Iwanow

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IWANOW Anton Tschechow war bereits ein erfolgreicher Schriftsteller und approbierter Arzt, als am 10. November 1887 sein Dramendebüt uraufgeführt wurde. Im darauf folgenden Herbst arbeitete er das Stück noch einmal wesentlich um. Ein Brief, den Tschechow anlässlich der ersten Inszenierung dieser überarbeiteten Version an seinen Verleger und Freund Alexej Sergejewitsch Suworin schrieb, vermittelt Tschechows Blick auf die Titelfigur und zugleich einen Eindruck von seiner Arbeit als Autor. Am Schauspiel Köln bringt Robert Borgmann Tschechows Porträt eines Melancholikers auf die Bühne.


Moskau, den 30.12.1888

Lieber Aleksej Sergejewitsch, meinen Helden sehe ich so: Iwanow, ein Adliger, Akademiker, ist durch nichts bemerkenswert; er hat eine leicht erregbare, hitzige, sehr zu Enthusiasmus neigende, ehrliche und gerade Natur wie die meisten Adligen. Er hat auf seinem Gutshof gelebt und in der lokalen Verwaltung gedient. Das ist seine Vergangenheit. Seine Vergangenheit ist wunderschön, wie die der meisten russischen Intellektuellen. Es gibt keinen oder fast keinen wohlgeborenen russischen Herrn oder Akademiker, der sich nicht seiner Vergangenheit rühmt. Die Gegenwart ist immer schlechter als die Vergangenheit. Warum? Weil die russische Erregbarkeit eine spezifische Eigenschaft besitzt: sie wird rasch abgelöst durch Ermüdbarkeit. Voll Feuer, kaum der Schulbank entwachsen, nimmt der Mensch eine Last auf sich, die seine Kräfte übersteigt, nimmt sich der Schulen an, der Bauern, der rationalen Wirtschaft, hält Reden, schreibt an den Minister, kämpft gegen das Übel, applaudiert dem Guten, liebt nicht etwa einfach und irgendwie, sondern unbedingt entweder Intellektuelle oder Psychopathinnen oder Jüdinnen oder sogar Prostituierte, die er rettet usw. Aber kaum ist er 30-35 Jahre alt, beginnt er Müdigkeit und Langeweile zu verspüren, versteht aber nicht, was mit ihm vorgeht und was geschehen ist. Die Veränderung, die in ihm vorgegangen ist, kränkt seinen Anstand. Er sucht die Ursachen außerhalb und findet sie nicht; er beginnt, sie in seinem Innern zu suchen und findet sie nicht; findet einzig und allein ein unbestimmtes Schuldgefühl. Der Russe fühlt – ob jemand in seinem Haus gestorben ist, krankgeworden ist, ob er bei jemandem Schulden hat oder sich selbst etwas borgt – immer sich selbst schuldig. Zu der Ermüdung, der Langeweile und dem Schuldgefühl fügen Sie noch einen Feind hinzu. Das ist die Einsamkeit. Er lebt auf einem Gutshof. In einem Landkreis. Die Leute dort sind entweder Trinker oder Kartenspieler, oder solche wie der Arzt … Keiner will etwas wissen von den Gefühlen oder den Veränderungen in ihm. Er ist einsam. Die langen Winter, die langen Abende, ein leerer Garten, leere Zimmer, der nörgelnde Graf, die kranke Frau … Er kann nirgendwohin fahren. Darum quält ihn jeden Augenblick die Frage: Wohin mit mir? Iwanow ist müde, er versteht sich nicht, aber das Leben kümmert sich darum überhaupt nicht. Es stellt seine gesetzmäßigen Forderungen an ihn, und er muss – ob er will oder nicht – diese Fragen lösen. Die kranke Frau ist die eine Frage, der Haufen Schulden – ist eine Frage, Sascha wirft sich ihm an den Hals – ist eine Frage. Leute wie Iwanow lösen keine Fragen, sondern brechen unter ihrer Last zusammen. Sie sind verwirrt, breiten die Arme aus, werden nervös, beklagen sich, begehen Dummheiten und verlieren schließlich und endlich, indem sie ihren schwachen, schlaffen Nerven freien Lauf lassen, den Boden unter den Füßen und treten ein in die Reihen der »Gebrochenen« und »Unverstandenen«.

Ach, ich habe Sie ermüdet mit diesem Brief! Sabbath, basta! Ich wünsche Ihnen Glück zum neuen Jahr! Hurra-a-a-a! Sie Glücklicher, Sie werden echten Champagner trinken oder bereits getrunken haben, ich dagegen Plempe! Meine Schwester ist krank. Gliederreißen, hohe Temperatur, Kopfschmerzen usw. Die Köchin desgleichen. Beide liegen. Ich hoffe, es ist kein Typhus. Verzeihen Sie, mein Lieber, diesen hoffnungslos langen, zudringlichen Brief. Ich grüße alle Ihre Angehörigen, und Anna Iwanowna küsse ich die Hand. Bleiben Sie gesund.

Ihr A. Tschechow P.S.: Als ich das Stück schrieb, hatte ich nur das im Auge, was nötig ist, das heißt typisch russische Züge. Übersteigerte Erregbarkeit, Schuldgefühl, Ermüdbarkeit sind rein russisch. Die Deutschen erregen sich nie, darum kennt Deutschland auch weder Enttäuschte, noch Überflüssige, noch Müdegewordene. Die Erregbarkeit der Franzosen hält sich beständig auf ein und demselben Niveau, ohne steiles Ansteigen und Abfallen, darum ist der Franzose auch bis ins hohe Alter normal erregt. Mit anderen Worten, die Franzosen verausgaben ihre Kräfte nicht für übersteigerte Erregung; sie verausgaben ihre Kräfte mit Verstand, darum kennen sie auch keinen Zusammenbruch. Es versteht sich, dass ich im Stück keine Termini verwendet habe wie Russe, Erregbarkeit, Ermüdbarkeit usw. in der großen Hoffnung, dass Leser und Zuschauer aufmerksam sind und dass sie die Hinweistafel »Das ist keine Melone, sondern eine Pflaume« nicht brauchen. Ich habe mich einfach auszudrücken versucht, habe keine Kniffe angewandt und war weit entfernt von dem Verdacht, dass Leser und Zuschauer meine Helden bei Phrasen ertappen würden, Gespräche über die Mitgift unterstreichen würden usw. Ich habe nicht vermocht, ein Theaterstück zu schreiben. Natürlich ist das schade. Iwanow und Lwow sind in meiner Vorstellung lebendige Menschen. Ich will es Ihnen offen und ehrlich sagen, diese Menschen sind in meinem Kopf nicht aus dem Meeresschaum geboren, nicht aus vorgefassten Ideen, nicht aus »Verstandesarbeit«, nicht zufällig. Sie sind Resultate aus Beobachtung und Studium des Lebens. Sie sitzen fest im Hirn, und ich spüre, dass ich nicht um einen Zentimeter gelogen und nicht um ein Jota übertrieben habe. Wenn sie auf dem Papier nicht lebendig und undeutlich erscheinen, so sind nicht sie daran schuld, sondern mein Unvermögen, meine Gedanken zu vermitteln. Das heißt, es ist für mich noch zu früh, mich mit Theaterstücken zu befassen.

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