bernstein, Dietrich ­Fischer-Dieskau und Co. auch moralische Instanzen waren. Es war klar, dass Konzerte und Opern Teil des öffent­lich-rechtlichen Auftrages waren, dass Quizzmaster wie Hans-Joachim Kulenkampff oder Hans ­Rosenthal ihre Gäste nach Opernarien und Komponistennamen befragt haben. Heute glauben wir — auch im Feuilleton — dass die Welt selbst zum Spektakel geworden ist. Dass wir ihre Probleme in Talkshows besser lösen können als auf der Bühne. Dass uns damit geholfen ist, wenn Kulturjournalisten im Aufmacher des Kulturteils über die Ikonographie der Krawattenfarbe von Barack Obama debattieren. Warum sollen wir den Umweg über die Oper oder über die Musik nehmen? Warum sollen wir die komplizierten Zeichen der Kunst lesen, wenn wir direkt über die Lage der Welt reden können? Wir denken, dass unsere komplizierte Welt Fakten braucht, um Lösungen vorzuschlagen. Und gleichzeitig haben wir von der Welt der Musik, der Konzerte und Opern das Spektakel übernommen. Früher war die Inszenierung der Bühne, waren die Masken der Oper und der Klang im Konzert Demaskierungen der Gesellschaft — im Spektakel haben wir eine andere, größere Wirklichkeit vermutet: eine Wahrhaftigkeit. Heute sehen wir Parteitage und Werbekampagnen, und jeder von uns inszeniert sich auf Facebook und Wikipedia selbst. Wir leben, wie es der Soziologe Guy Debord schon in den 60er Jahren geschrieben hat, in einer „Welt des Spektakels“. Keine leichte Situation für die Kunst. Welche Rolle kommt ihr überhaupt noch zu, wenn ihr die Inszenierung der Gefühle von der Wirklichkeit geraubt wurde? In den letzten Jahren beobachten wir auf den Opernbühnen und auch in Einspielungen bekannter Konzerte eine merkwürdige Ratlosigkeit — besonders einer jungen Künstler-Generation. Sie trauen dem Polit-Theater und den direkten politischen Impulsen der Musik nicht mehr. Und auch die Kulturkritik ist misstrauisch geworden und scheint zu fragen: Warum sollen wir über eine Aufführung in Wuppertal berichten, wenn wir den Platz in der Zeitung auch mit konkreten Analysen der Lage in Syrien füllen können?

Daniel Barenboim und viele Künstler, die mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet wurden, stellen neue Wege für die Musik vor. Sie kehren zurück zum Pathos, zur Sehnsucht der Musik und befragen die musikalische Tradition. Sie glauben wieder an die Schönheit als Prinzip, an die Emotion als Triebkraft, an das Zuhören als eigene Kunst. Sie suchen in der Historie der Musikgeschichte nach überzeitlichen und damit auch aktuellen Antworten. Und sie sind erfolgreich damit. Erfolgreicher oft als viele konkrete politische oder gesellschaftliche Projekte, erfolgreicher als Fernsehsender oder CD-Firmen, die allein auf Hochglanz setzen. Die Menschen fühlen sich angesprochen, wenn sie zu aktiven Zuhörern werden, wenn sie teilhaben können an musikalischen Prozessen — an den Dialogen über die Musik. Erst dann wird Musik wieder zum Soundtrack unserer Welt. Erst dann spiegelt sie unseren Lebensrhythmus und unser Befinden wider. Erst dann erreicht sie Menschen, die nach genau dieser Sinnlichkeit der Kommunikation suchen und von der Oberflächig­keit der Fakten und des Spektakels gelangweilt sind. Der ECHO Klassik versucht beides zu leisten. Natürlich setzt auch er auf eine moderne Inszenierung, auf das Fernsehen und die großen Stars der klassischen Musik. Aber der ECHO Klassik ist auch eine Gelegenheit, die Scheinwerfer auf jene Künstler zu richten, die in ihrem Umfeld wirken, manchmal nur in einer Nische, manchmal in Projekten wie L’ART POUR L’ART, die mit Jugendlichen kleine musikalische Werke über Alltagsgegenstände komponieren und unsere Welt so im Klang „haltbar machen“. Der ECHO Klassik spielt auch im piano. Und das hat manchmal mehr Kraft, Gewalt und Wirkung als ein großes Tutti im Fortissimo! Überall, wo Musik ist, egal, ob auf der großen Bühne oder im kleinen Keller, entsteht ein Geist. Ein Geist des Zuhörens. Ein Geist der Menschen. Und den haben wir heute so nötig wie selten zuvor. Daniel Barenboim zeigt das mit seiner Arbeit. Und wir hören ihm gern dabei zu. Weil er glaubhaft macht, dass das Lernen durch Musik ein Lernen aus Begeisterung ist — ein Weltverstehen, das nicht mehr von uns verlangt, als zuzuhören. AXEL BRÜGGEMANN


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Sängerin des Jahres

ECHO KLASSIK A L L E P R E I S T R Ä G E R

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Renée Fleming Ravel, Messiaen, Dutilleux: Poèmes DECCA/UNIVERSAL


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Er bekommt den ECHO Klassik für sein Lebenswerk. Aber wer ist der Dirigent, Pianist und Menschenerzieher wirklich? Ein intimes Gespräch.

WIE WIRD MAN

HERR BARENBOIM,

HERR BARENBOIM? Herr Barenboim, mit der Staatskapelle Berlin tüfteln Sie an einem eigenen Klang, Sie sind engagiert an der Mailänder Scala, in Ramallah und Berlin haben Sie Musikkindergärten gegründet, in Ihrem West-EasternDivan-Orchestra spielen Christen, Moslems und Juden zusammen, Sie dirigieren und treten als Pianist auf. Wie kann ein Mensch all das schaffen? Wie funktioniert das System Barenboim? Ich befürchte, dass ich das gar nicht beantworten kann, weil ich es selbst nicht weiß. Die Dinge kommen meistens einfach auf mich zu. Das System, nach dem Sie fragen, das gibt es glaube ich gar nicht. Und selbst, wenn es für Sie in meinem Tun so etwas wie ein erkennbares System geben würde, liegt es in der Eigenschaft von Systemen, dass sie zum Scheitern verurteilt wären, wenn man sie aktiv konstruiert. Systeme sind, wenn überhaupt, erst im Nachhinein fassbar, weil sie keiner Logik, sondern lediglich einem homogenen Prozess folgen, weil sie nicht als Selbstzweck, sondern immer aus der Arbeit an einer Sache heraus entstehen, durch die Individuen, die sich an ihr beteiligen. Glauben Sie mir, ich weiß nicht, ob es so etwas wie ein System in meiner Arbeit gibt. Ich kalkuliere all diese Dinge nicht mit. Was ich aber weiß, ist, dass ich im Grunde zutiefst unorganisiert bin. Kaum vorstellbar, bei Ihrem Zeitplan und Tagespensum ... Ich weiß, dass viele Senior-Manager, Vice-Manager und all so etwas haben. Ich habe zwei oder drei Leute, die mich

Sänger des Jahres

Klaus Florian Vogt Helden SONY CLASSICAL

umgeben und irgendwie schaffen sie es, in dem Chaos, in dem ich lebe, selbst zu überleben und alles zu erledigen. Letztlich reagiere ich immer auf Impulse: Irgendwo passiert etwas, man trifft einen spannenden Menschen, entscheidet sich für eine Sache und geht seinen Weg. In der musikalischen Interpretation sprechen Sie gern von der „wissenden Naivität“ — bestimmt diese Zusammenführung aus spontanem Handeln und den Lehren des Lebens auch Ihre Arbeit? Kindliche Naivität allein hilft ja nicht viel, dann würde ich mich hinstellen, mit den Füßen auf den Boden stampfen und sagen: „Ich will einen neuen Kindergarten! Ich will! Ich will! Ich will!“ Aber das wäre doch sehr kapriziös. Ich glaube, ich handle da anders. Der Kindergarten ist ja nur ein Mittel, um ein größeres Ziel zu verfolgen, Förderung des subversiven Lernens unterschiedlicher Dinge wie Sprache, Bewegung, Kommunikation oder Zählen durch Musik. In diesem Moment brauche ich keine kindliche Naivität mehr, um mein Ziel zu erreichen, sondern ich habe das Wissen, dass ein emotionaler Wunsch rational begründet werden muss, der Wunsch, dass man durch Musik lernen kann. Mit anderen Worten, die Zusammenführung von Denken und Fühlen. Aber um das zu erreichen, muss man Koalitionen schaffen, die helfen den eigenen Wunsch zu ermöglichen, vielleicht muss man auch mal mit bestehenden Strukturen spielen.

Instrumentalistin des Jahres (Trompete)

Alison Balsom Seraph – Trompetenkonzerte EMI CLASSICS


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ICH HALTE GRUND­ SÄTZLICH NICHTS VON SPIELEN IM LEBEN. ZUMAL ICH DAFÜR DIE REGELN DER ANDE­ REN ERST EINMAL KENNEN MÜSSTE.

Ich halte grundsätzlich nichts von Spielen im Leben. Zumal ich dafür die Regeln der anderen erst einmal kennen müsste. Aber ich habe gar nicht so viel Zeit, um das zu tun. Ich war immer ein eher un- und antikonventioneller Typ: Deshalb habe ich auch die künstlerische Leitung der Staatsoper nach der Wende übernommen, was weitaus unsicherer und offener war als zum Beispiel die Leitung eines etablierten Hauses wie der Münchener Staatsoper. Und beim Orchestre de Paris habe ich ja einen merkwürdigen Posten eingenommen. Es wurde von Charles Münch gegründet, der dann aber leider ziemlich schnell verstarb, es wurde einige Jahre von Karajan gleichzeitig mit den Berliner Philharmonikern geleitet, und Solti, bereits in Chicago engagiert, wusste bereits nach einem Jahr, dass er nicht bleiben konnte. Sieben Jahre nach der Gründung des Ensembles kam ich dann. Damals war ich 33 Jahre alt, und der wichtigste Grund, mich zu engagieren, war, dass die großen Namen nie genug Zeit für das Orchester hatten. Die Musiker wollten gemeinsam mit mir an der Entwicklung des Orchesters arbeiten. Das war eine antistrukturelle Offenheit, die mir sehr gefallen hat. Eigentlich war das einzige etablierte Engagement, das ich in meinem ganzen Leben angenommen habe, Chicago — dort waren die Dinge durch Kubelick, Reiner und Solti bereits bestens geregelt, und man brauchte nur zu kommen und seine Sache gut zu machen. Sie scheinen in allem, was Sie tun, nach musikalischen Regeln zu handeln. Es reden immer alle davon, dass man aus dem Leben für die Musik lernen kann, dass man eine leidenschaftliche Beziehung hat und so einen neuen Sinn für Sinnlichkeit entwickelt. Das ist sehr banal, aber viele Menschen glauben das, und am Ende ist diese Einstellung ja auch nicht ganz falsch. Ich behaupte aber, dass das Gegenteil auch stimmt, und dass es vielleicht sogar viel wichtiger ist: Wenn man die Musik in ihrem tiefsten inneren Sinn zu fassen versucht, lernt man von ihr intuitiv für das Leben. Das setzt allerdings ein Leben voraus, das, wie Sie sagen, offen ist, auf Impulse reagiert, das dem Klangstrom folgt. Eigenschaften, die in einer zunehmend genormten Gegenwart, in einem Aufleben des Rationalismus sehr schwer wird. Natürlich ist das schwer, denn ein Großteil der Welt tut zwar so, als wäre diese Form des Lebens ideal, gleichzeitig scheint es aber eine Angst vor der Offenheit, vor der unbedingten Freiheit der Gedanken, so wie Spinoza sie gelehrt hat, zu geben. Letztlich scheint es immer wieder leichter zu sein, Normen und Grenzen zu errichten, in denen wir uns

einrichten. Wie selten die Offenheit geworden ist, sehe ich, wenn wir Personal für den Kindergarten einstellen. Eigentlich müsste das Einstellungskriterium sein: „Kommen Sie und denken Sie einfach mit.“ Aber es ist selten, dass Sie Menschen finden, die diesen Ansatz verstehen. Außerdem beobachte ich eine zunehmende Spezialisierung: Entweder bewerben sich bei uns Erzieherinnen, die aber wenig von Musik verstehen, oder es kommen Musiker, die aber keine guten Erzieher sind. Das Schwierigste am Motto, dass die Besten in die Bildung sollen, ist, dass wir die Besten gar nicht mehr nach den Erfordernissen ausbilden. Gibt es da nicht auch eine Parallele zu den Musikern in den Orchestern? Ich frage mich beim Musizieren dauernd, was mit was zusammenhängt, suche nach dem Organischen, und ich merke gleichzeitig, dass dieses Denken in vielen Orchestern abhanden kommt. Die Welt ist zunehmend unorganisch, aber ich möchte das so nicht akzeptieren. Ich werde nie behaupten, dass ich ein besserer oder schlechterer Dirigent bin als meine Kollegen, aber ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass ich eigentlich nach etwas anderem suche als sie, dass ich einen anderen Beruf ausführe, der sich nur zufällig der gleichen Mittel bedient wie ein Dirigent. Sie üben diesen Beruf sehr exzessiv aus: Kaum ein anderer Musiker gibt so viele Konzerte und probt so konsequent und konzentriert wie Sie. Musizieren ist für mich existenziell. Deswegen ist es, wenn ich dirigiere, zweitrangig, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Viel wichtiger ist mir, dass dieser Moment der Aufführung für mich ein existenzieller Moment wird. Mit anderen Worten ist das für mich in dem Moment das Allerwichtigste. Verstehen Sie, dass es Menschen gibt, die einfach mal ihre Ruhe haben wollen, die nicht dauernd existenziell sein können? Zum Beispiel Musiker, die auf ihre Probenpausen pochen? Die Musiker, die auf Probenpausen bestehen, verstehe ich. Aber diejenigen, die nicht jeden Moment des Musizierens als existenziell empfinden, verstehe ich immer weniger. Erstens macht es mehr Freude, so zu musizieren, und zweitens überträgt sich diese Haltung auch auf ihr Leben außerhalb der Musik. Schauen Sie auf das West-Eastern Divan-Projekt, es hat das Beste aus den Menschen herausgelockt, die in irgendeiner Weise an ihm beteiligt sind. Da geht jeder über seine Grenzen. Nur so ist ein solches Projekt überhaupt denkbar. Ich habe einmal in Ghana mit dem Orchester der Mailänder Scala Beethoven gespielt. Für die Musiker war das ein ganz normales Konzert und so haben sie auch angefangen zu proben. In Wirklichkeit war dieses

Instrumentalist des Jahres (Klarinette)

Instrumentalist des Jahres (Klavier)

Eduard Brunner Musik für Solo-Klarinette

Rudolf Buchbinder Beethoven: The Sonata Legacy

NAXOS

RCA RED SEAL/SONY


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DIE MUSIKER, DIE AUF PROBEN­ PAUSEN Konzert für die meisten Ghanesen der erste Kontakt mit BESTEHEN, klassischer Musik überhaupt. Da habe ich dem Orchester VERSTEHE gesagt, dass von unserem Abend abhängt, ob wir ein neues ICH. ABER Publikum für die Musik gewinnen oder für immer verlieren. Es wurde ein wunderbarer Auftritt, weil er existenziell war. DIEJENIGEN, Was machen Sie mit Menschen, die das alles anders DIE NICHT sehen, die zwar zu den Proben kommen, das Musizieren JEDEN aber nicht so existenziell sehen wie Sie? Was soll ich sagen? So wie ich das Leben verstehe, kann MOMENT man nur leben, wenn man es will, nicht wenn man es von DES MUSIaußen aufgestülpt bekommt. Wenn ich die Zahl der Dinge, ZIERENS die ich im Leben tue, als Berufsaktivitäten verstehen würde, wäre die Hälfte davon sicherlich viel zu viel. Niemand ALS EXISzwingt mich, das alles zu machen, aber ich frage mich nicht TENTIELL nach diesen Dingen. EMPFINDEN, Ist es nicht so, dass Sie in allen Projekten das Zentrum bilden? Man hört Musiker der Staatskapelle, die schier VERSTEHE Angst davor haben, dass Sie gehen, weil sie nicht wissen, ICH IMMER was dann passiert. Mit anderen Worten: Spüren Sie, dass WENIGER. Sie durch Ihr Engagement für viele unentbehrlich geworden sind? Natürlich spüre ich das und bin dankbar dafür, aber das bedeutet vielleicht auch meine Arbeit falsch zu verstehen. Es geht nicht darum, einen Menschen ins Zentrum zu stellen, sondern um die Idee als Mittelpunkt. Wenn Sie eine Idee haben, entwickelt sie irgendwann ihre eigene Existenz. Auch das lernen wir aus der Musik: In dem Moment, wo wir ein Stück beginnen, setzen wir etwas in Bewegung, das seinen eigenen Willen bekommt. Sobald wir zwei Töne nebeneinander setzen, entsteht eine Spannung, die vorher nicht da war — und sie entsteht aus dem Willen dieser beiden Töne als eigenes Kraftfeld. Ich hoffe natürlich, dass die Ideen, die ich verfolge, irgendwann auch ohne mich weiterleben werden. Werden wir noch einmal konkret, damit man versteht, wie die Dinge bei Ihnen wirklich passieren. Was stand genau am Anfang des Musikkindergartens? Begonnen hat alles mit einem Treffen zwischen Mustafa Barghouti und mir. Barghouti hat gemeinsam mit Edward Said eine palästinische Opposition gegründet, die sowohl eine Alternative zu Fatach als auch zu Hamas ist. Er hat mir erzählt, dass 85 Prozent der Palästinenser unter 33 Jahre alt sind. Als ich in Ramallah war, habe ich mit einigen Leuten über Musikerziehung gesprochen, darüber, dass eine Gesellschaft ohne Musik eine ärmere ist. Ich habe versucht, zu erklären, dass Musik nicht nur dazu da ist, um eine Feier oder den Tanz zu untermalen. Das hat sie interessiert, und gemeinsam haben wir beschlossen, einen Musik­

kindergarten zu gründen. Barghouti war sofort mit seiner Organisation „Medical Relief“ dabei. Daran sehen Sie, dass die Dinge nicht grundsätzlich organisiert sind. Sie entstehen aus den gefühlten Notwendigkeiten. Eine Idee zu haben ist ja auch nicht so schwer, sie umzusetzen schon eher. Haben Sie dafür Mitarbeiter? Mein Assistent Julien Salemkour hat gemeinsam mit den Leuten von Barghouti Erzieherinnen ausgewählt und einen geeigneten Ort gesucht. Das Geld haben wir zum Großteil aus der Barenboim-Said-Stiftung genommen, aber auch aus privaten Spenden sowie dem Erlös des Konzerts des West-Eastern Divan Orchestra 2006 in der Philharmonie zu verdanken. Und als wir gesehen haben, dass der Kindergarten funktionierte, habe ich gedacht, dass wir so etwas auch in Berlin aufmachen sollten. Weil ich es nicht gut finde, dass Musik entweder für reiche oder für arme Leute gemacht wird. Musik für Eliten ist ebenso gefährlich wie Musik, die allein in Problemgebieten angeboten wird. Weil beides die Einstellung gegenüber der Musik färbt. Aber wie funktioniert das in der Realität? Sitzen Sie dann zusammen und reden über Ihre Ziele? Es gibt viele Treffen, und dabei war mir wichtig, dass es keine Musikerziehung in diesem Kindergarten gibt, sondern Erziehung durch Musik, das ist ein großer Unterschied, und den habe ich immer wieder erklärt. Entstanden ist eine Einrichtung, die einmalig in Deutschland ist. Obwohl hierzulande dauernd über die Wichtigkeit der Musik für die Bildung geredet wird, werden grundlegende, gesetzliche Vorstöße nicht unternommen. Noch immer gibt es kein Gesetz, dass Erzieher an Hochschulen ausgebildet werden, und kein Unterrichtsfach fällt in Deutschland so oft aus wie Musik. All das liegt daran, dass die Politik zum Opfer der Bürokratie geworden ist. Bei unseren Projekten gibt es nur die unvermeidbare Bürokratie, wir machen die Dinge einfach. Fertig. Aus. Das ist letztlich auch wie in der Musik: Man kann Beethoven nicht bürokratisch musizieren. Und ich muss zugeben, dass ich für jeglichen bürokratischen Akt einfach zu wenig Geduld aufbringe. Wer übernimmt das für Sie? Andere, die mehr Geduld haben als ich. W ÜRDIGUNG DES LEBENSWERKES: DANIEL BARENBOIM

Das Gespräch führte Axel Brüggemann.

Instrumentalistin des Jahres (Violine)

Instrumentalist des Jahres (Orgel)

Isabelle Faust Berg, Beethoven: Violinkonzerte

Harald Vogel J. P. Sweelinck: Orgelwerke Vol.1

HARMONIA MUNDI

MDG


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ZEITREISE MIT ZWEI

Dirigent des Jahres

Riccardo Chailly Beethoven: The Symphonies DECCA/UNIVERSAL

Ensemble des Jahres (neue Instrumente)

Quatuor Ebène Mozart: Dissonances VIRGIN CLASSICS/EMI


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lison Balsom fährt gerade im Auto durch Süd­ england. Eine ihrer besten Freundinnen sitzt am Steuer, während sie das Telefon abnimmt. „Klar habe ich Zeit“, sagt Balsom, „wenn es um die Trompete geht, habe ich immer Zeit.“ Für ihre Aufnahme „Seraph“ bekommt sie den ECHO Klassik. Balsom hat die Jury mit einer Zeitreise durch die Literatur ihres Instrumentes überzeugt. Trompetenkonzerte vom Barock bis zu einem Werk unserer Zeit, das ihr der Gegenwartskomponist James MacMillan auf den Leib geschrieben hat. Mit ihrem Programm und ihrer perfekten Technik verwandelt sie die Trompete zur Zeitmaschine — und sucht mit ihren Lippen stets nach den überzeitlichen, menschlichen Gefühlen. Wenn Alison Balsom ein neues CD-Projekt in Angriff nimmt, will sie mehr als nur Noten aufnehmen — dann will sie die Trompete in all ihren Facetten vorstellen und ihr Publikum mit Geschichten begeistern. Während sie an der Küste entlangfährt, plant sie gerade ihre neue CD: Dieses Mal geht es um die Helden des Barock. Eine Zeitreise durch die goldene Ära der Trompete. Damals, als Trompeter noch die bestbezahltesten Musiker an den europäischen Höfen waren, als sie von Königen mit MillionenGagen umworben wurden wie heute nur Fußballstars der Champions­league.

ALISON BALSOM sucht immer wieder nach der Aktualität

der Geschichte – auf ihrer neuen CD wird sie im Barock fündig. Damals war die Trompete noch eine wahre Diva! Trompeter mussten auf den alten Instrumenten unglaublich virtuos sein und waren für das große Gefühl ihrer Zeit verantwortlich, den stählernen und gleichsam schmeichelhaften Klang. Sie bliesen den Königen und Königinnen den Soundtrack zu ihren Feiertagen. Trompeter waren für das Orchester, was Kastraten für die Oper waren: Ausnahme­ erscheinungen, hochbezahlte Superstars und die Seele aller Festlichkeiten. „Die Trompete“, sagt Balsom, „galt damals als Instrument, das der menschlichen Stimme am nächsten kam — nur viel größer, viel lauter und viel kraftvoller.“ Ist das etwa eine Zeit, in der sich Balsom zu Hause gefühlt hätte? „Auf jeden Fall“, sagt sie, „aber nur, wenn ich ein Mann gewesen wäre — denn Trompeterinnen gab es damals noch nicht.“ Als sie selbst die Trompete für sich entdeckt hatte, war es noch immer nicht selbstverständlich, dass Frauen mit diesem Instrument Karriere gemacht haben. Angefangen hat alles in einer „Marchingband“ — aber schnell merkte Balsom, dass diese Musik nicht alles sein konnte. Spätestens als sie als Kind Trompeten-Aufnahmen gehört hatte, die von Trevor Pinnock dirigiert wurden, wusste sie: „Ich will alle Möglich-

Ensemble des Jahres (historische Instrumente)

Freiburger Barockorchester F. Mendelssohn Bartholdy: Doppelkonzert für Violine & Klavier HARMONIA MUNDI

keiten dieses Instrumentes kennenlernen!“ Nicht zufällig hat sie sich für ihr neues CD-Projekt den Meister der Alten Musik als Dirigenten ausgesucht. „Ich habe von Trevor so viel über die vergangene Zeit gelernt“, sagt Baslom, „er kennt jeden Winkel der Stücke, weiß, dass schon die Interpretation eines einzigen Tones die gesamte Aussage eines Werkes verändern kann. Während ich mich hauptsächlich um die Technik gekümmert habe, hat Trevor mich frei gemacht für den Geist dieser Musik — er hat mir den Kosmos einer neuen Welt geöffnet und mir gezeigt, wie persönlich die Interpretation sein muss. Wie viel Individualität in jeder Interpretation steckt.“ Für eine Musikerin wie Alison Balsom besteht die Kunst der Musik immer auch darin, die strenge Form mit der Freiheit der Gefühle zu vereinen. Und so hält sie es auch in ihrem eigenen Leben: Auf der einen Seite genießt sie das Segeln, die Ausfahrten mit ihren Freunden und die Tage mit ihrem Sohn Charlie. Auf der anderen kümmert sie sich intensiv um musikalische Ausgrabungen und die Erweiterung ihres Repertoires. „Je tiefer man sich mit der Geschichte der Trompete beschäftigt“, sagt sie, „um so erstaunlicher ist diese Welt, aus der die Musik kommt. Alles scheint klar strukturiert — und doch ist alles voller Freiheit, Emotionalität und ausufernder Schönheit.“ Das Barock ist für Alison Balsom eine Ära der Gegensätze: Strenge Form trifft fantasievolle Improvisation und verblüffende Harmonik, die Behauptung der politischen Macht trifft auf die tiefen, privaten Gefühle der Monarchen — und immer wieder beschreibt die kunstvoll gesetzte Musik die existenziellen Formen des Lebens. Für Alison Balsom ist die Musik der alten Zeit ein Spiegel unserer Gegenwart. Sie stellt nicht nur Fragen nach dem Klang, sondern auch nach unserer Auffassung von Leben: „Ich finde es kein Wunder, dass wir heute, da wir in einer Welt leben, in der uns feste Weltbilder fehlen und wir gleichzeitig nach individueller Entfaltung streben, zum Barock zurückkehren“, sagt sie. „Wir haben viel zu lange in dem Glauben gelebt, dass der technische Fortschritt immer gut ist“, erklärt Balsom. „Die Barock-Trompete zeigt uns, dass wir die Qualitäten des Ausdruckes, der individuellen Gestaltung und der persönlichen Virtuosität über die Möglichkeiten des perfekten, modernen Klanges gestellt haben. Aber gerade in der Musik des Barock erreicht man das menschliche Antlitz des Klanges nur auf alten Instrumenten — und der ist für mich eine noch immer gültige Sehnsucht.“ Höhepunkt der neuen Aufnahme ist neben Werken von Händel und Purcell das Duett „Sound the Trumpet“, das eigentlich für zwei Stimmen gesetzt ist. In ihrem Arrangement dialogisiert Balson nun mit dem Countertenor Lestyn Davies. Ein Stück, in dem sich das goldene Instrument und die goldene Stimme des Barock gegenüber stehen — oder wie Alison Balsom es sagt: „Die beiden Diven der alten Ära.“ I NSTRUMENTALISTIN DES JAHRES (TROMPETE): ALISON BALSOM „SERAPH – TROMPETENKONZERTE“

Ensemble des Jahres (Vokal-Musik)

amarcord/Leipziger Streichquartett Das Lieben bringt groß’ Freud! MDG


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OPER FÜR DIE HOSENTASCHE WERNER GÜRA ist ein Meister des Liedes.

Er erzählt von Schuberts romantischer Sehnsucht.

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ielleicht liegt es daran, dass Werner Güra irgendwann einmal Schauspielunterricht bei der Regisseurin Ruth Berghaus genommen hat, vielleicht auch an seiner Schulung durch den großen Sänger-Mimen Theo Adam, dass seine Liederzyklen wahre Opern im Taschenformat sind: erzählerische Dramen und Epen in Miniatur — jede Nuance ausgedeutet, jede Seelenlage verkörpert, jedes Detail befragt. Dabei schien seine Karriere schon früh beendet, als der Bruder von Papst Benedikt, Domkapellmeister Georg Ratzinger, dem Regensburger Domspatzen Güra erklärte, dass seine Stimme nicht für Wagners „Holländer“ reichen würde. Der Sänger ließ sich nicht beirren, ging ans Salzburger Mozarteum, wurde Ensemblemitglied der Dresdener Semperoper und hat sich besonders als Lied- und Oratoriensänger einen Namen gemacht. Güra setzt seinen feinsinnigen Tenor und seine erzählerischen Qualitäten in Schuberts „Willkommen und Abschied“ so poetisch ein, dass diese Aufnahme mit Klassikern wie „Heideröslein“, „Wiegenlied“ und „Der Wanderer“ zu einer Referenzaufnahme geworden ist — auch wegen der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Pianisten Christoph Berner, der Güras lyrischen Tenor um eine psychologisch-musikalische Ebene bereichert. Werner Güra erhebt in seinen Schubert-Liedern die Kunstform der kurzen Poesie zum nachhaltigen Erlebnis. IEDEINSPIELUNG DES JAHRES: WERNER GÜRA L „SCHUBERT: WILLKOMMEN UND ABSCHIED“ (HARMONIA MUNDI)

AUSDRUCK! AUSDRUCK! AUSDRUCK! JOHN ELIOT GARDINER liebt musikalische Entdeckungen –

nun ist er bei Bachs Großonkel Johann Christoph fündig geworden.

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ohn Eliot Gardiner ist als brillanter Techniker bekannt. Ein Dirigent, der gern sportliche Tempi wählt, der seine Musiker drängt und die harmonische Bewegung sucht. Außerdem ist er ein unermüdlicher Suchender nach unbekannten Werken der Musikgeschichte. Nun ist er bei Johann Christoph Bach fündig geworden, dem Großonkel von Johann Sebastian Bach. 1642 in Arnstadt geboren war er ein Komponisten-Star seiner Zeit, Organist in der Schlosskapelle seiner Heimat und an der Georgenkirche in Eisenach. Wahrscheinlich hat den musikalischen Detailarbeiter Gardiner bei diesem Komponisten dessen Faible für den großen Ausdruck fasziniert. Den jedenfalls stellt der Dirigent in Bachs Lamenti, Motetten, Arien und Dialogen immer wieder in den Vordergrund: klar gegliedertes Musikzieren, betonte Konsonanten und gleichzeitig ein klangliches, unbedingtes Strömen machen diese Aufnahme aus. Gardiner setzt voll und ganz auf den besinnlich expressiven Charakter und auf die Emotionalität der Musik — und darauf, den Texten eine bewegende und beeindruckende Klangebene zu geben. Man hört Gardiner seine intensive Beschäftigung mit den Ausdrucksformen des Barock an. Kein Wunder, nachdem er mit Monteverdis Marienvesper auf Welttour gegangen ist und alle großen Vokalwerke Johann Sebastian Bachs eingespielt hat, kehrt er mit immer neuen Inspirationen

von seinem Öko-Bauernhof in North Dorset zurück auf die Bühnen der Welt. Ein ausgeruhter Musiker in Zeiten der Schnelllebigkeit. Und das zahlt sich bei Bachs Großonkel besonders aus. Dieses Mal beflügelt Gardiner die „English Baroque Soloists“ zu einer bewegten Reise durch die Welt von Johann Christophs Bachs Klangkosmen. In Werken wie „Mit Weinen hebt sich’s an“ oder „Ach, dass ich Wassers genug hätte in meinem Haupte“ stellt er auch Werke vor, die in den letzten Jahren bereits von anderen Musikern entdeckt wurden — aber bei Gardiner und seinem erstklassigen Solis­ tenensemble klingen sie oft tiefsinniger, anrührender und zwingender. Wenn sich der Dirigent in die alte Welt der Musik auflöst, scheint er die Werke seiner Meister zu durchdringen, einen Geist in den Noten aufzuspüren, der nicht nur historisch informiert, sondern auch gegenwärtig und aktuell ist: Einen Klang menschlicher Sehnsucht und Lebensfragen. C HORWERK-EINSPIELUNG DES JAHRES (16./17. JH.): JOHN ELIOT GARDINER „J.C. BACH: WELT, GUTE NACHT“ (SOLI DEO GLORIA/HARMONIA MUNDI)

Würdigung des Lebenswerkes

Nachwuchskünstlerin (Gesang)

Daniel Barenboim

Anna Prohaska Sirène DEUTSCHE GRAMMOPHON/UNIVERSAL


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Mit DIE KLEINE MEERJUNGFRAU ist Lera Auerbach und John Neumeier ein großer Wurf gelungen – nun gibt es das Ballett auf DVD.

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sthetische Vollkommenheit und musikalische Vielfalt — Naturgewalten und zärtliche Gefühle auf der Bühne. Die Inszenierung von Lera Auerbachs Ballett „Die kleine Meerjungfrau“ durch John Neumeier in Kopenhagen war eine Wunderwelt für Augen und Ohren. Hier redet die Komponistin über die Kraft der Märchen und den Sound der neuen Romantik. Frau Auerbach, „Die kleine Meerjungfrau“ ist ein Märchen von Hans Christian Andersen — Sie sind selbst Schriftstellerin. Worum geht es für Sie in diesem Stück? Andersen hat die Natur des Menschen verstanden. Sein Märchen ist eine einfache, metaphorische und poetische Form, in der er über die kompliziertesten Dinge sprechen kann, die universellen, tragischen Momente des Lebens. Wir haben alle Hoffnungen und Träume, manche erfüllen sich, andere nicht. Wir suchen Schönheit und sterben. Wir träumen und wissen nicht, woher unsere Träume kommen. Wie lieben und versuchen trotzdem, herauszufinden, was Liebe ist. Um all das geht es in Andersens Märchen. Mich erinnert es an Schumanns „Kinderszenen“ — auch sie können von Kindern gehört werden, sind aber eigentlich für Erwachsene.

Der große John Neumeier hat Ihr Ballett inszeniert. ­Hatten Sie Einfluss auf seine Choreographie? Es war eine wirkliche Zusammenarbeit. Als ich Johns ­Libretto gelesen habe, fügte er einen Brief hinzu: Ich solle mich frei fühlen. Er wollte, dass ich seine Gedanken als ­Assoziationen nutze, um ihn wiederum durch meine ­Musik für seine Choreographie zu inspirieren. Würden Sie sagen, dass Ihre Musik romantisch ist? Das hängt wohl vom Wort „romantisch“ ab. Wenn man darunter die Idee versteht, nach dem Unerreichbaren zu streben und zu transzendieren, passt es. Auch, wenn man unter „romantisch“ eine tragische Liebesgeschichte versteht. Gleichzeitig reflektiert meine Musik aber auch unsere Zeit — und deshalb geht es um viel mehr als romantische Nostalgie oder eine unlebbare Liebe. Werden Sie sich nach einem Ballett auch an eine Oper wagen? Ich habe mit zwölf Jahren schon eine Oper geschrieben — sie wurde in der Sowjetunion aufgeführt. Und ich habe gerade eine andere Oper beendet, die allerdings nur eine Stunde lang dauert: „Die Blinden“. Es geht um zwölf blinde Charaktere. Ich denke, dass eine große Oper nach der „Meerjungfrau“ der nächste logische Schritt ist. M USIK-DVD-PRODUKTION DES JAHRES (LIVE-AUFNAHME): C MAJOR ENTERTAINMENT „JOHN NEUMEIER /LERA AUERBACH: THE LITTLE MERMAID“ (C MAJOR)

WUNDER FÜR AUGE UND OHR

Nachwuchskünstlerin (Klavier)

Nachwuchskünstler (Gitarre)

Khatia Buniatishvili Franz Liszt

Miloš Karadagli´c Mediterráneo

SONY CLASSICAL

DEUTSCHE GRAMMOPHON/UNIVERSAL


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DIE ENTSTEHUNG IM KOPF

DER FRÜHVOLLENDETE

spielen Brahms’ erstes Klavierkonzert.

Vor sieben Jahren hat RAFAŁ BLECHACZ den ChopinWettbewerb gewonnen – seither erstaunt er durch eine seltene Ernsthaftigkeit, mit der er in Abgründe horchen lässt.

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Treffen der Giganten: MAURIZIO POLLINI, CHRISTIAN THIELEMANN UND DIE STAATSKAPELLE DRESDEN

ür manche Werke gibt es Besetzungen, die man unbedingt einmal hören will. Eine dieser All-Star-Besetzungen ist nun für Johannes Brahms zusammengekommen: Der aktuell wohl größte romantische Dirigent, Christian Thielemann, hat mit seiner Staatskapelle Dresden und dem wohl besten, akkuratesten und klügsten Pianisten, Maurizio Pollini, dessen erstes Klavierkonzert eingespielt. Thielemann, der die Modernität des Pathos neu entdeckt hat und Pollini, der als Minimalist der Form gilt, bilden eine ideale Symbiose für ein Konzert, das erst unter der Oberfläche der Noten, in den tiefen Abgründen der Details, seine gesamte Größe offenbart. Maestro Pollini, 1960 haben Sie den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewonnen — damals waren Sie 18 Jahre alt und haben die Welt schockiert, indem Sie sich erst einmal zurückgezogen haben ... Na, so war es nun auch nicht. Ich wurde umgehend eingeladen, ein Konzert nach dem anderen zu spielen. Aber ich hielt es für zu früh, sofort eine internationale Karriere zu beginnen. Also habe ich anderthalb Jahre keine Konzerte gegeben und bin erst nach und nach wieder aufgetreten. Die Zeit habe ich genutzt, um mein Repertoire aufzubauen, außerdem habe ich begonnen, mich den Komponisten des 20. Jahrhunderts zu widmen. Zu Beginn Schönberg, Webern, Boulez, Stockhausen und Nono. Ihr Spiel lebt von vielen Feinheiten und Nuancen — können Sie eigentlich all Ihre Gedanken immer im Konzert verdeutlichen? Das hofft man natürlich. Tatsächlich entsteht die Musik im Idealzustand ja im Ohr — also ohne den Kontakt zum Instrument und ohne zu wissen, wie das Orchester reagiert. Aber es gehört eben auch zu unserem Beruf, die Noten, die wir uns vorstellen, zum Klingen zu bringen. Und es ist ein seltenes Ideal, wenn dabei alle Gedanken zu hören sind. Stimmt es, dass Sie manchmal Musik in Ihrem Kopf hören, so wie andere Menschen mit einem iPod?
 Ja, das ist so — diese Form Musik zu hören kann manchmal schöner sein als ein Konzert. K ONZERTEINSPIELUNG DES JAHRES (19. JH.): MAURIZIO POLLINI, STAATSKAPELLE DRESDEN, CHRISTIAN THIELEMANN „BRAHMS: KLAVIERKONZERT NR. 1 OP. 15“ (DG/UNIVERSAL)

r ist eine Ausnahmeerscheinung in einem Klassik-Geschäft, das zunehmend auf Hochglanz poliert ist. Rafał Blechacz bevorzugt den Tiefgang. Seit er 2005 den Chopin-Wettbewerb in seinem Heimatland Polen gewonnen hat und exklusiv von der Deutschen Grammophon verpflichtet wurde, hat das Label seinem jungen Künstler jede Freiheit gelassen, die er sich wünscht. Ein seltenes Vertrauen in einer Welt, die auf Bestseller ausgerichtet ist — Blechacz belohnt den Plattenmarkt dafür mit überzeitlichen Referenzaufnahmen! Natürlich hat er — nachdem die Jury in Warschau ihn mit allen Sonderpreisen bedacht und keinen zweiten Platz vergeben hatte — zunächst mit einem Chopin-Album debütiert. Dann hat er sich der Wiener Klassik angenommen, und nun spielt er sich weiter vor in die Moderne. Auf seiner mit dem ECHO Klassik gekrönten CD interpretiert er Werke von Debussy und seinem Landsmann Szymanowski. Blechacz frönt nicht dem Zeitgeist, sondern erhebt die eigene Ausgeruhtheit zur Grundlage der Musik. Es ist selten geworden, dass Musiker so sparsam mit ihren Ressourcen umgehen wie er. Nicht mehr als 40 Konzerte pro Jahr wolle Blechacz geben, hat er nach dem Gewinn des Chopin-Wettbewerbs vollmundig versprochen. Und entgegen aller Zweifel hat er sich daran auch gehalten. Seine ersten Gagen hat er nicht für ein Leben im Jet-Set ausgegeben, sondern für ein Landhaus, in dem er seither gemeinsam mit seinen Eltern wohnt. Hierhin zieht er sich zurück. Hier studiert er seine Partituren. Hier entwickelt er seine Klangwelten. Hier bereitet er seine inneren Explosionen vor. Und auch das Fliegen von einem Konzertort zum Nächsten ist Blechacz Sache nicht — er setzt sich lieber ins Auto, um von einem Konzert zum nächsten zu kommen. So wie sein Landsmann und Freund, der letzte polnische Gewinner des Chopin-Preises, Krystian Zimerman. Manchmal stehen die beiden im Stau und telefonieren miteinander. Zimerman ist zu einer Art Mentor für den jungen Kollegen geworden. Aber der geht trotzdem seinen eigenen, unbeirrbaren Weg. Blechacz vertraut zu Recht seiner Virtuosität, seiner Anschlagskultur und paart beides mit einer ungemeinen Tiefe des Ausdruckes. „Den Frühvollendeten“ hat die „ZEIT“ ihn einmal genannt — und da ist etwas dran. SOLISTISCHE EINSPIELUNG DES JAHRES (20./21. JH.) KLAVIER: RAFAŁ BLECHACZ „DEBUSSY – SZYMANOWSKI“ (DG/UNIVERSAL)

Nachwuchskünstler (Cello)

Julian Steckel Korngold, Bloch, Goldschmidt: Cello Concertos CAVI-MUSIC

Nachwuchskünstler (Dirigat)

Vasily Petrenko Rachmaninoff: Sinfonie 3 EMI CLASSICS


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TEMPO! TEMPO! Mit seinem Beethoven-Zyklus beendet RICCARDO ­CHAILLY einen Glaubenskrieg. Er ist so schnell wie kaum ein anderer und zeigt: Die Metronomangaben des Komponisten machen durchaus Sinn!

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ie Partituren von Riccardo Chailly sehen aus wie Malbücher: rote Dreiecke, grüne Kreise, blaue Buchstaben. Kaum eine Seite ohne Notizen! Das Gekrakel hat durchaus einen Sinn: Rot steht für laute Dynamik, Blau für leise Dynamik, und in Grün hat der Dirigent sich Anmerkungen aufgeschrieben, die seine Schlagtechnik betreffen. So weiß er sofort, was auf ihn und die Musiker des Gewandhausorches­ ters in Leipzig zukommt. Im Falle von Beethovens Sinfonien ist das vor allen Dingen viel Arbeit und höchste Virtuosität! Chailly wird auch deshalb als bester Dirigent des Jahres ausgezeichnet, weil er es geschafft hat, den guten alten Beethoven frisch und neu klingen zu lassen. Er ist kein Dirigent, der unbedingt neu klingen will, keiner, der die musikalische Revolution plant, allein um als Revolutionär zu gelten. Keiner, der gegen den Strich bürstet, um aufzufallen. All das hat er nicht nötig. Stattdessen nimmt er Beethoven beim Wort — oder besser: bei der Zahl. Der Komponist war einer der ersten, die Metronom­ angaben über ihre Stücke geschrieben haben. Viele Dirigenten ignorieren diese Tempoangaben, interpretieren sie als Hirngespinste des ertaubten Komponisten, weil sie ihnen zu schnell erscheinen. Chailly schafft nun, woran Ensembles, die der historischen Aufführungspraxis frönen, bislang gescheitert sind. Er verbindet das Original-Tempo mit einer klanglichen Schönheit. So schlank und analysierend wie bei ihm hat man die großen Sinfonien Beethovens selten gehört. Bei Chailly klopft das Schicksal in der fünften Sinfonie nicht an, als wolle es die Tür zerschlagen. Stattdessen lauert überall die subversive Vermeidung alles Überwältigenden. Der Effekt ist um so erstaunlicher: Gerade durch sein Understatement überwältigt dieser Beethoven seine Zuhörer, besonders in den beiden bekannten Werken, der fünften und der dritten Sinfonie. Mit seiner unfreiwillig radikalen Deutung widerlegt der Dirigent alle Skeptiker und führt den Beweis an, dass Beethovens Tempoangaben nicht nur spielbar sind, sondern auch ohne Verlust von Tiefe mit Tempo erklingen können. D IRIGENT DES JAHRES: RICCARDO CHAILLY „BEETHOVEN: THE SYMPHONIES“ (DECCA/UNIVERSAL)

BEBT, TYRANNEN DIESER WELT! CLAUDIO ABBADO dirigiert Beethovens Fidelio und

gibt die Hoffnung nicht auf, dass die Liebe uns vielleicht doch noch retten könnte.

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as ist mal eine Ansage! Allein die Ouvertüre: Claudio Abaddo dirigiert, als könnte er die letzten Tyrannen dieser Welt nur durch die Kraft der Oper zur Raison bringen. Radikal, erbarmungslos der Auftakt, in dem Beethoven das politische System in all seiner Unbarmherzigkeit beschreibt. Umso sanfter, zärtlicher und sehnsüchtiger einige Takte später die Bläser. Schon in den ersten Noten öffnet Abbado zwei Welten: Staatsgewalt und Zweisamkeit. Er macht klar, wenn irgendetwas unsere Erde retten kann, ist es: die Liebe. Sehnsucht und Hoffnung in jeder Nuance, sowohl beim „Sonnenlicht“Chor der Gefangenen als auch in der Arie „Mir ist so wunderbar“. Abbado ist einer der wenigen Dirigenten, die es schaffen, die Zeit durch Musik stehen zu lassen. Aber zwischen den Zeilen lässt er durchaus Zweifel am Guten des Menschen hören. Er umhüllt die träumerischen Momente der Oper mit einem fast schmerzvollen Ton, mit einem Schatten der Traurigkeit und der Verzweiflung. Es ist nicht allein die Liebe, die hier ihren musikalischen Ausdruck bekommt, sondern eine Liebe, die unter einem politischen System leidet — und erst so zur politischen Kraft wird. Selbst im großen Finale scheint Claudio Abbado noch nicht alle Zweifel über Bord geworfen zu haben, ob zwei Menschen allein die Welt wirklich besser machen können: Der neue Jubelmarsch, den er dirigiert, hört sich nicht minder martialisch an wie die Töne des alten Regimes — findet hier etwa kein Machtwechsel, sondern nur ein Machttausch statt? Wenn man so will, ist dieser „Fidelio“ ein Update Beethovens auf unsere aktuelle Welt. Tyrannen werden gefällt, neue geboren. Die Liebe ist zum letzten Prinzip der Hoffnung geworden, aber sie hat Schatten und ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Abbado lässt all das ganz ohne Sentimentalität und Pathos hören. Seit er sich als Chef der Berliner Philharmoniker zurückgezogen hat, baut er gemeinsam mit seinem Lucerne Festival Orchester eine eigene Klangwelt auf. Das Ensemble, in dem die wohl besten Orchestermusiker zusammensitzen, die auch in den Ferien nicht auf Abbados musikalischen Interpretationen verzichten wollen, stürmt mit seinem Dirigenten durch Beethovens Partitur. O PERNEINSPIELUNG DES JAHRES (19. JH.): JONAS KAUFMANN, CLAUDIO ABBADO (DG/UNIVERSAL)

Klassik-ohne-Grenzen-Preis

Klassik-ohne-Grenzen-Preis

Tori Amos Night of Hunters

Pera Ensemble/Valer Barna-Sabadus Baroque Oriental

DEUTSCHE GRAMMOPHON/UNIVERSAL

BERLIN CLASSICS/EDEL


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PHILIPPE JAROUSSKY entdeckt eine ver-

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gangene Kultur: die engelsgleiche Stimme, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht

DA VINCI DES GESANGS Klassik-ohne-Grenzen-Preis

Sinfonische Einspielung des Jahres (19. Jh.)

Erwin Schrott Rojotango

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR/ Sir Roger Norrington Elgar: Enigma-Variations

SONY CLASSICAL

HĂ„NSSLER CLASSIC


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eine Lehrerin war nicht überzeugt von seiner Stimme. Aber Philippe Jaroussky hatte schon als 18-Jähriger ein Gespür für seinen Körper. „Ich konnte mir meine zukünftige Stimme vorstellen“, sagt er, „ließ mich nicht entmutigen. Sie war noch nicht komplett da, aber ich konnte hören, wie sie nach einem entsprechenden Training klingen könnte.“ Jaroussky hat an seinem Ton gearbeitet, an diesem überirdischen hohen Klang, der eine Mischung aus Engel und Mensch, aus Mann und Frau ist. „Ich glaube, es ist eine große Gabe, zu wissen, was man tun will. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich meine Leidenschaft leben kann.“ Heute wissen wir: Philippe Jaroussky hatte Recht. Inzwischen ist er einer der schillerndsten und besten Countertenöre der Welt. Jeder, der auf dem Feld der Alten- und der Barock-Musik zu tun hat, will mit ihm zusammenarbeiten: vom großen René Jacobs bis zur experimentierfreudigen Christina Pluhar. Jaroussky hat uns eine längst vergessene Stimmlage zurückgegeben. Und damit einige der schönsten der Opernkultur-Arien aus dem Dornröschenschlaf zum Leben erweckt. Auf seiner mit dem ECHO Klassik gekürten CD hat er gemeinsam mit Max Emanuel Cencic Duette von Bononcini, Scarlatti und Conti gesungen, mit Verve und Leidenschaft des Barock. Geleitet wurde all das vom Experten William Christie. Auf seinem neuen Album kümmert sich Jaroussky nun um eine ganz besondere Ausgrabung: die Oper „Araserse“ von Leonardo da Vinci. Es handelt sich nicht um den Erfinder, sondern um den Komponisten, der von 1690 bis 1730 in Neapel lebte und am liebsten in neapolitanischem Dialekt komponierte. Händel hat ein Pasticcio auf da Vincis Arien komponiert, außerdem war er einer der besten Freunde des Urvaters aller Librettisten, von Pietro Metastasio. Da Vinci hat die komplexen Opern Scarlattis geerdet und einfache, eingängige Da-Capo-Arien geschrieben, deren Themen aus dem Leben gegriffen waren. Musik, die uns noch heute angeht. Und vor allen Dingen hat er die Kastratenkultur gefeiert. Eine Tradition, die besonders in Neapel gepflegt wurde — mit zum Teil abenteuerlichen Methoden. Armen Eltern wurden ihre Kinder abgekauft, um sie zu verstümmeln und zu Sopranstimmen auszubilden. „ Ein Kind kastrieren zu lassen, war eine Möglichkeit, der Armut zu entfliehen“, erklärt Jaroussky. „Man schätzt, dass nur ein Prozent die Möglichkeit hatte, eine Bühnenkarriere zu machen. Es

war aber auch sehr schwer für die, die erfolgreich waren, weil sie auf der Bühne wie Götter behandelt wurden, in der Gesellschaft aber nicht angesehen waren.“ Der Countertenor weiß, dass nicht nur die gezüchtete Stimme mit großem Lungenvolumen und hohen Tönen für den Erfolg der Kastratenkultur verantwortlich war, sondern auch die existenziellen Lebensgeschichten der Sänger: „Ich glaube deshalb, dass die Stimme nicht nur wegen ihrer Technik so berührend war, sondern auch wegen des ganzen Dramas, das hinter diesen Leben stand.“ Wenn Philippe Jaroussky heute Arien von Kastraten singt, ist es genau das, was er verkörpert: Das Existenzielle der Musik, die Arie als Ausdruck der überirdischen Schönheit

Jaroussky und Max Emanuel Cencic im Aufnahmestudio für „Duetti“ des Menschen, in der man sowohl die Engel flattern hört als auch die Schwere irdischen Daseins. Jaroussky bringt uns eine vergangene Tradition nahe, die Faszination der menschlichen Stimme. Und aus dieser Faszination erklärt er sich selbst den Umstand, dass er als erster Countertenor einen ECHO Klassik bekam: „Manchmal scheint es, als würde meine Stimme nicht aus meinem Körper kommen. Und dann gibt es natürlich noch den Zusammenhang mit der Geschichte der Kastraten: Wenn wir das Repertoire der Kastraten singen, können sich die Zuhörer ausmalen, wie es damals war. Mit uns können sie träumen und sich vorstellen, welche Stimmen sie hatten, auch wenn wir natürlich keine Kastraten sind. Das ist ein Teil unseres Erfolgs.“ PERNEINSPIELUNG DES JAHRES (OPERNARIEN UND DUETTE): O PHILIPPE JAROUSSKY, MAX EMANUEL CENCIC, WILLIAM CHRISTIE, LES ARTS FLORISSANTS „DUETTI“ (VIRGIN CLASSICS/EMI)

Sinfonische Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)

Konzerteinspielung des Jahres (inkl. 18. Jh.)/Klavier

Berliner Philharmoniker/Sir Simon Rattle Schönberg

Christian Zacharias/Orchestre de Chambre de Lausanne Mozart: Klavierkonzerte Vol.7

EMI CLASSICS

MDG


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SO KLINGT AMERIKA Zu Lebzeiten wurde Charles Ives weitgehend ignoriert. Heute gilt er als einer der wichtigsten Komponisten Amerikas. Seine Landsfrau Hilary Hahn entdeckt nun seine vier Sonaten für Geige und Klavier. Von Hilary Hahn

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ie Pianistin Valentina Lisitsa und ich arbeiten seit vier Jahren zusammen. Eher aus Zufall sind wir auf eine Sonate von Charles Ives gestoßen. Es war die erste, und sie hat uns ein ziemliches Stück Arbeit gekostet. Wir waren aber so fasziniert von dieser musikalischen Welt, und Ives gefiel uns so gut, dass wir begonnen haben, all seine vier Sonaten einzustudieren. Der Komponist aus New-England ist für mich auch bedeutend, weil er ein typischer Amerikaner war. Als er zu viele Kompromisse für seine Musik eingehen musste, wurde er lieber Versicherungsangestellter. In Wirklichkeit war er ein Meister der Melodien. Sie sind eingängig und das, was das Publikum bis heute mit seinem Werk verbindet. Ives benutzt einzelne Themen alter amerikanischer Hymnen, Volkssongs und Kirchenlieder und ordnet sie in seinen musikalischen Kosmos neu ein. Das hört sich dann etwas merkwürdig an, aber es kommt zu einer neuen Befragung jener Musik, welche die Menschen in den USA seit Jahrhunderten begleitet hat. Als wir mit den Sonaten angefangen haben, war ich von der Komplexität zunächst überrascht. Eigentlich hört sich alles ziemlich einfach an. Aber schnell wird klar, wie ausgeklügelt Ives Kompositionen sind. Er verschachtelt all seine Ideen ineinander — und das präzise Zählen wird zur existenziellen Notwendigkeit. Erst mit Präzision erkennt man die Aussagen und Kernmomente seiner Stücke, erst dann beginnen sie zu leben. In dieser Komplexität liegt — so komisch das klingt — am Ende auch die Direktheit seiner Musik. Man muss gar nicht lange diskutieren: Wenn man die Noten spielt, entsteht automatisch eine eigene Welt. Inzwischen hat Charles Ives etwas in mir aufgeschlossen, was mir bislang verborgen geblieben ist, einen neuen musikalischen Kosmos aus Erinnerungen und Modernität. Ein Bild meines Landes, vielleicht einen Soundtrack der USA. K AMMERMUSIK-EINSPIELUNG DES JAHRES (20./21. JH.): HILARY HAHN „C. IVES: VIER SONATEN“ (DG/UNIVERSAL)

VON HÜBEN NACH DRÜBEN Beim PERA ENSEMBLE treffen sich Orient und Okzident in ausschweifender Klanglust. Die Musiker beweisen, dass ein Verständnis der Vergangenheit das Miteinander der Gegenwart leichter machen kann.

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era — das bedeutet „drüben“. Und mit „drüben“ ist die andere Seite des Goldenen Horns gemeint, der Schmelztiegel gegenüber der Altstadt von Istanbul. Gegründet wurde dieser Stadtteil des alten Konstantinopels von genuesischen Händlern im 13. Jahrhundert, und bis heute ist er unter dem Namen Beyoglu multikulturelles und pulsierendes Zentrum Istanbuls. Pera, so nennt sich auch eines der vielleicht spannendsten Kammermusikensembles, das 2005 von den aus Istanbul stammenden Musikern Mehmet Cemal Yes�ilçay und Ihsan Özer gegründet wurde. Ihr Ziel war es, den alten, selbstverständlichen Austausch der Kulturen neu zu beleben. Denn es war eine Tradition des Barock, dass Diplomaten aus dem osmanischen Reich und Europa gemeinsam mit Musikern ihrer Länder Bankette veranstalteten und die Musik als lebensfrohen Teil der Völkerverständigung nutzten. Vielleicht macht genau dieses historische Bewusstsein die Direktheit des Pera Ensembles aus, in dem Experten für Alte Musik aus Orient und Okzident gemeinsam auf Klangsuche gehen — ohne pädagogischen Überbau, sondern getrieben durch die Lust am Spiel und die Begeisterung für den Klang der unterschiedlichen Welten. Ihre musikalischen Entdeckungen sind sinnliche Ausschweifungen. Mit ihrer Aufnahme „Baroque Oriental“ haben die Musiker einen Tonkosmos vorgestellt, der einem gut gewürzten Gericht gleicht: Aromen aus Tausendundeiner Nacht verbinden sich mit westlichen Kultureinflüssen. Gegensätze werden aufgehoben oder unkommentiert nebeneinander stehen gelassen, Gemeinsamkeiten auf den Nenner der musikalischen Lust und der Emotionen reduziert. Ihre Musik ist ein vibrierendes Abenteuer, das bei jedem Auftritt die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen vorstellt. K LASSIK-OHNE-GRENZEN-PREIS: PERA ENSEMBLE/VALER BARNA SABADUS „BAROQUE ORIENTAL“ (BERLIN CLASSICS/EDEL)

Konzerteinspielung des Jahres (19. Jh.)/Cello

Konzerteinspielung des Jahres (19. Jh.)/Klavier

Maximilian Hornung/Bamberger Symphoniker/ Sebastian Tewinkel Saint-Saëns: Suite und Romanze & Dvoˇrák: Cellokonzert

Maurizio Pollini/Staatskapelle Dresden/ Christian Thielemann Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 op. 15

SONY CLASSICAL

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DAS EWIG NEUE IM ALTEN Seit 25 Jahren beweist das FREIBURGER BAROCK­ ORCHESTER, dass Musik immer im Heute entsteht – nun hat es sich Mendelssohn Bartholdy vorgenommen.

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laubt man der Legende, war es eine Sektlaune, dass Studenten der Freiburger Musikhochschule in einer Silvesternacht beschlossen haben, Musik auf historischen Instrumenten zu spielen. Aus der Schappsidee wurde Ernst. Nach zweijährigem Proben, in denen die mündigen Musiker über Feinheiten der Partituren debattierten, über historische Klänge und ihre gegenwärtige Übersetzung, wurde vor genau 25 Jahren das erste Konzert des „Freiburger Barockorchesters“ gegeben — mit Werken von Purcell, Lully, Corelli, Muffat und Wassenaer. Komponisten aus allen wichtigen Ländern Europas. Inzwischen ist das Orchester, das am liebsten ohne Dirigenten spielt und vom ersten Pult der Geige aus geleitet wird, zu einem Klangkörper geworden, der sich — wie kaum ein anderer — in der Musik des Barock auskennt. Einige der größten Musiker sind gekommen, um sich von dem neuen Freiburger Geist des Musizierens inspirieren zu lassen, der von der Berliner Philharmonie bis in die großen Konzertsäle der Welt Schule gemacht hat. Zu ihnen gehört auch der Meister der Alten Musik, René Jacobs, mit dem das Barockorchester unter anderem „Idomeneo“ aufgenommen hat. Und natürlich hat das Barockorchester seine eigene Klangzone ausgeweitet. Nicht nur, dass es wie auf der ECHO Klassik-CD den „Mozart des 19. Jahrhunderts“, wie Robert Schumann Felix Mendelssohn Bartholdy nannte, mit feuriger Verve interpretiert (mit Kristian Bezuidenhout und Gottfried von der Goltz). Heute schreiben sogar Gegenwartskomponisten wie Manfred Trojahn für das Ensemble und halten die 25-jährige Idee am Leben, das Neue im Alten zu suchen. Denn darum geht es den Freiburgern: den lebhaften Geist der Musik in unsere Zeit zu retten — der ist inzwischen auf über 60 CDs verewigt.

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E NSEMBLE DES JAHRES (HISTORISCHE INSTRUMENTE): FREIBURGER BAROCKORCHESTER „F. MENDELSSOHN BARTHOLDY: DOPPELKONZERT FÜR VIOLINE UND KLAVIER“ (HARMONIA MUNDI)

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Konzerteinspielung des Jahres (19. Jh.)/Bläser

Giuliano Sommerhalder/Simone Sommerhalder/Roland Fröscher/Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin A. Ponchielli: Konzerte für Trompete MDG

DER BEAT DER BRANCHE


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ATEM DER SCHÖNHEIT

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ine Stimme — das betont Renée Fleming immer wieder — ist eigentlich nur vibrierende Luft. Und klar, eine Brise reicht, um uns Gänsehaut zu machen. Aber die Gänsehaut, die Renée Flemings Stimme verbreitet, ist Gänsehaut von innen — ihre Luft aus Tönen berührt uns. Eine Schönheit, die wir sofort und unmittelbar spüren, ein Wohlgefühl, das allerdings nur schwer zu fassen ist. Ein Klang, der unter die Haut geht. „Es ist die größte Kunst“, sagt die Sängerin, „einen Teil unserer Körper mit in den Klang zu legen, den Tönen unsere Erinnerungen, unsere Hoffnungen und unsere existenziellen Gefühle einzuhauchen.“ Und vielleicht ist es genau das, was passiert, wenn Renée Fleming singt: Kaum ein anderer Sopran hat eine derartige Legatokultur wie sie — eine Kultur der schwebenden Bögen, in der das Atmen selbst zur Musik wird, zu einem Ausdruck überirdischer Schönheit. Ein Klang wie eine Brise, bei dem stets der Körper, der sie produziert, seine Gedanken und Hoffnungen, mitklingen. Bei Renée Fleming ist der Körper Ursprung des Geistes.

RENÉE FLEMING ist Sängerin des

Jahres. Auch, weil keine andere Stimme uns so sanft umweht wie ihre. Versuch einer Annäherung.

Ob sie die Kultur des poetischen Schwingens aus dem Jazz-Trio auf die Opernbühne gerettet hat, in dem sie während ihres Studiums in New York gesungen hat? Wir wissen es nicht. Klar aber ist, dass Flemings Stimme etwas Universelles beherbergt und dass sie etwas mit uns anstellt. Das haben inzwischen nicht nur die Opernfans erkannt. Die Diva wird überall dorthin eingeladen, wo Menschen die Menschlichkeit feiern: Für Barack Obama hat sie zur Antrittsfeier gesungen, ebenso bei den Olympischen Spielen in Peking. Selbst in Hollywood ist Renée Fleming für einen Großteil der cineastischen Emotionen verantwortlich, etwa in der Produktion von „Herr der Ringe“, in der sie ihre Legato-Flügel zu Howard Shores „Twilight and Shadow“ ausbreitet. Renée Fleming wird für ihre CD „Poèmes“ als Sängerin des Jahres mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet. Hier singt sie ein Repertoire, das ihrer Stimme besonders liegt, und das andere Soprane gern meiden, weil es zu durchsichtig, zu klar, zu gefährlich ist: Französische Orchesterlieder von Ravel, Messiaen und Dutilleux. So unterschiedlich die einzelnen Stücke sind, basieren sie doch alle auf der gleichen vokalen Schule. Sie feiern die lyrische Melodie und stellen sie über den dramatischen Effekt. Renée Fleming hat ein Repertoire gefunden, das wie für ihre Stimmbänder komponiert scheint. Gleichzeitig ist die Lässigkeit ihrer Interpretation auch ihrer langjährigen und klugen Entwicklung geschuldet: Fleming hat ihre Stimme an Mozart und am Barock geschult, lüftet ihren Atem regelmäßig für die großen Opern und Lieder von Richard Strauss (zuletzt in einer Aufnahme mit Christian Thielemann) und nimmt immer wieder Kontakt mit der Moderne auf, sucht im Pop und im Jazz nach Inspiration. So hat sich die Stimme der Sopranistin, die ihr Debüt am Landestheater in Salzburg gegeben hat, in den letzten Jahren selbst zu einem Erinnerungsraum großer Gefühle entwickelt, zu einem Vorrat an Tönen, aus dem sie, je nach musikalischer Gefühlslage, zehren kann. Und natürlich hat Renée Fleming auch als Mensch einen Erfahrungsschatz angesammelt: „Es ist doch klar“, sagt die zum zweiten Mal verheiratete Sängerin, „dass ich die Marschallin im ‚Rosenkavalier’ heute anders singe als vor 20 Jahren — inzwischen habe ich in meinem eigenen Leben gelernt, dass die große Liebe vergänglich sein kann. Mit einer solchen Erfahrung interpretiert man eine Rolle wie diese anders als wenn man selbst noch im siebten Himmel schwebt.“ Das Besondere an der Stimme von Renée Fleming ist, dass ihre Schönheit nie süßlich wirkt, nie anbiedernd, nie zu schön, um wahr zu sein. Ihre Schönheit ist die Schönheit des Menschseins, des Körpers, seiner Gedanken, Sehnsüchte und Freuden — eine Stimme wie der Atem. SÄNGERIN DES JAHRES: RENÉE FLEMING „POÈMES“ (DECCA/UNIVERSAL)

Konzerteinspielung des Jahres (20./21. Jh.)/ Violine

Konzerteinspielung des Jahres (20./21. Jh.)/Klavier

Anne-Sophie Mutter/New York Philharmonic W. Rihm: Lichtes Spiel & S. Currier: Time Machines

Jos van Immerseel/Anima Eterna Brugge Poulenc: Konzert für zwei Klaviere/Concert Champêtre/Suite Française

DEUTSCHE GRAMMOPHON/UNIVERSAL

ZIG ZAG TERRITORIES/NOTE1


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„ KEIN MISSBRAUCH DER MUSIK, BITTE“ ANNE-SOPHIE MUTTER hat ihr 35-jähriges Bühnen-

jubiläum gefeiert – den ECHO Klassik bekommt sie für Gegenwartsmusik. Wer ist die Virtuosin, die unser Leben begleitet?

S

ie ist die Klassikerin der klassischen Werke: Ihre Mozart- und Beethoven-Aufnahmen stehen in jedem Plattenregal. Aber regelmäßig kehrt Anne-Sophie Mutter zur Musik unserer Zeit zurück und lässt sich von befreundeten Komponisten inspirieren. Auf ihrer ECHO Klassik-CD präsentiert sie Werke von Wolfgang Rihm und Sebastian Currier. Ist der Klang Teil ihres Lebens oder ein Ausnahmezustand? Ein Gespräch über Musik und Mensch. Frau Mutter, muss man eigentlich mit sich im Reinen sein, um Musik zu interpretieren? Im Reinen zu sein ist eine sehr schwere Angelegenheit. Aber man muss die eigenen Gefühle im Griff haben, wenn man zur Geige greift. Ich habe es stets so gehalten, dass meine privaten Gefühle der Musik nicht im Wege stehen sollen. Schließlich ist die Interpretation ja keine Selbstfindung. Seien Sie ehrlich — spielen Sie sich manchmal auch den Frust von der Leber? Nein, nie! Auch wenn Sie es nicht glauben: Ich geige nie, um mich abzureagieren. Ich sage auch nicht: „Ach, ich spiele heute mal Brahms, damit ich mich besser fühle.“ Das würde ich als Missbrauch der Musik empfinden. Ich bin da eher wie eine Hohe­ priesterin. Wenn ich die Geige heraushole, huldige ich der Musik. Ihrem Publikum geht es anders: Es kommt ins Konzert, um seinen Alltag zu verarbeiten ... Es ist ein Unterschied, ob man Musik macht oder Musik hört. Auf der Konzertbühne weiß ich, dass der Klang erst durch meine Hände entsteht. Damit liegt es in meiner Verantwortung, die Musik nicht zu missbrauchen, sondern sie reinen Herzens entstehen zu lassen. Erst dann wird sie zu einer wunderbaren Brücke zwischen den Menschen. Wenn wir in einem Konzert sitzen und alle bei den gleichen Noten weinen, ist das ein großes Gefühl und zeigt die kollektive Macht der Musik. Wenn ich traurig bin, weil mein Hund gestorben ist, hat das auf der Bühne nichts zu suchen. Ein Chirurg kann ja auch keine Leber transplantieren und dabei an seinen Ehestreit denken. Das Geigen ist für Sie also eine Kunst, die auf dem Sockel steht? Sie ist unantastbar und ähnelt der Liebe. Auch sie ist etwas außer­gewöhnlich Kostbares. Es gibt Dinge der profanen Welt, die man nicht mit in einen derartig reinen Kosmos tragen sollte. Sie meinen: Wenn ich etwas über Sie wissen will, muss ich Sie nur geigen hören? Wir können uns dieses Interview auch sparen?

Auf jeden Fall lernen Sie mehr über den Komponisten und über meine Fähigkeit, unter die Haut eines Komponisten zu schlüpfen. Ja, ich bleibe dabei: Ein Konzert ist ein privater und intimer Vorgang. Intimer als jedes Interview. Sie haben gerade ihr 35-jähriges Bühnenjubiläum gefeiert. Sie scheinen eine der letzten Klassik-Künstlerinnen mit derart langem Atem zu sein. Das würde ich nicht so sehen. Gerade die Geiger sind nicht so schnelllebig. Natürlich hat sich der Klassikmarkt verändert. Und ich sage meinen Schülerinnen immer, dass die Vermarktung der eigenen Person nicht im Vordergrund stehen sollte. Schließlich wurden wir nicht geboren, um das Leben eines Mannequins mit dem eines Pianisten zu verbinden, sondern um das Leben eines Musikers mit allem, was mit Musik zu tun hat, zu verbinden. Es gibt so viele Dinge, die man angehen muss: musikalische Kindererziehung, Nachwuchsförderung, öffentliche Bildung ... da haben wir für diesen ganzen Marketing-Quatsch nur sehr wenig Zeit! Und ich glaube, die Menschen merken das auch. Ich bin völlig uneitel — nicht als Frau, aber sehr wohl als Musikerin. Ich weiß, was ich bewegen will und bewegen muss. Und darauf konzentriere ich mich voll und ganz. ONZERTEINSPIELUNG DES JAHRES (20./21. JH.): K ANNE-SOPHIE MUTTER/NEW YORK PHILHARMONIC „W.RIHM: LICHTES SPIEL & S. CURRIER: TIME MACHINES“ (DG/UNIVERSAL)

Operneinspielung des Jahres (17./18. Jh.)

Operneinspielung des Jahres (19. Jh.)

Sonia Prina/Ann Hallenberg/Max Emanuel Cencic/Il Complesso Barocco/Alan Curtis Gluck: Ezio

Jonas Kaufmann/Claudio Abbado Beethoven: Fidelio

VIRGIN CLASSICS/EMI

DECCA/UNIVERSAL


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KALKULIERTES DRAUFGÄNGERTUM MAXIMILIAN HORNUNG beweist, dass

ein Cello mehr kann als kreischen und brummen – er lässt es singen!

D BEETHOVEN BEWAHRT FASSUNG RUDOLF BUCHBINDER sucht die große Freiheit

in den Sonaten seines Meisters.

I

n seiner Wiener Villa hat Rudolf Buchbinder ein Studienzimmer mit zwei Flügeln, in dem die Regale überquillen: Interpretationen, Partituren und Notenblätter. Der akribische Sammler hat 36 verschiedene Ausgaben der Beethoven-Sonaten zusammengetragen. Jede einzelne kennt er auswendig. Aber wenn es ernst wird, bevorzugt Rudolf Buchbinder die Faksimiles der Handschriften, denn hier „stellt sich vieles anders dar, oft diametral zu sämtlichen Drucken“, erklärt der Pianist. Persönlich schätzt er die alte Ausgabe von Franz Liszt, „denn der schreibt — exzellenter Pianist, der er war — nie Fingersätze vor.“ Rudolf Buchbinder leistet sich den Luxus, seine eigene Freiheit bei Beethoven zu suchen. Als Pianist liebt er die Abwechslung. Er reist nicht mit einem einzigen Programm durch die Konzertsäle der Welt — das würde ihn langweilen. Als Intendant des Musikfestivals Grafenegg programmiert er gern Klassisches und Neues nebeneinander. Aber immer wieder sucht Buchbinder das Werk Beethovens auf, quasi als Standortbestimmung in eigener Sache. Fast fünfzig Mal hat er den Zyklus aller Sonaten interpretiert. Zum ersten Mal spielte er sie vor dreißig Jahren ein — als wohldurchdachte Studioproduktion. Den ECHO Klassik gewinnt er mit seiner neuen Begegnung. RCA hat sämtliche Konzerte Buchbinders in Dresden mitgeschnitten. Und der nimmt sein Publikum mit auf einen Tauchgang in die Tiefen seines Lieblingskomponisten. Beethoven ist Buchbinder längst ins Blut übergegangen. Das akademische und musikwissenschaftliche Wissen ist für ihn Grundvoraussetzung, umso größer ist die Freude im Live-Konzert, wenn er beginnt, mit seinem Wissen zu spielen. Buchbinder genießt es, sich selbst und sein Publikum zu überraschen. Etwa durch die extremen dynamischen Gegenpole der „Sturmsonate“, die bei ihm nie aufgesetzt klingen, sondern stets logisch hergeleitet. Er verblüfft mit ungehörten Akkorden und einem runden Klang, in dem er die Form bewahrt und gleichzeitig Freiheiten schafft. Wahrscheinlich gibt es derzeit keinen Pianisten, der sich am Klavier selbst so treu ist, wie Buchbinder.

as Cello sei nur ein Stück Holz, das oben kreischt und unten brummt, ätzte der Komponist Antonin Dvorák einmal. Erst mit knapp 50 Jahren hörte er in New York ein Cellokonzert seines Kollegen Victor Herbert — und plötzlich juckte es auch ihn, ebenfalls ein Werk für dieses verhasste Instrument zu komponieren. Statt es oben kreischen und unten brummen zu lassen, suchte Dvorák einen neuen, nostalgischen Ton voller Lyrik und gesanglicher Melodie — bis heute eine Herausforderung für jeden Solisten. Maximilian Hornung hat in den letzten Jahren bewiesen, dass er der richtige Mann für derartige Aufgaben ist. Er begegnet den großen Meistern mit Respekt, aber ohne Angst. Er pflegt ein wohl kalkuliertes Draufgängertum. Das Cello scheint für ihn Ausdruck selbstverständlicher Gefühle zu sein. Sein Spiel ist unbefangen, feurig und kraftvoll, ohne dabei forciert zu wirken. Seine Interpretationen hören sich oft verblüffend selbstverständlich an. Diese Natürlichkeit ist Ergebnis großer und leidenschaftlicher Arbeit. Hornung spürt in den Partituren mit traumwandlerischer Sicherheit Sollbruchstellen auf und organisiert seine Interpretatio­ nen um sie herum. Außerdem bildet er einen Dialog mit den Bamberger Symphonikern unter Sebastian Tewinkel, nimmt sich zurück, wenn die Melodie ins Orchester rutscht. Ein Teamplayer, dem es nicht um das virtuose Ego, sondern um die facettenreichen Ausdrucksformen der Musik geht — um Singen und Atmen statt um Kreischen und Brummen. K ONZERTEINSPIELUNG DES JAHRES (19.JH.): MAXIMILIAN HORNUNG, BAMBERGER SYMPHONIKER, SEBASTIAN TEWINKEL „SAINT-SAËNS: SUITE UND ˇ ROMANZE, DVORÁK: CELLOKONZERT“ (SONY CLASSICAL)

I NSTRUMENTALIST DES JAHRES (KLAVIER): RUDOLF BUCHBINDER „BEETHOVEN: THE SONATA LEGACY“ (RCA RED SEAL/SONY)

Operneinspielung des Jahres (20./21. Jh.)

Solisten, Chor und Extrachor des Theater Bonn/ Beethoven Orchester Bonn/Stefan Blunier F. Schreker: Irrelohe MDG

Operneinspielung des Jahres (Opernarien & Duette)

Philippe Jaroussky/Max Emanuel Cencic/William Christie/ Les Arts Florissants Duetti VIRGIN CLASSICS/EMI


ANGEKOMMEN Christian Thielemann und die Staatskapelle Dresden 2012 2013

Christian Thielemann im Sweetwater Recordstore Foto: Matthias Creutziger, Design: schech.net


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ARIEN-PRALINEN MIT NEBENWIRKUNGEN Um endlich in seiner Lebenslust erkannt zu werden, musste Georg Philipp Telemann auf die Sopranistin NURIA RIAL warten.

V EIDGENÖSSISCHE ENTDECKUNGSKULTUR Das GALATEA QUARTET belebt seinen Landsmann Ernest Bloch und findet den Klang unserer Zeit.

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er Ton eines Quartetts erzählt viel vom Temperament eines Ensembles. Der Ton des Schweizer Galatea Quartets ist hellwach, energisch und durchtränkt von Entdeckungsgeist — das gilt für die Nuancen bekannter Werke ebenso wie für die Ausweitung der Repertoirezone der strengen klassischen Musik in die Welt des Pop bis zu klassischen Arrangements von Pink Floyd. Die Musiker, die sich vor sieben Jahren für die Einstudierung eines Haydn-Quartettes getroffen haben, verstehen die Welt der Musik als grenzenlosen Raum. Was ihnen gefällt, kommt auf die Notenständer. Kein Wunder also, dass gleich ihre erste CD (für Sony Classical) den ECHO Klassik gewonnen hat. Auch, weil Yuka Tsuboi (Violine), Sarah Kilchenmann (Violine), David Schneebeli (Viola) und Julien Kilchenmann (Cello) hier nicht nur ihre Vielfalt erklingen lassen, sondern einen in Europa zu Unrecht vergessenen Komponisten ihrer Schweizer Heimat neu beleben: Ernest Bloch, Schüler von Eugène Ysaye, suchte zeitlebens nach der Fortführung der spätromantischen Schule eines Richard Strauss und eines Claude Debussys. Neben seiner Oper „Macbeth“ experimentierte er besonders gern mit der kammermusikalischen Form des Quartettes, in der er sowohl neo­klassizistische Elemente als auch atonale Kompositionsstrukturen einbaute. Das Galatea Quartet nähert sich dem Landsmann mit schwelgerischer, expressiver Tonkraft an und lässt eine strahlende Transparenz und Lebhaftigkeit hören.

or zehn Jahren studierte Nuria Rial noch an der Musikhochschule in Basel, vor drei Jahren hat sie den ECHO Klassik als Nachwuchssängerin gewonnen. Inzwischen ist sie eine der begehrtesten Soprane für das Repertoire des Barock, für die großen Opern Händels und für die Klassik Mozarts. Sie hat an der Seite von René Jacobs gesungen und von dem Faktotum der Alten Musik auch die Akribie der Forschung gelernt. Rials Stimme ist von Anmut und Reinheit geprägt — um so ernsthafter und verbissener kämpft sie für musikalische Entdeckungen. Das Programm für ihre CD mit Arien von Georg Philipp Telemann hat sie selbst zusammengestellt. Dabei ist ihr eine Neuentdeckung des Komponisten gelungen, der nicht nur als Lehrer und Musiker stilprägend war, sondern auch als Humanist: Telemann war es, der das Opernleben in Hamburg einem nicht aristokratischen Publikum öffnete. Mit eben dieser Mentalität der „Oper für alle“ entdeckt die Katalanin Rial nun die vergessenen Werke des Komponisten, unter anderem die Juwelen aus Telemanns Opern „Emma und Eginhard“ und „Der geduldige Sokrates“. Durch ihre Sangeslust räumt Rial mit einem alten Vorurteil vom Langweiler Telemann auf. Vielleicht musste der Komponist, der 1767 in Hamburg gestorben ist, bis heute warten, dass endlich eine Stimme geboren wurde, die seinen schmunzelnden, ironischen und durchaus abgründigen Arien zu beschwingtem Leben verhilft. O PERNEINSPIELUNG DES JAHRES (OPERNARIEN UND DUETTE): NURIA RIAL, KAMMEROCHESTER BASEL, JULIA SCHRÖDER „TELEMANN: OPERA ARIAS“ (DHM/SONY).

K AMMERMUSIK-EINSPIELUNG DES JAHRES (20./21. JH.)/STREICHER: GALATEA QUARTET „BLOCH: LANDSCAPES – MUSIC FOR STRING QUARTET“ (SONY CLASSICAL)

Operneinspielung des Jahres (Opernarien & Duette)

Chorwerk-Einspielung des Jahres (16./17. Jh.)

Nuria Rial/Kammerorchester Basel/Julia Schröder Telemann: Opera Arias

John Eliot Gardiner J. C. Bach: Welt, gute Nacht

DHM/SONY

SOLI DEO GLORIA/HARMONIA MUNDI


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VIELFALT IST PROGRAMM Die ECHO Klassik-Preisträger von MDG stellen die Vielfalt des Labels unter Beweis.

G

ibt es eigentlich noch Major- und Independent Labels? Plattenfirmen, die den Ton angeben und andere, die in der kultivierten Nische verschwinden? Das Detmolder Haus MDG kümmert sich seit 35 Jahren um das wichtige Repertoire, erkundet Seitenwege der Klassik, fördert Nachwuchskünstler und entdeckt neue Virtuosen. Dieses Jahr wird es gleich mit neun ECHO Klassik Preisen ausgezeichnet. Die Liste der Preisträger und der Werke, die sie einspielen, zeigt die Vielfalt des Labels mit ­großer Innovationskraft, das unter Klassik-Fans längst als Garant für Qualität gilt. Ein langjähriger Partner Christian Zacharias des Labels ist der Pianist Christian Zacharias, der für seinen Zyklus der MozartKlavierkonzerte mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne mit der Konzerteinspielung des Jahres geehrt wird. Seit Jahren beschäftigt sich Zacharias mit Mozart und kommt zu einer lebhaften, historisch informierten, aber nie bewusst pädagogisch klingenden Aufnahme. Ebenfalls um Mozart kümmert sich der Experte für historische Aufführungspraxis Siegbert Rampe, der tatsächlich „sämtliche Clavierwerke“ Mozarts eingespielt hat und dafür nun mit dem ECHO Klassik für die editorische Leistung ausgezeichnet wird. Die Interpretationsvielfalt der Pianisten bei MDG bereichert die in Shanghai geborene Jin Ju, die bekannt wurde, als sie im Vatikan für Papst Benedikt XVI auf sieben Jin Ju historischen Instru-

Chorwerk-Einspielung des Jahres (18./19. Jh.)

Chor des Bayerischen Rundfunks/Münchener Kammerorchester/Peter Dijkstra Fauré: Requiem SONY CLASSICAL

menten vom 19. Jahrhundert bis heute gespielt hat. In ihrer ECHO Klassik-CD kümmert sie sich um Beet­ hoven, Czerny und Schubert. Der Organist Harald Vogel hat die Werke des niederländischen Komponisten Jan Pieterszoon Sweelinck neu entdeckt, der die englische Virginalmusik des 16. Jahrhunderts mit dem italienischen Orgelspiel verbunden hat. Um die deutsche Volksmusik bemüht sich das Vokalensemble des Jahres, amarcord, gemeinsam mit dem Leipziger Streichquartett auf der CD „Das Lieben bringt große Freud“. Auch kammermusikalische Nischen werden bei MDG ausgeleuchtet, etwa, wenn die Bläser Giuliano und Simone Sommerhalder, Roland Fröscher und die Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin Amilcare Ponchiellis lebhafte und lebensfreudigen Konzerte für Trompete entdecken. Selbst um die großen vergessenen Opern kümmert sich das Detmolder Label: Franz Schrekers „Irrelohe“ um die Gothic Novel von Edgar Allan Poe wurde vom Theater Bonn unter dem Dirigat von Stefan Blunier neu entdeckt und in dramatischer Genauigkeit wiederbelebt. Die Klangreisen von MDG führen aus Europa immer wieder Stefan Blunier in die Welt, so haben der Nationalchor von Kuba und Digna Guerra mit „El canto quiere ser luz“ Musik aus ihrer Heimat mit vokaler Stimmlust aufgenommen. Im Vordergrund aller CDs, die bei den Ton-Experten von MDG erscheinen, steht die Aufnahmequalität. Kein Wunder, dass die Tontechniker für die Aufnahme des unkonventionellen do.gma chamber orchestras den Preis für die beste Surround-Einspielung gewonnen haben.

Chorwerk-Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)

Coro Nacional de Cuba/Digna Guerra El canto quiere ser luz MDG


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KLANG FÜR DEN KLANG

JOSHUA BELL entdeckt die französische Mu-

sik. Hier schreibt er darüber, dass sie mehr Farben hat als die Tricolore. Von Joshua Bell

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eremy Denk und ich haben die einzelnen Stücke von Camille Saint-Saëns, Maurice Ravel und César Franck schon mehrfach gespielt — nun ging es uns darum, sie gemeinsam aufzuführen. Die Grundidee war es, zu zeigen, dass alle Stücke die Arbeitsweise der einzelnen Komponis­ ten in ihren Mikrokosmen repräsentieren. So unterschiedlich ihre Tonsprache ist, so klar wird bei allen der Kern der französischen Musik. Alles dreht sich um die Freude am Klang. Die Komponisten erheben die Musik zum Experimentierfeld — und man hört, dass sie manchmal gar nicht anders können, als einen bestimmten Klang nur um des Klanges Willen zu komponieren. Letztlich ist es in der französischen Musik so wie mit dem französischen Essen auch: Es steht für einen exquisiten Geschmack. Bei den Komponisten ging es stets um die exquisiten Farben des Klanges. Menschen, die nicht viel mit Musik zu tun haben, fragen mich immer, was wir mit „Klang“ meinen. Bei diesen Werken kann man es perfekt hören. Es geht darum, ein möglichst großes Spektrum von Klangfarben zu entwickeln und sie in all ihren Schattierungen, Reflexionen und Ausstrahlungen hören zu lassen. Besonders gut lässt sich das im Zusammenspiel von Klavier und Geige beobachten: Das Klavier spielt, bis die Violine mit einer anderen Farbe einsetzt, dann verändert sich auch das Klavier und umtänzelt — ähnlich wie ein Chamäleon — die neue Lichtgestalt der Violine. AMMERMUSIK-EINSPIELUNG DES JAHRES K (19.JH.)/STREICHER: JOSHUA BELL, JEREMY DENK „FRENCH IMPRESSIONS“ (SONY CLASSICAL)

VERSÖHNUNG MIT DEM TOD Der CHOR DES BAYERISCHEN RUNDFUNKS schließt in Faurés Requiem Frieden mit der Endlichkeit des Menschen.

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s gibt Chöre und es gibt singende Botschafter  — der Chor des Bayerischen Rundfunks ist ein solcher Botschafter überirdischer Verheißungen. Bereits 2009 wurde das Ensemble mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet und auch dieses Jahr bekommt es den begehrten Preis, weil die Sängerinnen und Sänger eines der tröstlichsten Requien der Musikgeschichte voller Hoffnung und Friedlichkeit interpretieren. Gabriel Fauré beendete seine Totenmesse zwischen dem Ableben seines Vaters und seiner Mutter — und er nimmt dem Sterben dabei den Schrecken. Immer wieder wandelt er Moll-Passagen in Dur-Akkorde um und zeichnet so ein versöhnliches Bild der Endlichkeit des Menschen. Der Chor des Bayerischen Rundfunks lässt sich gemeinsam mit dem Münchener Kammerorchester unter Peter Dijkstra und den Solisten Sunhae Im, Konrad Jarnot und Max Hanft in Faurés sanfter Musik treiben und erhebt den Glauben damit zum stillen Prinzip der Hoffnung. Die „Süddeutsche“ sprach von einem „berückenden musikalischen Trost“ und das „Fono Forum“ schwärmte: „Dijkstra, der die seltener zu hörende erste Fassung des Requiems wählt, gibt der Linienführung Gewicht, nimmt die Tempi zügig — so, dass die Musik schlank und fast klassizistisch anmutet. Süßliches Sentiment hat bei ihm keine Chance.“ Mit dieser Aufnahme ist den Botschaftern der Stimme, dem Chor des Bayerischen Rundfunks, einmal mehr eine überirdische musikalische Hoffnung gelungen. CHORWERK-EINSPIELUNG DES JAHRES (18./19. JH.): CHOR DES BAYERISCHEN RUNDFUNKS, MÜNCHENER KAMMERORCHESTER, PETER DIJKSTRA „FAURÉ: REQUIEM“ (SONY CLASSICAL)

Chorwerk-Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)

SWR Vokalensemble Stuttgart/Rundfunkchor Köln/WDR Sinfonieorchester/Péter Eötvös Ligeti: Requiem, Apparitions, San Francisco Polyphony BMC RECORDS/CODAEX

Kammermusik-Einspielung des Jahres (17./18. Jh.)/Streicher

Amaryllis Quartett J. Haydn, A. Webern: Streichquartette GENUIN


Cover vorläufig

SPITZENTREFFEN DER KLASSIK-STARS DIE BESTEN KÜNSTLER DES JAHRES AUF CD FÜR DIE GALA ZU HAUSE!

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FÜHL DICH WIE ZU HAUSE

Kammermusik-Einspielung des Jahres (17./18. Jh.)/Bläser

Sebastian Manz/Marc Trénel/HerbertSchuch/ David Fernández Alonso/Ramón Ortega Quero Mozart, Beethoven: Quintette für Bläser und Klavier INDÉSENS RECORDS/KLASSIK CENTER KASSEL

Kammermusik-Einspielung des Jahres (19. Jh.)/Streicher

Joshua Bell/Jeremy Denk French Impressions SONY CLASSICAL


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Er jubelt für den FC Liverpool und hat seine Wahlheimat für die Klassik begeistert. Nun erobert VASILY PETRENKO Oslo und die Welt. Sein Rachmaninov ist Weltklasse.

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anchmal verrät das Profane mehr über den Zugang zur Musik als alle Theorie. Schließlich ist jede Interpretation auch aus dem alltäglichen Leben inspiriert. Und so sagt eine vermeintlich belanglose Geschichte, die Vasily Petrenko erzählt, während er einen Tee kocht, mehr über den Dirigenten aus als alles andere. Er steht in der Küche in seinem Haus auf der Halbinsel Wirral und sagt, dass es eine Zeit gedauert hätte, bis er sich in Liverpool eingelebt habe: „Viele Dinge waren in meiner alten Heimat Russland leichter. Wenn ich Freunde sehen wollte, habe ich sie angerufen und gesagt: ‚Ich bin in 20 Minuten da.’ Hier in England ist das anders. Man muss die Leute für ein Abendessen zwei Monate vorher schriftlich einladen.“ Wenn es um Musik geht, zieht Vasily Petrenko noch immer die russische Schule vor. Egal ob im freundschaftlichen Umgang mit seinem Orchester oder bei der Interpretation der russischen Komponisten. Sein Zyklus mit den Sinfonien von Rachmaninov verzichtet auf unnötig lange Einladungsschreiben. Petrenko kommt sofort zur Sache: klar, aufwühlend und unmittelbar. Vom ersten Takt an taucht

Kammermusik-Einspielung des Jahres (19. Jh.)/Bläser

er ab in die Partitur, legt die Füße auf den Schreibtisch des Komponisten und fühlt sich in der Klangwelt seines Landsmanns so sehr zu Hause, dass wir uns alle eingeladen fühlen, diese zerrissene Welt mit unseren Ohren zu besuchen, in der die Konventionen auf den Kopf gestellt werden. Trotz aller britischer Zuvorkommenheit hat Petrenko in Liverpool ein neues zu Hause gefunden. An den Wochenenden jubelt er — wenn Zeit ist — für den FC Liverpool, am Abend ist er mit seinem Sohn Sasha und seiner Frau zu Hause und studiert Partituren. Ganz nebenbei hat er das Royal Philharmonic Orchestra seiner Wahlheimat mit zupackender Art zu neuem Leben erweckt. Zuletzt ist es Simon Rattle in Birmingham gelungen, eine ganze Stadt für die Klassik zu begeistern. Petrenko schafft das auch in Liverpool: Er organisiert Schulprojekte, gibt Publikumskonzerte und fordert von seinen Musikern in dauerndem Dialog mit der Bevölkerung zu stehen. Diese Unmittelbarkeit der Musik entspricht Petrenkos Auffassung von Klassik. Sie ist kein Elfenbeinturm, sondern ein Kosmos, mit dem wir leben können — ein Wohnzimmer, in dem wir zu Hause sind. Wenn er am Pult steht, will er keine heilige Kunst pflegen, dann will er nur eines: berühren! Sein Rachmaninov-Zyklus mit den Liverpoolern hat ihn und sein Orchester weltweit bekannt gemacht. Noch heute zehrt Petrenko, der 1976 in Leningrad geboren wurde, von der gründlichen russischen Musikausbildung. Am St. Petersburger Konservatorium lernte er von Mariss Jansons und Esa-Pekka Salonen — beide fördern ihren Lieblingsschüler noch immer. Petrenko wurde Dirigent in St. Petersburg und gab sein Debüt in Liverpool im Jahre 2004. Sein Charisma hat die britischen Musiker sofort überzeugt, und sie ernannten ihn zu ihrem Chef. Nun wird er neben Liverpool einen weiteren Standort aufbauen: In der Saison 2013 wird Petrenko auch das philharmonische Orchester in Oslo übernehmen. Mal sehen, wie lange im Voraus er dort die Einladungskarten für ein Abendessen verschicken muss — und welchen Komponisten er mit diesem neuen Orchester in Angriff nimmt, um ihn zu seinem Zuhause zu machen. Auf seinen Rachmaninov-Zyklus aus Liverpool können wir uns schon jetzt freuen. Unkonventioneller und berauschender geht es kaum. N ACHWUCHSKÜNSTLER (DIRIGAT): VASILY PETRENKO „RACHMANINOV: SINFONIE NR.3“ (EMI CLASSICS)

Kammermusik-Einspielung des Jahres (19. Jh.)/Gem. Ensemble

Münchner Horntrio J. Brahms, G. Ligeti, C. Koechlin: Horntrios

Renaud Capuçon/Gérard Caussé/Gautier Capuçon/Nicholas Angelich/ Michel Dalberto/Quatuor Ebène Fauré: Sämtliche Kammermusik für Streicher und Klavier

FARAO

VIRGIN CLASSICS/EMI


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DIE EINSAMKEIT AM MIKROFON GLENN GOULD war nicht nur ein Piano-

Genie, sondern auch ein großer Philosoph und Denker. Nun können wir ihm auf DVD begegnen. Im September wäre der kanadische Pianist Glenn Gould 80 Jahre alt geworden, im Oktober jährt sich sein Todestag zum 30. Mal. Sony Classical präsentiert 
eine wertvolle DVD-Edition mit allen TV-Sendungen des kanadischen Senders CBC: 19 Stunden Interviews, Proben und Konzerte. Kaum ein Pianist hat die Wahrnehmung klassischer Musik so dramatisch neu erfunden wie Gould — und kaum ein Künstler wurde so schnell zur Legende, zum „James Dean des Klaviers“. Hier ein kleines Highlight aus über 19 Stunden Interview-Material. Bevorzugen Sie Aufnahmen im Studio oder Konzerte? Eindeutig: Aufnahmen! Ich weiß, das gehört sich nicht. Weil viele Künstler dem Mikrofon misstrauen. Ich bin mit ihm aufgewachsen, es ist zu meinem Freund geworden. Mir geht es darum, mich selbst so gemütlich einzurichten wie möglich, während ich musiziere. Und am gemütlichsten ist es, wenn ich allein vor einem Mikrofon sitze. Warum gehen Sie so ungern in Konzerte? Ich mag keine Menschenansammlung, da werde ich klaustrophobisch. Auf der Bühne ist das eine andere Sache, da habe ich genug Luft, um zu atmen. Zumal das Publikum im Dunklen sitzt . Ich stelle mir immer vor, allein zu sein. Auch im Kino habe ich keine Angst, weil alles dunkel ist und ich denke, dass ich allein bin. Stört Sie das viele Reisen? Wenn ich hier in Kanada in der Natur sitze, Leute treffe, die ihr Leben nach dem Wetter ausrichten, komme ich mir merkwürdig vor. Und ich frage mich, wie es sein kann, dass ich von hier aus zurück in den Konzertrhythmus gehen kann. Ich komme mir in der Natur vor wie als Schüler an einem Feiertag, der am nächsten Tag wieder in die Schule muss. Das war Horror! Das Konzertleben ist also etwas Unnormales? Wenn man jeden zweiten Tag ein Konzert spielt, ist das Routine und fühlt sich normal an. Aber wenn diese Routine durch Ferien unterbrochen wird, merkt man, wie wahnsinnig das alles ist. USIK-DVD-PRODUKTION DES JAHRES (DOKUMENTATION): M CANADIAN BROADCASTING COMPANY „GLENN GOULD ON TELEVISION: THE COMPLETE CBS BROADCASTS 1954-1977“ (SONY CLASSICAL)

TANGO: DIE KLEINSTE OPER DER WELT! ERWIN SCHROTT besucht seine musikalische

Heimat: Jeder Tango, den er singt, ist ein Drama der Leidenschaft.

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er Vater von Erwin Schrott musste während der Militärdiktatur in Uruguay seine Schuhfabrik schließen. „Wir hatten große Geldsorgen damals“, erinnert sich der Bariton heute, „aber meine Eltern haben trotzdem versucht, unser kulturelles Leben aufrecht zu erhalten. Sie haben die Musik geliebt und mich in einen Chor geschickt.“ Mit acht Jahren ist Erwin Schrott zum ersten Mal in Puccinis Oper „La Bohème“ aufgetreten. „Das Theater wurde mein Zufluchtsort, mein Märchenland — und das ist es bis heute“, sagt er. Als Bariton ist Erwin Schrott heute an den großen Opernhäusern der Welt zu Hause. In seinem ersten Album für Sony Classical hat er sich zurück in seine wahre musikalische Heimat begeben, in die Welt des Tangos. Schrott erklärt diese Grenzüberschreitung so: „Tango, das ist Drama und Leidenschaft, ganz wie in der Oper. Oper geht so: Da ist ein Sopran. Auftritt Tenor. Tenor verliebt sich in Sopran. Sopran wird krank. Sopran stirbt. Tenor ist einsam. Auftritt Bariton. Die beiden bekommen Ärger. Bariton bringt Tenor um. Bariton bleibt allein zurück.“ Der Tango funktioniert bei ihm genau so: „Nur dauert es nicht drei Stunden, sondern anderthalb Minuten und man braucht nur einen Sänger.“ So spricht ein Grenzgänger — so hört sich der ECHO Klassik-Preisträger für Klassik-ohne-Grenzen an. Der Tango hat Erwin Schrott seit seiner Kindheit als Menschen und Musiker geprägt. Und nun holt er die Rhythmen aus seinem Blut in seine be­ stechende Stimme. All das ist nicht wirklich verwunderlich, denn einer der größten Tangosänger des letzten Jahrhunderts, Carlos Gardel, stammte ebenfalls aus Uruguay — und Erwin Schrott wuchs mit seiner Musik auf. Sie ist der Soundtrack seiner Jugend. Zu Hause lebt Erwin Schrott gemeinsam mit Star-Sopran Anna Netrebko Alltag statt Oper — die beiden haben ihr Künstler-Leben um ihren gemeinsamen Sohn Tiago organisiert. Sie wechseln sich in ihrem Opern-Jetset ab. Aber wenn sie einmal gemeinsam daheim sind, verrät Schrott, kommt es schon mal vor, dass sie sich in den Arm nehmen und einen heimlichen, kleinen Tango vor Tiago tanzen. K LASSIK-OHNE-GRENZEN-PREIS: ERWIN SCHROTT „ROJOTANGO“ (SONY CLASSICAL)

Kammermusik-Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)/Gem. Ensemble

Kammermusik-Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)/Streicher

Martha Argerich and Friends Live from Lugano 2010

Galatea Quartet Bloch: Landscapes – Music for String Quartet

EMI CLASSICS

SONY CLASSICAL


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LISZTS DREIFALTIGKEIT Mephisto, Margarethe und Faust – in ihrem Debütalbum vereint KHATIA BUNIATISHVILI die unterschiedlichen Temperamente unserer Seele.

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ir war immer klar, dass meine erste Aufnahme ein Porträt von Liszt sein wird“, sagt Khatia Buniatishvili, „er allein versetzt mich in die Lage, die vielen Aspekte meiner Seele zusammenzuführen.“ Die Pianistin aus Georgien gehört zu den jungen Wilden der Klassik-Szene: virtuos, tiefschürfend und voller Entdeckungsgeist. Eine Generation, für die Musik ein Spiegel der Absurdität und der gleichzeitigen Schönheit menschlichen Daseins ist. Für Buniatishvili unterteilt sich Liszts Musik in drei Temperamente: Margarethe — das Symbol der unschuldigen kindlichen Seele. Mephisto — das Symbol der Verführung von Sex, Geld und Glamour. Und Faust — das Symbol des Genies mit Zweifeln, der nach Unsterblichkeit sucht und doch nur Liebe ersehnt. In ihrer Einspielung von Liszts Klavierwerken — besonders der h-MollSonate und dem Mephisto-Walzer — macht Buniatishvili klar, warum diese Musik uns noch heute anspricht. Mit Energie, perfekter Präzision und unbändiger Leidenschaft sucht sie kompromisslos nach den existenziellen Konstanten des Daseins. So wie ihr Spiel muss sich die Zauberformel des Universalismus anhören: atemlos, verträumt und abgründig. Eine akustische Ausstellung der Temperamente des Menschseins: Traum, Rausch und Grübelei. Kein Wunder, dass die große Martha Argerich über Buniatishvili sagt: „Khatia ist ein außergewöhnliches Talent, ich war beeindruckt von ihrer enormen pianistischen Begabung, ihrer natürlichen Musikalität, ihrem Einfallsreichtum und ihrer virtuosen Brillanz.“ Neben der Einspielung der Werke Liszts besticht die CD mit einer DVD, auf der die Pianistin Liszt als Vorbild erklärt, um das menschliche Sein zu verstehen. Klüger geht es nicht. NACHWUCHSKÜNSTLERIN (KLAVIER): KHATIA BUNIATISHVILI „FRANZ LISZT“ (SONY CLASSICAL)

Kammermusik-Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)/Streicher

Solistische Einspielung des Jahres (17./18. Jh.)/Violine

Hilary Hahn C. Ives: Vier Sonaten

Rebekka Hartmann Birth of the Violin

DEUTSCHE GRAMMOPHON/UNIVERSAL

SOLO MUSICA


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DIE BEETHOVEN-LEGACY Dass DAVID GARRETT mit Crossover Millionen begeistert, ist bekannt – nun folgen ihm seine Fans auch in den Olymp der klassischen Musik.

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avid Garrett ist mehr als ein Geiger — er ist ein Phänomen! Der Sohn einer amerikanischen Primaballerina und eines deutschen Juristen, der nebenbei als Geigenlehrer tätig war, wurde in die Welt der Musik hineingeboren: Seine erste Geige bekam Garrett mit vier Jahren, zehn Jahre später nahm die Deutsche Grammphon ihn bereits als Exklusivkünstler unter Vertrag. Er spielte mit den größten Meistern der klassischen Musik, unter anderem mit dem Dirigenten Claudio Abbado. Aber so glücklich sein Publikum war, so unglücklich wurde Garrett: „Mir wurde immer alles aufoktroyiert“, hat er einmal gesagt, „was ich spielen sollte, was ich in Interviews sagen sollte — und was nicht.“ Irgendwann hat er beschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen, die Kampfzone der Klassik auszuweiten — und es dem etablierten Klassik-Business zu zeigen. Mit Erfolg! Dieses Jahr bekommt David Garret seinen dritten ECHO Klassik: 2008 wurde er für das Album „Encore“ für „Klassikohne-Grenzen“ ausgezeichnet, 2010 für „Classic Romance“ mit dem „Bestseller des Jahres“ — den gleichen Titel bekommt er dieses Jahr für sein neuestes Album „Legacy“. Hier gelingt ihm nun, was Kritiker nie vermutet hätten: Garrett begeistert ein Millionen-Publikum mit Originalwerken großer Komponisten wie Ludwig van Beethoven.

Der Erfolg des Geigers liegt auch darin, dass er die Welt der Klassik aus dem Effeff kennt, dabei aber auf jede Attitüde verzichtet, die der hehren Klassik lange heilig war. Für ihn ist die Musik ein Lebenselixier — und das bedeutet: Sie muss mit Lebensfreude aufgeführt und interpretiert werden. Und natürlich gibt es für Garrett auch heute noch heilige, klassische Kühe. Das Violinkonzert von Beethoven würde er nie „verpoppen“ sagt er, „da sind schon Berührungsängste da, weil es die Musik ist, mit der ich aufgewachsen bin, die mir so viel gegeben hat.“ Mit seinem ECHO Klassik-Album tritt er nun den Beweis an, dass auch der ungeschminkte Beethoven noch immer ein Bestseller ist. „Ich habe mir im Vorfeld natürlich viele Gedanken gemacht, was man mit Beethoven kombinieren kann“, sagt Garrett, „und Fritz Kreisler, der die bekannten Kadenzen zum Violinkonzert geschrieben hat, ist für mich ein guter Komponist, um seine eigenen Kompositionen bekannter zu machen.“ Immerhin ist Kreisler auch in Sachen Popularität ein Vorbild für David Garrett: Der Geiger und Komponist war es, der Beethovens Violinkonzert im 20. Jahrhundert wieder bekannt gemacht und einem großen Publikum vorgestellt hat. Auf „Legacy“ will Garrett nun für Kreisler tun, was der für Beet­ hoven tat: Er nimmt sich dessen alte und zum Teil vergessene Kompositionen vor, variiert sie mit modernen Ideen und einem Augenzwinkern und haucht ihnen so neues Leben ein. Mit dem ECHO Klassik-Album beweist David Garrett, dass die Rückkehr aus dem Crossover in die Welt der Klassik durchaus möglich ist — und mehr noch: dass ihm seine Fans dabei treu folgen! ESTSELLER DES JAHRES: B DAVID GARRETT „LEGACY“ (DECCA/UNIVERSAL)

DAVID GARRETT ÜBER SEINE MUSIK Über Crossover: „Es bricht das Eis für die Klassik.“ Über die Zeit nach dem Konzert: „Da trinke ich am liebsten ein Bier — und gehe ins Bett. Ich stehe früh auf, und mein Akku ist meist um 23 Uhr leer.“ Über große Säle: „Es ist ein Kick, vor 4.000 Menschen oder mehr in einer Stadthalle zu spielen. Aber ich kann mir bei so vielen Menschen nicht sicher sein, jeden zu erreichen — das aber will ich. Deshalb ist es mir wichtig, auch an kleinen Orten zu spielen.“ Über die Mode: „Kein Dirigent und kein großes Orchester werden dich einladen, weil du gut aussiehst — aber ein selbstbewusstes Auftreten und ein ansprechendes Outfit können auch der Klassik helfen.“ Über das Geheimnis seines Erfolges: „Ich bin ich selbst — in der Musik wie im Leben.“

Solistische Einspielung des Jahres (19. Jh.)/Klavier

Solistische Einspielung des Jahres (20./21. Jh.)/Klavier

Jin Ju Beethoven, Czemy, Schubert: Piano Music

Rafał Blechacz Debussy – Szymanowski

MDG

DEUTSCHE GRAMMOPHON/UNIVERSAL


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ES BLIEB NUR DIE GITARRE Keiner spielt so sinnlich ˇ KARADAGLIC. ´ wie MILOS Milos — Du kommst aus Montenegro. Ein Teil des alten Jugos­la­wiens, der vom Krieg im Balkan betroffen war. Wie hast Du diese Zeit erlebt? Das war wahrscheinlich die schlimmste Zeit meines Lebens. Überall um uns herum tobte der Krieg, und Montenegro wurde in die Kämpfe hineingezogen. Ich habe sehr viele schreckliche Bilder und erinnere mich, dass der Vater von Freunden, mit denen ich oft gespielt habe, getötet wurde. Er kam einfach nicht zurück. Auf diese Art war irgendwie jede Familie aus meiner Heimat von diesem Konflikt betroffen — direkt oder indirekt. Waren Deine Eltern auch betroffen? So wie jeder andere auch — sie mussten überleben. Ich habe ihnen viel zu verdanken. Alle Geschäfte um uns herum waren leer, und eigentlich gab es nichts zu kaufen. Aber meine Eltern haben es geschafft, dass mein Bruder und ich uns in dieser Zeit wie kleine Prinzen gefühlt haben. Haben Sie Dich auch zur Musik gebracht? Sie lieben die Musik, aber die Entscheidung, ein Instrument zu spielen, war meine eigene. Ich wurde an der Akademie aufgenommen, wusste aber nicht, welches Instrument ich lernen sollte. Zunächst liebäugelte ich mit dem Klavier — aber das war zu teuer für unsere Familie. Als ich Geige spielen wollte, sagten meine Eltern: „Das ist schön für Dich, aber für uns wahrscheinlich schrecklich.“ Also blieb die Gitarre ... Eigentlich ja ein Instrument, von dem jeder junge Mensch träumt ... Ja, aber ich habe nie Popmusik gespielt. Damals lebten wir ja in einer Art kommunistischem System. Es gab keine Privatlehrer. Man musste lernen, was vorgegeben wurde — so ging das sechs Jahre lang. Und ich habe begonnen, die Musik für klassische Gitarre zu genießen. Erinnerst Du Dich noch an Deine erste Gitarre? Sie war schwarz und wirklich hässlich. Sie wurde irgendwo auf einem Regal bei meinen Eltern im Schlafzimmer vergessen. Sie hatte keine Saiten und war vollkommen verstaubt. Ich habe meine Eltern gebeten, sie einmal anfassen zu dürfen. An diesen Augenblick erinnere ich mich sehr gut — ich habe sofort getan, als sei ich ein Popstar! Nach Ende des Krieges war Montenegro isoliert — wie bist Du trotzdem entdeckt worden? Ich durfte zu einem Konzert nach Paris fahren. Es war nur eine

kleine Veranstaltung — aber es war eine große Chance für mich. Ich habe zum ersten Mal die westliche Welt gesehen, bin mit meiner Mutter durch die Straßen von Paris gegangen — und irgendwann, das war vor Weihnachten, standen wir auf dem Champs Élysées. Da dachte ich: „Mein Gott, so also fühlt sich ein Leben in Farbe an!“ Später hast Du Dich bei der Royal Academy in London beworben ... Ja, aber ich bekam keine Antwort. Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Meine Mutter hat gesagt: „Macht doch nichts, Du bist erst 16 Jahre und hast noch alle Zeit der Welt.“ Aber ich habe in der Akademie angerufen, die Frau bat mich am Telefon zu bleiben — und dann sagte sie, dass ich angenommen wurde und fragte, ob ich den Brief nicht erhalten hätte. Inzwischen hast Du Musik aus dem mediterranen Raum eingespielt, in Deinem neuen Album dreht sich alles um LatinoMusik — ist die Musik immer auch ein Gefühl von Heimat? Ja, die Musik ist für mich ein Zuhause an sich. Und klar, sie erinnert mich auch an meine Jugend. Die Gitarre wurde von den Mohren nach Spanien gebracht, hat einen großen arabischen Einfluss, weil die Ottomanen über 500 Jahre im Mittelmeerraum regierten. Und ich bin gerade erst dabei, die Klangwelten meiner Heimat zu erweitern. ˇ KARADAGLIC ´ ACHWUCHSKÜNSTLER (GITARRE): MILOS N „MEDITERRÁNEO“ (DG/UNIVERSAL)

Liedeinspielung des Jahres

Editorische Leistung des Jahres

Werner Güra Schubert: Willkommen und Abschied

Siegbert Rampe Mozart: Sämtliche Clavierwerke

HARMONIA MUNDI

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IHM VERDANKEN WIR DIE NEUEN NOTEN So hört sich unser Jetzt an! EDUARD BRUNNER inspiriert die größten Komponisten unserer Zeit für sein Instrument: die Klarinette.

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DIE ZAUBERFLÖTE MICHALA PETRI durchwandert die

nordische Märchenwelt in Tönen.

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ie dänische Flötistin Michala Petri gehört vielleicht zu den lyrischsten Musikerinnen überhaupt — sie nutzt ihr Instrument zur Verzauberung. Kein Wunder also, dass sie sich nun ein musikalisches Märchen komponieren ließ. „Die Nachtigall“ des Komponisten Ugis Praulins nach Hans Christian Andersen ist eine mystische Welt in Tönen. Folkmusik, Pop, Mittelalter und Renaissance verschmelzen zu einer großen, effektvollen Stimmung. Im Vordergrund steht die Zauberkraft der Flöte. Außerdem wandert Petri auf dieser CD mit dem wunderbaren Dänischen Nationalchor und Stephen Layton durch die nordische Mythologie und interpretiert Werke von Daniel Börtz, Sunleif Rasmussen und Peter Bruun. ELT-ERSTEINSPIELUNG DES JAHRES: MICHALA PETRI, W DANISH NATIONAL VOCAL ENSEMBLE, STEPHEN LAYTON „THE NIGHTINGALE“ (OUR RECORDINGS/NAXOS)

rüher war es üblich, dass Komponisten ihre Konzerte und Sonaten für einen außerordentlichen Musiker komponiert haben. Heute sind derartige Musiker selten. Der Klarinettist Eduard Brunner ist einer von ihnen: Geboren 1939 in Basel war er Solo-Klarinettist in Bremen und München. Seinem ungewöhnlichen Ton und seinem Faible für neue Klangexperimente haben wir einige der wichtigsten Kompositionen für Klarinette aus unserer Zeit zu verdanken. Augustyn Bloch, Cristóbal Halffter und Helmut Lachenmann haben ihm ihre Noten auf die Lippen geschrieben. Wagemutige musikalische Experimente, in denen sein Instrument zum Klangmaler wird. Brunners Virtuosität und Interesse an neuen Musikwelten hat für eine Neuentdeckung der Möglichkeiten der Klarinette gesorgt. Ein Weg, der nicht ohne Konfrontationen verlaufen ist. „Es braucht überzeugte Dirigenten wie Eötvös, Zender und Gielen, die eine nötige Autorität haben, um diese Art von Musik beim Orchester durchzusetzen“, sagt Brunner. „Wenn ein Lachenmann ein ganzes Orchester einfach tonlos über Saiten streichen lässt, benötigt das die gleiche Konzentration wie ein gespielter

Ton — und wenn da einer nicht aufpasst, dann ist die ganze Stelle futsch!“ Kein Wunder also, dass Brunner seine CD „Musik für Solo-Klarinette“ mit Jörg Widmanns „Fantasie“ eröffnet, einem Werk, das sich in beachtlicher Tiefe und schneidenden Höhen bewegt, das die ganze Klangvielfalt der Klarinette nutzt und mit Klezmer- und Jazz-Einflüssen spielt. Ein Statement für die Aktualität der Musik. Für die moderne Aussagekraft eines Instrumentes. Für die Fortführung der Klassik in unserer Zeit — als Sprache individueller Entfaltungskraft. I NSTRUMENTALIST DES JAHRES (KLARINETTE): EDUARD BRUNNER „MUSIK FÜR SOLO-KLARINETTE“ (NAXOS)

NAXOS WIRD 25 JAHRE

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o viel Musik hat keiner. Das Label „Naxos“ ist eine Erfolgsgeschichte und feiert 25. Jubiläum. Über 7.000 eigene Veröffentlichungen sind entstanden, und über 70 Audio- und Video-Labels werden von Naxos vertrieben. Naxos macht Klassik erschwinglich und setzt auf höchste Qualität: Sowohl Aufnahmen der großen Werke als auch Entdeckungen auf den Nebenwegen der Musik stehen im Vordergrund. Das Label versteht die klassische Musik als Abenteuer und legt viel Wert auf die kontinuierliche Arbeit mit großen Künstlern. Zum Jubiläum erscheinen neun Themenboxen mit je zehn CDs, die das Spektrum anschaulich machen. Darunter „Große russische Sinfonien“, „Klassische Sinfonien“, „Klavierkonzerte“, „Barocke Meisterwerke“ und „Ballette“. MEHR AUF WWW.NAXOS.DE

Welt-Ersteinspielung des Jahres

Klassik für Kinder-Preis

Michala Petri/Danish National Vocal Ensemble/Stephen Layton The Nightingale

Ensemble L’ART POUR L’ART Haltbar gemacht

OUR RECORDINGS/NAXOS

NURNICHTNUR


HELDE N SCHM ELZ

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Kein Kampf, sondern Klugheit – KLAUS FLORIAN VOGT belebt eine alte Gesangskultur und wird damit zum Wagner-Sänger des 21. Jahrhunderts.

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s gibt Sänger, die einen längst vergessenen Stil neu beleben und uns damit ein Stück sinnlicher Kulturgeschichte zurückgeben. Klaus Florian Vogt ist ein solcher Tenor. Er beweist, dass Wagner auch ohne Anstrengung gesungen werden kann. Die Erlösung der Welt muss nicht immer mit Tschingderassabumm besungen werden, sondern darf auch Selbstzweifel, Sehnsucht und zärtliche Liebe mitklingen lassen. „Was ein Held ist, ist eine schwierige Frage“, sagt Vogt, „meist handelt es sich ja um zerrissene Charaktere, denen das Heldsein nicht immer leicht fällt. Hinter ihrer harten Schale verbirgt sich oft ein weicher Kern.“ Als Klaus Florian Vogt 2007 den Lohengrin bei den Bayreuther Festspielen sang, sorgte sein Auftritt für ein weltweites Ohrenöffnen. Was für ein Erlöser war das? Keiner, der nach Brabant kam, um die verrohte Gesellschaft per Gotteswort zu befreien, sondern einer, der mit sich selbst rang, mit dem Göttlichen, mit der Moral des Glaubens und den Verlockungen der irdischen Welt. Vogt deutete die Rolle nicht nur neu, weil er sich als idealer Schauspieler für Hans Neuenfels’ Regie entpuppte, sondern weil er mit seiner Stimme, dem weichen, unangestrengten Timbre, einen ureigenen, abgründigen und tiefen Charakter zeichnete und gleichzeitig Wagners Musikalität vermenschlichte. Ein in den Höhen unangestrengter, vokal reflektierender Tenor, der sich nie in Manierismen verliert, sondern auf dem gleichen Boden steht wie wir. Vielleicht gehört die eigene Bodenständigkeit zum Erfolgsgeheimnis dieses Sängers. Nicht nur, dass Vogt mit seiner Frau und seinen vier Söhnen im idyllischen Dithmarschen in Schleswig-Holstein Ruhe für die Kraftanstrengungen der Bühne findet, schnelle Autos liebt und das Leben in der Natur. Auch seine musikalische Karriere steht auf festem Fundament: Vogt hat als Hornist im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg begonnen und gleichzeitig in Lübeck Gesang studiert. Seine Stimme sorgte sofort für Aufhorchen: Er wurde am Landestheater Flensburg engagiert, gastierte an der Semperoper in Dresden, wo Giuseppe Sinopoli seine Stimme förderte. Den einmaligen Klang seines Gesangs, der an Fritz Wunderlich erinnert, baute Vogt langsam und klug auf: Mo-

zart, Smetana und Strauss. Erst dann wagte er sich an Wagner. Als er 2002 zum ersten Mal „Lohengrin“ in Erfurt sang, war ein neuer Heldentypus geboren und trat seinen Erfolgszug durch die Welt an. Inzwischen ist Klaus Florian Vogt auf Bayreuths Grünem Hügel zu Hause. Eine neue Wagner-Stimme im Wagner-Gral, gefördert und geliebt von Katharina Wagner und Christian Thielemann. 2016 wird er die Premiere des „Parsifal“ singen. Auf seiner Debüt-CD lässt sich erkennen, woher der neue, kultivierte Helden-Ton Vogts kommt. Lohengrin und Stolzing sind hier nur die Höhepunkte des Repertoires, die sich logisch aus jener musikalischen Schule herleiten, die auch Wagner selbst inspirierte: Carl Maria Webers „Oberon“ etwa und natürlich Mozart. Vogt leitet in seiner Stimme die Deutsche Romantik aus ihrer eigenen Tradition her — und sorgt so für einen neuen, sinnlichen Interpretationsstil. Gleichzeitig behauptet er Erich Wolfgang Korngolds „Tote Stadt“ und Friedrich Flotows „Martha“ als logische Fortsetzung Wagners. Ein musikalisches Traditionsbewusstsein der so genannten Deutschen Musikschule, das früher einmal gang und gäbe war, dann aber — aus Mangel an Stimmen — in Vergessenheit geriet. Nun ist die Stimme da! Ein neuer, lyrischer Held, für den das Heldentum keine Kraftprotzerei ist, sondern die Schönheit der Klugheit und des Ausdrucks. Klaus Florian Vogt ist ein Heldentypus, mit dem wir normalen Menschen uns gern anfreunden. ÄNGER DES JAHRES: S KLAUS FLORIAN VOGT „HELDEN“ (SONY CLASSICAL)

Surround-Einspielung des Jahres

Musik-DVD-Produktion des Jahres (Dokumentation)

do.gma chamber orchestra/ Mikhail Gurewitsch American Stringbook

Canadian Broadcasting Company Glenn Gould on Television: The Complete CBC Broadcasts 1954-1977

AUDIOMAX/BERTHOLD RECORDS

SONY CLASSICAL


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VON MASKEN UND NACKTHEIT

Musik-DVD-Produktion des Jahres (Live-Aufnahme)

C Major Entertainment John Neumeier/Lera Auerbach: The Little Mermaid C MAJOR

Musik-DVD-Produktion des Jahres (Oper)

Ensemble Theater L端beck Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen MUSICAPHON/KLASSIK CENTER KASSEL


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ANNA PROHASKA singt nicht nur – sie verkörpert

die größten Charaktere der Oper. Hier erklärt sie, wie ihre eigene Existenz zu Klang wird. Frau Prohaska, eben standen Sie noch auf der Bühne — ­dafür sehen Sie nun sehr erleichtert aus. Tatsächlich scheint es einen Schalter bei mir zu geben, der die mentale Disziplin umlegt. Auf der Bühne gibt es durchaus Situationen, in denen man merkt, dass man sich gern mit irgendetwas beschäftigen würde, mit der Technik, mit dem nächsten Einsatz, mit der Frage, ob bislang auch alles gut war — aber man muss es schaffen, in der Rolle zu bleiben. Der Automatismus des Singens muss im Gange gehalten werden, die Selbstverständlichkeit der Bühnen-Existenz. Aber wenn die Vorstellung zu Ende ist, der Vorhang sich senkt, dann ist da eine große Erleichterung. Und man kann endlich wieder Mensch sein. Wie machen Sie das, sich mit einer Rolle zu identifizieren? Ich suche Situationen in der Rolle, die etwas mit meinem eigenen Leben zu tun haben. Natürlich wurde ich noch nicht abgestochen — aber ich stelle mir die Gefühle vor, die man in dieser Situation haben könnte. Ich glaube, dass es Grundgefühle von Liebe, Angst oder Eifersucht gibt, die jeder schon einmal erlebt hat. Vielleicht nur im Kleinen. In der Oper sind die Gefühle meist sehr groß, aber wenn man sie in seinem Leben sucht, kennt man ihren Kern. Und den versuche ich aufzuspüren, um ihn in Töne zu verwandeln, ihnen Ausdruck zu verleihen. ­Außerdem ist die Bühne eine wunderbare Möglichkeit, sich selbst in Situationen zu begeben, die man im wahren Leben eher vermeiden würde. Ich bin sicherlich keine Femme fatale — aber auf der Bühne habe ich Spaß daran. Wenn Sie so nahe bei sich sind, ist das Singen dann auch eine Form der Nacktheit? Die Rolle maskiert sicherlich die Nacktheit, die man in sich wahrnimmt. Ich glaube, dass es beides ist: Auf der einen Seite ist man maskiert, und die Anna Prohaska aus dem wahren Leben kann eine andere sein, gleichzeitig bewegt man sich

Bestseller des Jahres

David Garrett Legacy DECCA/UNIVERSAL

aber an extremen, emotionalen Grenzen, die man mit der Rolle fühlt — und ist sich bei manchen Aufführungen näher als im wahren Leben. Es gibt also ein nacktes Innen, das nötig ist, um die Maskerade nach außen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Spüren Sie manchmal auch den Druck des Publikums? Natürlich weiß ich, dass da viele Leute sitzen, die zu Hause in ihren Kämmerchen 5.000 CDs haben, eine Aufführung ansehen und am Ende sagen: „Ah, die Schwartzkopf hat das damals aber besser gemacht.“ Inzwischen habe ich mir aber angewöhnt, diese Kategorien nicht anzunehmen. Auch Stimmen sind im Wandel, es gibt unterschiedliche Generationen — und ich stehe für mich und meine Zeit. Und ich gebe mein Bestes. Dabei hoffe ich, dass es den Leuten gefällt. Mehr kann ich nicht tun. Gibt es Lampenfieber? Ich glaube, dass Singen immer ein wenig mit Risiko zu tun hat. Und wo Risiko lauert, gibt es auch Angst. Ich kenne viele Stimmen, die einfach schön und perfekt klingen, bei denen man weiß: Da kann nichts passieren. Und um ehrlich zu sein, das langweilt mich. Wenn ich eine Lulu singe, muss ich mich auch in Gefahr begeben, das bin ich Alban Berg schuldig. Ich muss an meine eigenen Grenze gehen und notfalls die Brüchigkeit in der Stimme zulassen. Damit will ich nicht sagen, dass man falsch singen muss, um glaubwürdig zu werden. Ich glaube aber, dass man das Risiko in der Stimme mithört — dass ein Sänger glaubwürdiger ist, wenn das Publikum spürt, dass er bereit ist, an seine eigenen Grenzen zu gehen. NACHWUCHSKÜNSTLERIN (GESANG): ANNA PROHASKA „SIRÈNE“ (DG/UNIVERSAL)


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ARCHITEKTIN DER MELANCHOLIE TORI AMOS tritt den Beweis an, dass Songwriter die

legitimen Erben des romantischen Liedgesangs sind. In ihrem Album „Night of Hunters“ besingt sie poetische Gefühle zu klassischen Melodien.

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ie weit ist es eigentlich von einem Nachtclub bis zu einem Konzertsaal? Oft liegt zwischen beidem nur der Steinwurf einer Lebensentscheidung. Tori Amos, Kind eines amerikanischen Pfarrers und Enkelin eines CherokeeIndianers, erhielt ihren ersten Klavierunterricht bereits mit zwei Jahren. Mit fünf Jahren bekam sie ein Stipendium am Konservatorium, wurde in klassischem Gesang und Klavierspiel ausgebildet und plante eine Karriere als Konzertpianistin. Dann entdeckte sie, dass auch die Beatles, Jimi Hendrix und Led Zeppelin Klassiker waren — die Grenzen ihrer Ausbildung verschwammen. Tori Amos schmiss das Studium und wurde als Pianistin in einem Club in Georgetown engagiert. Ihr war der Nachtclub näher als der Konzertsaal. Aber sie hörte nicht auf, Pop und Rock als klassische Musik zu verstehen. Beide Welten nähren ihre Kreativität. Amos große Kunst ist es, ihren eigenen Kompositionen zutiefst lyrische Worte zu geben — Gedichte über ihre eigenen, existenziellen Gefühle oder, nach den Terroranschlägen des 11. September, über die Gefühle der gesamten Menschheit. Tori Amos glaubt an die Kraft der Klassik, für ihre Songs aktiviert sie das Klavier als Begleitinstrument und führt damit eine zutiefst romantische Tradition fort, in der das Piano nicht nur die Stimme des Liedsängers begleitet, sondern auch psychologischer Spiegel seiner Emotionen ist. Das Album „Night of Hunters“, mit dem sie für den ECHO Klassik in der Kategorie „Klassik-ohne-Grenzen“ ausgezeichnet wird, ist eine ihrer persönlichsten CDs. Nicht nur, weil Amos hier zu ihren alten Wurzeln zurückkehrt und ihre Grundüberzeugung in Klang übersetzt: die Verschmelzung klassischer Themen mit ihrer eigenen Lyrik. Für alle 14 Werke dienen ihr klassische Melodien als Inspirationsquelle. Persönlich ist dieses Werk auch, weil Amos auf der CD gemeinsam mit ihrer Tochter aufritt. Die 10-Jährige übernimmt die Rolle der Göttin Anabelle, die den inhaltlichen Bogen des Albums spannt.


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ass Amos keine vergängliche Musik komponiert, zeigt ihr musikalisches Vorgehen. Sie versteht sich eher als Architektin des Klanges denn als Komponistin. „Manchmal gehe ich in den Straßen spazieren, und plötzlich formen sich in meinem Kopf geometrische Strukturen. Dann beginne ich, sie zu hören — es hat etwas von akustischer Architektur.“ Eine Architektur, deren Aussage uns in unseren tiefsten Gefühlen zu treffen vermag, ebenso wie die poetischen Texte der Sängerin. Auf ihrem neuesten Album „Gold Dust“ schaut Tori Amos nun auf ihre 20-jährige Karriere zurück. Ein musikalisches Leben, für das sie lange gekämpft hat — in den USA fanden ihre Lieder zunächst kein Label, Amos ging nach England, wo sie auf ein begeistertes Publikum traf. Inzwischen steht sie bei der Deutschen Grammophon unter Vertrag — als Beweis, dass Pop, Rock und Songwriting durchaus als Fortsetzung der Klassik zu verstehen sind. K LASSIK-OHNE-GRENZEN-PREIS: TORI AMOS „NIGHT OF HUNTERS“ (DG/UNIVERSAL)

Tori Amos SHATTERING SEA that is not my blood on the bedroom floor das ist nicht mein blut auf dem schlafzimmerboden that is not the glass that I threw before das ist nicht das glas, das ich zuvor geworfen habe He gets his power from tide and wave er wird durch ebbe und flut erst mächtig but grains of sand are my domain aber die sandkörner sind meine heimat. His tempest surged an angry flash seine versuchung forderte den wütenden blitz then through my arms formed a sea of glass und durch meine Arme bildete er eine meer von glas Shattering Sea erschütternde see closing my eyes ich schließe meine augen every line jede linie every curve jede kurve every twist jeder wirbel every turn of every brutal word jede drehung jedermanns brutaler welt every turn, every line jede drehung, jede linie every line, every curve jede linie, jede kurve every twist, every turn jeder wirbel, jede umdrehung every curve of every brutal word jede drehung jedermanns brutaler welt that is not my bood on the bedroom floor das ist nicht mein blut auf dem schlafzimmerboden that is not the glass that I threw before das ist nicht mein glas, das ich zuvor geworfen habe.


E CHO KLA S S IK M AG A ZIN

WIE NORDPOL UND SÜDPOL Das MÜNCHNER HORNTRIO hat es zur Meisterschaft gebracht – nun stellt es Ligeti und Brahms gegenüber und schafft aufregende Klangerlebnisse.

Warum ist Brahms’ Horntrio eigentlich so besonders? Julian Riem (Klavier): Es war eines der ersten Stücke, das in dieser Besetzung geschrieben wurde, und Brahms arbeitet darin die Charakteristik des Instrumentes perfekt heraus — das Romantische. Jeder spricht vom charakteristischen Hornklang — wie würden Sie ihn beschreiben? Johannes Dengler (Horn): Das ist sehr schwer mit Worten. Das Horn ist auf eine magische Weise anrührend, hat ein großes Farbspektrum — und vielleicht besteht sein größter Reiz darin, dass es einen indirekten Klang hat, anders als die Trompete. Müssen die anderen Musiker sich auf das Horn im Mittelpunkt einstellen? Markus Wolf (Violine): Das ist immer so in der Kammermusik. Aber das Horn stellt besondere Herausforderungen. Es gibt eine Stelle, in der die Geige das Thema vor dem

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Horn spielt. Ich habe es lange nicht geschafft, einen Ton zu finden, der passt, damit Johannes meinen Klang übernehmen kann. Dann habe ich begonnen, mir das Horn vorzustellen — und plötzlich hatte ich diese unverwechselbare Klangfarbe. Es ist beeindruckend zu sehen, wie ein Klang sich nicht allein durch die Technik, sondern auch durch die Vorstellung entwickelt. Und wie ist das mit dem Klavier? Riem: Ich habe den Vorteil, dass ich auf einem historischen Instrument spiele. Das klingt dann natürlich schon anders. Und man merkt, wenn man auf Originalinstrumenten spielt, dass man der Partitur näher kommt. Sie spielen neben Brahms auch Ligeti — er hat sein Stück zum Brahms-Jubiläum geschrieben ... Wolf: Und trotzdem sind die beiden Werke wie Nord- und Südpol. Ligeti ist eine Frage der Technik, des Zählens, Brahms eher der Trance. Dengler: Der Ligeti ist sehr schwer, weil kein Wechsel gemeinsam stattfindet. Und es ist toll, mit einem Ensemble so lange an einem Werk zu arbeiten, bis es wie im Schlaf sitzt. So ist selbst der Ligeti für uns inzwischen ein ganz natürlicher Teil unserer Körper und Gedanken geworden. Sie sind einer der wenigen Hornisten, die Natur- und Ventilhorn spielen ... Dengler: Beide Instrumente basieren auf der gleichen Art zu spielen, haben aber ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Manchmal wird ja darüber gestritten, ob der Instrumentenbau irgendwann perfekt war und jede technische Neuerung nur auf Kosten des Klanges ging. Ich halte diese Diskussion für unsinnig. Für Werke wie Brahms’ Klaviertrio erreicht man mit dem Naturhorn einen geeigneteren Klang, aber es gibt eben auch viele Komponisten, die extra für das Ventilhorn geschrieben haben — und dann sollte man dieses Instrument auch einsetzen. K AMMERMUSIK-EINSPIELUNG DES JAHRES (19. JH.)/ BLÄSER: MÜNCHNER HORNTRIO „HORNTRIOS: BRAHMS, LIGETI, KOECHLIN“ (FARAO)


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„ES IST WIE SPRECHEN“

JULIAN STECKEL ist der Shooting-Star am Cello.

Ein kluger, ambitionierter Künstler, für den die Musik eine eigene Sprache ist.

E

r liebt die Seitenwege: Bloch, Korngold und ­Gold­­schmidt — drei Komponisten, die zu Unrecht von den Konzertpodien verschwunden sind. Julian Steckel hat sie auf seiner ECHO Klassik-CD zu neuem Leben erweckt. Der Cellist, der 1982 in Pirmasens geboren wurde, hat in den letzten Jahren eine Turbo-Karriere hingelegt: 2010 hat er den ARDWettbewerb und den Publikumspreis gewonnen, sofort danach seine Professur an der Hochschule für Musik in Rostock angetreten — und: CDs aufgenommen. Jemand wie er weiß, wie dünn die Luft in der Welt der Klassik geworden ist. Seine Stelle beim Radio Sinfonieorchester Berlin hat er nach nur einem Jahr wieder gekündigt: „Ich hatte die Stelle gerade einmal eine Woche, da riefen bei mir alle möglichen Top-Orchester an: ‚Wollen Sie bei uns aushelfen?’ Als Solisten hätten sie mich nicht mehr eingeladen.“ Heute ist Steckel einer der gefragtesten jungen Cellisten. Er hat mit den Orchestern in München, Berlin, Stuttgart, Kopenhagen, Warschau und Zürich gespielt. Und mit seinen Einspielungen setzt er neue Standards. Vielleicht auch deshalb, weil die Musik für ihn sowohl eine Sache der Virtuosität als auch des Kopfes ist. Nachdem er beim großen Heinrich Schiff Unterricht nahm, war seine letzte Lehrerin eine Geigerin. Mit Antje Weithaas verliefen die Stunden oft nur in Gesprächen über musikalische Details. Es ging um Fragen wie „Ist es organisch?“, „Ist es musikalisch?“ — „Ein guter Lehrer ist wie ein Spiegel“, sagt Steckel, „musikalisches Phrasieren ist ja nichts anderes als Sprechen.“ Und genau das macht seinen ureigenen Ton aus: Die Musik wird zur Sprache, zum Gesang, zum durchdachten Wort, das mehr ist als Buchstaben — zum leidenschaftlichen, emotions­ geladenen epischen Erzählbogen. N ACHWUCHSKÜNSTLER (CELLO): JULIAN STECKEL „KORNGOLD, BLOCH, GOLDSCHMIDT: CELLO CONCERTOS“ (CAVI-MUSIK)

DAS IST EIN PAUSENBROT!

Das Ensemble L’ART POUR L’ART lässt Kinder ­u nsere Welt in Töne tauchen – das Ergebnis sind professionelle Kompositionen.

W

ie klingt ein Pausenbrot? Und wie klingt eine Pause? Gibt es unterschiedliche Formen von Stille? Und welche Pausenräume gibt es? Das ruhige Land und die hektische Stadt ... Ja, und wie bringt man all das in Töne? Das Ensemble L’ART POUR L’ART trifft in seiner Reihe „Haltbar gemacht“ Kinder und Jugendliche, um mit ihnen in das Bergwerk der Töne zu ziehen. In Einzelunterricht und in musikalischen Gruppen überlegen die Kinder zusammen mit den Profi-Musikern Klänge für bestimmte Themen. Sie erfinden nicht nur Rhythmen und Melodien, sondern — wenn es nötig ist — auch neue Instrumente. Wie klingt zum Beispiel ein Plastikbecher zusammen mit einer Flöte? Am Ende hat jeder Jugendliche ein eigenes Stück komponiert, das im Konzert aufgeführt und auf CD gepresst wird. So werden Ideen, Assoziationen und Gedanken haltbar gemacht. Ein kreatives Konzept, das zunächst mit dem Förderpreis für Musikvermittlung und nun mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet wurde. K LASSIK FÜR KINDER-PREIS: ENSEMBLE L’ART POUR L’ART „HALTBAR GEMACHT“ (NURNICHTNUR)


E CHO KLA S S IK M AG A ZIN

LOGIK ALS VOLLENDETE SINNLICHKEIT ISABELLE FAUST begegnet Beethoven und Berg

an der Seite von Claudio Abbado – und verblüfft durch unwiderstehliche Klarheit.

B

ei Beethovens Violinkonzert handelt es sich um einen Klassiker des Repertoires, um eines der wichtigsten Werke für Geige — aber das ist noch kein Grund, es innerhalb von sechs Jahren gleich zwei Mal aufzunehmen. Isabelle Faust hat eine bessere Erklärung: Die Begegnung mit dem großen Claudio Abbado. „Er hat mit die Tür zu einem neuen Verständnis und Erleben des Violinkonzerts von Beethoven geöffnet“, sagt sie. „Schon das erste Orchestertutti des Beethoven-Konzerts war von einer solchen Transparenz, Eleganz und Klarheit in der Phrasierung, dass ich wusste: Hier muss ich nur noch in den Zug einsteigen.“ Claudio Abbado, der emphatische Dirigent, sucht die Nähe zur klugen Geigerin, bei der die Logik die höchste Form der Sinnlichkeit ist. Schon das zeigt den Stellenwert der Geigerin aus Esslingen: Ihr klares, unprätentiöses Spiel, ihr Ton, der nicht der eigenen Darstellung, sondern der Tiefe der Komponisten gewidmet ist, lässt die größten Orchester und Dirigenten um sie buhlen. An der Seite von Abbado erreicht Faust eine neue Freiheit im Umgang mit der Form, sie spielt beseelt, ummantelt ihre Aussagen mit persönlicher Aura, einer Mischung aus Kühle und Hingabe. Sie klingt gleichzeitig herb und süßlich. Auf billiges Pathos oder Kitsch verzichtet sie vollkommen. Ähnlich klingt ihr Violinkonzert von Alban Berg, in dem sie das Requiemhafte und oft romantisch Überbordende entschlackt und gegen eine harmonische und melodische Analytik ersetzt. Klüger, tiefer und bestechender werden diese beiden großen Konzerte für Violine derzeit wohl kaum gespielt. I NSTRUMENTALISTIN DES JAHRES (VIOLINE): ISABELLE FAUST „BERG, BEETHOVEN: VIOLINKONZERTE“ (HARMONIA MUNDI)

ECHO K l a ssi k M ag a zi n IMPRESSUM Erscheinungsdatum September 2012 © Bundesverband Musikindustrie e. V. Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers.

Herausgeber: Bundesverband Musikindustrie e. V. Reinhardtstraße 29 10117 Berlin Tel.: 030 — 59 00 38 -0 Fax.: 030 — 59 00 38 -38 www.echoklassik.de Redaktion: Dr. Florian Drücke (V.i.S.d.P.), Rebecka Heinz Chefredakteur: Axel Brüggemann (operatext) Claudia Elsässer Projektleitung: Rebecka Heinz

Art Direktion: Dominik Schech (schech.net) Gesamtherstellung: schech.net Strategie. Kommunikation. Design. www.schech.net

Bildnachweis: Titel: Monika Rittershaus / DG // 2: ZDF // 3: BVMI // 5: BVMI, Senatskanzlei Berlin, Katja Renner/Konzerthaus Berlin// 6, 7: BVMI  // 8: iStockphoto, Maljuk // 12: Felix Broede / DG // 16: Mat Hennek // 18: Monika Rittershaus, Tony Bucking­ ham // 19: Erik Tomasson // 20: Cosimo Filippini / DG, Felix Broede / DG // 21: Mathennek / Decca, Harald Hoffmann / DG // 22: Simon Fowler / Virgin Classics // 23: Julien Mignot / Virgin Classics // 24: Mareike Foecking / DG, Emre Mollaoglu // 25: Marco Borggreve // 26: Andrew Eccles / Decca // 27: Harald Hoffmann / DG // 28: Alexander Basta, Felix Broede // 30: Elisabeth Real, Merce Rial // 31: Nicole Chuard, Jin Ju, Barbara Aumüller // 32: Lisa Marie Mazzucco, Johannes Rodach // 34: Mark McNulty / EMI // 36: Fabrice Dall-Anese // 37: Esther Haase // 38: Christopher Dunlop // 39: Margaret Malandruccolo / DG // 40: Tom Barnard, Werner Neumeister // 41: Uwe Arens // 42: Universal Music // 44: Victor de Mello // 46: Farao // 47: Marco Borggreve, Nurnichtnur // 48: Felix Broede


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