Offenbarung

Page 1

OFFENB Mit FRAU SCHMITZ wird erstmals ein Stück des Schweizer Autors Lukas Bärfuss am Schauspiel Köln zu sehen sein. Das Schauspiel spitzt die Frage nach der Geschlechtsidentität und die damit verbundenen Zuschreibungen und Rollenbilder bis ins Groteske zu. In seinem Essay beschreibt Lukas Bärfuss seine Beziehung zum Theater und den Zauber der Verwandlung.

Ein Essay von Lukas Bärfuss

Woher meine Liebe zum Theater kommt, weiß ich nicht, und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, ob es überhaupt Liebe ist. Mein Verhältnis gleicht einer Gewohnheit, einer Lebensroutine, einer gewissen Art und Weise, etwas über das Leben zu erfahren. Es sind selten grundsätzlich neue Erkenntnisse, die ich bei der Arbeit am Theater gewinne. Ich lerne, was ich einmal wusste, aber irgendwann wieder vergessen habe: Dass es im Theater und im Leben keine Abkürzungen gibt. Dass Theater zwar mit erfundenen Elementen arbeitet, aber selbst keine Fiktion ist. Dass vollkommene Stille im Theater ein Geschenk ist und niemals planbar. Oder die immer wieder erschreckende Tatsache, dass im Theater alles zum Zeichen wird und niemand diese Zeichen beherrschen kann. Und auch die schwierigste Lektion, wenigstens für einen Schriftsteller: Man kann im Theater nicht blättern. Nicht nach vorne, nicht nach hinten. Das Verpasste kommt nicht wieder. Durch die Ödnis des Augenblicks führt nur die Zeit. Das alles würde kaum genügen, um mich bei dieser Kunst zu halten, gäbe es nicht dieses Geheimnis, das, so fällt mir jetzt auf, etwas zu tun haben muss mit dem erwähnten Wiedererlernen des einst Bekannten. Jorge Luis Borges hat in seinem Essay über Shih Huang Ti und die chinesische Mauer geschrieben: »Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.« »Gewisse Dämmerungen, gewisse Orte«. Ich stamme aus einer Kleinstadt am Fuß der Alpen, einer Garnison, wo die Rüstungsindustrie und die Soldaten den Ton angaben und Kultur kaum eine Rolle spielte. Zwei-, dreimal im Jahr verirrte sich ein deutsches Tourneetheater in unseren Ort und zeigte Minna von Barnhelm oder Das Käthchen von Heilbronn. Jede Schulklasse der Umgebung wurde in die Vorstellung gezerrt, was manch einem den letzten Rest Theaterliebe ausgetrieben haben mag.

28


BARUNG Ich hatte Glück. Die Schule, die ich besuchte, war lausig und wir Schüler waren renitent. Unsereins schickte man nicht ins Theater. Uns schickte man in die Bergdörfer, wo wir den Bauern die Steine von den Weiden zu tragen hatten. Statt unsere Sitten durch Kunstgenuss zu verfeinern, steckte man uns in die Schule der körperlichen Ertüchtigung. Ich erlebte ein anderes Theater, jenes, das vom Kunsttheater immer bekämpft wurde, jedenfalls in meinem Land, das Bauern- oder Volkstheater, von Laien gespielt, in der schweizerischen Mundart, auf den Bühnen der Gasthofsäle mehr getanzt und geschrien als gesprochen oder deklamiert, im Stumpenrauch, zwischen dem Geklirr der Gläser und der Teller, nach den Gesängen der Jodlerchöre und vor der Tombola, bei der es Schinken im Brotteig und Brezeleisen zu gewinnen gab. Die Stücke waren plumpe Verwechslungskomödien, grob gezimmerte Schwänke, die ihren hauptsächlichen Reiz aus der Tatsache bezogen, dass sich vernünftige Menschen auf der Bühne zum Hanswurst machten. Mein Großvater, ein Sattlermeister, verwandelte sich in den Giiztüfel, den Geizteufel; mein Onkel, ein braver Ehemann, in einen ungeschickten Liebhaber, der überdies das französische Wort »Cortaillod« nicht richtig aussprechen konnte, worüber sich meine Mutter während der ganzen Probenzeit und lange Jahre danach ärgerte, bis sie schließlich doch noch darüber lachen konnte. Sie war als junges Mädchen als »jeune fille« bei einer vornehmen Familie in Vevey gewesen und hielt sehr viel auf die korrekte Aussprache.

nur in Strumpfhose und Unterhemd, aber schon frisiert und geschminkt. Das Parfüm, Shalimar von Guerlain, vermischte sich mit dem ordinären Geruch der Teddy-Bügelstärke. Eine Verwandlung, ja, aber ich wurde niemals Zeuge ihrer vollständigen Metamorphose. Denn erst wenn Mutter hinter dem Tresen jener mondänen Bar in der Innenstadt stand, wo sich die Halbwelt mit den Honoratioren vermischte, die Windeier Seite an Seite mit den Ehrbaren tranken; erst zwischen den Gin-Fizz und den Manhattans, zwischen den steifen Käppis der höheren Offiziere und den fettigen Krawatten der konkursiten Kleingewerbler, erst dort war die Hausfrau restlos in dieses Wesen verwandelt, von dem ich nur ein unvollständiges Abbild zu Gesicht bekam. Wenn sie mir beim Abschied einen Kuss gab, war hinter dem Kostüm und der Maske immer noch etwas von meiner Mutter erkennbar, jene Person, die das Essen kochte, die Wäsche machte und die Hausaufgaben kontrollierte. Etwas von dieser gewöhnlichen Frau blieb sichtbar, wenigstens für mich, und ich hätte die Welt darum gegeben, einmal die Königin in ihrem Reich zu sehen, um diese Zaubergestalt im Mittelpunkt der Nacht vollständig und vollendet zu erleben, und vielleicht ist es »dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt«, was sich mir wiederholt, im Theater und in der Dichtung. Erstmals erschienen in: Lukas Bärfuss: Stil und Moral, Wallstein Verlag, Göttingen 2015.

Darin liegt kein Geheimnis, höchstens die Erinnerung an ein Gefühl. Vielleicht ist das Geheimnis in jenen Nachmittagen kurz vor vier Uhr zu finden, wenn ich in unserem Badezimmer in den Genuss eines Schauspiels kam, für mich größer und erhabener als alles, was auf den Brettern der näheren Umgebung zu sehen war: In der Hauptrolle meine Mutter, die sich für ihre Arbeit in der American Bar umzog und sich von einer gewöhnlichen Hausfrau in die Königin der Nacht verwandelte. Sie besaß die wunderbarsten Kostüme. Ich erinnere mich an Hosenanzüge in goldgrünem Wechselspiel, an weinrote Plisseekleider und an Blusen mit unendlichen Rüschenkragen, und ich erinnere mich, wie sie am Bügelbrett stand und jede Rüsche einzeln bügelte, in Dampfschwaden und

29


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.