Sissy 7 Ausgabe September bis November 2010

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sissy

Homosexual’s Film Quarterly Ausgabe sieben · September bis November 2010 · kostenlos

s Sœur Sourire: Sing und bete!  s Wunschkind: Ein Tippfehler namens Patrik  s Daniel Schmid: Meister der Spezialeffekte  s Paris-Orly: Bodenpersonnage  s Nicht wissen wollen müssen: Kurzfilmer Stefan Butzmühlen  s Herzoperation: Die Heimsuchungen des Sébastien Lifshitz  s Im Taxi: Schwuler Sex bis zum Abwinken  s Wasser und Blut: Schwul, schwarz und artsy  s Poröser Schwellenkörper: Das Wolfsmaul  s Lisa Cholodenko: Eine von der Gewerkschaft  s LaBruce: A bloody mess  s Mittwoch: Lass uns erst mal reden!  s Sonntag: Küssen für England!  s Das Kellerloch: Michael Sollorz flirtet in Saarbrücken  s Regenbogennapf: Wiener Fundgrube


Gay-Filmnacht im CinemaxX

Kommst du mit ins Kino? 17. SEPTEMBER

Patrik 1,5

Spieltermin NEU: Einheitlicher den Kinos! für alle teilnehmen

von Ella Lemhagen 15. OKTOBER

Gay-Kurzfilmnacht 19. NOVEMBER

Plein Sud

von Sébastien Lifshitz

TEILNEHMENDE KINOS UND UHRZEITEN Augsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Berlin Potsdamer Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.00 Uhr Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr

Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Hamburg-Wandsbek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Hannover Niko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Magdeburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.15 Uhr

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München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Offenbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Oldenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Stuttgart an der Liederhalle . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Wuppertal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr


vorspann

Sissy sieben Es ist nicht zu übersehen – die SISSY ist etwas dick geworden. Aus schönem Anlass: Das überreiche queere Filmangebot in den deutschen Kinos füllt dieses Mal mühelos bisherige 32 und weitere zwölf Seiten. Nicht nur, dass sowohl der Spielfilm- (The Kids Are All Right) als auch der Dokumentarfilm- (La Bocca Del Lupo) Teddy-Gewinner der diesjährigen Berlinale ins Kino kommen, auch das Spektrum ist atemberaubend. In den nächsten drei Monaten bringen zwei der renommiertesten Regisseure des französischen Kinos ihre neuen Filme nach Deutschland (Ozon, Lifshitz), es gibt queere Mumblecore- und Berliner-Schule-Beiträge, den lang erwarteten Film über den Filmemacher Daniel Schmid, Zombie-Trash, Klassiker, Aufreger, Nischenfutter und gediegenes Arthouse-Kino. Und da ist noch nicht mal der Cannes-Gewinner dabei, den es auch ab September auf den Leinwänden zu bestaunen gibt: Apichatpong Weerasethakul, einer der aufregendsten Bildermacher unserer Zeit und Regisseur des Queer-Cinema-Klassikers Tropical Malady präsentiert Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben. Darin verwandeln sich Männer in Frauen, Menschen in Tiere und Verstorbene in Geister – auch das ist ein Beitrag über die ständige Veränderbarkeit von Identitäten und sei an dieser Stelle einfach mal all jenen empfohlen, die im Kino tatsächlich neue Erfahrungen machen möchten. Erwähnen möchten wir außerdem, dass die SISSY als schwärmerisches Fachblatt für den nicht-heterosexuellen Film einen kleinen Bruder bekommen hat: vor Kurzem ist in den USA „Uncle Boonmee …“ ab 30. September im Kino (Movienet, www.movienetfilm.de). die erste Ausgabe von „Little Joe“ erschienen, „a magazine about cinema and queers, mostly“. Der Herausgeber Sam Ashby ist wie viele von uns noch maßgeblich von den VHSZeiten geprägt, in denen man in bestimmten, für sich selbst bedeutsamen, meist erotisch aufgeladenen Momenten das Band an einer bestimmten Stelle einfach anhielt und es damit (und durch mehrmalige Wiederholung des Vorgangs) auf Dauer zerstörte. Doch um diese Momente geht es eben, der Sissy genauso wie dem kleinen Joe. Beide Hefte gibt es im Buchladen Ihres Vertrauens, bestimmt auch in dem, den wir auf Seite 45 porträtieren.

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mein dvd -regal

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richard dyer

Richard Dyer, Filmwissenschaftler

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kino

Zum Niederknien von J e s sic a E l l en

Ende der 1950er Jahre flüchtet die lebenslustige Jeannine vor ihrer kontrollsüchtigen Mutter und den Avancen ihrer besten Freundin Annie ins Kloster, um ausgerechnet dort ein Schlagerstar zu werden. Die „Schwester des Lächelns“ gab es wirklich und ihr Hit „Dominique“ verdrängte damals Elvis und die Beatles aus den Charts. Stijn Coninx hat den Weg der singenden Nonne zur emanzipierten und lesbischen Frau in einem Spielfilm nachgezeichnet, der im September in der L-Filmnacht laufen wird.

s Gerade meine exkatholischen Freundinnen, die nicht selten Klosterschulen durchlitten haben, finden es seltsam, dass ich als jüdische (und lesbische) Cineastin ausgerechnet auf Nonnenfilme stehe. Aber mit meiner Schwäche für Nonnen bin ich wahrlich nicht allein: Schon vor Jahren erschien das spannende Büchlein „Schwesterlich, keusch und ohne Makel?“, herausgegeben von Samanta Maria, auf dessen Einband zwei küssende Nonnen zu sehen sind. Der Nonnenfilm ist tatsächlich ein eigenes, oft lesbisch konnotiertes Genre ohne männliches Pendant, wenn wir mal von Ausnahmen wie dem – schon in Umberto Eccos literarischer Vorlage – eher schwulenfeindlichen Der Name der Rose absehen. 6

Der Nonnenfilm bot schon vielen weiblichen Filmgrößen wie Deborah Kerr, Vanessa Redgrave, Audrey Hepburn, Glenda Jackson, Shirley Maclaine, Carmen Maura und zuletzt Barbara Sukowa in Margarethe von Trottas rundherum gelungenem Biopic Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen Gelegenheit, als Charakterdarstellerin im Habit zu glänzen. Cécile de France als Protagonistin in Sœur Sourire – Die singende Nonne ist da keine Ausnahme. Allein schon die Wandlung dieser schönen, leicht androgynen Schauspielerin vom bebrillten, verklemmten Baby Butch zur Nonne und schließlich zu einer gereiften Liebenden macht diesen Film unbedingt sehenswert. Kein Kind der 50er und 60er Jahre kam an ihrem Hit „Dominique“ vorbei: Über die Belgierin Jeannine Deckers, genannt „Sœur Sourire“ oder „die singende Nonne“ und ihre Klampfe wurde schon damals, als sie noch lebte und auf dem Zenith ihres Ruhmes stand, ein Hollywood-Film mit dem Titel The Singing Nun gemacht. Sein Nachfolger Sœur Sourire ist nun keineswegs ein Remake, sondern erzählt die ganze Geschichte bis zum bitteren Ende. Mit einer Laufzeit von 120 Minuten ist der Film zwar lang, aber nie langatmig. Dabei nimmt er sich zwar ein paar künstlerische Freiheiten bei der „lächelnden Schwester“ heraus, wie z.B. dass sie bereits Gitarre spielt, als sie ins Kloster eintritt, während das reale Vorbild es erst im Kloster lernte; im Großen und Ganzen hält er sich aber an die biographischen Tatsachen und vermeidet Klischees. Fröhlich, wie der titelgebende Künstlername „Sœur Sourire“ und jenes Lied, das sie zum Popstar katapultierte, ist er allerdings nicht. Jeannine Deckers’ Tragik entsteht zwar nicht aus ihrem zunächst abgewehrten und später gelebten Lesbischsein oder ihrer Liebe zu einer bestimmten Frau, denn wie im wirklichen Leben ist beides kein Bollwerk gegen das Scheitern am Leben. Scheitern an einer Zeit, in der selbst das Gerücht, homosexuell zu sein, verbreitet von einer damals wie heute notorisch sensationsgeilen Presse, reichte, um den Job zu verlieren. Die lesbische Exnonne als Opfer? Oder eines jener eindimensionalen „Aufstieg und Fall“-Künstlerinnen-Biopics, wie sie


gerade im neueren französischen Kino (ich denke z.B. an Françoise Sagan, Edith Piaf u.a.) so häufig sind? So einfach macht es sich der Film nicht. Was hier verhandelt wird, ist vielmehr weibliche Kreativität und das damit verbundenen Geltungsbedürfnis, das sich an komplexen Strukturen aufreibt. Singende und komponierende Ordensschwestern an sich sind keine Erfindung der Neuzeit, sondern haben eine Jahrhunderte alte Tradition; hierfür ist die Äbtissin Hildegard von Bingen das bekannteste Beispiel. Doch dass eine Novizin aus der Masse des Chores heraustritt und mit ihrer individuellen Stimme in kürzester Zeit eine riesige Öffentlichkeit erreicht, ist ein Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts, in dem die Kirche zugleich eine Chance zur Verbreitung ihrer Botschaft mit zeitgemäßen Mitteln, eine Einnahmequelle und ein Problem sieht. Das Problem ist die „Sünde des Hochmuts“, welche zu begehen diejenige in Gefahr ist, mit deren Gabe sich doch der Orden schmücken will. Deshalb wird die „singende Nonne“ zunächst anonym vermarktet, was einerseits den Ordensinteressen entgegenkommt, andererseits aber die Medien anstachelt, das Geheimnis um ihre Person zu lüften. Das funktioniert wie der Nonnenhabit selbst, der ja besonders die erotisch prickelnde Neugier darauf weckt, was sich wohl für ein Körper darunter verbirgt. Für Jeannine ist das Gewand ein Schutz vor der eigenen schlaksigen Körperlichkeit, dem eigenen unbeholfenen Begehren. So ist ihre Enttarnung eine zwiespältige Erfahrung, die sie gleichwohl genießt wie den Ruhm, von dem sie nicht will, dass er ihr und ihrem erwachenden Ehrgeiz vorenthalten wird. Sie hat Blut geleckt und weiß sich zu behaupten. Das plötzliche Interesse ihrer Mutter, die ihre Tochter eigentlich nicht wiedersehen wollte, sollte diese ins Kloster gehen, durchschaut sie sofort und weist es zurück. Jeannine ist kein Opfer. Es gibt immer wieder Menschen, die an Jeannine glauben; sogar die Mutter Oberin, die ihr zunächst die Gitarre wegnimmt und sie ziemlich brutal diszipliniert, berücksichtigt ihre Wünsche dann doch und will sie halten. Das tut sie zwar nicht ohne finanziellen Eigennutz und mit dem liberalen Rückenwind des Zweiten Vatikanischen Konzils, aber ein auf Hierarchien und Gehorsam beruhendes System verträgt nun mal nicht allzu viel Dissens. Außerdem war Jeannine – im Gegensatz zu früheren Frauengenerationen – freiwillig und aus Überzeugung ins Kloster gekommen. Jeannines Beichtvater, den sie ziemlich rüde aus dem Beichtstuhl zerrt und unter Vorwürfen gegen die Wand drückt, lässt sich dadurch nicht einschüchtern und ermutigt sie sogar, wenn auch indirekt, ihren lesbischen Neigungen zu folgen. Ihr Manager versucht alles, um Jeannines Karriere zu retten, aber gegen Feigheit und Opportunismus der Konzertagenturen ist er genauso machtlos wie gegen Jeannines Enttäuschung und Kränkung. Der Regisseur Stijn Coninx interpretiert Jeannine als eine Frau voller Widersprüche. Provokant und ängstlich, stolz und selbstzweiflerisch, freiheitsliebend und auf der Suche nach einer festen Struktur, die sie hält und vor sich selbst schützt. Unentschlossen und voller Sehnsucht nach Verbindlichkeit, ist sie ständig auf der Flucht: Vor der lieblosen Mutter flieht sie mit der Schwester im Tagtraum nach Afrika, vor der Verliebtheit ihrer Freundin auf der Kunsthochschule, die für Selbstverwirklichung steht, hinter die Klostermauer zur Selbstverneinung, zu der sie aber auch nicht fähig ist. Sie rebelliert, besteht auf ihre individuelle Kreativität, wird berühmt, verlässt das Kloster und zieht, noch immer voller Abwehr, mit ihrer Freundin zusammen. Mit allem ist sie vollständig überfordert. Am meisten jedoch damit, dass ihre Karriere, die so phänomenal begann, an eben jenen Instanzen scheitert, die sie anfangs förderten – den Medien und der Kirche. Ohne ihr Habit ist sie einfach nur eine junge Frau mit einer guten Stimme. Ihre brave Musik und Kleidung langweilen die Popfans, ihr Loblied auf die Pille ruft die katholische Kirche auf den Plan, die es der verlorenen Tochter heimzahlen will. Zudem

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kino

hat sie versäumt, sich die riesigen Summen, die sie verdient hat und die ihr Orden für sich einstrich, quittieren zu lassen. So fordert das Finanzamt entsprechende Steuern von ihr, die sie nicht zahlen kann – die einzige Stelle im Film, an der Verzweiflung mit harmonischen Bildern verliebter Zweisamkeit zugekleistert wird. Schließlich nimmt sie sich mit ihrer Freundin in ihrem Haus das Leben – dezent werden die Rollläden davor heruntergelassen. Ihre Schwester, die tatsächlich als Ärztin nach Afrika gegangen ist, erhält ihren stark beschönigenden Abschiedsbrief. So endet Jeannines Leben, wie sie es gelebt hat: in dem Widerspruch, als immer noch gläubige Katholikin den Suizid zu wählen, den die Kirche verdammt. Warum dieser Film mich besonders berührt? Meine katholische Großmutter Hilde, Jahrgang 1906, zweifelte als Mädchen in Wien lange, ob sie ins Kloster oder auf die Bühne bzw. vor die Kamera wollte. Ähnlicher Konflikt, doch andere Lösung: Sie wurde Schauspielerin und spielt mit besonderer Hingabe Nonnen, deren Alltag sie persönlich und mit Wohlgefallen bei Klosteraufenthalten recherchierte. An einen ihrer Filmtitel erinnere ich mich noch, weil er so schön klang: Ave Maria. An seine Seite ist nun Sœur Sourire getreten. s

Sœur Sourire – Die singende Nonne

von Stijn Coninx FR 2009, 124 Minuten, dt. SF Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

L-Filmnacht am 24. September www.l-filmnacht.de Anschließend in ausgewählten Kinos

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kino

Schwieriges Alter Männer mit Kinderwunsch sind eine Rarität im schwulen Film. „Patrik 1,5“ will das ändern – mit einer so charmanten wie ungewöhnlichen Patchwork-Familien-Komödie, die im September in der Gay-Filmnacht und danach in ausgewählten Kinos zu sehen sein wird.

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von M a i k e Sch u ltz


s Was für eine Wohltat! Nicht nur das lesbische Kino, auch das schwule hat sich also auf die Fortpflanzungsproblematik eingeschossen. Nachdem einem jüngst viele Kurzfilme (eigentlich das innovativste Genre) den lesbischen Kinderwunsch in so vielen Variationen vorsetzte, dass einem nun wirklich jede Sehnsucht nach Befruchtung vergehen konnte, kommt nun dieser kleine, feine Film aus Skandinavien daher. Und siehe da, diesmal sind es zwei Männer, die in die Vorstadtsiedlung gezogen sind, um ihren Traum von Haus, Garten und Baby zu leben. Wurde ja auch Zeit, 22 Jahre nach Paul Bogarts Film Torch Song Trilogy – Das Kuckucksei, in dem Harvey Fierstein ein Kind mit Matthew Broderick adoptierte. Zwar ist die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit unter Schwulen kein neues Phänomen. Dass ein Kinofilm sich dieses Themas annimmt, passiert dagegen äußerst selten, und so überrascht es dann doch wieder wenig, dass die Idee für Patrik 1,5 von einer Frau stammt. Ella Lemhagen, Drehbuchautorin und Regisseurin (Tsatsiki – Tintenfische und erste Küsse) aus Stockholm, erzählt darin die Geschichte der Schweden Göran und Sven, eines jener wohlsituierten Ehepaare, wie sie im Vorortidyll an jeder Ecke wohnen. Nur dass diese Orte meist ziemlich heteronormativ geprägt sind. Besonders der von Arzt Göran und Unternehmer Sven, in dem sogar eine Bürgerwehr für Recht und Ordnung sorgt. Wunderbar selbstverständlich siedelt Lemhagen ihre Protagonisten mitten im Wahnsinn dieses Beziehungs-Mainstreams an; blumenverkitscht wie in der schönsten Hollywood-Romanze, aber abgründig, wie es wohl nur die US-Fernsehserie Desperate Housewives besser kann. Da ist zum Beispiel der Nachbar, der sich weigert, seine Kinder von Göran behandeln zu lassen. Ein anderer wiederum hält Görans niederschmetternde Diagnose vor seiner Frau geheim und erträgt lieber stillschweigend ihre Affäre mit dem Familienvater von gegenüber; jener promiske Vater, der das schwule Traumpaar nicht zur Gartenparty einlädt, im Grunde aber selbst nichts gegen einen jungen Liebhaber hätte. Vor allem aber sind da Göran und Sven, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Kind, um ihr Glück perfekt zu machen. Sven hat sogar schon eines, eine Tochter aus früherer Ehe, mitten in der Pubertät und nicht eben froh über den Lebenswandel ihres Herrn Papas. Vielleicht wirkt dieser deshalb etwas weniger enthusiastisch als sein Gatte, der am liebsten täglich in der Adoptionsbehörde vorsprechen würde. Als das Amt endlich einwilligt und per Brief einen kleinen „Patrik 1,5“ verspricht, ist die Freude bei beiden groß – und umso größer die Irritation, als wenige Tage später ein 15-Jähriger vor der Tür steht. Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Problemkind! Dass es nichts wird mit dem Babywunsch, ist hier ausnahmsweise mal nicht der Sexualität der Antragsteller, sondern allein einem menschlichen Versagen verschuldet: Ein schlichter Tippfehler holt Göran und Sven einen homophoben Kleinkriminellen ins Haus, der die ganze Welt, vor allem aber seine neuen Zieheltern hasst. Da können sie lange hoffen, dass es sich bei ihrem Patrik um eine Verwechslung handeln muss. Fortan brauchen sie ihre „Babywatch“-Kamera zur Überwachung eines verstoßenen, schwer erziehbaren Gewalttäters, der doch eigentlich nichts anderes will, als endlich geliebt zu werden. Nun kann man sich schon denken, wohin der Hase läuft in dieser Filmhandlung, in der die Streithähne doch viel voneinander lernen können. Jene Vorurteile, die es Patrik so schwer machen, die Männer zu akzeptieren, sind es natürlich auch, die letztlich alle verbinden: Immerhin gehören beide Parteien einer Minderheit an, die sich den Respekt ihrer Umwelt erst erkämpfen muss, was Patrik und Göran dann auch zunehmend zusammenschweißt. Im Grunde ist das Kuckuckskind nämlich ein ziemlich lieber Kerl, der viel mehr über Hortensienpflege weiß, als seine „Fuck you, you fucking fuck!“-ShirtAttitüde je erahnen lassen würde. Eine herrliche Szene ist das, wenn das komplette Viertel den Adoptivsohn als Gärtner anheuert, der sich kurz zuvor noch als Schreck ihrer „Homos, Homos!“ krähenden Kinder erwiesen hat. Nur Sven tut sich mit dem Rabauken schwer, oder

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vielleicht auch damit, dem Patchwork-Familienleben zuliebe seine Freiheit zu opfern. Schon bald sehnt sich der überforderte Macho nach seinem alten Partyleben in der Stadt zurück – und stellt seine Beziehung mit einer Flucht auf eine harte Bewährungsprobe. So gelingt es Ella Lemhagen, aus einem simplen dramaturgischen Einfall ein Drama zu kreieren, das auf vielen verschiedenen Ebenen funktioniert. Völlig zu Recht erhielt ihr vierter Spielfilm den Zuschauerpreis beim San Fancisco International Lesbian & Gay Film Festival und den Hauptpreis beim Verzaubert Festival, das er 2009 eröffnete: Schonungslos entlarvt sie die Verlogenheit des schönen Scheins, in dem sich die Nachbarschaft des Männerpaares ihr warmes Nest errichtet hat. Und nicht minder behutsam nutzt sie den pöbelnden Teenager in diesem Mikrokosmos als Spiegel, um ein Psychogramm der beiden Hauptfiguren zu zeichnen. Während der schüchterne Göran gemeinsam mit Patrik einen Weg findet, sich als Außenseiter gegen die Spießer um ihn herum zu wehren, wird Sven durch die komplizierte Erziehungsaufgabe mit seiner ureigenen Angst vor Verantwortung konfrontiert. In seiner ungewöhnlichen Erfüllung entzweit der Zukunftstraum die liebenden Partner, Bedürfnisse kollidieren im Alltag, und plötzlich beginnt der Zuschauer sich zu fragen, ob ein Anderthalbjähriger die Sache eigentlich viel besser gemacht hätte. Selbst das Happy-End ist glücklicherweise nicht so angelegt, wie es nach all den Irrungen und Wirrungen vielleicht erwartbar gewesen wäre, und so weiß man gar nicht, ob man denn nun lachen oder weinen soll. Was bleibt ist der Wunsch, noch viel mehr Filme wie diesen zu sehen: Zwei Schauspieler, die mit Berlinale-Shooting-Star Gustaf Skarsgård als Göran und Torkel Petersson (Kops) als Sven keine schwulen Abziehbilder, sondern einfach die netten Typen von nebenan verkörpern. Und das authentische Porträt einer Generation, die das Coming-Out schon hinter sich hat, mitten im Leben steht und sich dort angekommen fragen muss, was sie von diesem eigentlich erwartet. Schließlich ist nichts so spannungsgeladen wie vermeintliche Normalität. s

Patrik 1,5

von Ella Lemhagen SE 2008, 105 Minuten, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

Gay-Filmnacht am 17. September www.gay-filmnacht.de Kinostart: 7. Oktober

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Aus der Traurigkeit heraus von A nge l i k a Ngu y en

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Aus dem Nichts heraus trifft Marion die Entscheidung, mit 50 noch einmal ihr Leben zu ändern und verlässt ihre Familie für eine andere Frau. Doch auch Claude hat zu viel erlebt, als dass sie sich umstandslos auf eine neue Liebe einlassen könnte. Der französische Film „Out Of The Blue“ über zwei reife und komplexe Frauen und ihre Entscheidung für einen neuen Lebensabschnitt begeisterte in Frankreich das Publikum und die Presse und läuft im Oktober in der L-Filmnacht. Allein die beiden Hauptdarstellerinnen Mireille Perrier („Orly“) und Rachida Brakni („Barakat!“) sind das Drama wert!

s Programmatisch beginnt der Film mit Marions Spiegelbild, das sie kritisch mit ihren fast 50 Jahre alten Augen betrachtet. So intensiv und traurig sieht Marion sich an, dass die Zuversicht erwacht, hier ginge es nicht nur um kosmetische Probleme. Das wird belohnt, denn fünf Minuten später trennt Marion sich von Paul, nach über 20 Jahren Ehe. Sie zieht in eine eigene Wohnung und reserviert auch der 17-jährigen Tochter Justine ein Zimmer. Als Marion dann der schönen Antiquitätenhändlerin Claude mit den großen Augen begegnet, nähern sie sich zunächst einander an wie tagtäglich viele Frauen – mit Sympathie und ähnlichen Sorgen. Sie lachen zusammen über ihre Erfahrungen als Ehefrauen. Sie machen sich gegenseitig Komplimente über ihre gut in Schuss gehaltenen Körper. Erst auf einer gemeinsamen Reise stellt sich der Verdacht ein, es könne sich um romantische Liebe handeln, es ginge um Verlangen, Sinnlichkeit, gar Sex – und um all die Kämpfe einer regelrechten Amour Fou. Bin ich’s oder bin ich’s nicht? Diese Frage reißt die eher bürgerliche Marion in eine tiefe Verunsicherung. Coming-Out. Out Of The Blue. Wird Marion herauskommen? Normalerweise ist beim Verlieben die Welt doch ein einziges Ja. Ja zur begehrten Person, Ja zur Welt, Ja zu allem, was den anderen oder die andere ausmacht. Ja, ja, ja. Die Liebe zwischen Marion und Claude hingegen beginnt mit einem Nein. Von beiden Seiten. Denn Marion will nicht lesbisch sein, und Claude, die in Trauer ist, will nicht noch einmal solche Schmerzen erleben. Diese Liebe hier überfällt die Frauen nicht wie ein Raubtier, benimmt sich eher wie ein scheues Reh. Für’s Erste verursacht sie Rückzug und Kontaktabbruch. Und selbst später, nach der ersten gemeinsamen Nacht, fühlt Marion sich immer noch fremd in dieser Gleichgeschlechtlichkeit. „Ich fühle mich wie ein Mutant“, sagt sie zu Claude. Dabei steht Marion sonst selbstbewusst im Leben, arbeitet engagiert als Lehrerin. Statt sich in ihre Gefühle fallen zu lassen, reflektiert sie darüber. Auch ihrer Toch10

ter will sie es nicht sagen. Am Ende hilft ein schwerer Unfall den beiden, sich füreinander zu entscheiden. Out Of The Blue ist in gewisser Weise ein politischer Liebesfilm. Regisseur Alain Tasma verstand sich schon zuvor als politischer Filmemacher, als er einen dokumentarischen Spielfilm über das französische Nationaltabu des 17. Oktober 1961 drehte, den Tag des Massakers französischer Polizisten an Hunderten algerischer Demonstranten. La Surprise, so der Originaltitel, ist kein Lesbenfilm für das Independent-Kino, sondern einer für ein breiteres TV-Publikum. So ist der Film durchweg auch ein bisschen Aufklärung, beispielsweise durch die Abarbeitung von Vorurteilen wie jenen von Marions ExMann („Dann lass uns einen Dreier machen!“) oder konservativer Haltungen der Tochter („Ihr widert mich an!“), des Widerstandes von Marion in sich selbst. Vielleicht wird deshalb manchmal mehr miteinander geredet als erlebt. Marions und Claudes Sinnlichkeit füreinander bleibt unter den Kleidern verborgen, die sie öfter an- als ausziehen, Sexszenen gibt es keine. Es ist ein Film, der vor allem den Prozess einer Bewusstwerdung zeigen will. Eine Frau schwimmt ans andere Ufer, will manchmal umkehren, manchmal lieber untergehen. Liebe passiert einfach jenseits von Ideologie, erzählt der Film. Besonders Mireille Perrier als Marion zeigt schmerzhaft und genau den inneren Kampf einer Frau, die gleichgeschlechtliche Verliebtheit zunächst als Identitätskrise erlebt. Die Darstellerin der Claude, Rachida Brakni spielt wiederum dramatisch herb und extrem verletzbar die ganz normale Furcht eines Menschen, sich nach einer kaum überstandenen großen Liebe neu auf jemanden einzulassen. So sind die Hindernisse beidseitig, aber auch die Annäherungen. Wenn die eine das letzte Mal den Kontakt abbrach, knüpft ihn die andere neu. Zu Ende ist es nie. s

Out Of The Blue

von Alain Tasma FR 2007, 90 Minuten, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

L-Filmnacht am 29. Oktober www.l-filmnacht.de


L-Filmnacht im CinemaxX

Spieltermin NEU: Einheitlicher den Kinos! für alle teilnehmen

Gute Filme, lange Nächte, viel L-Gefühl! 24. SEPTEMBER

Sœur Sourire – Die singende Nonne von Stijn Coninx 29. OKTOBER

Out Of The Blue von Alain Tasma 26. NOVEMBER

L-Kurzfilmnacht

TEILNEHMENDE KINOS UND UHRZEITEN Augsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Berlin Potsdamer Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.00 Uhr Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr

Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Hamburg-Wandsbek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Hannover Niko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Magdeburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.15 Uhr

WWW.L-FILMNACHT.DE Karten unter www.cinemaxx.de

München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Offenbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Oldenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Stuttgart an der Liederhalle . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr Wuppertal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21.00 Uhr


stefan butzmühlen

kino

Ich bin nicht der Markt.

sissy: Sag mal, wie arrogant muss man eigentlich sein, um „Filmregisseur“ werden zu wollen? Stefan Butzmühlen: Nicht so sehr, glaube ich. Natürlich muss ein gewisses Grundbedürfnis vorhanden sein, sich ausdrücken zu wollen, und Dinge in die Welt zu stellen. Und es gibt auf der Hochschule auch einige, die das falsch verstehen und sich vor allem dabei toll vorkommen, beim Film zu sein. Aber ist Filmemachen nicht etwas unglaublich Narzisstisches? Wenn man es so versteht, dass man sich gerne viel mit sich selbst beschäftigt und seine daraus resultierende Sicht auf die Welt im Film zur Disposition stellt, dann muss Narzissmus ja überhaupt nichts Negatives sein.

I n t e rv i ew: Pau l Sch u l z

Im Oktober wird es eine Gay-Filmnacht, im November eine L-Filmnacht nur mit Kurzfilmen geben. Das heißt: junges queeres Filmschaffen von heute, zum Teil frisch von den Filmhochschulen dieser Welt. Nachdem wir in der SISSY 4 schon mal eine junge Filmemacherin über die Bedingungen, Freiheiten und Widerstände befragt haben, am Anfang der Regie-Karriere mit queeren Themen zu jonglieren, sprechen wir diesmal mit Stefan Butzmühlen, der Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam studiert und dort den Kurzfilm „Nach Klara“ gedreht hat, der in der Gay-Kurzfilmnacht im Oktober zu sehen sein wird.

Herr Butzmühlen kommt ein bisschen zu spät, weil sich das Wetter in Berlin-Kreuzberg nicht entscheiden kann, ob es jetzt Sturzbachregen oder Spätsommer sein möchte. Als er sein Fahrrad angeschlossen hat, ist er ein bisschen nass, aber ziemlich fröhlich. Er raucht während des gesamten Gesprächs, macht lange Denkpausen, bevor er antwortet, und lächelt viel. 12

Was hast du auf der Filmhochschule gelernt? Um ehrlich zu sein, habe ich da bisher gar nicht soviel gelernt wie ich dachte. Ich bin da auch nicht wirklich oft. Ich hatte mir das alles ein bisschen anders vorgestellt. Wie denn? Ich habe gedacht, wir reden im Studium mehr über Film, tauschen uns aus, loten Möglichkeiten aus, wie man Sachen anders machen kann. Davon passiert aber nicht viel. Was passiert denn? Es wird viel geredet von einem Handwerk … Aber ist Filmregie das nicht auch? Ja, auch. Aber ich weiß gar nicht so genau, ob man das wirklich jedem gleich beibringen kann. Wenn von Handwerk die Rede ist, geht es eigentlich immer um das Handwerk Hollywoods, sozusagen als Grundweisheit – aber ein Schreiner muss doch ein anderes Handwerk lernen als ein Schlosser und da komm ich mir einfach manchmal wie in der falschen Lehre vor und denke, dass man sich mit mehr auseinandersetzen könnte …


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Und das unterstützt die Hochschule nicht? Eigene Sichtweisen stehen nicht unbedingt im Vordergrund, nein. Ich habe das Gefühl, man soll da eher auf „den Markt“ vorbereitet werden. Und ich bin nicht der Markt. Sondern? Ich kann mit Genrebegriffen nicht so viel anfangen und kann meine Geschichten in diesen Grenzen auch nicht so gut erzählen. Was für Geschichten sind das? Ich bin ein eher unsicherer Mensch. Sich hinzustellen und zu sagen „So ist das!“, ist nicht meine Art. Ich mag die Zwischenstufen im Leben gern. Die Räume und Momente, wo Platz für Möglichkeiten ist. Ist es als Regisseur nicht eher unpraktisch, unsicher zu sein? Unsicherheit ist vielleicht auch das falsche Wort. Zweifel trifft es eher. Ich zweifle gern. Und erzähle auch gern davon. Weil ich Zweifel einen wichtigen Motor im Leben finde, für Entwicklung und Bewegung. Ich mag es ganz gerne, wenn man Dinge nicht so genau weiß, wenn nicht alles in drei Akten aufgefädelt wird, wenn die Figuren nicht sind wie ein offenes Buch und man dem Publikum nicht vorschreibt, was es zu empfinden hat. Ich mag es, Gegenbilder zum Allgemeingültigen zu zeigen.

EINSCHUB: Genau für diese Qualität ist Butzmühlen gerade ausgezeichnet worden. Sein Kurzfilm „Nach Klara“ hat bei den 56. Kurzfilmtagen in Oberhausen den 3sat-Förderpreis bekommen. Die Jury begründet ihre Entscheidung so: „Ein junger Mann erlebt das Gefühl des Begehrtwerdens. Mit formaler Leichtigkeit inszenierte Momentaufnahmen aus dem Leben eines jungen Mannes, der nach sexueller Orientierung sucht und sich doch nur dem flüchtigen Augenblick hingeben kann.“ Das Schöne: Butzmühlen belässt es bei der Suche, Ergebnis: offen. Wir verlassen den Protagonisten, während er noch nicht weiß, ob er „Nach Klara“ jetzt schwul wird oder nicht. Es gibt da einen Mann, den er wirklich mag, aber rauszufinden, ob er wirklich öfter als das erste schöne Mal mit dem schlafen will, ist erst mal wichtiger als sich gleich eine neue Identität überzustülpen. Dadurch erhält „Nach Klara“ ein schwebende Qualität, die nicht nur professionelle Jurys beeindruckt. Ist es leicht, auf der Filmhochschule für diese Haltung Mitstreiter zu finden? Ja und nein. Ich habe ein paar Leute, mit denen ich schon relativ lange zusammenarbeite und die ich gut kenne. Meine Cutterin Maja Tennstedt zum Beispiel. Aber sonst ist das nicht so einfach. Nach Klara war eine schwierige Arbeit, weil ich bis auf Maja nicht mit meinen Leuten arbeiten konnte, mit denen ich vor der Hochschule angefangen habe Filme zu machen, sondern mit anderen drehen musste. Wie kommt das? Die Projekte werden folgendermaßen zusammengestellt: Es gibt eine große Vorstellungsrunde vor dem gesamten Jahrgang. Alle versammeln sich im Kino der Hochschule und jeder Regisseur stellt sein Projekt vor. Dann wartet er auf seinem Platz darauf, wer sich zu ihm gesellt, weil er den potentiellen Film auch spannend findet. Klingt wie die Auswahl beim Schulsport. Mit dem altbekannten Gefühl „Lieber Gott, lass mich hier nicht als Letzter alleine stehen, bitte!“ Fühlt sich auch ein bisschen so an.

Ist das ein Problem? Nein. Ich finde das eher interessant (lacht). Was bist du denn? Nach Klara hat einen autobiografischen Einschlag: Es gab diesen Mann, der mich wollte und das hat mir gefallen. Und es gibt diese Verunsicherung in mir, dieses Gefühl, es nicht zu wissen. Und auf der anderen Seite auch das Bedürfnis, gar nicht wissen wollen zu müssen. Ich habe gerade eine Freundin und das ist wunderschön und passt total. Aber die queere Szene ist sehr wichtig für mich. Weil es da eben bestimmte Fragen gibt: Bin ich schwul, weil ich mal mit Männern schlafe? Bin ich hetero, weil ich eine Frau liebe? Ist das nicht egal, ist Identität so unglaublich wichtig? Und wenn doch: Wie stabil sind solche Begriffe wie schwul oder hetero, wie viel davon lässt man sich von außen vorschreiben, wie viel kommt aus einem selbst? Wie fortschrittlich. Ach was. Ich kann ja nur die Geschichten erzählen, die ich auch verstehe. Und mit meiner kleinen Filmfamilie kann ich das halt. Ich fühle mich da aufgehoben und erkannt und gut. Und deswegen war es so schwer, Nach Klara mit Leuten umzusetzen, denen dazu gar nichts einfällt. Film, so wie ich ihn gerne mache, ist ein Prozess, bei dem man gemeinsam herausfindet, wie es geht. Anderen vorzuschreiben zu müssen, wie sie Dinge machen sollen, find ich nicht gut. Ich mag es, wenn Menschen eigene Ideen haben und die mitbringen. Wie war denn das Echo auf der HFF, als der Film fertig war? Es sind ein paar zurückhaltend freundliche Dinge gesagt worden. Aber es wurde schon gefragt, warum ich nicht stringenter erzähle und mein Publikum so im Unklaren lasse. Als der Film dann auf Festivals lief und sogar Preise gewann, wie war das? Schön. Ich muss gestehen: eine Genugtuung, irgendwie. Es gab in den letzten zwei Jahren eine ganze Reihe interessanter Kurzfilme von der HFF, die mehr oder weniger eine schwule oder queere Thematik hatten, und die jetzt zusammen mit „Nach Klara“ auf einer DVD gelandet sind. Fühlst du dich gut aufgehoben und gibt es so was wie ein queeres Netzwerk an der Hochschule? Ein queeres Netzwerk würde ich nicht sagen. Mit Josephine Frydetzki aber z.B., die mit B96 mit auf der DVD vertreten ist, habe ich vor zwei Jahren einen Filmclub gegründet, während ich mit Florian Gottschick, der Zwillinge gemacht hat, einfach nicht soviel zu tun habe. Mein Netzwerk ist eher außerhalb der Hochschule.

Gay-Kurzfilmnacht mit den Filmen „Nach Klara“,

„Wofür hältst du mich?“, „Traurige Jungs tanzen, wenn niemand hinsieht“, „Die Schwanzwand“, „Speed Dating“ und „Billys Dad ist ein Nougatstecher“

Im Kino

Gay-Kurzfilmnacht am 15. Oktober www.gay-filmnacht.de

L-Kurzfilmnacht mit den Filmen „Trophy“, „Liebste

Prinzessin Leben“, „Babysitting Andy“, „Dani & Alice“, „Don’t mess with Texas“ und anderen

Im Kino

Wollten bei „Nach Klara“ viele mitspielen? Es ging so (lacht). Überrannt worden bin ich nicht gerade. Aber es gab andere interessante Reaktionen. Nach der Vorstellung des Projekts ging das Getuschel los: „Der Stefan ist also schwul, aha.“

L-Kurzfilmnacht am 26. November www.l-filmnacht.de

Kleine Vandalen

schwule Kurzfilme D/CH 2007–2010, 109 Minuten, dt. OF

Auf DVD

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

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edition salzgeber

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Offene Körper von Ja n K ü n em u n d

Sébastien Lifshitz hat mit „Plein Sud“ (im November in der Gay-Filmnacht, danach in ausgewählten Kinos) nach sechs Jahren endlich wieder einen Film gedreht. Während die Kritik Schwierigkeiten hat, seine riskanten und doch im Arthouse verwurzelten Filme zu würdigen, sind vor allem „Sommer wie Winter …“ und „Wild Side“ zu Klassikern des Queer Cinema geworden. Ein Versuch über das Kino des französischen Regisseurs.

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Seine Mutter habe die Kinder ständig fotografiert, erzählt Lifshitz. Abzüge gemacht, vergrößert und die Fotos schließlich an die Wand gehängt. Aber da sie von der Fotografie geradezu besessen gewesen war, hätte ihr das nicht gereicht. Also hat sie die Fotos zerschnitten und auf einem großen Bogen Papier die Fragmente zusammengeklebt, zu Mosaiken, zu Geschichten. Die Mutter – die Fotos – die zerschnittenen Porträts, von denen man tagtäglich umgeben war. Eigentlich ist das zu schön, um wahr zu sein und das als Einleitung zum Porträt eines queeren Filmemachers zu verwenden. Das Queer Cinema ist das Versprechen eines Kinos, das nicht auf Identität fixiert ist. Es will seine Figuren nicht festlegen auf das Mann-Sein, Frau-Sein, Schwul-Sein, Lesbisch-Sein, Weiß-Sein, Arm-Sein, Schön-Sein. Darin keine Folie sehen, vor der etwas Melodramatisches passiert. Nicht nur dabei zusehen, wie seine Figuren Identität erlangen oder verfehlen, gegen die Welt, gegen die widrigen Umstände, auf sich allein gestellt große „Ich“-Entscheidungen fällend. Obwohl das Coming-Out in den meisten Filmen eine Identitätserzählung ist, die abbricht, wenn die Hauptfigur endlich „ich“ sagt und die danach scheinbar nichts mehr zu erzählen hat, ist Sébastien Lifshitz mit Sommer wie Winter … (Presque rien) ein Coming-Out-Film-Klassiker gelungen, der es nicht bei der ComingOut-Erzählung belässt, sondern seine Hauptfigur mit einem Reichtum an Geheimnissen und ungelösten Widersprüchen ausstattet. Schöner kann das eigentlich nicht laufen, ein 18-jähriger, gefühlskalter Junge in den Sommerferien, der einen anderen, aber gefühlvollen 18-Jährigen kennenlernt, sich durch diesen als Liebenden erfährt, sich zu den

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Gesten der Liebe durchringt, Verantwortung für jemand Anderen übernimmt, schließlich allen gegenüber „ich“ sagt. Lifshitz fragmentiert diese Geschichte, kalte Winterbilder greifen in den Feriensommer ein, verweisen auf Verletzungen und Traurigkeiten, die passiert sind, längst nachdem Mathieu öffentlich „ich“ gesagt hat. Das Meer ist grau und unerbittlich, im kaltweißen Krankenhaus wird ihm der Magen ausgepumpt, alte Männer sitzen an der Theke der Dorfkneipe und interessieren sich nicht für ihn. Was ist passiert? Es lief doch alles gut mit der schwulen Liebe. Kaum etwas ist passiert, sagt Lifshitz, „presque rien“. Er hat eben nur Ausschnitte aus dem Leben eines Teenagers gezeigt, zerschnittene Fotos, das Leben, keine schwule, männliche, bürgerliche Identität. Kontexte, in denen man das Glück eines Sommers nicht weiterglühen lassen kann, eine kranke Mutter, ein abwesender Vater, ein toter Bruder, eine neidische Schwester, eine Familie, die trauert, nicht funktioniert, trotzdem klammert, nicht loslassen kann, nichts zu tun hat eigentlich mit dem schwulen Glück von Mathieu. Wer ist Mathieu? Wir erfahren es nicht. Der Film will es nicht wissen. Ein Bogen Papier, auf dem Ausschnitte einen provisorischen Zusammenhang ergeben. Lifshitz ist, wie er selbst sagt, ein „verunglückter Fotograf“. Er hat Kunstgeschichte studiert, nicht Filmregie. Er hat der eigenwilligen Fotografin Suzanne Lafont assistiert, am Centre Pompidou gearbeitet. Auch heute noch kauft er keine Filmbücher, sondern Fotobildbände. Auf Reisen geht er nicht ins Kino, sondern besucht Antiquitätenläden, sucht nach alten, aufgelassenen Fotos, aus denen er Geschichten macht, wie früher seine Mutter. Filme drehen ist allerdings nur oberflächlich gesehen etwas anderes als Bilder machen. Man muss sich nur entscheiden, ob man die lückenlose, ‚natürliche‘ Bewegung imitieren will (wie die meisten Filmemacher), oder tatsächlich Bilder nebeneinander stellen wie Lifshitz. So dass sie Aussparungen lassen, aus unterschiedlichen Quellen ineinandergreifen, tatsächlich montiert werden. Ellipsen sparen genau das aus, was uns wichtig ist. Jeder bisherige Film von Lifshitz erzählt in Ellipsen, niemals chronologisch, lässt immer mindestens zwei Zeitebenen zusammentreffen, fügt sich niemals zu Gesamtbildern, Gesamtbewegungen. Sie betonen die Lücken, die Geheimnisse, verweigern den Schlüssel zum Verständnis einer Person, eines Gefühls. Darin sind Les Corps Ouverts (1997), Les Terres Froides (1999), Sommer wie Winter … (2000), La Traversee (2001), Wild Side (2004) und Plein Sud (2009), das filmische Gesamtwerk von Sébastien Lifshitz, erstaunlich konsequent. Lifshitz ist Jahrgang 1969. Er gehört zu einer Generation französischer Filmemacher, die hierzulande kaum wahrgenommen wird: Bertrand Bonello, Noémie Lvovsky, Lætitia Masson, Ursula Meier, Gaël Morel. Die beiden einzigen bekannten neben ihm sind ausgesprochen ‚queere‘ Filmemacher, die es geschafft haben, das bürgerliche Publikum ab und zu zu verblüffen, zu bezaubern, eher spielerisch herauszufordern: François Ozon und Christoph Honoré, beide in jüngerer Zeit von der Kritik nicht mehr ernst genommen, als blasierte, unernste, postmoderne Spieler „entlarvt“. Diese Filmemacher haben kein ausgesprochenes politisches Interesse, kein soziales Anliegen auf den ersten Blick, keine Verweigerungsradikalität im Ästhetischen. Es sind Stilisten, die mit dem Geschichtenerzählen ringen, halbwegs von staatlichen Subventionen unterstützt, ab und zu mal schockieren, aber in der Regel im cinephilen französischen Kosmos kreisen, ohne im Weltkino Spuren zu hinterlassen. Aufregend sind sie trotzdem, vor allem für Zuschauer, die Unbehagen angesichts des US-amerikanisch geprägten Identitätskinos haben. Geboren zu einer Zeit der sozialpolitischen Experimente, der letzten großen Freiheitserzählungen, zeichnen ihre Filme ein durchgängiges Problem mit den Emanzipationsgeschichten, dem kollektiven Gestaltungspathos, dem Aktionismus. Die formalen Vorbilder sind klar: die gebrochenen Helden der amerikanischen Independents, die dekonstruktivistische Philosophie, das wilde, sinnliche, ‚rekomponierende‘ Montagekino

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„Offene Herzen“ (oben), „Sommer wie Winter …“ (unten)

von Claire Denis, der postmoderne Genremix, das gehetzte Tempo der Téchiné-Filme. Lifshitz & Co. sind Ästheten (bekannter Vorwurf gegen schwule Künstler), ohne Dogma und Sendungsbewusstsein. Dass das Kinopublikum ihre Filme so selten, eigentlich kaum noch zu sehen bekommt, ist schade. Und die Kritik, die sie hierzulande abbekommen, ist vernichtend, unverständlich, anmaßend. Sie heißt „Arthouse“. Die Filme von Lifshitz sind immer entweder zu bürgerlich, zu Mittelklasse – oder zu plakativ außenseiterisch. Entweder geht es zu sehr um Familie (immer ist die Mutter todkrank und der Vater abwesend) oder das Milieu ist zu abgekoppelt. Entweder hängen Lifshitz’ Bilder zu sehr in der Körperschönheit seiner Schauspieler oder sie befriedigen verschämt hässliche Fantasien. Wild Side z.B. wagt die sexuelle und familiäre Utopie eines Dreiers aus transsexueller Prostituierter, maghrebinischem Gelegenheitsstricher und russischem Kriegsflüchtling. Was nach einer schrillen Überzeichnung antibürgerlicher Typen klingt, ist in Wirklichkeit ein humanistisches Manifest. Eine Liebe, in der jede(r) Geheimnisse hat, Fremdheit und unheilbare Wunden, und doch ist diese Liebe in jedem Filmkorn sichtbar, bis hin zu den Muskeln in den Händen von Stéphanie und Michail, die sich nach dem Sex noch einmal anspannen, während sie sich umklammern. „Are you a boy or a girl?“, singt Antony Hegarty in diesem Film leibhaftig in die Richtung der Transsexuellen, nicht als platte Verdopplung des Sichtbaren, sondern im Klartext und komplexen Mit-Gefühl, denn eine Identität hilft nicht weiter, wenn man Familie oder Heimat sucht. Tatsächlich sind alle biologischen Familien in den Lifshitz-Filmen dysfunktional, sogar im einzigen Dokumentarfilm La Traversee, in dem er seinen Ko-Autoren Stéphane Bouquet in die USA begleitet, um dessen Vater zu suchen, der von der Existenz seines Sohnes gar nichts weiß. Das an sich ist

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kino Filmografie Sébastien Lifshitz Il faut que je l’aime (1994) Claire Denis, La Vagabonde (1995) Offene Herzen (Les corps ouverts, 1997) Im Reich meines Vaters (Les terres froides, 1999) Sommer wie Winter … (Presque Rien, 2000) La Traversée (2001) Wild Side (2004) Plein Sud (2009)

noch kein Film-Thema, aber die Sehnsucht danach, die Ausformulierung der Zersplitterung, das Zusammensetzen neuer Familien ist es. Genauso wie das Coming-Out kein Thema ist, aber die vorsichtige Zusammensetzung der Erfahrungswelt von Teenagern, wie sie Lifshitz in Les Corps Ouverts, Sommer wie Winter … und Les Terres Froides angeht. Für sich allein lösen sich die Figuren auf. Zusammen können sie für kurze Zeit bestehen. Traurigkeit gibt es in jedem Film von Lifshitz. Unendlich schöne Soundtracks, die Spannungen schaffen und mit ihrer Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit leben können (Perry Blake in Sommer wie Winter …, Antony Hegarty in Wild Side, Marie Modiano in Plein Sud). Sex. Und zeitlose Landschaften – der riesige schwarze Berg in der nordfranzösischen Provinz von Wild Side, die sonnendurchtränkte Ebenen-Ödnis auf dem Weg in den Süden (Plein Sud), immer wieder der wilde Atlantik, dem egal ist, welche Melodramen sich vor seiner Kulisse abspielen, ob vor ihm oder in ihm jemand Sex hat. Die Traurigkeit hängt oft am Jungsein, an der Möglichkeit eines filmwirksamen Glücks von erster Liebe und erstem Sex, in das immer wieder das übergriffige Unglück der Familien eingezogen ist, auch das eigene, das vergangene und das zukünftige. Und an den Leerstellen. Des vatersuchenden Drehbuchautoren z.B., der auf der Reise merkt, dass er niemals „ich“ sagen konnte, weil er der Mutter immer den Mann ersetzte, auch auf der „Wild Side“ (oben), „Plein Sud“ (unten) Suche nach ihm. Oder die Leerstelle, die im Lifshitz-Kino durch den Tod des fantastischen Schauspielers Yasmine Belmadi entstanden ist, dem Hauptdarsteller in Les Corps Ouverts, Les Terres Froides und Wild Side, der wie kein anderer den großmäuligen verletzlichen Jungen gespielt hat, der nie seine Identität findet. Man kann kaum ansehen, wie er in Wild Side als Djamel dem Kriegsflüchtling Michail von seinen Mopedunfällen erzählt, ihm seine (echten, seine Yasmine-) Narben zeigt, wenn man weiß, dass Belmadi vor ungefähr einem Jahr nachts in Paris mit seinem Moped gegen einen Laternenmast gefahren ist und dabei umkam. Sein Porträt aus drei Filmen von Lifshitz bleibt fragmentarisch – bezeichnend die Szene, in er als Rémi in Les Corps Ouverts einem (ihn begehrenden) Filmregisseur eine völlig falsche Autobiografie ausformuliert, ohne dass der Film über ihn die richtige erzählte. Lifshitz mag das sozialrealistische Kino nicht, genauso wenig wie Ozon oder Honoré. Aber er spielt auch nicht damit. Er möchte die Figuren, ihre Energien isolieren, Affektkino drehen, in dem Körper und Gefühle aufeinander reagieren, ohne Zeitbezug, ohne Ortsbezug. Trauer, Wut, Sehnsucht, Begierde werden nicht psychologisch hergeleitet, sie prallen aufeinander, man sieht dabei zu, man darf assoziieren. Im neuen Film, Plein Sud, gibt es keine mittleren Einstellungen. Nur Landschaften und Gesichter, Stimmungen und Blicke, kein Einbetten von Gefühlen in den sozialen Kontext. Prompter Vorwurf: Oberflächlichkeit. Tatsächlich treibt Lifshitz seine ästhetischen Überzeugungen hier auf die Spitze: eine sexuell aufgeladene Situation dreier Teenager, deren Begehren sich auf den älteren Fremden richten; ein zerschnittenes Porträt dieses Fremden aus drei Zeitschichten (Kind, Teenager, Erwachsener), das trotzdem nicht erklären kann, was er vorhat; eine Reise, ein Roadmovie zur kranken und instabilen Mutter, als Bewegung durch zeitlose, vom Geschehen unberührte Landschaften. Einen Mix aus Western und Soap-Opera hat Lifhitz das selbst genannt, nicht ohne Provokation. Ein Portfolio schöner Teeniekörper mit pubertären Allerweltsproblemen, die sich (wie Jana Papenbroock hellsichtig bemerkt hat) wie ein Kommentar zum Warenwert von Schönheit im Supermarkt aufgabeln und irgendwann einfach aus der Film-Geschichte fliegen. In einer Figur aber, der des Fremden Sam, staffelt sich der Film in die Tiefe, baut ein Porträt, das wiederum zu vielschichtig ist für eine psychologische Herleitung. Eigentlich ist das Kino von Lifshitz ein schüchternes Kino. Das sich, das drohende Scheitern, das Verlassen des Muts vor Augen, immer weiter antreibt, um endlich unverschämt zu werden. Mit Plein Sud gibt es also bald eine neue Möglichkeit, sich mit dem Kino von Sébastien Lifhitz auseinanderzusetzen. Auch dieser Film zerschneidet die üblichen Konstellationen, die filmischen wie die sozialen, setzt die Fragmente in Bewegung, holt Luft und ordnet sie neu. Wieder wird es am Ende keine Menschen geben, die sich gefunden haben, kein Liebesglück, kein Happy-End. Dafür aber das langsame Zurruhekommen einer Wasseroberfläche, nachdem ein schöner Männerkörper dort eingetaucht ist. Darauf ein Glitzern von letzten Abendsonnenstrahlen. Und ein trauriger Song von Marie Modiano. s

von Sébastien Lifsitz FR/BE 2000, 95 Minuten, dt. SF / OmU

Auf DVD

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Offene Herzen

von Sébastien Lifsitz FR 1997, 48 Minuten, OmU

Demnächst auf DVD

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

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Wild Side

von Sébastien Lifsitz FR/BE/UK 2004, 91 Minuten, OmU

Auf DVD

Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

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Sommer wie Winter …

pro-fun media

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Was uns heimsucht i n t e rv i ew: ge r h a r d m i ddi ng

Es ist Sommer in „Plein Sud“, dem neuen Film von Sébastien Lifshitz. Sam, 27 Jahre alt, sitzt am Steuer seines alten Ford und ist auf dem Weg nach Süden. Auf dem Rücksitz ein Geschwister-Paar, Léa und Matthieu, die Sam als Anhalter mitgenommen hat. Léa liebt die Männer, Matthieu auch. Auf ihrer langen Reise werden sie sich kennen lernen, sich herausfordern, sich verlieben. Aber Sam hat ein Geheimnis, eine alte Wunde, die wieder aufgerissen ist – er hat nach langer Zeit eine Nachricht von seiner Mutter erhalten und jetzt will er sie wiedersehen. SISSY sprach mit Sébastien Lifshitz über seinen neuen Film. sissy: Warum gab es eine Pause von fünf Jahren zwischen „Wild Side“ und Ihrem neuen Film? Sébastien Lifshitz: Zwischenzeitlich habe ich am Drehbuch für einen Kriminalfilm gearbeitet. Ich hatte allerdings überhaupt keine Erfahrung mit Genrefilmen. Nach zwei Jahren und 17 verschiedenen Fassungen merkte ich, dass das nirgendwo hinführt. Ich fühlte mich verloren. Unterdessen war dem Produzenten das Geld ausgegangen, er hatte gerade noch genug übrig, um mich fürs Schreiben zu bezahlen. Aber ich glaube, diese Arbeit war nicht ganz vergeblich, denn in Plein Sud gibt es einige Elemente, die von diesem gescheiterten Projekt übrig geblieben sind: Er ist handlungsbetonter als meine früheren Filme, besitzt größere dramatische Spannung. Dabei haben Sie durchaus Erfahrung mit Kriminalfilmen: Ich denke an den Fernsehfilm für Arte, der bei uns „Im Reich meines Vaters“ hieß. Ach ja? Ein schöner Titel. Er fasst beinahe Ihre gesamte Filmografie zusammen: Oft geht es um eine Vatersuche. Stimmt. Es geht immer um die Suche nach Wurzeln. Die Familie ist eine Obsession für mich. Woher rührt das? Ich glaube, das hat viel mit der Fotografie zu tun. In der Fotografie herrscht ein anderes Verhältnis zur Zeit: Sie kann etwas festhalten, was vergangen und tot ist. Die Vergangenheit hinterlässt in ihr einen Abdruck. Meine Mutter hatte die etwas morbide Angewohnheit, unser ganzes Haus mit Vergrößerungen ihrer Bilder zu tapezieren. So war

unsere Familiengeschichte überall präsent. Mich hat diese Obsession früh angesteckt. Schon mit neun Jahren ließen meine Eltern mich allein auf den Flohmarkt gehen, wo ich mit meinem Taschengeld alte Fotos und Zeitschriften kaufte. Ich lebte eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Mit Fünfzehn hat mich ein Film von Truffaut ungeheuer beeindruckt, Das grüne Zimmer. Da geht es um jemanden, der das Andenken der Toten bewahren und sie dadurch weiterleben lassen will. Deshalb mag ich sicher auch die Installationen von Christian Boltanski so gern, der viel über die Shoah arbeitet und Erinnerungen ganz haptisch darstellt, in dem er Kleindung und andere Artefakte sammelt. In „Plein Sud“ geht es wie in vielen Ihrer Filme darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren, ein Familientrauma aufzuarbeiten. War Ihnen schon beim Schreiben klar, dass Sie die Erinnerungen von Sam wie eine parallele Geschichte erzählen wollen? Ja, das war schon im Drehbuch angelegt. Aber die Rückblenden waren anders platziert. Nun sind sie stärker in die Handlung eingeflochten. Sams Vater taucht zum Beispiel erst später auf. Je mehr sich Sam seiner Mutter nähert, desto stärker ist der Vater präsent. Ich führe ja eigentlich zwei Geschichten parallel, eine äußere und die innere Reise. Zugleich sind das aber auch ästhetisch gegenläufige Linien. Da gibt es einerseits Sams Familiengeschichte, die sehr melodramatisch ist. Und dann die Geschichte der Anhalter, die er mitnimmt. Die ist beinahe wie eine amerikanische Sitcom erzählt. Sie sind eher Figuren als Charaktere, aber laden den Film noch einmal mit einer ganz anderen Energie auf. Wie in „Sommer wie Winter …“ ist auch hier die Mutter depressiv. Ja, meine Filme werden bevölkert von kranken, zerstörten, verlorenen Familien. Das Glück passt da nicht hinein. Das gilt auch für die Familie, die sich spontan während der Autofahrt bildet. Mich erstaunt selbst, welch starkes Klima von Aggressionen und Konflikten da entstand. Es herrscht ein ständiger Kampf, die Beziehungen untereinander sind allesamt bedroht, können in jedem Moment abgebrochen werden. Wie gesagt, ich kann keine Geschichte über harmonische Familien erzählen.

Was wird aus den Anhaltern, nachdem Sam sie zurücklässt? Keine Ahnung. In einer früheren Drehbuchfassung blieben sie zusammen und suchten gemeinsam seine Mutter. Aber wir fanden, dass es dramaturgisch ein Opfer geben muss, dass sich ihre Wege trennen müssen. „Plein Sud“ ist ein ungewöhnliches Roadmovie, weil die Fahrt wie eine Blase der Emotionen wirkt. Er spielt zwar in einer vagen Gegenwart, kommt aber ohne sozialen Kontext aus. Genau, es sollte ein lyrischer Film werden. Eigentlich geht es um die Frage, ob Sam weiterleben oder sterben will. Seine Mission, die er sich selbst gewählt hat, ist morbide, selbstzerstörerisch. Auch wenn die Jüngeren das Leben verkörpern, ist das, was ihn heimsucht, stärker. Tatsächlich ist es in gewisser Weise ein Geisterfilm. Dabei spielt Nicole Garcia die Mutter jedoch nicht als ein Phantom, sondern verleiht ihr eine sehr konkrete Präsenz. Das ist ein wichtiges Wort für mich: Phantom. Meine Filme kreisen um das, was uns heimsucht. Aber Sie haben Recht, die Konkretion ist ebenso wichtig. Bei Nicole wusste ich, dass sie der Mutter auch Menschlichkeit geben würde. Sie hat nur wenige Szenen, in denen sie Ihre Figur entstehen lassen kann. Das gilt eigentlich für alle Schauspieler: Sie müssen physisch sofort präsent sein. Lea Seydoux ist eine Lolita, Théo Frilet ist ein romantischer Prinz, Yannick Renier ist etwas trocken und finster, wie ein Westernheld. Meine Filme sind so lakonisch und elliptisch erzählt, da müssen wenigstens die Figuren eine Evidenz besitzen.

Plein Sud

von Sébastien Lifsitz FR 2009, 87 Minuten, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

Gay-Filmnacht am 19. November www.gay-filmnacht.de Kinostart: Dezember 2010

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kino

DER UNZEITGEMÄSSE von Be rt R e bh a n dl

In ihrem schwebenden Porträt „Daniel Schmid – Le chat qui pense“ (ab 2. September im Kino) verbinden Pascal Hofmann und Benny Jaberg Filmausschnitte, Archivmaterial und Interviews mit Schmids Freunden und Wegbegleitern zu einer liebevollen und angemessenen Würdigung des Schweizer Filmemachers. Wer bisher keine oder nur einzelne Filme von Daniel Schmid (1941–2006) kannte, wird sie nach diesem poetischen Dokumentarfilm alle sehen wollen, denn seine Filme sind welthaltig, eigenständig und warmherzig und bilden einen besonderen Beitrag zum Weltkino. Unser Autor markiert in seinem Text für die SISSY die besondere Querstellung des Schmid-Kinos.

s Die Ewigkeit ist eine Vorstellung, die einen kleinen Jungen überfordern muss. Er hat die Zeit in ihrer Offenheit vor sich, kaum nachzuvollziehen also, wie es in einem Himmel (oder in einer Hölle) sein soll, in der gar keine Zeit mehr vergeht. Bleibt dann alles immer so, wie es jetzt gerade ist? Ein schrecklicher Gedanke, den Daniel Schmid nichtsdestoweniger in seinem Film Zwischensaison in Szene setzt. Der kleine Valentin, das kindliche Alter Ego des Filmemachers, durchschreitet mit seiner Großmutter einen Himmel, der identisch ist mit dem Schweizer Alpenhotel, in dem er aufwächst. Alle Gäste sind da, in weißen Engelsgewändern, nur lebendig sind sie nicht mehr. Sie sind eingefroren in ein Lächeln, das als ein Stereotyp von Glückseligkeit erscheinen soll, das in Wahrheit aber grotesk ist wie die ganze Szene. Es ist paradoxerweise die Zeit selbst, die diesem erstarrten Moment die Groteskerie wieder nimmt, die ihn zu einer zärtlichen Erinnerung macht, in der sich der Künstler verlieren konnte, zu dem Daniel Schmid geworden ist: ein Filmemacher aus Graubünden, ein Weltbürger, der in Berlin und Paris gelebt und in Tokio gedreht hat, der aber immer an dieses wie der Zeit entrückte Hotel „mit Meerblick“ in den Alpen zurückgebunden blieb. Der Proust’sche Gestus der (Wieder-)Belebung von Objekten, von dem nicht nur Zwischensaison geprägt ist, weist dem Regisseur von Filmen eine besondere Rolle zu, die in den Kindheitstagen im Hotel ihr erstes Vorbild in dem Zauberer Professor Malini hatte, von dem Valentin/Daniel seinen damaligen Berufwunsch ableiten konnte: „maître d’effets spéciaux“, Meister der Spezialeffekte. Daniel Schmid gehört zu einer Generation, deren Ambivalenz gegenüber dem Kino sich gut mit diesem Begriff beschreiben lässt: Das Medium ist als solches ein Spezialeffekt, eine technische Pointe, in der die Alltagswahrnehmung überboten wird. Man kann diese Überbietung zelebrieren, oder man kann sie in Dienst nehmen, für Zwecke, die dem Medium äußerlich sind. Als Schmid in den 1960er Jahren in Berlin das Studium an der dffb aufnahm, in deren erstem Jahrgang, da begann der kritische Diskurs zum Kino gerade mit aller Wucht. Gleichzeitig gab es im deutschsprachigen Autorenfilm dieser 18

Jahre aber auch zahlreiche Außenseiter, die sich vom Imaginationspotential des Mediums nicht abbringen lassen wollten. Man unterschied damals in der Filmkritik zwischen einer politischen und einer ästhetischen Linken, zwei Begriffe, die wie verzerrte westliche Korrelate zu den Formalismusdebatten in den kommunistischen Ländern wirken mussten. Einer politischen Linken waren Formfragen oder gar ästhetische Qualitäten erst in zweiter Linie angelegen, wichtiger waren inhaltliche Fragen (in den achtziger Jahren hatten diese Debatten eine zweite Auflage im Zusammenhang der Repräsentationskritik, die verstärkt aus der Position von Minderheiten geübt wurde: schwullesbische, feministische, antirassistische Identitätspolitik). Daniel Schmid war homosexuell, aber nicht das erscheint im Rückblick als der entscheidende Grund dafür, dass er ausgerechnet um 1968 mit einer dezidierten Option für das ästhetische Potential des Kinos hervortrat. Es hat wohl eher mit den unterschiedlichen Zeitlichkeiten zu tun, die zwischen der politischen und der ästhetischen Linken nicht zu verhandeln waren. In dem Dokumentarfilm Daniel Schmid – Le chat qui pense von Pascal Hofman und Benny Jaberg gibt es eine bezeichnende Szene, in der Schmid zu sehen ist, wie er 1973 auf den Solothurner Filmtagen seinen Film Heute nacht oder nie verteidigt, der als zu ästhetisch in den Verdacht politischer Irrelevanz geraten war. Der Regisseur sitzt auf dem Podium, rauchend, und sagt einen bedeutungsvollen Satz: „Ich habe keine Vorstellung davon, wie es weitergeht.“ Damit bringt er einerseits einen latent apokalyptischen Zeitgeist zum Ausdruck, der in den 1970er Jahren immer neue Nahrung fand. Es äußert sich in diesem Satz aber auch noch etwas Grundsätzlicheres, eine künstlerische Position, die dem Bildmedium Kino eine Funktion zuschreibt, die eben konstitutiv nach hinten gerichtet ist, auf die Rekonstruktion von Szenarien, die der Gegenwart erst die Prägung gegeben haben. Die ästhetische Option von Daniel Schmid ist zugleich eine Option für eine bestimmte Zeitlichkeit, die sich in unterschiedlichen Konstellationen durch sein Werk zieht: die mytho-


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logische Grundierung einer erotischen Passion vor kolonialem Hintergrund in Hécate, aber auch der markante Traditionalismus des Kabuki in Das geschriebene Gesicht, in dem es um japanische Tradition geht, über die sich eine weiter gefasste, westliche Nostalgie vermitteln kann. Von Schmid erzählen die Menschen, die ihn gut gekannt haben, in Le chat qui pense, dass er immer einmal nach Shanghai wollte (der Hafen von Tokio in Das geschriebene Gesicht ist wohl auch ein „Stand-In“ für den Weltumschlagplatz der chinesischen Hafenstadt). Aber er hatte nicht die Metropole der chinesischen Modernisierung vor dem geistigen Auge, die heute so viele Menschen interessiert, sondern ein geistiges, ein ästhetisches Shanghai, das für ihn ein für alle Mal durch die Filme von Josef von Sternberg bestimmt war. Auch hier herrscht also ein Geist von cinephiler Retrospektivität, der einher geht mit dem Beharren auf einer ästhetischen Überhöhung, von der das Medium Film in seinem Mainstream schon lange Abschied genommen hat – und den es während des guten Vierteljahrhunderts seines filmischen Schaffens auch den Randbereichen auszutreiben beginnt. Ästhetische Überhöhung bedeutet auch: Kontakt zu den anderen Kunstformen, Hang zum Gesamtkunstwerk, taktile und musikalische Prägung, Theatralität und Literarizität. In Hécate erzählte Schmid nach einem Roman von Paul Morand die Geschichte eines französischen Kolonialbeamten, der in der fremden Welt des Orients einer schönen, eigenwilligen Frau verfällt. Clothilde de Watteville wurde von Lauren Hutton gespielt, die als Fotomodell und Schauspielerin beide Bereiche zu transzendieren vermochte und davor schon von Paul Schrader (in American Gigolo, 1980) sehr ikonisch eingesetzt wurde. Hutton spielt in Hécate die unbewusste, weil ganz auf sich konzentrierte Verführerin, die ihren Verehrer immer stärker

in die Eifersucht treibt. Auch hier findet sich (wohl schon in der Vorlage) ein Satz, der die ästhetische Überhöhung in das Präteritum (und in den Kontext eines Mediums) stellt: „Die Tage vergingen wie in einem alten Film, in dem der Wind die Kalenderblätter davonweht.“ Schmid war kein unpolitischer Regisseur, und in Hécate ist auch erkennbar, dass ihn dieser Stoff nicht zuletzt deswegen interessiert, weil sich darin etwas kreuzte: das allmähliche Untergehen der großen, westlichen Kolonialimperien mit dem Entstehen eines Medi-

Die Tage vergingen wie in einem alten Film, in dem der Wind die Kalenderblätter davonweht. ums, das davon technische Bilder überlieferte. Das Kino löst die Kalenderblätter ab, die in dem genannten Zitat ein dem Alltag entrücktes Vergehen der Zeit (nicht mehr) markieren, das Kino hat die Kalenderblätter aber auch abgelöst, insofern ein neueres Massenkommunikationsmittel an die Stelle eines älteren getreten ist, eines, das sich mit einem viel stärkeren Imaginationspotential verbunden hat – und dieses immer wieder schnöde an die kulturindustrielle Bewirtschaftung desselben verrät. Hécate entstand 1982, im Werk von Schmid markiert es einen Höhepunkt insofern, als es seinen Moment der Qualität darstellt (Qualität durchaus in jenem Sinn verstanden, der von der Nouvelle Vague zur Überwindung und Ablösung freigegeben worden war). Qualität wird hier durch die Vorlage, durch das Budget einer internationalen Koproduktion, durch den amerikanischen Star Lauren Hutton gewährleistet. Nach Heute nacht oder nie und Schatten der Engel, zwei seiner wichtigsten Filme 19


edition salzgeber (2)

kino

Daniel Schmidt – Le chat qui pense von Pascal Hofmann und Benny Jaberg CH 2010, 83 Minuten, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Im Kino

Ab 2. September in ausgewählten Kinos. Das Metropolis (Hamburg) und die Tilsiter Lichtspiele (Berlin) zeigen begleitend auch Filme von Daniel Schmid, ebenso das Kino achteinhalb (Saarbrücken) ab dem 27. September. www.danielschmid-film.com

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aus den 1970er Jahren, war dieser Weg nicht unbedingt absehbar. Denn Schmid hatte sich damals, zwischen den beiden paradigmatischen deutschen Positionen von Werner Schroeter und Rainer Werner Fassbinder, dafür entschieden, so lange wie möglich beiden zu entsprechen. Das bedeutete konkret in Heute nacht oder nie und vier Jahre später in Schatten der Engel: Verschiebung der politischen Revolution ins Ästhetische und danach Verschiebung der politischen Enttäuschung in die Dekadenz. Heute nacht oder nie war Schmids Revolutionsfilm, und vermutlich hat er deswegen so viel Ärgernis erregt, weil darin so deutlich dem revolutionären Umschwung das Subjekt geraubt wurde. Die Dienerschaft, die hier einem alten Brauch entsprechend einen Abend lang die Herren stellt (während die Herrschaft zu ihrer Unterhaltung alles aufbietet, was sie an Tenören und Tangos zu bieten hat), versäumt nachgerade programmatisch den Moment, an dem die alte Ordnung wieder ins Recht gesetzt wird. Sie ergreift ihre Chance nicht (weil Schmid sie auch schonungslos als begriffsstutzig darstellt), deswegen bleibt alles beim Alten in diesem alten Schloss, das in der langen Vorspannsequenz als Ort der Handlung etabliert wird und das dabei stark transsilvanische Konnotationen bekommt. In Heute nacht oder nie wird wenig gesprochen, dafür aber umso mehr gesungen und musiziert. Der Soundtrack des Films ist dessen eigentlicher Diskurs, eine Abfolge unterschiedlichster kultureller Formen von der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts bis zu einem modernen Musikstück, zu dem Schmid eine großartige (Wimmelbild-)Plansequenz entworfen hat. Dazu kommen Schlager und Tanzmusik, all das also, was für einen kleinen Jungen, der auf der Bühne des Foyers eines Traditionshotels aufgewachsen ist, die Welt bedeutet. Während aber Werner Schroeter in diesen Jahren zum Teil sich vollständig ins Asemantische und Avantgardistische wagt (Eika Ka­tappa), kappt Schmid die Verbindungen zum herkömmlichen Spielfilm nicht. In La Paloma spielt seine Muse Ingrid Caven eine Prostituierte, die sich für ihr Zuhören und ihr Schweigen bezahlen lässt, und die nach einem Mann sucht, der ihr das Leben nehmen kann. In Schatten der Engel wiederholt die Caven diese Rolle unter den veränderten Vorzeichen des noch stärker politisch und nachkriegshistorisch konnotierten Patriarchats: Fassbinder, der die umstrittene Vorlage, das Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ geschrieben hatte, spielt ihren Zuhälter, und Klaus Löwitsch die Skandalfigur von Film und Stück, den reichen Juden. Die ganze Anlage dieser Verfilmung zeugt von Schmids unbedingtem Glauben an eine Unschuld des Ästhetischen – er hat nicht versucht, der Vorlage von Fassbinder das Anstößige (den vielfach festgestellten Antisemitismus, der in der Darstellung einer Klischeefigur liegt) zu nehmen, er hat es in einen Zusammenhang gestellt, der Ästhetik in unrettbare Ambivalenz umschlagen lässt. Er hat später nie mehr so radikal auf der Freiheit der Kunst bestanden, durch ihre eigene Zeitlichkeit auch an Tabus des Politischen rühren zu können: die Abstumpfung der Arbeiterklasse, die Ortlosigkeit der Juden in Nachkriegsdeutschland, die sexuelle Grundierung des Kolonialismus. Daniel Schmid wurde zu einem konventionelleren Filmemacher, der sich an das europäische Autorenkino der Qualität annäherte, während Fassbinder die amerikanischen Genreformen, vor allem das Melodram, auf den Stand der bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu bringen versuchte. Es wäre reizvoll, die spezifische Unzeitgemäßheit von Daniel Schmid mit seiner Herkunft aus der Schweiz in Beziehung zu setzen: ein Filmemacher aus der provinziellen Mitte Europas konstituiert für sich selbst und für das Kino einen Sehnsuchtsort, der die Herkunft transzendiert – einen Himmel des Ästhetischen, zugleich politische Utopie und anachronistische Politik, ein Bubentraum, in dem der Protagonist allmählich lernt, auf Spezialeffekte zu verzichten. Er wird erwachsen, aber er steht doch kompromisslos quer / queer zu der Zeitordnung des linearen Fortschritts. Eine Kraft der Vergangenheit, deren Sprengkraft nicht selten unterschätzt wird. s


kino

Voll autobiografisch von Di et r ich K u h l brod t

pro-fun media

Frank Ripplohs Kultfilm über einen schwulen Lehrer, der seine bürgerliche Existenz mit einem facettenreichen Sexualleben in Einklang zu bringen versucht, stach 1980 in das Wespennest einer um positive Selbstbilder bemühten Schwulenszene. Angesichts der Kino-Wiederaufführung am 4. November kann man wie unser Autor feststellen, wie haltbar diese filmische Provokation nach wie vor ist.

s Da ist er also wieder, der Kultfilm von vor dreißig Jahren. Schwuler Sex bis zum Abwinken. „Witzig, konsequent und unsentimental“, lobte damals das Time Magazine. Und die Süddeutsche Zeitung sah eine schwule „Komödie voller Selbstironie und raschem Witz. Dergleichen gab es noch nicht“. Und heute, hallo, gibt’s dergleichen inzwischen? Antwort: mitnichten. Ich sah den Film 1981. Ich sehe ihn 2010. Und Taxi zum Klo ist frech und frisch und quicklebendig wie eh und je. Okay, um glaubwürdig zu sein, müsste ich an irgendwas herummäkeln. Mach ich vielleicht später. Zum Beispiel stimmt es nicht, dass Regisseur und Hauptdarsteller Frank Ripploh lebt. Er ist vor acht Jahren gestorben. An Krebs. Im Krankenhaus lag er damals, wegen Virenzeug, glaube ich. Aids gab es ja noch nicht. Was tun, wenn’s im Bett langweilig wird? Also das Taxi zur Klappe. Bitte, eine halbe Stunde warten. Zeit für ein paar erigierte Penisse. Und zurück. Ja, die Handlung. Sie ist voll autobiografisch. Frank, genannt Peggy, Hauptschullehrer in Berlin, unterrichtet eine Jungsklasse als Beamter auf Probe (war er auch noch während der Drehzeit). Ein originaler Schwarzweißlehrfilm über das, was heute als Missbrauch bekannt geworden ist, wird gezeigt. Zur Abwechslung wird in das Lehrmaterial ein Junge eingeschnitten, der mit Vergnügen auf Peggys Schoß hopst. Wer das nicht mehr okay findet und sich auskennt, kann sich mit Auftritten von Magdalena Montezuma (Arzthelferin) und Tabea Blumenschein vergnügen. Als Großwetterlage haben wir viel Regen in Berlin. Am Fehrbelliner Platz und drum herum. So war das 1980. Ein jungbeamtenwürdiges Ambiente. Peggy lässt sich von Bernd (Bernd Broaderup), Kino-Vorführer in der Yorckstraße, bekochen, betun, betutteln und mit Visionen vom gesunden Landleben belabern, am besten einen kleinen Hof bei Hitzacker mit viel Schafen drauf. Folge: „Wir müssen reden.“ Weitere Folge: Peggy sucht seine Sexpartner auf der Straße oder wo auch immer. Muscleboys, Schüchterlinge, den Tankwart rumkriegen. Fellatio, Ejakulation in

den Mund, Samenschlucken in Großaufnahme und in der Länge, die es braucht, um zum Orgasmus zu kommen. Übrigens ist es der ejakulierende Schwanz von Regisseur Frank Ripploh, der ausführlich zur Geltung kommt. Und dann geht’s der Reihe nach inklusive Golden Shower. Eklig eventuell? – Aber nein. Was wir sehen, ist auf fast geheimnisvolle Weise ehrlich, selbstironisch und trotz der vielen komischen Elemente im Ergebnis eben nicht eine Komödie. Es sieht sogar tragisch aus für das Paar Bernd/Peggy. Zum Berliner Tuntenball kommt Bernd als Matrose, seine Schafe im Kopf. Peggy aber im Citykobra­ fummel, ganz in Tüll. Die Nacht ist um. Die Schule fängt an. Keine Zeit zum Umziehen. Peggy beginnt die Stunde im Fummel. – Noch Fragen? Den Film ansehen! Taxi im Klo wurde 1981 aus dem Stand bejubelt, unisono von Zuschauern und Filmkritik. Gewiss, die Darsteller sprechen nicht wie Schauspieler, sondern wie Laien. Aber grad das machte den Witz, die Offenheit und die Ehrlichkeit (sprich: Authentizität) des Films aus. Und siehe da, das was überall sonst als Pornografie verboten wird, wurde in Ripplohs Film normal. Ein Einmalereignis. Die Behörden gaben den Film frei. Gedreht war er mit 100.000 DM ohne irgendein Fördermittel. Taxi to the Toilet sahen in New York 200.000 Besucher. Eingespielt hatte er allein dort eine Million Dollar. In Boston wurde er zum besten fremdsprachigen Film gekürt. In der BRD wurde er ebenfalls Kult. In den Kinos. Auf den Festivals (Hof, dann Saarbrücken mit dem renommierten Max-Ophüls-Preis). Aber weil das damals alles so war, bräuchte das heute nicht zu interessieren. Das Sensationelle ist doch, dass das, was Film-Einmalereignis der frühen achtziger Jahre war, auch heute funktioniert. Aus dem Stand. Jedenfalls bei mir. Mehr kann ich ja nicht sagen. Ich rede doch keinem etwas ein. Aber ich gönne allen die Fahrt mit dem Taxi zum Klo. s

Taxi zum Klo

von Frank Ripploh DE 1979, 91 Minuten, dt. OF Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

Im Kino

Kinostart der Wiederaufführung: 4. November

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bildkraft

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Der Fremdkörper von Pau l Sch u l z

Nach „Parallel Sons“ und „Winter der Entscheidung“ erzählt John G. Young in „Wasser und Blut“ (Kinostart: 2. September) eine tragische Südstaatengeschichte. Schön. Traurig.

s Die Messlatte ist fix gelegt, und zwar hoch. William Faulkner, Flannery O’Connor, James Baldwin. Das ganz große Fish-Out-OfWater-Südstaaten-Drama soll Wasser und Blut sein. Der deutsche Titel des Films spielt fein mit der Dickflüssigkeit und damit verbundenen Sprichwörtlichkeit beider Substanzen und fasst die (Wahl-) Familiengeschichte, die der Film auch ist, so gut zusammen. Leider verpasst er dabei die Anspielung des Originaltitels (Rivers wash over me) auf die Passionsgeschichte. So sind die Zuschauer nicht sofort darüber im Bilde, was da auf sie zurollt. Sequan ist schwarz, schwul und das, was man in seiner bisherigen New Yorker Heimat „artsy“ nennt: eine kleine Tunte mit großen Träumen, die sie in bunten T-Shirts und engen Hosen mit sich herumträgt. Nach dem Tod seiner Mutter muss er zu seiner Tante in den tiefsten Süden der USA in ein verschlafenes Kaff ziehen, in dem 22

nur drei Dinge wirklich zählen: der liebe Gott, Ruhe als erste Bürgerpflicht und Football. Sequan hat für nichts davon eine große Begabung, glaubt, seine Identität längst gefunden zu haben und will sich nicht anpassen. Das wird ihm zum Verhängnis. Wasser und Blut mutet seinem Publikum viel zu: Schläge, Vergewaltigung, Drogen, familiäre Kälte und ein großes, grausames Schweigen über alle Probleme der kleinstädtischen Gemeinschaft. Hält sich also an seine Vorgabe: Die Geschichte des Fremden, der in eine Gemeinschaft geworfen wird, die weder willens noch in der Lage ist, ihn aufzunehmen, und in der er an seiner Entfremdung und Einsamkeit zu Grunde geht, ist Grundlage vieler großer Romane und einiger Filme über den amerikanischen Süden. Allerdings ist Wasser und Blut explizit, wo Faulkner oder Baldwin ob ihres Produktionszeitraumes verschämt sein mussten: Sequans Problem ist seine Sexualität. Oder besser: sein Umgang damit. Denn es ist nicht so, dass es in seiner neuen Umgebung keine Schwulen gäbe. Einer davon ist Sequans Cousin, mit dem er ein Zimmer und bald auch das Bett teilt, allerdings nie freiwillig. „I can’t be a faggot. You are the faggot. You are my faggot, bitch“, fasst der Peiniger seine Sicht der Welt zusammen. Regisseur und Drehbuchautor John G. Young hat schon mit Parallel Sons und Winter der Entscheidung das amerikanische Independentkino um zwei spannende Beiträge über Identität bereichert. Und auch dort trafen schon weiße und schwarze Lebenswelten aufeinander. Das tun sie auch hier: Sequan trifft Lori, die weiße, reiche, ständig koksende Highschoolschlampe. Für sie ist es Freundschaft auf den ersten Blick, der Exil-New Yorker muss erst ein bisschen abwarten und schauen, bevor er bemerkt, dass hinter Loris katastrophaler Fassade und großem Mundwerk ein noch größeres Herz und ein scharfer Verstand stecken. Lori ist die vielleicht dankbarste Rolle im ganzen Film. Oder vielleicht ist Elizabeth Dennis auch nur die talentierteste Schauspielerin im gesamten, guten Ensemble. Sie ist jedenfalls diejenige, deren Bild hängenbleibt vor dem geistigen Auge: die fröhlich versoffene, dickere Schwester von Kirsten Dunst. Was ein Problem des Films illustriert: Er ist niedlich, aber nicht 100% stimmig besetzt. Man sieht den Hauptdarstellern Derrick L. Middleton und Aidan Schultz-Meyer sehr, sehr gern dabei zu, wie sie sich als Sequan und Loris kleiner Bruder Jake zart ineinander verlieben. Aber die großen emotionalen Bögen des Films sind ab und an zu groß für die beiden Herren mit den großen Welpenaugen und den einander fremden Körpern. Da hätte John G. Young gut daran getan, fünf Jahre älter zu casten. Aber das ist auch egal. Denn entweder lässt man sich von dem emotionalen Sturm und Drang, den Wasser und Blut auffährt, mitreißen und sich von der simplen Digitalkamera-Ästhetik nicht stören. Oder man lehnt sich entspannt europäisch zurück und fängt an zu nörgeln. Was schade wäre. Denn Wasser und Blut ist ein wirklich guter, kleiner Film. Vielleicht nicht ganz Faulkner-Roman, aber eine hübsche, dunkle Kurzgeschichte des Meisters. s

Wasser und Blut

von John G. Young US 2009, 87 Minuten, OmU Bildkraft,www.bildkraft.biz

Im Kino

Kinostart: 2. September


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Sorgepflichten von R ich a r d G a r ay

pro-fun media

Thomas und Francisco lieben sich. Der eine ist der fünf Jahre älter Bruder des anderen. Das schwule InzestThema macht aus „From Beginning To End“ laut Verleih einen „Skandalfilm“. Unser Autor fragt sich, worin genau der Skandal hier begründet ist. Alle anderen können sich das ab dem 11. November fragen, denn dann ist der Film im Kino zu sehen.

s Ich gebe zu: Ich bin Einzelkind. Ich habe das nie erlebt, was es heißt, einen Bruder zu haben. Schon gar nicht, einen schwulen Bruder zu haben. Ich kann mir natürlich vorstellen: die besondere Nähe, die Ambivalenz zwischen Liebe, Fürsorge, Neid, Konkurrenz in den Gefühlen zum Anderen. Die Pubertät zu erleben auf engem körperlichen Raum mit einem anderen Jungen. Erfahrungen machen und austauschen. Und alles, was ich mir nicht vorstellen konnte, habe ich in „Just Above My Head“ von James Baldwin gelesen oder im Kurzfilm Starcrossed von James Burkhammer gesehen. Und jetzt kommen Thomas und Francisco, begleitet von einem realen oder aufgebauschten Skandal in Brasilien, von über einer Million Trailer-Klicks und einem verzögerten Kinostart. Und ich denke mir: ja, Thomas und Francisco. Warum auch nicht? In der 40. Minute dieses Films haben die beiden gerade ihre Mutter zu Grabe getragen, stehen im Wohnzimmer der Designer-Wohnung vor einander und ziehen sich aus. Und gestehen sich anschließend im Bett, warum sie sich lieben. Und da geht alles durcheinander: Fürsorge, Bewunderung, Gewöhnung, Männlichkeitsideen und Unaussprechliches. Und mit einer gewaltigen Geste braust die Musik auf, wird das Orchester angeworfen, wie schon so oft und nicht zum letzten Mal in diesem Film. Regisseur Aluizio Abranches will nämlich: die große, gewaltige, unendliche, nicht zur Ruhe kommende Liebe erzählen, die Verschmelzung, das Eins-Werden, das Klein- und Bedeutungslos-Werden der Welt um zwei Menschen herum, from Beginning to End. Der Eine öffnet als Neugeborener erst die Augen, als der fünf Jahre Ältere vor ihm steht. Und wird auch sonst niemanden mehr ansehen. Der Ältere wird dem Vater die Sorgepflicht für den Bruder abnehmen. Und wird auch sonst niemand anderen sich mehr um ihn sorgen lassen, noch nicht mal den Bruder für sich selbst. Aber was ist das für eine Welt, die so bedeutungslos werden kann für zwei Brüder, die sich lieben? Es gibt zwei Väter, immerhin. Einer

in Rio, also zuhause, der andere in Buenos Aires. Beide haben wenig zu melden, nur besorgt zu schauen. Und sich schließlich milde aus dem Staub zu machen. Es gibt eine Mutter, die ebenfalls besorgt schaut. Und aus Rücksichtnahme auf diese Mutter passiert der besorgniserregende Sex erst nach ihrem Tod. Es gibt eine Wohnung, hell, groß, weiß, teuer eingerichtet, mit Swimmingpool. Diese wird den Brüdern einfach überlassen, so dass sie zum Liebesspiel die vertraute Designercouch benutzen können. Es gibt andere – sehr wenige – Menschen in diesem Film: Ein Schwimmlehrer ist darunter, der eigentlich nicht gebraucht wird, weil der erfahrene Schwimmer Francisco dem Schwimmtalent Thomas schon alles beigebracht hat. Ein DJ, der Angst davor hat, seine Nachbarn mit seiner Musik zu belästigen. Ein Club mit hübschen weißen harmlosen netten jungen Menschen, eine Jeunesse dorée Rios, ohne Freaks, ohne Arme, ohne Schwarze. Aber selbst, als Thomas plötzlich für drei Jahre ins olympische Schwimmertrainingscamp nach Russland muss (wieso das eigentlich?), gibt es einfach nichts und niemanden, kein Stück Welt, das zwischen die beiden Brüder passt, die durch den Film strahlen, lächeln, tänzeln wie zwei Menschen, die seit zwanzig Jahren in jedem Moment frisch verliebt sind. Das ist alles ungeheuerlich. Nicht, weil es um schwulen „Inzest“ geht (der ja aus bestimmten Gründen in der heterosexuellen Variante tabuisiert ist). Nicht, weil tatsächlich nackte Haut und wilde Küsse zu sehen sind, weil die Eltern Verständnis aufbringen und der Film nahe legt, dass das immer so weiter gehen wird wie nach dem Frischverlieben. Ungeheuerlich ist die filmische Zubereitung des Ganzen, die soziale und ästhetische Isolation des Geschehens, die Auflösung der Räume, Städte, der Zeit, der Konflikte – die sorgenfreie Dolce&Gabbana-Welt, in der sich hier zwei Männer ansehen und nichts anderes mehr sehen und sich berühren und nichts anderes mehr berühren. In einer Szene auf der Designercouch liest der Ältere dem Jüngeren eine obszöne Stelle aus einem Roman vor, es geht um ein Loblied auf den männlichen Arsch, und das in eindeutiger Absicht. Und dann sagt er „Bleib so!“ und geht kurz aus dem Bild und man kann sich nichts anderes vorstellen, als dass er nun das Gleitgel holt. Doch er holt zwei Gläser Champagner. s

From Beginning To End

von Aluizio Abranches BR 2009, 94 Minuten, dt. SF / OF Pro-Fun Media, www.pro-fun.de

Im Kino

Kinostart: 11. November

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Ozonschichten Uninteressiert an Menschen und ihren Problemen, oberflächlich, bourgeois, unbeständig, zynisch – die Zeit, als François Ozon als einer der wichtigsten Vertreter des europäischen Autorenkinos galt und sich die Kritiker gerne von seinen Filmen verblüffen und herausfordern ließen, ist – so scheint es – vorbei. „Ein schlechter Witz“ hieß es über „Ricky“, „ein Aufguss eines handelsüblichen Heulers“ über „Angel“. Da Ozon aber neben Pedro Almodóvar der einzige Regisseur ist, der mit einer dezidiert queeren Position ein größeres, bürgerliches Publikum erreicht, möchte es sich die SISSY anlässlich des neuen Films „Rückkehr ans Meer“ (Start: 9. September) nicht so einfach mit ihm machen.

arsenal

Also: drei Schwärmereien über François Ozon.

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1. Der Rollenspieler von Ja na Pa pen bro o ck

„Natürlich zu sein ist eine so schwer aufrechtzuerhaltende Pose.“ (Oscar Wilde, „Ein idealer Gatte“) s In „Notes On Camp“ (1964) unterscheidet Susan Sontag zwischen „naivem Camp“ und „bedachtem Camp“, um die unterschiedlichen Qualitäten von purem und gewissermaßen unschuldigem, ernst gemeintem Kitsch und dem vorsätzlichen „Camping“, also dem bewussten Parodieren von Kitsch, voneinander abzugrenzen. Was Ozon so vermeintlich problematisch bzw. schwer zu fassen macht, ist die Vermischung genau dieser eigentlich konträren Stile und Abstraktionsgrade. Von Film zu Film und manchmal in einem einzigen Film wechselt der Gestus unaufhörlich von seriösem, genuin unironischem Kitsch, sowohl in der Charakterzeichnung seiner Figuren als auch in der zum Teil sehr überhöhten Dramaturgie, zum verspielten, bewusst inszenierten, postmodernen Zitat (wie die Tanzeinlage in Tropfen auf heiße Steine, oder die Musicaleinlagen in 8 Frauen). Manchmal sind seine Filme wiederum ganz schlichte, elliptisch elegant erzählte heterosexuelle Dramen (wie 5µ2), die mit präzisem und zärtlichem Blick vor allem auf die Frauenfiguren von den maßgeblichen Problemen der Liebesbeziehung erzählen. Wie Fassbinder oder Truffaut produziert Ozon seine Filme quasi ununterbrochen in einem rasanten Tempo, was sich sowohl in der immensen Quantität seines Œuvres äußert, als auch in der auffällig heterogenen Vielfalt an Stilen, Genres und auch Qualität seiner Werke. Wer so viele Filme macht, macht zwangsläufig einige Bessere und andere weniger Gelungene. Dieser schnelle Produktionsrhythmus, Filme eher skizzenhaft aus einem Wurf und einer Energie heraus zu machen, anstatt jahrelang an einem Werk mit akribisch ausdifferenziertem Plot und minutiöser Charakterentwicklung zu feilen, führt dazu, dass Ozons Figuren oft nur bürgerlichen Stereotypien entsprechen, die er jedoch immer durch ihre teils melodramatischen Erlebnisse, ihr konfliktgeladenes und kontrastreiches Aufeinandertreffen oder ihre ausgesprochen freie und unverklemmte Sexualität aufbricht und wiederum teils ins Absurd-Groteske oder Überzeichnet-Stilisierte verkehrt. Seine oftmals künstlichen Plots reichen von skurril-unwirklichem, stilistischem Perfektionismus, der an Douglas Sirk erinnert, bis zum anderen Extrem des eher „hässlichen“, anti-stilisierten, sozialrealistischen Stils eines Eric Rohmer, bei dem er in Paris studierte, der vor allem über die Begegnung gegensätzlicher Charaktere, ihre Gespräche und Lügen über Lebensentwürfe und -moral die „allzumenschlichen“ Prämissen gesellschaftlicher Verhältnisse und Rollenbilder mit einem großzügig zwinkernden Auge entlarvt. Eines ist freilich allen Filmen, vom verführerisch-glatten Swimming Pool bis hin zum flüchtig-leichten Kurzfilm Das Sommerkleid gemein: Alle seine Filme handeln von Liebenden, vom performativen Spiel vermeintlicher Identität und ihrem Scheitern an derselben, von der Artifizialität aller nominell natürlichen Posen und Verhältnisse, die die Figuren immer neu für sich herausfinden müssen. Ozon vermag mit einer Leichtigkeit von einem emotionalen Extrem zum nächsten zu springen und noch einen drauf zu setzen, er ist furchtlos vor diskontinuierlichen Stilen und zelebriert mit geradezu kindlicher Liebe die Aufführung und das frontale Theater. Man mag Ozon ein rein oberflächliches, kultisches und apolitisches Verhältnis zum Film und zu seinen Stars vorwerfen. Wer das tut übersieht jedoch, dass hinter dem stilisierten Exzess seiner Musicaleinlagen, seiner manchmal holzschnittartigen, physisch perfekt modellierten Schauspieler und seinem frivolen Camping immer eine Kritik heterosexueller Vorrechte und Anmaßungen liegt, ein ironi-

scher Spott über eine für wahr gehaltene, eindeutige sexuelle Identität und die Wahrnehmung des „seriösen“, gesellschaftlichen Lebens als Theaterspektakel. Sein entspricht bei Ozon Rollenspielen, Realität zeigt sich als Erscheinung, Wahrheit ist nichts als ein Stil und Charakter eher die Wiederholung imitierter Personifikationen. In diesem Sinne ist Ozon also ganz und gar anti-essentialistisch ein positiver Materialist. Seine Figuren tragen ihre affektiven Intensitäten vor sich her, die sie eher aufführen und symbolisch repräsentieren, als psychologisierend zu internalisieren. Sie spielen, probieren sich aus, gehen Risiken ein und geben sich stets leidenschaftlich hin. Es gibt kaum einen Regisseur, der so direkt und schön Paare beim Sex filmen kann wie Ozon. Ob man seinen hybriden Stilmix nun als Pansch abwertet oder facettenreich lobt, bleibt dem Zuschauer selbst überlassen. Sein fester Platz in der Kinogeschichte und Repräsentanz queerer und nicht-queerer Liebender ist gleichwohl unbestritten. s

2. Wie die Welt (wirklich) (auch) (nicht) ist. von A n dr é W en dl e r

s Il est different. Er ist anders, heißt es einmal in François Ozons Ricky über das gleichnamige Vorstadt-Kind mit den Vogelflügeln. Anders ist auch die Protagonistin aus Angel, die mit einem Wimpernschlag von der Krämertochter zur gefeierten Bestsellerautorin wird. Beide Filme gehören zusammen, weil in ihnen die Enden des Chiasmus verkörpert sind, um den sich vielleicht alle Filme Ozons drehen. Während Angel von der unwahrscheinlichen Kraft der Imagination handelt, sich die Wirklichkeit völlig zu unterwerfen und sie schließlich sogar zu verändern, lässt Ricky mitten in der sauersten Realität aus Fließband und Sozialwohnung ein märchenhaftes Wesen erscheinen. 1. Angel Deverell schreibt offenbar die schlimmsten Kitschromane, an die sich überhaupt denken lässt. Mehr als ein paar cheesy Fragmente bekommen wir davon allerdings nicht zu hören: „Er küsste ihre heißen Lippen im Licht der Sonne, die im brodelnden Meer versank.“ Wir wissen nur, dass Angel mit diesem klebrigen Zeug so berühmt wird, dass sie sich ein Haus kaufen kann, das direkt aus diesen ihren Fiktionen zu stammen scheint: Paradise House ist eine groteske Mischung aus Xanadu und Manderlay, vollgestopft mit den unsäglichsten Dekorationen, historistischem Kunstkitsch, pferdegroßen Hunden und was noch alles hier hin gehört. Angel durchwandert diesen wahr gewordenen Traum mit absurden Kleidern, Hüten mit ganzen ausgestopften Vögeln darauf, Mänteln in den wahnsinnigsten Farb- und Stoffkombinationen. Ich mochte es selbst kaum glauben, mit welch absurder Faszination ich Ozons Bilder dieser unsäglichen Geschmacklosigkeiten anstarren musste. Man kann nicht wegschauen, ebensowenig wie die Leser_innen Deverells von ihren Büchern lassen können. Deverell ist camp, die Bilder tropfen vor Ironie, aber man muss sie so ernst nehmen, wie Angel selbst ihre imaginierte Welt nimmt, die ausdrücklich ihrer Fantasie entstammt und eben nicht nach der Wirklichkeit geformt ist. 2. Ricky verfährt genau anders herum: Eine fast schon hyperrealistische Welt, wie wir sie aus den Filmen etwa der Dardennes kennen, wird plötzlich zum Ort wuchernder Fantasmen. Das neugeborene Baby ist das erste Mal beim Abendessen der Familie dabei und seine Schwester wünscht sich vom Hühnchen, das auf dem Tisch steht, die Flügel, beißt herzhaft hinein und kaut schmatzend und mit Blick auf ihren kleinen Bruder auf dem Vogelflügel herum. Kurz darauf bekommt der Bruder selbst welche. Oder: Der Vater des Kleinen ist stark behaart, was die Mutter besonders sexy, weil animalisch fin25


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det. Was soll da nur für ein Kind herauskommen? All das entwickelt mitten in dieser etwas trostlosen Arbeitersiedlung eine faszinierende Plausibilität, der man sich kaum entziehen kann. Die Welt als Wunsch und Vorstellung und nicht als moralische Lehranstalt. 3. Beide Filme haben etwas zauberhaft Leichtes, Unbeschwertes. Vielleicht kommt das von ihrer Faszination für ihre Oberflächen, in deren Zeichen sie bereitwillig und lustvoll ihrer Substanz entleert werden. In Angel beispielsweise bleibt der Inhalt der Romane Angel Deverells unbestimmt. Wir wissen nicht genau, worum es in ihren Büchern geht, werden nur mit wenigen Details gefüttert, die gerade genügen, um deren Charakter zu erraten. Der Film kreist um diese letztlich leeren Bücher und lässt von ihnen nur eins übrig: ihren Stil, ihren Charakter, ihre Poetik, ihre Machart. Und Ricky, der als inhaltsschweres Sozialdrama beginnt, hat irgendwann nur noch das Problem, was mit einem Kind zu machen ist, das Flügel hat. 4. Ozons Filme, und zwar nicht nur Ricky und Angel, ließen sich nun leicht allegorisch lesen: Kinder, die flügge werden, die Einholung eskapistischer Literatur durch die Realität usw. Durch ihr Insistieren auf einem letztlich leeren Zentrum führen die Filme aber alle solche Interpretation an der Nase herum. Vielleicht wäre es vor dem Hintergrund solcher Entsubstantialisierungen einmal möglich, Ozon als queeren Filmemacher zu bezeichnen, der nicht Identitäten sucht, sondern deren Bedingungen dekonstruiert. s

3. Rückkehr ans Meer von M ich a e l E ck h a r d t

s Ja, man kann sie schon wieder anschwellen hören, all die schrillen Stimmen jener nostalgischen Kläger und unilateralen Geschmackspolizisten, die sich immer dann erheben, wenn François Ozon, das einstige Wunderkind des französischen Kinos, sich anschickt, genau den Film zu drehen, den sie so mal wieder nicht erwartet haben. Die einen meinen träge, Ozon habe doch gefälligst bei seinen Wurzeln zu bleiben und in Dauerschleife Blutig-Sexualisiertes à la Sitcom und 26

Schwül-Schräges im Geiste von Tropfen auf heiße Steine zu drehen. Die anderen wiederum fordern dreist den Ozonschen Purismus, den er in Unter dem Sand und Die Zeit die bleibt offerierte. Unisono wurde genörgelt, als plötzlich in Angel – von den meisten Abtrünnigen unerkannt augenzwinkernd – die Roben rauschten, und in Ricky einem Baby spontan Flügel wuchsen. Ja, die Ansprüche an Ozon, gerade durch die filmbeschreibende Zunft, sind keine geringen, genauer betrachtet sind sie ziemlich grober Unfug. Und für Ozon selbst nicht von großem Interesse. Er dreht allen Festgefahrenen eine Nase, denn macht er doch einfach, was er will. Genau so sieht dann immer sein nächster Film aus, und erfreut damit all jene, die nur eine Erwartung an Ozon haben: vom spielfreudigsten Filmemacher der Gegenwart das Unerwartete zu bekommen. Man kann es nicht genug goutieren, dass es eben genau die erzählerische Diversität in Ozons Œuvre ist, die ohne Abrieb anhaltend fasziniert, und dass sich diese formale und inhaltliche Vielfalt dennoch in einer erkennbaren Handschrift bündelt. Klingt widersprüchlich? Quatsch, man muss einfach Ozons Filme sehen – immer wieder. Diesen hier zum Beispiel. Der ist beim ersten Mal schon sehr gut, beim zweiten Mal bricht er einem fast das Herz. Und zur Ergänzung für Erbsenzähler und Schubladenfetischisten – ja, Rückkehr ans Meer ließe sich eher an die Seite der stilleren Werke Ozons stellen. Louis und Mousse – das klingt reiner, als es ist. Die Wohnung, in der beide leben, ist barock, liegt an der Seine, in den großen Fenstern spiegelt sich der nächtliche Fluss geradezu spielerisch. Doch hinter dem Glas, da kriecht der Dreck. Da wohnt die Sucht. Da liegt ein kümmerliches Bündel vor Schmerz gekrümmt auf den zerwühlten Laken – Mousse. Da empfängt einer halbnackt und ungeduldig den Boten kurzen Glücks – Louis. Und Licht kommt erst durch die Fenster, wenn das Heroin zu wirken beginnt, und wenn sich für Louis das Tor ganz weit öffnet. Seine Mutter findet den Jungen bizarr kniend, starren Blickes und mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden der prächtigen Wohnung, Mousse aber kann gerettet werden. Allein dieser Moment, der „nur“ Auftakt zur eigentlichen Geschichte ist, gelingt Ozon zum großen „Chant de douleur“, da er in wenigen Pinselstrichen Schicksale, Milieus, Lebenshaltungen und dann – gottlob – Zukünftiges skizziert. Unglaublich! Diese ruhig inszenierten, traurigen Momente


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Alle Bilder aus „Rückkehr ans Meer“.

zu Beginn stellen Ende und Anfang gegenüber: Mousses Rettung ist der Neuanfang, für das Ende steht die Kälte von Louis verbitterter, wohlhabender Mutter, die derart beherrscht dem Heraustragen des Leichnams ihres leiblichen Kindes beiwohnt, dass man kotzen möchte. Diese Frau trickst mit Resolution und hat dabei jede Kontrolle längst verloren. Ozon will sie vergessen, zu Recht, und schaut zur nun auf sich gestellten Mousse – hin zu ihr und dem Kind in ihrem Bauch. Das wachsende Baby ist für die strengstens auf den Ruf bedachte Familie Louis’ nur eine „Angelegenheit“, um die sich ein vertrauter Arzt kümmern werde. Doch Mousse geht weg, unangekündigt, weg vom Pariser Krach in eine ländliche Stille. Sie braucht endlich Licht. Sie braucht Ruhe. Deswegen fühlt sie sich auch gestört, als sie einige Monate später Besuch bekommt – von Paul, Louis’ schwulem Bruder. Schlichtweg faszinierend, wie Ozon diese Ablehnung vorerst in Neugier und schließlich in tiefe Zuneigung transferiert, wie es ihm gelingt, Ort und Zeit tatsächlich zu lebensnotwendigen Paradigmen zweier sich neu Findender zu machen. Und diese Reise ans Meer ist natürlich auch für Ozon eine Rückkehr, filmt doch keiner wie er den Strand. Und da darf man tatsächlich Parallelen ziehen – der trügerische Postkartensonnenuntergang in 5µ2, die böse atlantische Pracht in Unter dem Sand oder die Kindheitsspiegelungen am Meer in Die Zeit die bleibt. Aus letzterem „kopiert“ Ozon ein sehr schönes Bild, wenn er jetzt in einer Szene Paul sich neben Louis schweigend ins Bett legen und sie sich anschauen lässt, so wie einst Romain sich selbst als kindlicher Lockenkopf begegnete. Das rührt unheimlich an, weil es viel über den brüderlichen Verlust erzählt, und weil Ozon mit diesem Kniff eine ganz neue erzählerische Reife beweist, die ihm bestens steht. Ozons Rückkehr ans Meer stellt mit Mousse und Paul ganz bewusst zwei so konträre Figuren gegenüber, denn so ist es regelrecht schön zu sehen, wie Grenzen, Neigungen und Zukunftspläne verwischen. Trotz aller Unterschiede in der Lebensweise verbindet Paul und Mousse sehr viel, deswegen ist Rückkehr ans Meer auch eine Geschichte über fehlende Liebe, schmerzlichen Verlust und nicht zuletzt über das Bewusstsein, dass wir alle in bestimmten Lebensphasen allein sind – und manchmal allein sein müssen. Und da Ozon den harten Schnitt mag, passt das – auf den flüchtigen Gedanken – doch sehr krasse Ende erst einmal sehr gut. Denn wenn man ganz genau in Mousses Gesicht schaut, wenn man Paul beobachtet, wie er das Neugeborene in seinen großen Händen hält, dann weiß man, dass es auch ein sehr erwachsener und durchaus mit Hoffnung verbundener Schluss ist. s

Filmografie François Ozon Kurzfilme: Das Sommerkleid, Der kleine Tod, Besuch am Meer (1996– 1997, DVD Edition Salzgeber) Sitcom (1998, DVD Pro-Fun Media) Criminal Lovers (1999, DVD Alamode/Alive) Tropfen auf heiße Steine (2000, DVD Pro-Fun Media) Unter dem Sand (2000, DVD Alamode/Alive) 8 Frauen (2002, DVD Universum) Swimming Pool (2003, DVD Highlight) 5∞2 (2004, DVD Paramount) Die Zeit die bleibt (2005, DVD Paramount) Angel (2007, DVD Concorde) Ricky (2009, DVD Concorde) Rückkehr ans Meer (2009) Potiche (2010, abgedreht)

Rückkehr ans Meer

von François Ozon FR 2009, 90 Minuten, dt. SF / OmU Arsenal, www.arsenalfilm.de

Im Kino

Kinostart: 9. September

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piffl medien (2)

kino

Augenblicksraum von Ja n K ü n em u n d

In „Orly“, dem neuen Film von Angela Schanelec (Kinostart 21. Oktober), fängt die Kamera Flirts von Menschen ein, die in einer öffentlichen Wartesituation gefangen sind. Ein Cruising besonderer Art, das sich auch auf die filmische Form überträgt.

s Der öffentliche Raum ist grundsätzlich sexualisiert und seine Bewohner notwendigerweise Voyeure, behauptet der Stadtsoziologe Henning Bech. Denn dort gewinne das Spiel der Blicke gerade in der Grenzenlosigkeit des visuellen Angebots und im Bewusstsein, selbst beobachtet zu werden, einen erotischen Reiz. Sich „einem Raum zu überlassen, ohne zu wissen, was er mit einem macht“, so beschreibt Angela Schanelec das, was mit ihren Figuren in Orly passiert. In der räumlich gefassten Bewegung von Fremden wird dabei ein Rausch der Potentialität inszeniert, in dem sich Blicke und Geschichten, aber keine Identitäten ineinander verhaken. Ein Junge wartet mit seiner Mutter im Flughafencafé. Er geht zur Theke, bestellt etwas, bezahlt. Der junge Kellner bedient ihn professionell, sie wechseln kaum einen Blick. Die Kamera registriert das aus großer Entfernung. Der handlungsfixierte Kinozuschauer ist geneigt, nur flüchtig zuzuschauen, so alltäglich und belanglos ist die Aktion. Wenig später, der Junge ist als Handlungsträger des Films etabliert, kommt der Kellner an seinen Tisch, fragt „darf ich?“ und räumt ab. Und plötzlich: ein Blick. Ein Ansehen, ein verlegenes Wegsehen, ein interessiertes Hinterhersehen. Und aus der Distanz, der Kellner ist längst wieder hinter dem Tresen angelangt, fängt die Kamera zwei lange Blicke auf. Vom Kellner, dann vom Jungen. Als der Junge mit seiner Mutter das Café verlässt, sieht er sich nicht noch einmal nach dem Kellner um. Und viel später läuft eine ganz andere Figur des Films, die ihrerseits in einem erotischen Blickflirt gefangen ist, an 28

dem Kellner vorbei, für den das Spiel der Blicke vorbei ist. Erotisch aufgeladen ist dieses Spiel nicht nur durch die Flirts der Flughafengäste – es ist auch aufgeladen durch den Blick der Kamera, die sich von weit weg als Voyeur betätigt, aus der Bewegung vieler Menschen einzelne herausschält, ihnen ein Begehren gibt und dieses im Verlauf des Films lebendig hält. Schanelec hat beschrieben, dass die Schauspieler sich oft gar nicht von der Kamera beobachtet fühlten, weil diese viel zu weit weg war. Cruising ist eine subkulturelle Strategie, sich einen Raum anzuverwandeln, der eigentlich eine andere Funktion erfüllt. Insofern sind die erotischen Absichten nur für Menschen mit ähnlichen Absichten lesbar. In diesem Spiel zählen keine Identitäten. Im Gegenteil: Identitäten sind hinderlich, weil sie sich sichtbar und lesbar machen wollen. Das Outing, das in diesem Film passiert, wird damit zur Ungeheuerlichkeit, denn da bringt jemand plötzlich, in einem Raum der flüchtigen Begegnungen, seine gesamte Identität ins Spiel. Schanelec inszeniert das als verzweifelte Tat: Mutter und Sohn, die sich niemals ausgesprochene Dinge erzählen, obwohl schon jede banale Aussage zwischen ihnen missverstanden wird, Konflikte provoziert, ins Leere läuft. Ihr Gespräch ist wie das zweier Fremder, die sich die schlimmsten Dinge sagen können, weil sie außerhalb dieses Raums keine Konsequenzen zu befürchten haben. Noch verzweifelter wirkt ein Zufallsbekanntschaftspaar, dass sich die ganze Lebensgeschichte erzählt, Kinderfotos zückt, die wichtigen, identi-


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Orly

von Angela Schanelec DE/FR 2010, 84 Minuten, dt./frz. OF, dt. UT Piffl Medien,www.piffl-medien.de

Im Kino

Kinostart: 21. Oktober

tätsstiftenden Momente markiert, im Reisesetting vom Zuhausesein schwärmt und am Ende versucht, sich für das weitere Leben zu verabreden. Hier bleibt der Film statisch, die Szenen sind dialoglastig, wenn auch gut gespielt. Der Cruising-Entwurf dazu, der sich notwendigerweise ganz anders, filmischer, auflöst, dessen Poesie nur im Film zustande kommt, sieht so aus: Ein junges Backpackerpaar wartet, sie schickt ihn los, um noch etwas einzukaufen. An der Kasse steht er hinter einer schönen Frau. Als sie sich umsieht, fängt sie seinen Blick auf. Musik setzt ein (die einzige in diesem Film): Cat Power, Remember Me. Und während diese „We are only here / just for a little while“ singt, fängt ein Spiel an aus Hinterhersehen, Innehalten, Verfolgen, Überholen, aus Unbeteiligt-Tun und Heimlich-Anstarren, während die Kamera von weit weg das Schauspiel verfolgt. Als der junge Mann wieder bei seiner Freundin ist, wird die Musik nicht ausgeblendet, auch nicht, als die Freundin schon mit ihm spricht. Obwohl sie nebeneinander sitzen, zieht die Kamera sie scharf, ihn unscharf. In diesem magischen Moment, der auf seinem Flirt beharrt, ist etwas zwischen zwei Menschen passiert, das keine Konsequenzen hat, in diesem Film aber alles bedeutet. Ob sie diesen Film „gebaut“ habe, als „Architektin“, wurde Angela Schanelec gefragt. Sie antwortete: „Nein, ich gucke ja nur.“ Naja. s

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Jetzt auf DVD!

www.salzgeber.de


arsenal distribution

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Haut aus Blicken von Gu n t h e r Ge lt i nge r

In der fast schon untergegangenen Welt des Hafenviertels von Genua hat sich die Liebesgeschichte von Enzo und der Transsexuellen Mary ereignet. Pietro Marcello hat aus dem Ort und der Liebe einen außergewöhnlichen Dokumentarfilm gewebt, der auf der letzten Berlinale sowohl den Teddy als auch den Caligari-Filmpreis erhielt und ab dem 21. Oktober in den deutschen Kinos zu sehen sein wird. Unser Autor wurde von diesem Film in einen tagelangen Rausch der Bilder und Gedanken versetzt.

s Ein Schiff sticht ins Meer. Langsam bewegt es sich vom rechten zum linken Bildrand, aus dem Hafen von Genua hin zum Horizont und dem Ende des Sichtbaren. Der Blick des Wissens geht, entlang der Schrift, in Europa von links nach rechts, der Blick der Sehnsucht aber ist auf diesem ersten Filmbild ein gegenläufiger, der über das Meer nach Süden schweift, über Inseln hinweg und nach Arabien, wo die Perspektive auf Europa eine andere, entgegengesetzte ist, und sich Geschichte – und ihre Geschichten – von rechts nach links festschreiben. In Genua, an der Mündung, la bocca, der Flüsse Polcevera und Bisagno, führen seit jeher die Wege vom Norden ins Meer und aus dem Meer die Flüsse hinauf über die Alpen. Am Fuß der Berge drängt die uralte Stadt ans Wasser, ein poröser Schwellenkörper aus geschichteter Zeit. An der Grenze seiner Haut wachen die Fischer in ihren Höh30

len über das Kommen und Gehen der Schiffbrüchigen, machen ein Feuer und blicken aufs Meer, wo auf dem nächsten Bild, einer Archiv­ aufnahme, junge Menschen von einem Sprungbrett federn, Körper aus Licht, die im Wasser verlöschen. Auch Enzo ist ein Gestrandeter, der als Kind von Sizilien heraufgekommen ist und mit seinem Vater Zigaretten verkauft hat. Andere illegale Geschäfte haben ihn bald in den Knast und dort zur Liebe seines Lebens gebracht, der damals heroinsüchtigen Transsexuellen Mary, die ihm für ein paar Zigaretten die Hosen säumte. Sie hat sich sofort verliebt, sagt sie, in diesen Jungen im Körper eines Riesen. Zwanzig Jahre später knüpfen sie noch immer gemeinsam ihre Träume, in Briefen und auf Tonbändern, die sie sich hin und her schicken, sie aus dem Wartesaal des Lebens ins Gefängnis, er aus dem


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Gefängnis hinaus in die Welt, die auch ein Gefängnis ist, nur größer und voller Möglichkeiten, die aber nie Wege, immer schon Versäumnisse gewesen sind. Wenigstens einen Traum, den bescheidenen, fast bürgerlichen von einem Haus mit Hund und Garten, werden die beiden im Film noch verwirklichen, doch Mary wird es bedauern, dass Enzo kein Schauspieler geworden ist, mit diesem Gesicht, dem Gesicht des Camorra-Paten schlechthin, das Al Pacino und Robert de Niro wie nette Schwiegersöhne aussehen lässt. Die Chance versinkt in einer Collage aus Filmplakaten von alten Gangsterfilmen, verraucht in einer von Enzos zahllosen Schießereien. Es bleiben die patrouillierenden Ordnungshüter und Huren, das Sirenengeheul im Hafenviertel, Menschen irren von links nach rechts und rechts nach links. Hindurch gräbt sich die Liebe von Mary und Enzo, von der beide stets in der Vergangenheit sprechen, als wäre sie bereits eine der Legenden, die das Meer unentwegt an Land spült. Denn schon auf dem nächsten Bild stößt die Abrisszange eines Baggers wie die allmächtige Hand der Geschichtsschreibung in die Ablagerungen von Gewusstem und Geträumtem, reißt willkürlich etwas heraus, wälzt es um und trägt es schließlich davon wie eine Trophäe: ein altes Eisen, eine Bahnschiene, über die, auf einer anderen Archiv­aufnahme, mit Geröll beladene Loren rattern, ein junger Mann springt auf den Zug, einer, der die Weiche gestellt hat und weiter will. Wohin, weiß nur das Meer. Steine rutschen ins Wasser, Mauern stürzen ein, in der gleichen Bewegung, mit der eine Welle an den Kai rollt und Wolken – oder ist es Asche? – über Ruinen ziehen. Trotz der rhythmischen, fast tänzerischen Montage tobt die Zeit wie eine Sturmflut durch die inszenierten, dokumentarischen und historischen Räume des Films, verwüstet das Leben von Mary und Enzo, kaum, dass die Erzählung es herausgeschält hat aus den tiefen Schichtungen von Material, Mensch und Meer. Pietro Marcello, der an der Accademia di Belle Arti in Neapel, Genuas Spiegelstadt im Süden, studiert hat, erhielt bei der diesjährigen Berlinale den Teddy Award für den besten Dokumentarfilm. Doch La bocca del lupo, „Der Wolfsmund“, wie auch ein Roman des Genueser Schriftstellers Gaspare Invrea von 1892 heißt, ist weit mehr als ein Dokumentarfilm. Er ist, was Kino in seinen besten und magischsten Momenten sein kann, im kinetischsten, also bewegtesten und bewegendsten Sinne, und darüber hinaus eine verstörend schöne Elegie auf das Vergessen und eine Liebeserklärung an eine beinahe untergegangene Stadt. Zum Schluss, in ihrem Haus mit Hund und Garten, hoch über dem Hafen von Genua und der Wolkendecke nahe wie einer weiteren Ebene ihres Traumes, sitzen Mary und Enzo am Feuer wie zu Beginn des Films die Fischer. Doch sie wissen, dass sie auch hier im aufgerissenen Wolfsrachen leben, am Rande der Existenz und mitten im Kollaps der Zivilisationen, der am Ende alle Bilder verschlingt. Ob man sich gegenseitig beherrscht oder sich nur sehr gut kennt, ist die letzte Frage, die das Paar an seine Liebe stellt. Sie schallt aufs Meer hinaus, durch beider Vergangenheiten in die Gegenwart dieses Films, in unsere eigene Zukunft, und weiter. Was bleibt, sind Spuren der Erinnerung und Schatten, die sich auflösen, wie der Fischer in seiner Höhle sagt. Was bleibt, sind die Wellen auf dem Meer wie eine Haut aus Blicken. s

La bocca del lupo

von Pietro Marcello IT 2009, 75 Minuten, OmU Arsenal Distribution, www.arsenal-berlin.de

Im Kino

Kinostart: 21. Oktober

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Alles in Ordnung i n t e rv i ew: Pat r ick H ei dm a n n

Seit ihrem ersten Spielfilm „High Art“ (1997) ist Lisa Cholodenko eine feste Größe im US-IndependentKino. Nach der prominent besetzten Vierecks-Familien-Geschichte „Laurel Canyon“ (2002) legt die Regisseurin, die zwischendurch auch Folgen für TV-Serien wie „Six Feet Under“ oder „The L-Word“ realisierte, nun ihre bislang populärste Arbeit vor: „The Kids Are All Right“, mit Julianne Moore und Annette Bening als lesbischem Paar, dessen Kinder sich auf die Suche nach ihrem Vater macht, lief mit Erfolg auf der diesjährigen Berlinale, gewann den Spielfilm-Teddy, entpuppte sich als einer der Überraschungshits im amerikanischen Kino-Sommer und kommt am 18. November auch auf die deutschen Leinwände. Mit der SISSY sprach Cholodenko unter anderem über ihre eigene Kindheit, Schwulenpornos und die familienpolitische Rückständigkeit der USA.

Teilten denn alle Ihre Begeisterung? Standen die Geldgeber Schlange? Natürlich nicht. Im Gegenteil, und ich war wirklich überrascht, wie schwer es letztlich war, den Film auf die Beine zu stellen. Aus irgendwelchen Gründen war ich davon ausgegangen, wir würden mit einer derart modernen Geschichte offene Türen einrennen, zumal wir das Thema ja nicht von einer politischen oder kontroversen Seite angehen, sondern sehr das Komödiantische und Menschliche in den Vordergrund rücken. Aber selbst, als wir unsere prominente Besetzung zusammen hatten, waren noch nicht alle Produzenten überzeugt und ich brauchte mehrere Jahre, bis alles unter Dach und Fach war. Wie früh kamen Julianne Moore und Annette Bening denn ins Spiel? Julie war schon sehr früh mit an Bord. Wir hatten schon vor Jahren mal darüber gesprochen zusammenzuarbeiten und so hatte ich sie bereits im Hinterkopf, als ich die Geschichte schrieb. Als ich meinen Sohn bekam, nahm erst einmal eine kleine Auszeit, feilte weiter am Drehbuch und es wurde immer pointierter. So kam ich auf Annette, denn für mich gibt es wenige Schauspielerinnen, die Drama und Komödie so gut miteinander vereinen können wie sie. Haben Sie vorher ausprobiert, ob zwischen den beiden überhaupt die Chemie stimmt? Dafür fehlten mir, ehrlich gesagt, die Zeit und das Geld. Den Luxus, tagelang Probeaufnahmen mit Julianne und zehn verschiedenen Kolleginnen zu machen, konnte ich mir einfach nicht erlauben. Zumal das bei Schauspielerinnen vom Kaliber der beiden auch einfach nicht wirklich üblich ist. 32

Suzanne Tenner / universal

sissy: Erzählt „The Kids Are All Right“ eigentlich etwas Neues? Lisa Cholodenko: Und ob! Und es ist eine echte Erleichterung, dass mir das überhaupt gelungen ist. Während ich das Drehbuch schrieb, staunte ich selbst oft, wie toll und zeitgemäß unsere Geschichte war – und dass noch niemand vorher etwas Ähnliches erzählt hatte. Immerhin ist die amerikanische Presse in den letzten Jahren voll gewesen von Geschichten über die Homo-Ehe oder Kinder, die nach ihren Samenspender-Vätern suchen. Bis zum Schluss hatte ich die Sorge, jemand könnte uns das Thema vor der Nase wegschnappen.

Wollten Sie mit einer Komödie über eine ungewöhnliche Familie ein größeres Publikum erreichen als mit ihren früheren Filmen? Ganz so bewusst lief das nicht. Ich hatte eher das Gefühl, dass die Thematik geradezu danach schrie. So ernst die Sache ist, birgt sie einfach auch etwas unglaublich Albernes. Ich weiß das, ich kenne das aus meinem eigenen Leben. Das Kind von meiner Lebensgefährtin und mir stammt auch von einem Samenspender. Aber ich wollte um Gottes Willen keine überdramatische Betroffenheitskiste daraus machen. Zu den vielen hübschen Details des Films gehört es, dass das lesbische Paar sich im Bett gerne mal Schwulenpornos anguckt. Ist das auch autobiografisch? Oh ja, damit kenne ich mich aus. Und ich kenne viele Frauen, die damit ebenfalls vertraut sind. Mir lag es extrem am Herzen, dass es diese Szene gibt, in der Julianne Moore das ihren Kindern erklärt. Natürlich war mir klar, dass das die wenigsten Zuschauer wirklich begreifen würden, deswegen war ich gespannt, ob wenigstens sie es schafft, den Leuten das irgendwie zu vermitteln. Und ich finde, dass sie ihre Sache ziemlich gut macht, oder?


kino

So zeitgemäß das Familienkonzept in „The Kids Are All Right“ auch ist, brechen Sie doch nicht mit einem eher konservativen Bild des Zusammenlebens und den zugehörigen Werten... Sie haben Recht, da kommt wohl meine Kindheit durch. Ich bin zwar im Los Angeles der Siebziger Jahren aufgewachsen, also wirklich liberal, aber in meiner Familie wurde viel Wert auf Traditionen gelegt. Meine Etern sind seit 50 Jhren verheiratet und leben immer noch in dem gleichen Haus. Wenn mein Vater um 19 Uhr nach Hause kam, gab es Essen. Nach einem Geburtstag wurden Dankeskarten verschickt. Dass wir Kinder heimlich Pott rauchten, war dagegen kein großes Thema … Wird denn ein Film wie „The Kids Are All Right“ in Punkto Liberalität etwas ändern? Zum Beispiel, was den Diskurs über homosexuelle Eltern angeht? Ich bin stolz darauf, dass der Film einfach ein Familien­porträt, kein politisches Pamphlet ist. Denn gerade durch diese Haltung ist der Film letztlich doch auch ein gesellschaftliches Statement, das sicher zur richtigen Zeit kommt. Der Umgang in den USA mit dem Thema HomoEhe, wo immer noch alles von jedem Staat individuell geregelt wird, ist wirklich beschämend. Dass mein Film nun vielleicht von ein paar mehr Zuschauern als den Lesben in New York und San Francisco gesehen wird, kann deswegen sicher nicht schaden. Aber er wird wohl leider die nötigen Veränderungen in unserem Land, das da erschreckenderweise vielen anderen hinterherhinkt, nicht beschleunigen können. Wie kam es eigentlich zu dem Filmtitel „The Kids Are All Right“? Eigentlich geht es doch vor allem um die Erwachsenen … In gewisser Hinsicht ist das ein ironischer Kommentar meinerseits auf all die Ängste, die viele Menschen immer noch vor homosexuellen Eltern oder Lehrern und ihrem Einfluss auf Kinder haben. In meinem Fall sind die Kinder viel souveräner als ihre Mütter. Ursprünglich schrieb sich der Titel The Kids Are Alright, aber da gab es ein paar Copyright-Schwierigkeiten mit The Who. So finde ich ihn aber auch nicht schlecht, denn jetzt wird noch klarer, dass mit diesen Kids eben wirklich alles ‚richtig‘ ist. Verglichen mit Ihren vorherigen Arbeiten ist der Film viel größer und aufwendiger produziert. Könnten Sie sich vorstellen, noch mal so zu drehen wie früher? Eigentlich nicht, wenn ich ehrlich bin. Das geht schon deswegen nicht mehr, weil ich ja mittlerweile Mitglied der Regie-Gewerkschaft bin und mich an gewisse Vorschriften halten muss. Als ich High Art drehte, studierte ich noch, alle am Set arbeiteten umsonst. Noch einmal würde ich niemanden derart ausbeuten wollen. Vor allem nicht, wenn ich die Wahl habe! Würden Sie sich denn für viel Geld von einem Hollywoodstudio für einen Film engagieren lassen, dessen Drehbuch nicht von Ihnen stammt? Warum nicht? Wenn das eine Geschichte ist, zu der ich einen persönlichen Bezug finde, würde so etwas durchaus für mich in Frage kommen. Völlig austauschbare Stangenware käme dabei aber sicherlich nicht heraus.

The Kids Are All Right

Kelvin Jones / focus features

von Lisa Cholodenko US 2010, 106 Minuten, dt. SF, OmU UPI Germany,www.universal-pictures.de

Im Kino

Kinostart: 18. November www.the-kids-are-all-right.de

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kino

Buddysex von h a n no st e ch e r

fugu filmverleih

Heterosexuelle Männer können alles, auch schwul. Denken sie zumindest. Regisseurin Lynn Shelton macht daraus mit zwei improvisierenden Schauspielern ein Experiment mit offenem Ausgang, das ziemlich komisch ausfällt. Was man neuerdings als Mumblecore-Ästhetik im US-amerikanischen Independentfilm bezeichnet, funktioniert hier in der tastenden Suche nach den Grenzen einer Männerfreundschaft ganz hervorragend. „Humpday“ läuft ab 9. September in den Kinos.

s Im Hipster-Magazin „Vice“ gab es vor Kurzem eine Fotostrecke, in welcher man einen sich als heterosexuell identifizierenden, großflächig tätowierten jungen Mann dabei beobachten konnte, wie er sich quasi „als Experiment“ einen Buttplug zu Gemüte führte. Die Fotos, kommentiert durch zotige Sprüche, wurden inszeniert als Grenzüberschreitung, als das große Abenteuer, sich als Heterotyp schwule Sextechniken anzueignen – und damit vielleicht doch selbst ein kleines bisschen schwul zu sein. So weit, so albern. Dass es allerdings auch möglich ist, das Verhältnis nicht-schwuler Männer zu schwulem Sex jenseits infantilen Sprücheklopfens genauer unter die Lupe zu nehmen, zeigt Lynn Shelton in Humpday. Der Film spielt in Seattle, der Heimatstadt der Regisseurin, und widmet sich mit einem ziemlich großartigen Sinn für Humor der Männerfreundschaft zweier alter Collegefreunde in den Dreißigern, die sich nach etlichen Jahren wieder begegnen. Ein gemeinsamer Saufabend bringt die beiden netten Kerle Ben und Andrew auf die Idee, zusammen einen „Kunstfilm“ zu drehen, der zeigen soll, wie sie, die beiden besten Kumpels, miteinander 34

in die Kiste steigen. Die Idee wird schnell zur Wette und nun nimmt alles seinen Lauf. Denn beide Männer haben gute Gründe, die ungewöhnliche Wette nicht zu verlieren, ist sie doch ganz konkret an ihr Selbstverständnis und ihre jeweilige Lebenssituation geknüpft: Ben ist gerade dabei, mit seiner Freundin Anna ein spießiges Familienleben aufzubauen und spürt seine Freiheiten dahinschwinden, während Weltenbummler Andrew seinen Ruf als durchgeknallter Typ retten will und den Deal als eine Art künstlerische Herausforderung betrachtet. Schwuler Sex wird so für beide Männer zum Ausdruck einer anti-bürgerliche Grundhaltung und zum Weg, sich selbst zu beweisen, dass man immer noch irgendwie „offen“ ist. Mit diesem Verhältnis spielt auch der doppeldeutige Titel des Films – während „Humpday“ umgangssprachlich für den Mittwoch als Mitte der Arbeitswoche benutzt wird, kann das Verb „to hump“ auch schlicht „ficken“ bedeuten. Shelton geht es bei ihrem dritten Spielfilm vor allem darum, die Auswirkungen des gemeinsamen Deals auf die Beziehung der beiden Männer genauer unter die Lupe

zu nehmen. Die Frage, ob da jenseits dieser Wette vielleicht noch ein viel tieferes Begehren in den Jungs vor sich hin schlummert, bleibt dabei mehr oder weniger unbeantwortet. Stattdessen nutzt die Regisseurin den „Humpday“ als Katalysator, als etwas, das eine klassische Männerfreundschaft plötzlich aus den Fugen geraten lässt. Denn, so ihre These, durch den Plan, etwas Schwules zu machen, sind die zwei in ihrem Selbstbild bislang eher unangetasteten Männer plötzlich dazu gezwungen, sowohl ihr Verhältnis zueinander, als auch zu sich selbst zu reflektieren. In ihrer Dekonstruktion von Männlich­ keit(en) gelingt es Shelton dabei, ihre Protagonisten immer wieder in Situationen zu lotsen, in denen Komik und Tragik so nahe beieinander liegen, dass man als Zuschauer vor Fremdscham am liebsten im Boden versinken würde. Denn ein großer Teil der Kommunikation zwischen den beiden Freunden findet trotz Veränderungen in ihrer Beziehung auch weiterhin auf einer Ebene statt, auf der vieles unausgesprochen bleibt. Alles andere, so scheint es, würde die Freundschaft wohl sprengen. Wichtiger Nebenschauplatz ist hier auch Bens Beziehung zu seiner Freundin, die natürlich irgendwann von der Sache Wind bekommt. Dass gerade in diesen Momenten die Stärke des Films liegen, hängt besonders mit dem perfekt aufeinander abgestimmten Schauspielerduo Mark Duplass und Joshua Leonard zusammen, die ihre Texte während des Drehs weitestgehend improvisiert haben und dabei immer den richtigen Ton treffen. Darüber hinaus hat sich Shelton entschieden, mit Handkameras zu drehen, die nur wenig Distanz zu dem Geschehen zulassen, bestimmte Gesten betonen und, natürlich, Authentizität simulieren. Dabei spielt sie die Stärken eines klassischen Indiefilms so gut aus, dass die Sundance-Jury ihr für Humpday im vergangenen Jahr einen Sonderpreis, den „Spirit of Independence“-Award, verliehen hat. Tja, und irgendwann ist er dann tatsächlich da, der große Tag. Aber spätestens als die beiden Jungs anfangen, vor laufender Handkamera noch einmal ihre Heterosexualität zu beschwören, wird klar, dass dieses Date genauso kompliziert wird wie man es befürchtet hat. s

Humpday

von Lynn Shelton US 2008, 94 Minuten, OmU Fugu Filmverleih, www.fugu-films.de

Im Kino

Kinostart: 9. September www.humpdayfilm.com


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Venus im Trash von Ja n K ü n em u n d

s Die erste Stuhlreihe: Pornografie – Independentkino – Kommerz – Zensur. LaBruce hat diesen Film wieder einmal sehr originell finanziert, über das Zusammenbringen mehrerer Gay-Adult-Anbieter, einem Mode/Neue Medien-Projekt, einer Galerie, einem Independent-Filmlabel. Die schon eingeübte Strategie, deren unterschiedliche Verwertungsketten zu bedienen, soll auch diesmal wieder verfolgt werden, in dem aus L.A. Zombie eine Softcore-Version entsteht (die jetzt auch ins Kino kommt und zumindest bei einigen Festivals gelaufen ist und laufen wird) und gleichzeitig eine Hardcore-Version für das innovative Pornolabel Wurstfilm. Nun ist die Arthouse-Version von der Indizierung bedroht (wahrscheinlich wegen dem, was da mit Leichen veranstaltet wird; die deutschen Behörden sind wie auch die FSK da sehr kreativ), was eine DVD-Auswertung bedroht und damit die Hardcore-Version auf Dauer zur „eigentlichen“ machen wird. Diese wiederum dürfte kaum die genreüblichen Anforderungen erfüllen, denn der Sex, um den es hier geht, entspricht ziemlich ungewöhnlichen oder mutmaßlich ziemlich selten Fantasien. Die zweite Stuhlreihe: Kino – DVD – Internet – Museum. Das ist eine aktuelle und zugleich ziemlich alte Frage (wenn man an Anger, Deren, Genet denkt): Wo genau finden queere Bewegtbilder eigentlich statt? Zunächst kam der L.A. Zombie zu einer Ausstellung der Galerie Peres Projects in Berlin, in der das Video des Films eigentlich nur Beiwerk war zu großformatigen Fotografien des Darstellers François Sagat in ZombieFashion-Look, die als Standfotos eines Films inszeniert waren, den es vielleicht gar nicht gab. LaBruce zufolge entstand der Film dazu tatsächlich auch erst auf Bitten anderer, er selbst hätte ihn gar nicht unbedingt machen müssen (zumal er mit Otto, or: Up With Dead People schon einen sehr ernsthaften und komplexen Queer-Zombie-Film gedreht hatte). Nun geht der Film seinen Festivalund Kino-Weg oder vielleicht auch nicht, wenn er tatsächlich sogar hierzulande indi-

GMFilms

Pornodarsteller, Obdachlose, Leichenfledderei, Festivalausladung in Melbourne, blasierte Langeweile in Locarno, drohende Indizierung: Bruce LaBruce hat einen neuen Film gemacht. Sich zwischen alle Stühle zu setzen ist für ihn selbstverständlich und für seine Fans Ausdruck einer queeren Strategie. Ob man gut dabei aussieht, wenn man sich zwischen die Stühle setzt, ist eine andere Frage. Und ob man am Ende überhaupt irgendwo sitzt, muss angesichts von „L.A. Zombie“ (Kinostart am 7. Oktober) tatsächlich auch mal gefragt werden.

ziert wird und die Festivals ihn nicht spielen (oder wieder streichen, wie z.B. Melbourne). Das Netz bliebe als ohnehin sich mehr und mehr anbietender Abspielort für innovatives queeres Kino. Filmkritiker mit konventionellem „Kinofilm“-Begriff haben schon in Locarno mehrheitlich die Frage gestellt, ob L.A. Zombie überhaupt ein „Film“ ist und nicht eher ein „Clip“. Die dritte Stuhlreihe: Zombies – Obdachlose – schwule Ikonen – das KunstverweisSystem: Wie ernst ist das alles eigentlich gemeint? War der Zombie in Otto noch eine ernsthafte, melancholische Figur in der Tradition des frühen Tourneur-Films I walked with a Zombie (1942), so ist der Nachfolger in L.A. zwar auch eine Missfit-Ikone, die aber völlig in einem Zitat-System konstruiert wird: eine schauerliche BotticelliVenus, ein seelenloses Romero-Wesen, ein „vogelfreier“ (Agnes Varda) Obdachloser, eine Porno-Ikone mit sexy Aussparungen im Penner-Look, ein pervertierter Captain America usw. Grease wird zitiert, Morricone auch. Die Porno-Orgien-Szene findet in einem White Cube statt, der Soundtrack besteht aus schlechter Pseudosinfonik und

noch oberflächlicherem Electro/Folk/Indie/ Pop-Gesäusel. Wo sitzt dieser Film nun eigentlich? Im punkigen, aber auch kühl kalkulierenden Selbstvertrauen, das alles auf Gedeih und Verderb kombinieren zu können und sich dahinter unsichtbar zu machen? Maske & Requisite wechseln zwischen zwei Schnitten, die Idee einer an Ort und Zeit gebundenen Handlung ist völlig aufgehoben, der Zombie kommt als Retter, fickt die Toten ins Leben zurück (in einer Szene buchstäblich ins Herz), der Pornoindustrie wird ihre eigene industrielle Kälte vorgeführt und mit gehörnten Schwänzen, schwarzem Ejakulat und kreativ genutzten Körperöffnungen beantwortet, die eher die männliche Penetrationsfantasie oder männliche Sexualität überhaupt dekonstruiert als geil macht. Und François Sagat, mit seinem Pitbull-Körper und den schönen jungenhaften Augen, seinem Toupet-Tattoo und der Steroid-Hautspannung weint zu französischen Chansons blutige Tränen und steht, unschuldig in Szene gesetzt, als männliche Ikone für die Jetztzeit da wie einst Dallessandro für die Endsechziger. Man darf gespannt sein, ob dieser Queerness jemand folgen wird wie einst (aus Liebe) dem Tourneur-Zombie. Bitte Platz zu nehmen, aber: Vorsicht! s

L.A. Zombie

von Bruce LaBruce DE/US/FR 2010, 63 Minuten, OF (ohne Dialog) GMfilms, www.gmfilms.de

Im Kino

Kinostart: 7. Oktober www.lazombie.com

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Zwei Fahrkarten, soweit wie möglich! I n t e rv i ew: Ja n K ü n em u n d

edition salzgeber

Michael Roes, einer der spannendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur („Rub-Al’Khali – Leeres Viertel“), dreht auch Filme. Wie z.B. „Timimoun“, der Ende August auf DVD erscheint. Er erzählt von der Freundschaft zweier Jungen in einem zerrissenen Land.

sissy: Lieber Michael, man kennt dich ja als äußerst produktiven Autor – allein 2010 erscheinen zwei große Romane von dir. Wann findest du überhaupt die Zeit, auch noch Filme zu drehen? Michael Roes: Ich sehe mich selbst eher als langsamen und konzentrierten Arbeiter. Dass ich so produktiv wirke, hängt womöglich mit der untrennbaren Verschränkung meiner Arbeit mit meinem Leben zusammen: Schreiben und Filmen sind nicht nur ein Teil meines Lebens, sondern unmittelbar gelebte Zeit. Insofern macht es keinen Unterschied, ob dieses Künstler/Dasein gerade im Nachdenken, im Hinschauen, im Schreiben oder im Filmen besteht. Für mich ist der Film im Grunde nichts anderes als die Arbeit an einem neuen Roman mit anderen Mitteln. Aber stellen das Schreiben und das Filmemachen nicht völlig verschiedene Anforderungen, was die Auseinandersetzung mit einem Stoff angeht? Bei den dezidierten Autoren-Filmern wie Pasolini oder Cocteau ließ sich das Schreiben vom Filmen nicht trennen. Und längst sind klassische Filmtechniken wie Montage, Vor- und Rückblenden Stilmittel des modernen Romans, so wie wir bei manchen Filmwerken von einem epischen oder lyrischen Film sprechen. 36

Nein, die unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem Stoff liegt nicht in der Formsprache, sondern (bei mir) allein in der Technik. In dem Augenblick, wo ich Kameraführung und Schnitt ebensogut beherrsche wie meine sprachlichen Mittel, kann ich den „Stoff“, der sich in mir, bevor ich überhaupt mit dem ersten Wort beginne, immer schon als ein innerer Film darstellt, sowohl in die eine oder andere „Sprache“ übersetzen. Für „Timimoun“ hasst du allerdings auch eine genuin filmische Form gewählt, weil sie per se mit Bewegung zu tun hat – das Roadmovie. Ein Junge kehrt – nicht ganz freiwillig – zu seiner Familie ins algerische Hinterland zurück und sein bester Freund begleitet ihn. In dieser Konstellation, einer Freundschaft in Bewegung, liegt ja an sich schon etwas sehr Filmisches … Auch der erste Roman der Weltliteratur, Homers „Odyssee“, ist bereits ein „Roadmovie“. Und die Schrift (im vordigitalen Zeitalter) stellt eine Linie, einen Weg dar und bewegt sich, nicht anders als der Film, linear in der Zeit fort. Doch am Anfang von Timimoun stand nicht eine fertige Geschichte, sondern ein Land und seine besonderen Menschen: Algerien und die Freunde, die ich dort während langer Aufenthalte gewonnen hatte.


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Die letzten zwanzig Jahre waren unvorstellbar grausam, und die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen sind in einer Zeit permanenten Terrors aufgewachsen. Mich selbst hat die Situation so entsetzt, dass ich nach künstlerischen Wegen gesucht habe, meiner Sprachlosigkeit angesichts der alltäglichen Verwundungen Herr zu werden. Der Mythos der Orestie, übersetzt in die psycho-dramatische Form des Films, schien für mich und meine Freunde ein Weg zumindest der Vergegenwärtigung, wenn auch nicht der Heilung. Also bestand mein erster Ausdrucksversuch in einem Drehbuch, meinen engsten Freunden in der Kabylei auf den Leib geschrieben. Und als sie sich in diesem Drehbuch vollkommen verstanden wiederfanden, war damit der weitere Weg vorgezeichnet. Diese Überblendung von Mythos und moderner algerischer Geschichte hört sich zunächst sehr gewagt und konstruiert an – tatsächlich wirken die Szenen aber ganz leicht und spontan, sie sind voller Interaktionen und dokumentarischer Spannung. Wenn der Film tatsächlich eine gewisse Leichtigkeit und Spontaneität bewahrt hat, so freut mich das sehr. Die realen Drehbedingungen waren nämlich geradezu ein Albtraum. Nachdem endgültig klar war, dass ich für ein derart ambitioniertes Projekt, eine moderne Version der Orestie in Algerien, keine Fördermittel bekommen werde, haben meine Freunde und ich beschlossen, diesen Film trotzdem zu wagen, ohne jedes Budget, ohne Drehgenehmigung und Unterstützung. Von Anfang an hatten die algerischen Behörden ein Auge auf uns. Es gibt ja immer noch kaum europäische Reisende im Land. Die Behörden wollten keinen diplomatischen Eklat provozieren und mich wegen der illegalen Dreharbeiten aus dem Land werfen. Statt dessen haben sie die Taktik gewählt, mich und vor allem meine algerischen Mitstreiter so sehr einzuschüchtern, dass mir im Lauf der Wochen bis auf die beiden Hauptdarsteller alle Mitarbeiter verloren gingen. Am Ende haben wir mehr Zeit auf Polizeirevieren als an Drehorten verbracht. Als ich aus Algerien abgereist bin, hatte ich befürchtet, dass all die wochenlangen Anstrengungen und Kämpfe vergeblich gewesen seien. Erst am Schneidetisch hat das diesen widrigen Umständen abgetrotzte und am Ende eher improvisierte Material sich auf wundersame Weise doch zu jenem Film gefügt, den ich zu drehen geplant hatte. Ich denke vor allem an die Szenen im Bus, in denen die beiden Schauspieler mit den Mitfahrern agieren und die Kamera ganz dicht dran ist … Die meisten der Roadmovie-Szenen sind tatsächlich semidokumentarisch gedreht: Wir haben den regulären Bus genommen, die Insassen gefragt, ob sie Darsteller in unserem Film sein wollten und drauflosgedreht. Keine dieser Szenen hätten wir wiederholen können. Aber wenn man überwiegend mit Laien arbeitet, sollte ohnehin die erste Aufnahme sitzen. Mit jeder Wiederholung geht Spannung und Authentizität verloren.

Junge ist, dennoch entsteht dieser Eindruck vor allem durch den Blick der Kamera und den musikalischen Kommentar, oder? Ein homosexueller Sub- oder Kontext entsteht zunächst erst mal (und vielleicht ausschließlich) im Auge des europäischen Betrachters. Die größte Repression in der muslimischen Welt betrifft Beziehungen zwischen unverheirateten Männern und Frauen. Und dieses Tabu hat seine Wurzeln weniger in religiösen Vorschriften als in tribalen Strukturen, in denen Familienbindungen immer auch eine wirtschaftliche und politische Bedeutung zukommt. Bevor das koloniale Europa unsere westlichen Konzepte von „Homosexualität“ in die muslimische Welt exportiert hat, konnten im Windschatten der heterosexuellen Tabus wesentlich intensivere Freundschaftsideale herausgebildet werden als im körperscheuen Europa. An keiner Stelle der Dreharbeiten habe ich meinen Darstellern gegenüber diesen möglichen europäischen Blickwinkel auf die Freundschaft von Laid zu Nadir auch nur angedeutet, sondern die Ausgestaltung dieser Beziehung ganz dem persönlichen Spiel der beiden Protagonisten überlassen. Aber du hast doch diese Freundschaft, die ja so viel weicher wirkt als die starre, von Hass- und Rachegefühlen und „mittelalterlichen“ Ritualen bestimmte Familie Laids, schon als eine alternative und freiere Lebensform inszeniert, in der man abhauen kann, reisen, aus der mythischen Schicksalhaftigkeit aussteigen, am Ende auf Reifenschläuchen einfach die Wüstendünen herunterrutschen … Ja, ich wollte im Film eine Wahlmöglichkeit, einen Ausweg aufzeigen. Aber es handelt sich um eine poetische Erfindung, eine Utopie, die für die meisten Altersgenossen von Laid und Nadir nicht realisierbar ist. Laids Preis für die Emanzipation ist die Aufgabe der Familie. Als Ersatz oder Trost biete ich ihm die Freundschaft. In Wirklichkeit aber ist es für die algerische Jugend nahezu unmöglich, ohne das soziale Netz der Familie zu überleben. Und das relative Maß an sozialer Sicherheit ist natürlich mit einer nahezu lebenslangen sozialen Kontrolle und Einund Unterordnung in die Familienhierarchie erkauft. Du hast diese Geschichte anschließend noch einmal in deinem Roman „Weg nach Timimoun“ erzählt. Hat sie sich dort weiter entwickelt? Am Anfang stand die Idee für einen Film und das Drehbuch. Als aus den Monaten des Wartens auf eine Filmförderung oder sonstiger Unterstützung Jahre wurden, habe ich die Filmidee zunächst als Roman ausgesponnen. Durch die besonderen Umstände des Drehens hat der Film dann aber einen ganz anderen Charakter als der Roman angenommen. Die Widerständigkeit des Realen hat sich als Co-Regisseur in die Inszenierung geschlichen und ihr einen zusätzlichen, vollkommen unberechenbaren Stempel aufgedrückt. Und nun macht womöglich gerade diese Unberechenbarkeit den besonderen Charme des Films aus.

Timimoun

von Michael Roes DE/DZ 2010, 96 Minuten, OmU

Auf DVD

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Weg nach Timimoun von Michael Roes Roman, 175 Seiten

Geschichte der Freundschaft von Michael Roes Roman, 320 Seiten

beide bei Matthes & Seitz, Berlin, www.matthes-seitz-berlin.de

In einem Land, in dem Homosexualität und z.T. sogar das Abspielen von Liebesliedern verboten sind, zeigst du eine deutlich homoerotisch aufgeladene Jungenfreundschaft und füllst den Soundtrack des Films mit (französischen) Liebesliedern. Über Laid wird zwar in den Rückblenden erzählt, dass er in mehrfacher Hinsicht ein ‚besonderer‘ 37


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Ein Kuss ist ein Kuss von Sa sch a W e st ph a l

s Ein Film der Sehnsüchte und der Täuschungen, die meist Selbsttäuschungen sind. „Soave sia il vento, / Tranquilla sia l’onda, / Ed ogni elemento / Benigno risponda / Ai nostri desir.“ Wieder und wieder erklingt dieses Terzett aus Mozarts gewagter und gerade dadurch so hellsichtiger Oper „Così fan tutte“. Die Stimmen von Pilar Lorengar, Yvonne Minton und Barry McDaniel begleiten den Arzt Dr. Daniel Hirsh in diesen letzten zehn Tagen seiner Affäre mit dem jungen Künstler Bob Elkin auf Schritt und Tritt. Der Abschied, den er möglichst verhindern oder wenigstens hinausschieben will und der doch kommen muss – in da Pontes Versen ist er schon vollzogen. Die perfekte Harmonie dieses Trios, das aber eben auch die Lüge und den Verrat in sich trägt, ist zugleich Balsam und Gift, weckt Hoffnungen und Träume, schürt Ängste und Zweifel. Schließlich weiß Daniel ganz genau, dass er den sich nach Erfolg und den Staaten verzehrenden Jüngling nie für sich alleine hatte. Er musste ihn von Anfang an mit der geschiedenen Alex Greville teilen. Nur einmal, ganz am Schluss, als das opake Objekt ihrer Begierde schon in einem Flugzeug nach New York sitzt, stehen sich der von Peter Finch gespielte erfolgreiche Arzt und die nur noch vor sich hintreibende Tochter aus reichem Haus (Glenda Jackson) gegenüber. Es ist eine Begegnung zweier Verlierer, die immer schon auf den Falschen gehofft und gesetzt hatten. Die von Mozart und da Ponte beschworene Wankelmütigkeit der Liebe hat in Murray Heads Bob Elkin eine moderne Gestalt angenommen. Sie ist nicht mehr an den Reiz der Verführung und eine momentane Schwäche des Gefühls geknüpft. Im London des Jahres 1970, als die Träume der Swingin’ Sixites der harschen Realität der Rezession nicht trotzen konnten, wird auch Liebe zu einem Problem der Ökonomie. Es gilt, zu haushalten, nicht zu viel anzulegen und Gewinn aus dem ewigen Wankelmut zu ziehen. Also hält Bob seine Gefühle im Gleichgewicht. Daniel und Alex, 38

cmv laservision

John Schlesingers melancholische Dreiecksgeschichte „Sunday, Bloody Sunday“ von 1971 erscheint endlich in Deutschland auf DVD. Sie enthält einen der ersten Männerküsse der Filmgeschichte, zu dem sich Hauptdarsteller Peter Finch angeblich überwand‚ indem er die Augen schloss und an England dachte.

beide bekommen sie ihren Teil, aber eben nur so viel, wie er zu geben bereit ist. Der jüdische Arzt in den Fünfzigern und die immer noch gegen ihren kühl distanzierten Vater rebellierende Enddreißigerin wollen natürlich alles haben. Allerdings investieren auch sie nur gerade so viel wie eben nötig: „Weht leise, ihr Winde, / Seid milde, ihr Wogen / Und all ihr Elemente / entsprecht gütig / unserm Verlangen.“ Ein Film der kleinen Wunder und der leisen, der sehr leisen alltäglichen Trauer, die tiefer trifft als jede schicksalhafte Tragik. „Così van tutte“ ist ein Balanceakt zwischen Komödie und Tragödie. Am Ende haben sich alle wieder, und doch ist nichts mehr im Lot. Der Zweifel ist gesät und wird einmal Früchte tragen. In Sunday, Bloody Sunday stehen am Ende zwei Menschen alleine da, die auch vorher schon einsam waren. Viel ist also nicht geschehen, verändert hat sich auch kaum etwas. Nur die Hoffnung, die sie in den flatterhaften, aber in seiner Oberflächlichkeit absolut ehrlichen Künstler gesetzt hatten, ist

noch etwas brüchiger, noch haltloser geworden. Alex wird sich mit ihrem Vater nicht versöhnen und ihre Mutter nie wirklich verstehen. David wird weiter zwei Leben führen. Wenn er mit Freunden und Bekannten zusammen ist, ist er ganz offen. Aber seinen Eltern und seiner Familie wird er für immer den Junggesellen vorspielen, der bisher einfach nicht die Richtige gefunden hat. Selbst in der privilegierten Welt, in der sich David, Bob und Alex bewegen, scheinen die in den 60er Jahren gelebten Freiheiten nach und nach zu schwinden. Der Traum einer ganzen Gesellschaft von einem Leben in Offenheit ist schon wieder zu einem Vorrecht einer Klasse geworden, und deren Vertreter verkehren ihn wie Alex’ und Davids so überaus liberale Freunde systematisch ins lächerlich Absurde. Aber in John Schlesingers Film bleibt er trotz allem lebendig, in der Selbstverständlichkeit, mit der David und Bob ihr Begehren ausleben, und in dem innigen, von Liebe und Zärtlichkeit erfüllten Kuss, mit dem Peter Finch und Murray Head Kinogeschichte geschrieben haben. s

Sunday, Bloody Sunday

von John Schlesinger UK 1971, 110 Minuten, OmU

Auf DVD

CMV Laservision, www.cmv-laservision.de


film-flirt

Der Moment von Mich a e l Sol l or z

s So ein hoffnungsvoller Anfang! Jockel und Stefan, zwei hübsche junge Kerle aus dem linksautonomen Berliner Wagenburgmilieu kurz nach Mauerfall, ein liebenswertes Paar. Sie schieben ihre Fahrräder durch den Kiez und kleben Plakate gegen Drogen-Dealer. Dabei werden sie aus einem Auto heraus von zwei Männern beobachtet. Zivilbullen, meint Stefan. Ledertrinen, befindet Jockel und folgt dem Ruf der Wildnis, als die Männer aussteigen, in einen Hinterhof, in einen halbdunklen Keller. Die Gefahr ist Teil der Erregung, und dort unten nehmen und benutzen die Männer ihn, so wie er sie benutzt für eine kleine Glückseligkeit, während sein Stefan kurz nachschaut, ob alles okay ist, und dann oben herumsteht und wartet, an eine Hauswand gelehnt, allein. „Wie wars?“, fragt er hinterher. „Klasse“, antwortet Jockel, und man wünscht den Beiden, dass sie es schaffen. Doch sie scheitern, weil das Drehbuch es so will, ihre Liebe geht die Spree runter, und am Müggelsee gibt’s noch Kloppe von Ost-Skins. Ein schmutziges, grausames Märchen, um Wahrhaftigkeit ringend, und mitten drin Jockel, der Prinz, zum Fressen süß, das Versprechen seines hungrigen Körpers, den er martert mit Heroin, das ihn am Ende tötet. Dann ging das Licht an und das Publikum klatschte, vor siebzehn Jahren im klirrend winterlichen Saarbrücken. Wir hatten uns für Zeitungen beim Nachwuchs-Filmfestival Max Ophüls akkreditieren lassen, mein Freund und ich. Beide selber kaum älter als die Helden, hockten wir nach der Vorführung in einer Bar, und irgendwas hing auf einmal schräg. Zwar standen noch weitere Filme auf unserm Programm, bis tief in die Nacht – sie liefen ohne uns. Wir blieben in der Bar und machten Notizen für unsere Artikel. Stocks Kreuzberger Junkie-Märchen sei wütendes Kino für wenig Geld, schrieb ich Tage darauf in der Wochenpost. Frei von romantischem Voyeurismus lasse er die Kamera durch die Protest-Demo vom 3. Oktober fahren, durch die Fixer am Kottbusser Tor, Menschengesichter, voller Not. Wir überboten einander in trefflichem Filmgeschwätz, zwei erhitzte Jung-Journalisten, und tranken zügiger als sonst, absolut außerstande, miteinander endlich darüber zu sprechen, was uns vorhin im Kino wirklich so berührt hatte und verstörend nachwirkte. Es war die Kellerszene – sie warf einen Schatten. Sie kam höchst ungelegen, indem sie daran erinnerte, dass unsere Begierde etwas Ungezähmteres war, als wir beide in unserm rosigen zweiten Jahr wahrhaben wollten. Wir hatten uns wiedererkannt in Jockel, wie er in den Keller runtersteigt, dieser kleine Moment von Anarchie, süchtig und instinktsicher wie ein Tier. War es das nicht, worüber wir schließlich miteinander so wortreich schwiegen, der Wunsch, alle Kontrolle fahren zu lassen, sich wegzuschmeißen, aufzulösen in einer größeren Geborgenheit, als die Umarmung des Geliebten sie jemals zu bieten vermag? Und war unsere Sexualität nicht tatsächlich auch den Drogen verwandt, weil sie in Bereiche unseres innersten Selbst führen kann, zu denen wir sonst keinen Zugang finden? Ist es das, was

edition salzgeber

Michael Sollorz hat Drehbücher („Banale Tage“), Kolumnen (Siegessäule, Queer), erotische Literatur und Romane geschrieben, die – wie sein letzter, „Die Eignung“, – weit über die Nischengrenzen hinaus von der Kritik gefeiert wurden. Im September erscheint sein neuer Erzählband „Piratenherz“.

uns magisch anzieht und zugleich zurückweichen lässt wie vor einer unaussprechlichen Wahrheit? Noch heute, das erste Grau in den Bärten, erinnern wir uns manchmal an unsere Hilflosigkeit damals auf dem Festival. Seither hat jeder ein paar Lebenssachen ausprobiert und ist dabei zumindest nicht nachweislich dümmer geworden, ruhiger jedenfalls, manchmal. Aber die kleine, an sich banale Kellerszene, sie brennt noch. Dabei ist die Frage, die sie am Ende stellt, nicht mal mehr besonders mysteriös: Wie kann ich dich loslassen, wenn ich dich liebe? Das Loslassen überhaupt, heute nicken wir artig, ist die große Lektion unseres Lebens. Doch wem hätte Einsicht je geholfen? Was wäre anders gekommen, wenn wir damals beherzt hätten sprechen können? Die Furcht ist stärker gewesen, ihre Zerstörungskraft, von der wir in Saarbrücken vielleicht schon dunkel ahnten, dass sie auch uns ein paar Jahre später als Paar würde scheitern lassen. s

Prinz in Hölleland

von Michael Stock DE 1993, 90 Minuten, dt. OF

Auf DVD

Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Die Eignung

von Michael Sollorz Roman, 160 Seiten

Piratenherz

von Michael Sollorz Erzählungen, 136 Seiten beide bei Männerschwarm Skript, www.maennerschwarm.de

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Neu auf DVD von M a i k e Sch u ltz , Pau l Sch u l z u n d Ja n K ü n em u n d

DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY GB 2009, Regie: Oliver Parker, Concorde Home Entert.

Diesmal gibt Ben Barnes den Dorian Gray, der Prinz Kaspian von Narnia. Er ist alles andere als eine Schlampe. Eher einer dieser kein-Sex-vor-derEhe-Vampir-Typen. Wie grenzenlos naiv er sich durch die zynische Londoner Gesellschaft stottert. Wie süß er sich in die Spelunken verirrrt, ohne wirklich getrieben zu sein. Wie er beim Verkauf seiner Seele einfach nur zu denken scheint: ewige Jugend, ja, warum eigentlich nicht? Ist das nicht eigentlich die perfekte Castingidee, diese Oberfläche eines jungen Mannes in die oberflächengeile Welt zu schicken, auf die filmisch oberflächlichste Art und Weise? Die Teenies kreischen: „Ein Film mit Ben Barnes!“ Und der Verleih empfiehlt ihn der SISSY mit den Worten: „Die Kostüme sind so schön!“ Das Bildnis aber faucht und sabbert und die Maden kriechen aus ihm heraus. „Die Anstrengungen in der Welt des Films, das eigene jugendliche Ideal-Bild zu konservieren, haben – welch böse Ironie – oftmals dazu geführt, sich nicht die Merkmale Dorian Grays, sondern die seines Zauber-Porträts anzueignen, nämlich maskenhafte Erstarrung und fratzenhafte Entstellung.“ (Christoph Meyring in SISSY 1/10)

DIE REGENSCHIRME VON CHERBOURG FR 1964, Regie: Jacques Demy, Arthaus Kinowelt

„Wie trist!“, sagt die in bonbonrosa ausstaffierte Mutter der Protagonistin vor einer lachsroten Tapete und gießt Tee in ein weißes Service mit rosaroten, floralen Mustern. Und falsch: Sie sagt es nicht, sie singt es! Wie auch der Automechaniker die Frage nach der Überstunde singend beantwortet, die Geliebte den Kriegsbericht ihres Freundes aus einem Brief vorsingt und der Briefträger sein „Bonjour Madame“ trällert. In Die Regenschirme von Cherbourg, dem französischen Hitmusical der 1960er Jahre, wird tatsächlich alles gesungen, alles in Knallfarben dekoriert, in jedem 40

(auch sehr ernsten) Moment eine atemberaubende Künstlichkeit zelebriert, dem das puppenhaft in Perfektion erstarrte Gesicht von Cathérine Deneuve in ihrer ersten Rolle wie von Ferne zuschaut. Selbst der Regen in der Titelsequenz scheint direkt von der Kamera herunterzufließen, nicht vom Himmel. Diese kleine Geschichte vom insolventen Regen­schirmladen und einer Liebe, die vom Algerienkrieg vereitelt wird, stammt von Jacques Demy, dem französischen Queer-Film-Pionier und Träumer der Nouvelle Vague, auf den sich heute Ozon und Honoré berufen, und erscheint hiermit zum ersten Mal auf DVD (zusammen mit einem Porträt des Regisseurs von seiner Frau Agnès Varda, die sich seit dem Aids-Tod Demys 1990 darum bemüht, dass seine Filme angemessen gewürdigt werden). Die Knalligkeit der Farben konnte man leider nur annähernd rekonstruieren, aber die Musik strahlt noch und der Hauptdarsteller Nino Castelnuovo auch. Und der Camp des Films zeigt sich nicht zuletzt im Vermögen, Kitsch ernst zu nehmen und sich gleichzeitig über sich lustig zu machen: „Aus Liebe stirbt man nur in Filmen“, sagt die Mutter zur armen Cathérine Deneuve. Und: Er hasse „alle Sachen, in denen nur gesungen wird“, singt (!) ein Automechaniker und empfiehlt als Alternative: das Kino!  jk

MEIN SÜSSER KLEINER ARSCH CH 1997, Regie: Simon Bischoff, GMFilms

In der Welt drehe sich ja alles nur um das Geld und um den Arsch, findet Jean Neuenschwander. In seiner kleinen Welt ist das tatsächlich so. Neuenschwander ist ein rüstiger Frührentner, der dauerhaft nach Tanger gezogen ist, wo Geld und Ärsche keine Probleme mehr bereiten. Seine Freunde sind ein Zirkel europäischer Herren in ähnlicher Situation, für die Hubert Fichte mal den Ausdruck „Ricard-Tanten“ geprägt hat: Sie genießen das Leben, teilen sich die Jungs, sorgen für Ordnung (Neuenschwander war mal Postangestellter) und schwärmen von den großen „Riemen“. Simon Bischoffs Film lässt sich ganz auf ihre Welt ein, lauscht ihrer Selbstdarstellung, findet die naheliegenden Bilder zu ihrer etwas angestrengt deftigen Sprache. Hat sich Neuenschwander im Verlauf von dreizehn Jahren angewöhnt, seine

Liebhaber gleichen Namens durchzunummerieren, so listet auch der Film Mohammed 1, Mohammed 2 und Mohammed 3 als Protagonisten auf. Ein einziger Marokkaner darf nach 70 Minuten auch mal seine Geschichte erzählen (ohne dass es dabei um mehr als um Geld oder Ärsche ginge). Und so wächst die Faszination dieses Films, gerade weil er im Ricard-Tanten-Milieu so völlig verloren geht. Er zeigt europäische Ordnungsfanatiker, die das Begehren in die chaotische Fremde treibt, gestandene Männer, die sich auf ihren Arsch reduzieren. Und Paul Bowles (über den eine großartige Geschichte erzählt wird) blickt für einen kurzen Augenblick alt und stumm in die Kamera. Der Regisseur lebt jetzt angeblich auch in Marokko und hat wohl mit dem Filmen aufgehört.  jk

verzaubert D 1993, Regie: diverse, Edition Salzgeber

1977 kam der Dokumentarfilm „Word is Out“ in den USA heraus und setzte damit einen Trend. Schwule und Lesben erzählten darin von ihren Erfahrungen und aus ihren Erinnerungen und damit setzte sich für die lesbischschwule Community ein selbstbewusstes Bild des eigenen Lebensstils zusammen, das man den Vorurteilen und Klischees der (Film-) Geschichte entgegensetzen konnte. Anfang der 1990er begannen Studentinnen und Studenten der Uni Hamburg etwas ähnlich Naheliegendes und Verdienstvolles: sie fragten ältere Lesben und Schwule in ihrer Stadt, wie sie ihre Jugend erlebt haben. Also: als Verfolgte, Illegale, Verfemte und erst spät (wenn überhaupt) Rehabilitierte in den 1930er bis 1950er Jahren. Da fallen Sätze wie: „Eigentlich war ja unser ganzes Leben auf ständigen Lügen aufgebaut“. Es wird vom Rosa Winkel gesprochen, von „Schutzhaft“, von Anschwärzungen, Selbstmorden und „Freundesehen“. Und auch davon, dass viele Homosexuelle, die halbwegs heil durch die NS-Zeit gekommen waren, schließlich im ebenso repressiven Nachkriegsdeutschland zugrunde gegangen sind. Aber das Bild ist facettenreicher, es schließt mit ein, wie tatsächlich der Alltag aussah, wie man „verzaubert“ ausgehen, sich verlieben, lange Partnerschaften eingehen konnte. Die Filmemacher stellen die richtigen Fragen und halten sich an-


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genehm zurück, und die Protagonisten erzählen stolz, mit Witz und Würde. Nur einmal setzt man sich über sie hinweg. Da erzählt Wally, die mal auf der Reeperbahn gearbeitet hat, was für ein „alter Wichser“ Hans Albers in Wahrheit gewesen war, doch ausgerechnet ihm gehört das letzte Wort: sein „Goodbye, Johnny“ liegt als verklemmte und ungeplante Homohymne über den Abschlusstiteln. Ein Film für jedes DVD-Regal von selbstbewussten Lesben und Schwulen!  jk

POSTCARD TO DADDY DE 2010, Regie: Michael Stock, Edition Salzgeber

„Michael Stock suchte den Kontakt zum Vater, besuchte den inzwischen längst in einer neuen Familie lebenden, schwer kranken Mann, stellte die Kamera auf und forderte eine Stellungnahme, mehr noch: eine Entschuldigung ein. Der Selbstmord eines Freundes, der Ähnliches mit seinem Vater erlebt hatte und an dessen Kälte zerbrach, löste diese Initiative aus. Das Mindeste geschah, der Alte gab die Einwilligung, diese Szene der Selbstentblößung im Film zu verwenden. Was er über sich und den Missbrauch an seinem Sohn sagt, ist erschütternd. In Postcard to Daddy spielt es keine Rolle, dass es äußerst schwer ist, adäquate Bildebenen für das Erzählte zu finden, die nicht von den Genre-Konventionen kontaminiert sind. Michael Stocks Film berührt, weil er bei seinen glaubwürdigen persönlichen Ausdrucksmitteln bleibt.“ (Clara Brink in SISSY 2/10)

Prinz in Hölleland DE 1993, Regie: Michael Stock, Edition Salzgeber

Nachdem Regisseur Michael Stock seit der diesjährigen Berlinale für seinen autobiografischen Do­k u­mentarfilm Postcard to Daddy ganz zu Recht einen Filmpreis nach dem anderen bekommt und das öffentliche Interesse an seinem Werk groß ist, wird nun dankenswerter Weise auch Prinz in Hölleland, sein Spielfilmdebüt, wieder veröffentlicht. Das ist inzwischen 17 Jahre alt, aber erstaunlicherweise noch genauso sehenswert wie zu Beginn der 90er Jahre, wenn auch aus anderen Gründen. Was seinerzeit scheinbar vor allem als komplett gelungene Momentaufnahme eines schwulen Nachwende-Westberlins zu faszinieren schien, entpuppt sich jetzt einfach als hervorragendes Drama, wunderbar gebaut, großartig gespielt und fein beobachtet. Natür-

lich kann der Film aber auch einfach als nostalgischer Trip an Orte und in Umstände gesehen werden, die längst Geschichte sind. Aber dafür ist das herzzerreißende Kasperletheater und böse Junkiemärchen, das Stock hier erzählt und in einer der Hauptrollen auch selber spielt, fast zu schade.  ps

TIMIMOUN DE/DZ 2010, Regie: Michael Roes, Edition Salzgeber

Zwei Freunde auf einer Reise. Laid und Nadir sind auf dem Weg ins algerische Hinterland, zu Laids Familie, in Laids Vergangenheit. Nadir kommt mit, weil er Laids Freund ist. Und diese Freundschaft wird mehr und mehr zur Möglichkeit, aus den alten Familienstrukturen auszubrechen, in der immer wieder nur die Ehre beschädigt wird und gewaltsam wiederhergestellt werden muss. Die Reise der beiden Freunde behält gegen dieses starre System ihre Leichtigkeit, ihre Beweglichkeit und ihren Humor. Wie auch dieser Film, der mit einfachsten Mitteln Großes wagt. Ob das noch Freundschaft ist oder schon Liebe, bleibt dahingestellt. Auf jeden Fall eine Utopie. Mehr auf Seite 36.

Ander ES 2009, Regie: Roberto Castón, Bildkraft

Die „Süddeutsche Zeitung fand: „Ein richtiger Schwulenfilm ist Ander nicht.“ und hat ein bisschen Recht damit. Nichts an der langsam, in der großartigen Kulisse des spanischen Baskenlandes erzählten Bauer-suchtMann-Geschichte, erinnert an den lärmenden, ironisch unterfütterten Habitus, mit dem Storys über moderne Homosexuelle gemeinhin erzählt werden. Ander ist 40 und bricht sich bei der Arbeit mit den Tieren ein Bein, weshalb der junge peruanische Hilfsarbeiter auf dem Hof ankommt, um das Vieh zu versorgen. Die beiden verlieben sich ineinander und am Ende kann auch Anders Rabenaas von alter Mutter nichts daran ändern, dass die Beziehungsmoderne Einzug hält und alle irgendwie glücklich werden. Regisseur Roberto Castón ist für Ander mit Lob und Preisen überhäuft worden, weil er keine Angst vor der Stille hat, mit der die Liebe manchmal eben einfach passiert und vor der Kraft, mit der seine Schauspieler den totalen Wandel in ihren Leben ruhig und gelassen darstellen. Ein bemerkenswertes, ganz und gar wunderbares Stück spanisches Kino, das es auf Anhieb in den Ka-

non der schönsten schwulen Filme aller Zeiten schafft, egal, was in der „Süddeutschen“ steht.  ps

Spinnin’ ES 2007, Regie: Eusebio Pastrana, Edition Salzgeber

„In Form einer recht losen Erzählstruktur mit unzähligen Nebenschauplätzen umreißt der Film die Schwierigkeiten, mit denen sich ein schwules Paar mit Kinderwunsch herumschlägt. Dabei geht es ihm darum, nachvollziehbar zu machen, wie kreativ und produktiv der einzelne Mensch werden kann, wenn er versucht, für sich eine den eigenen Wünschen und Sehnsüchten entsprechende Zukunftsperspektive zu entwickeln. Für dieses Plädoyer für individuelle Lebenslösungen hat der Regisseur die Form des mit Skurrilitäten durchsetzten und zugleich warmherzigen „Feelgood-Movies“ im Geiste von Jean-Pierre Jeunet‘s Amélie oder Michel Gondrys Science of Sleep gewählt. Soll heißen, dass gerade in tragischen Situationen auch gerne mal ältere Herren in Tütüs durchs Bild tanzen oder munter die Filmküsse durch das Hochhalten handgemalter Nummernschilder gezählt werden. Und natürlich fehlt auch das für diese Art von Filmen obligatorische Plädoyer für die Liebe als alles am Laufen haltende Urkraft nicht.“ (Hanno Stecher in SISSY 2/10)

Jay HK 2008, Regie: Francis Xavier Pasion, CMV Laservision

Auf den Philippinen, einem politischen Operettenstaat ohne Kinoszene, entstehen seit einigen Jahren ziemlich aufregende und facettenreiche Filme, die vor allem auf westlichen Festivals gefeiert werden. Obwohl der Blick der Filme auf die Realität des Landes oft präzise und erbarmungslos ist, erschöpfen sie sich selten im dokumentarischen Stil. Der Pseudo-Ratgeber „Wie man auf den Philippinen Dokumentarfilme macht“ liegt auf dem Nachttisch des TV-Produzenten Jay, dem Helden des gleichnamigen Films. Das ist eine böse Pointe. Eigentlich recherchiert er zwar den Mord an einem anderen Jay, einem schwulen Lehrer – doch von Recherche kann eigentlich keine Rede sein. Es soll ein wüstes, manipulatives Format werden mit heulenden Müttern, betretenen Kollegen, wilden Verbrecherjagden und herzzereißenden Liebesbekenntnissen des Exfreundes. Und wie man es wiederum in medienkritischen Spielfilmen erwartet, 41


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machen die „einfachen“ Leute nicht nur alles mit, was der zynische Fernsehmensch von ihnen verlangt, sondern setzen gerne noch eins drauf, um vielleicht so in die nächste CastingShow zu kommen. Das Ganze ist bitterböse ausformuliert, auch wenn der letzte Twist des Drehbuchs, der das Verhältnis von Fiktion und Realität noch einmal neu ordnet, nicht unbedingt hätte sein müssen. In dieser durch und durch korrumpierten Welt gehorchen nämlich alle der Fiktionsmaschine, dem Sender, der bezeichnenderweise „Mutter“ genannt wird. Für diese Erkenntnis wurde Jay auf westlichen Festivals gefeiert.  jk

Antonios Geheimnis PH 2008, Regie: Joselito Altarejos, Bildkraft

Antonio hat alles, was man als heranwachsender Homosexueller so braucht: einen abwesenden Vater, der als Gastarbeiter in Dubai das Geld ranschafft, und eine dominante Mutter, die keine weiteren Lebensinhalte hat als ihre Familie, die nur aus ihrem Sohn besteht. Aber eigentlich geht es dem 15-Jährigen nicht schlecht damit: Er weiß was er will, hat eine Amouresque mit seinem Kumpel Nathan und hiernach gleich mal sein ComingOut im Freundeskreis. Alles könnte so schön sein, glaubte Mama nicht, Antonio bräuchte eine Vaterfigur. Die wird mit dem jungen Onkel Jonbert besetzt, der wenig väterliche Gefühle für Antonio entwickelt, aber genau weiß, wie dessen Leben künftig ablaufen soll: Antonios … psychologisches Strickmuster steuert direkt in die Katastrophe. Das ist ein bisschen anstrengend, aber Joselito Altarejos’ Film rettet sich durch die bemerkenswerten Leistungen aller seiner Darsteller selbst. Kenjie Garcia als Antonio und Josh Ivan Morales als Jonbert, liefern sich einen zähen, sehenswerten Kampf um die Frage, was „schwul“ heißt und wie das funktioniert. Der Film ist eins von inzwischen gefühlten 500 asiatischen Jugenddramen der letzten Jahre, gehört aber zu den besten 20 davon.  ps

Feuille CN 2004, Regie: Youxin Yang, CMV Laservision

Warum müssen Französinnen in Lesbenfilmen eigentlich immer so destruktiv sein? Schon in Emma und Marie war die liebeskranke lesbische Protagonistin nur schwer erträglich. Und die in Feuille macht es nicht besser: Die Fotografin Stéphanie trifft in Pa42

ris die Malerin Meihua. Sie ist aus China nach Frankreich gekommen, um Kunst zu studieren. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, doch während Meihua vor allem an Stéphanies Sprachunterricht und Kunstverständnis interessiert ist, würde diese gerne auch das Bett mit der Chinesin teilen. Aus dieser Konstellation hätte eine poetische Liebesgeschichte im Spannungsfeld zwischen sexueller und kultureller Identität werden können. Stattdessen sieht man sich mit homophoben und manipulativen Figuren konfrontiert: Weil ihre Angebetete Homosexualität für eine Krankheit hält, die man heilen kann, sabotiert die gedemütigte Stéphanie Meihuas Beziehung zu ihrem Verlobten. Als wäre das nicht Drama genug, kommt auch noch die Aids-Krise ins Spiel – immerhin ein Thema, das in Frauenbeziehungen so gut wie nie thematisiert wird. Natürlich kann Meihua ihre Feuille nicht so leicht vergessen. „Aber was hat diese Liebe mit Homosexualität zu tun?“, fragt sie am Ende. „Ich würde sagen, dass so etwas Anmutiges über den Geschlechtern steht.“  ms

Hannah Free US 2009, Regie: Wendy Jo Carlton, Pro-Fun Media

Hannah liegt im Altersheim nur wenige Meter von ihrer langjährigen Geliebten entfernt, und ist ihr doch ferner als je zuvor. Rachel ist nach einem Schlaganfall ins Koma gefallen und wird von ihrer eifersüchtigen Tochter bewacht. Ohne jede Rechtsgrundlage, ihre Partnerin noch einmal sehen zu können, flüchtet Hannah sich in Tagträume. In Rückblenden erzählt die Regisseurin Wendy Jo Carlton in Hannah Free , wie die beiden Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsam aufwuchsen; wie sich aus Freundschaft Liebe entwickelte, die in einer puritanischen USKleinstadt im Mittleren Westen doch nie offen gelebt werden konnte. In Gesprächen, die Hannah im Geiste mit Rachel führt, arbeiten sie alte Konflikte auf: Hannah ihre Enttäuschung über die Angepasstheit der verheirateten Hausfrau – und die ihre Wut über die vielen Reisen der abenteuerlustigen Freundin. Erst die Begegnung mit einer geheimnisvollen jungen Besucherin bringt sie wieder zusammen. Das ist nicht nur anrührend anzusehen, sondern als Film über Lesben im Alter auch eine echte Rarität. Wie erfreulich, dass so viel Sex darin vorkommt; und welch ein Glücksfall, dass Golden-Globe-Gewinnerin Sharon Gless (Queer as Folk) die Hauptrolle spielt. Sie verleiht Hannah so viel Leidenschaft und trockenen Humor, dass man sie auf der Stelle als Oma adoptieren möchte.   ms

UNTERWEGS MIT KATHY K. US 2009, Regie: Nancy Kissam, Edition Salzgeber

Die vernachlässigte Hausfrau Anora bekommt von ihrer neuen Nachbarin, einer Kosmetikvertreterin, endlich das was sie braucht: Handcreme. Und Liebe. „Soweit das Auge reicht – alle queer und verrückt. Vielleicht besser für Ehemann Cheb, dass man ihn erschießt. In Nancy Kissams Welt erscheint er wie Charlton Heston in Planet der Affen – sprich: der letzte Überlebende. Und da in der Welt des heterosexuellen Patriarchen kein Platz für queeres Leben ist, gibt man ihm den Gnadenschuss.“ (Alice Roberts in SISSY 1/10)

THREE – DREI SIND KEINER ZUVIEL US 1996, Regie: Stephen Bulfield, CMV Laservision

Howard Roffman ist ja auch so einer, der die „natürliche Schönheit“ von jungen Männern in sinnlichen Schwarzweiß-Fotografien festhalten will. „Aktfotograf“, nennt das Wikipedia nüchtern. Anders als in den stilisierten Phantasien seiner Fotobände kommen einem die Modelle John, Gary und Kris im fast fünfzehn Jahre später veröffentlichten BegleitFilm durchaus lebensecht und normal vor. Das Spektakuläre ist ihre Dreierbeziehung, und die Jungs bemühen sich auch sehr, ihre bisherigen schönen und traurigen Erfahrungen in dieser Verbindung auszuloten. Ein wirklich präzises Bild bekommt man trotzdem nicht vom Alltag und den konkreten Bedingungen des Zusammenseins. Und man wüsste auch gerne, ob die vom Fotografen verkuppelten Jungs noch immer zusammen sind. Und erkennt schließlich, dass hier auch „nur“ eine stilisierte Phantasie geschaffen wird, wenn auch in Farbe und Digitalvideo. Aber es ist niedlich, wie das Leben immer wieder in die Bilder fließt: Wie oft sie denn nun miteinander Sex haben, will Bulfield wissen; Und John sagt stolz: zu dritt mindestens einmal am Tag. Dann kommt Kris nach Hause, John fragt ihn das gleiche, beisst sich vor Erwartung auf die Lippe, und Kris bemerkt lakonisch: ein paar Mal in der Woche vielleicht, aber das sei ganz unterschiedlich. Ein Rezensent hat tatsächlich schon bedauert, dass man ja im Film erst sieht, wie tuntig die Jungs sind – was die Aktbilder wohlweislich verschweigen. Das kann man aber auch sehr schön finden. Nach fünfzehn Jahren bleibt das ein lebendiger Eindruck, während der Fotoband längst zum Antiquariatstitel geworden ist.  jk


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MR. RIGHT GB 2009, Regie: Jacqui & David Morris, Pro-Fun Media

„Fancy a fuck?“ Schöne Abschlussfrage nach einem Beziehungsgespräch. Irgendwie merkt man gleich – man ist in Großbritannien. Hipperweise in Soho, um genau zu sein. Und dort, unter Kreativen, also Kreativ-TV-Produzenten, Kreativ-Köchen, Kreativ-Anti­quitäten­ händlern und lauter Möchte­­gernschauspielern, haben die Männer Probleme und ein paar Freundinnen, die ihnen dabei zuschauen. Eine Clique also, Liebessorgen, Bindungsängste, Seitensprünge und der allgemeine Lebensblues. Aber das geht auch witzig und ist hier leicht aufbereitet. Die Dialoge sind spitz, das Tempo hoch, die Schauspieler gut, nur der Soundtrack etwas überladen (19 Songs, behauptet der Abspann). Schon nach kurzer Zeit mag man die Jungs und ihre unrealistischen Vorstellungen von Glücksverwirklichung ganz gerne; bis auf einen, den Galleristen für ausgesprochen „schwule Kunst“, dem ganz übel mitgespielt wird – vom Freund und vom Drehbuch. Doch dann merkt man, dass der Regisseur diese Rolle mit sich selbst besetzt hat und das ist dann wieder sehr selbstironisch, britisch eben.  jk

Surf­brett in einen Düsenjet zu stopfen oder wie Sylvester Stallone in Boxhandschuhen im Sonnenaufgang in die Gischt kippt, ist selber schuld. Denn das eigentliche Verkaufsargument von Newcastle lautet: „Blonde, surfende Australier um die 18 laufen 90 Minuten halb oder ganz nackt rum und einer von denen ist sogar schwul.“ Das ist für DVD-Boxen zu lang, zugegeben, dafür aber die Wahrheit. Newcastle ist einer dieser Filme für Männer, die zu feige für echte Pornografie sind und deswegen so tun müssen, als würden sie das hier wegen der gar nicht mal schlechten ComingOut-Geschichte oder des Sozialdramas gucken, das der Regisseur seinen jugendlichen Amateur-Darstellern zum Spielen am Strand mitgegeben hat. Wofür man den Film hingegen sehr gut gucken kann: Shane Jacobson als proletarischer Vater eines schwulen Sohnes, den er genauso liebt, wie seine anderen beiden und die absolut spektakulären Unterwasser-Aufnahmen. Aber wie gesagt, es ist auch völlig egal, was hier steht.  ps

„Donald Strachey: Und raus bist du”, „Ice Blues”, Donald-Strachey-Box USA 2005–2008, Regie: Ron Oliver, Pro-Fun Media

Newcastle

Regisseur Ron Oliver wurde schon dreimal für einen Emmy nominiert. Der Emmy ist der wichEs ist relativ egal, was hier über Newcastle tigste Fernsehpreis der steht, diesen Film werden sich viele schwule USA und eine PrestigeMänner viele Male ansehen. Beworben wird trächtige Angelegenheit. Dan Castles Streifen mit dem grenzdementen Wer nominiert wird, dem Claim: „Top Gun in den Wellen; Rocky mit Sursagt eine Branche, in der fern!“ Wer jetzt versucht, sich vorzustellen, es viel Neid und Missgunst gibt: „Fein gemacht, wie Tom Cruise erfolglos versucht, ein anzeige_schwubus_sissi_09_2009:cover_msk 10.08.10 11:51 Seite 1 AU/JP 2008, Regie: Dan Castle, Pro-Fun Media

weiter so. Jetzt musst du dir erst mal eine Weile keine Sorgen um Jobs machen.“ Das war auch bei Ron Oliver so. Seit er für Goosebumps und Ultimate Goosepumps fast preisgekrönt wurde, kann er sich vor Arbeit kaum retten: Er ist seit fünf Jahren fast ausschließlich für den schwulen Fernsehsender „here TV“ tätig. Oliver dreht zwei bis drei Filme mit schwuler oder lesbischer Thematik im Jahr und gehört damit zu den Fließband-Regisseuren des Genres. Das Bemerkenswerte: Olivers Durchbruch Goosebumps war nicht, wie man ob des gänsehäutigen Titels annehmen könnte, ein Erotik- oder Horrorstreifen, sondern ein Kinderprogramm über ein kleines, nettes Wesen Namens, genau, Goosebumps. Von da aus stieg Oliver über den Umweg Queer as Folk fast direkt bei „here TV“ ein und bewies: Er weiß, was Jungs wollen, egal wie alt die sind. In den USA sind das, wie überall auf der Welt, vor allem Krimis. Deswegen nahm sich Oliver zwischen 2005 und 2008 gleich viermal den bekanntesten schwulen Privatdetektiv der Welt Donald Strachey vor und verfilmte einen der Romane, in denen Richard Stevenson Strachey unterhaltsam und ganz und gar offen schwul Räuber, Diebe und Mörder jagen lässt. Und zwar aus cineastischer Sicht gar nicht mal schlecht. Die Vorlagen sind das, was man in Amerika liebevoll „Pulp Fiction“ nennt, Groschenromane, und die Fernsehumsetzung hat Spaß dabei, sich an diese Vorgabe zu halten. Chad Allen gibt als Strachey einen schnuckeligen Detektiv ab, die Fälle sind von jedem Deppen zu durchschauen, es gibt in jeder Folge hübsche Gastauftritte camper Gesichtsvermieter von Matthew Rush bis Morgan Fairchild und der Ton ist süffisant ironisch. Warum sich der deutsche DVD-Vertrieb entschieden hat, die Filme in der falschen Reihenfolge zu veröffentlichen, muss man jetzt nicht mehr fragen, denn mit Und du bist raus (Teil 1) und Systemschock erscheinen jetzt die letzten beiden, der Kunde kann seinen Satz also kom-

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plettieren. Oder sich gleich die Strachey-Box kaufen und sich fast acht Stunden kindlichkerlige Krimikost gönnen. Für die SonntagAbende ohne UFO-Tatort.  ps

L-Shorts CH/CA/US/FR 2004–2009, Edition Salzgeber

Zwei Jahre nach der letzten Ausgabe von Liebesperlen freut sich die Kurzfilmverwöhnte Frau von Welt auf Nachschub. Und muss feststellen, dass die lesbische Welt ganz schön monothematisch geworden ist: In L-Shorts, den sieben beliebtesten Kurzfilmen der L-Filmnacht, dreht sich vieles um Kinder, Kinder und nochmals Kinder. Da klaut Möchtegern-Mom Lillith in einer nächtlichen Einbruchsaktion die Spermien ihres Schwagers, den sie per Katzenhypnose ins Nirvana geschickt hat (Succubus); zwei Französinnen lassen sich von ihrer Wissenschaftsverrückten Freundin Fruchtbarkeitsdrinks andrehen, um eine künstliche Gebärmutter zu züchten (Pepita, Laura und Kitty), und eine Tankstellenbesitzerin trifft, vergessen an der Zapfsäule, die Tochter, die sie selbst nie hatte (Pit Stop). Wie gut, dass die USRegisseurin Laura Terruso mit Dyke Dollar auch eine wirklich abgedrehte Story beigesteuert hat: Einst von lesbischen Aktivistinnen gedruckt, um auf ihre Benachteiligung im patriarchalen Finanzsystem hinzuweisen, erwacht ein Geldschein jedes Mal neu zum Leben, wenn er den Besitzer wechselt. Wie ein Flaschengeist weicht der „Dyke Dollar“ diesem dann nicht mehr von der Seite, bis er ihn zu einem homofreundlichen Menschen erzogen hat – eine herrlich schräge Utopie.  ms

Reifeprüfung FR/UK/US/CA 2001–2009, Edition Salzgeber

das Auge ist hübsch naturverbunden, obwohl es tränentreibend ist, jemandem dabei zuzusehen, wie er sich einem Baum anvertraut, weil er sonst niemandem hat, mit dem er über seine erste große Liebe reden kann. Dafür ist dieses Kleinod ganz wunderbar gedreht und erzeugt innerhalb weniger Bilder eine große Intimität und Nähe zu seinem Protagonisten. Das Jung­ sein eine immer schöne und einfache Sache ist, glaubt man vielleicht dann doch nur im Retrospekt. Reifeprüfung zeigt warum.  ps

Kleine Vandalen DE/CH 2007–2010, Edition Salzgeber

Wenn man Kleine Vandalen als Indiz für die Qualität der Ausbildung an deutschen Filmhochschulen anguckt, muss es dort von Leuten wimmeln, die genau wissen, wie man die Kreativität und das Talent ihrer Schützlinge in die genau richtigen Bahnen lenkt. Die sechs Kurzfilme von vor kurzem oder in Bälde von Hochschulen abgegangenen Herren und Damen sind ein einziger Grund, sich auf ihre Langfilme zu freuen. Egal ob Josephine Frydetzkis Brandenburg-Melodram B96 mit einem wunderbaren Harry Baer, die Punkromanze Love Kills von Tor Iben oder das nächtlich-inzestuöse Bübchen-Schaulaufen Zwillinge von Florian Gottschick, hier haben sechs Filmemacher Geschichten über die schwule Selbstfindung zu erzählen, die von brüllend komisch über sozialdramatisch bis hocherotisch jeden Anspruch bedienen, den man als homosexueller Kinozuschauer so haben kann. Wer sich in den nächsten drei Monaten nur eine DVD kauft, sollte diese kaufen, es lohnt sich über alle Maßen. (Siehe auch Seite 12.)  ps

A Single Man US 2009, Regie: Tom Ford, Senator

15 ist ein schwieriges Alter. Man weiß noch nicht so viel, aber ahnt schon so manches, kann noch nichts, aber will schon mehr als alles. Auf Reifeprüfung sind gleich sechs Filme über 15-jährige Jungs drauf, die dem Zuschauer alles zwischen erstem Mal und letzter Unschuld erzählen. Lieblingsfilm des Rezensenten: Danach. Die Verfilmung eines DennisCooper-Gedichts erzählt von drei jungen Perversen und einem unschuldigen Footballspieler und kommt ganz ohne Worte aus. Hübsch bunt und mit einer hübschen Pointe. Die hat auch Wofür hältst du mich?, ein kleines schottisches Proletarierdrama, in dem man nie genau weiß, wer wen wirklich will. Ein Sonnenstrahl trifft 44

Tom Fords schwelgerische und dramatisierte Isherwood-Verfilmung ist vor allem ein Film über das Älterwerden – und über die Unsichtbarkeit schwuler Lebensentwürfe in den USA vor den großen Emanzipationsbewegungen. „Der Vorwurf der Oberflächlichkeit, der den Film seit seiner Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig fortwährend begleitet, blendet nicht nur konsequent aus, mit welcher Entschlossenheit Ford hier als schwuler Künstler Stellung bezieht. Er verfehlt zudem auch das innerste Wesen seiner filmischen Strategie. Letztlich gleicht A Single Man dem mit seinen riesigen Panoramascheiben und

von Glas dominierten Außenwänden allen Blicken offenen John-Lautner-Haus, in dem der von Colin Firth gespielte George Falconer wohnt. Ford löst Isherwoods ‚stream of consciousness‘-Erzählung konsequent in einen Strom von Bildern auf, der Georges Innerstes offenbart. Seine makellosen, beinahe hermetisch wirkenden Einstellungen sind auf eine ganz und gar einzigartige Weise selbst gläsern, also durchsichtig und eben nicht oberflächlich.“ (Sascha Westphal in SISSY 1/10)


profil

Vertrauensort, Leseheimat, Anlaufstelle von Ph i lipp Wagn e r

Wer in Wien einen neuen Regenbogennapf für den Kater braucht oder nicht-heterosexuelle Bücher oder DVDs, sollte in die Buchhandlung Löwenherz gehen. Mama kann man ruhig mitnehmen.

s „Warum kaufst du eigentlich deine Sachen nur in der Buchhandlung Löwenherz?“, blickt mich mein Kollege über den Bildschirmrand hinweg fragend an. Was meint er bloß damit? „Meine Sachen“ ist ein doch recht weitgefächerter Begriff, und bei Löwenherz handelt es sich um eine spezielle Fachbuchhandlung. Aber nach genauer Selbstbetrachtung muss ich bekennen: Er hat schon recht. Wenn es sich nicht gerade um Flugtickets handelt, sind die Chancen recht hoch, dass ich die Löwenherzen aufsuche. Eigentlich bekomme ich da alles, was ich will: gedruckte Wissenschaft und Belletristik, Soundtracks, Klassik-CDs und Hörbücher, IndependentFilme und Hochglanzpornos auf DVD – und Regenbogennäpfe für meine Kater, Pins für den Anzug, Fahnen für die Parade. Meine erste Antwort auf die Frage des Kollegen ist: „Weil ich immer schon dort eingekauft habe.“ Das ist schon etwas wienerisch, zugegeben. Es fällt mir jedoch tatsächlich schwer, mich an eine Zeit „vor Löwenherz“ zu erinnern. Zum ersten Mal führte mich der Weg im Rahmen meines Studiums dorthin. Ich begann mich für Homo/Sexualitätsgeschichte zu interessieren und brauchte Literatur zu diesem Thema. Wer mir die Buchhandlung Löwenherz empfohlen hat – und ob das überhaupt passiert ist –, kann ich nicht mehr sagen. Und obwohl ich vorher noch nie dort gewesen war, wurde mir schnell klar, dass sie die beste Wahl dafür ist. Auf die Idee, mich in die Uni- und Institutsbibliotheken zu bemühen, bin ich gar nicht gekommen. Nichts Besseres konnte mir also passieren. Der helle Laden der Löwenherzen ist mir seitdem bibliophiler Vertrauensort, Leseheimat und Anlaufstelle für die vielfältigsten Lebensprobleme (Regenbogennäpfe!) geworden. Vielleicht bin ich vorbelastet. Meine Eltern haben einander im Buchhandel kennen gelernt. Und innerfamiliär waren wir uns immer einig: Bücher kann man/frau gar nicht genug lesen. Bei den DVDs bin ich bei weitem nicht so suchtgefährdet wie bei den Büchern, aber die Löwenherzen machen es einem schon schwer: Der für Buchhändler erstaunlich vorurteilsfreie Umgang mit Filmen (schon zu VHS-Zeiten!) hat ein Angebot von vermutlich an die 1.000 schwulen Filmen wachsen lassen, das auch mich immer wieder schwach werden lässt. Mein persönlicher Suchtmittelindex: der viermal jährlich erscheinende Katalog. Gut aufbereitet und warmherzig werden Neuerscheinungen vorgestellt, Empfehlungen abgegeben und Veranstaltungen angekündigt. Denn es versteht sich von selbst, dass die Löwenherzen ihre Aktivitäten nicht auf den Verkauf von Büchern und anderen Spei-

Jürgen Ostler, Thomas Kriegel und Veit Schmidt

chermedien beschränken. Selbstverständlich sind sie in der Wiener Szene fest verankert und oft Schauplatz szenepolitischer Treffen. Eng verbunden ist die Geschichte der Buchhandlung mit der Etablierung der Regenbogenparade (des Wiener CSD) und des Regenbogenballs. Erste Ansprechpartner sind die Löwenherzen, wenn es um Projekte wie Ausstellungen geht, die das schwullesbische Leben in Wien bzw. Österreich behandeln. Und schließlich zahlt es sich auch immer aus, auf einen Tratsch vorbeizukommen – sei es mit den Löwenherzen oder den KundInnen, die gerade da sind. So kann es auch passieren, dass Beratungsgespräche („Ich suche etwas in Richtung …“) zu Gruppendiskussionen werden. StammkundInnen genießen natürlich gewisse Vorteile. Wer öfter dort einkauft, bekommt gerne auch „ungefragt“ Empfehlungen. Auf das Wagnis sollte man sich einlassen. Denn die Löwenherzen empfehlen nicht nur Lektüre aus dem immerselben Topf, sondern schlagen auch Bücher und Filme vor, die mal ganz anders sind, als man sie ansonsten konsumiert. Diese Buchhandlung ist tatsächlich noch eine echte Bildungseinrichtung. Also, es ist wirklich eine seltsame Frage, warum ich alle „meine Sachen“ nur in der Buchhandlung Löwenherz kaufe. s PS: Meine Mutter ist mittlerweile auch Stammkundin. PPS: Löwenherz bietet gerade wieder einen Ausbildungsplatz an. Bewerbung bitte an buchhandlung@loewenherz.at Philipp Wagner ist Historiker und Autor von „Homosexualität und Gesellschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Homosexuellenbewegung in Wien nach 1945“.

Homosexualität und Gesellschaft von Philipp Wagner 124 Seiten, kartoniert VDM Verlag Dr. Müller, www.vdm-verlag.de

45


service

Bezugsquellen Nicht-heterosexuelle DVDs erhalten Sie unter anderem in den folgenden Läden. Die Auswahl wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!

Berlin  b_books Lübbenerstraße 14, 030/6117844 · Bruno’s Bülowstraße 106, 030/61500385 · Bruno’s Schönhauser Allee 131, 030/61500387 · Dussmann Friedrichstraße 90 · Galerie Janssen Pariser Straße 45, 030/8811590 · KaDeWe Tauentzienstraße 21–24 · Media Markt Alexa Grunerstraße 20 · Media Markt Neukölln Karl-Marx-Straße 66 · Negativeland Dunckerstraße 9 · Prinz Eisenherz Buchladen Lietzenburger Straße 9a, 030/3139936 · Saturn alexanderplatz Alexanderplatz 7 · Saturn Europacenter Tauentzienstraße 9 · Video World Kottbusser Damm 73 · Videodrom Fürbringer Straße 17  bochum  saturn Kortumstraße 72  darmstadt  saturn Ludwigplatz 6  Dortmund  Litfass der Buchladen Münsterstraße 107, 0231/834724  Düsseldorf  Bookxxx Bismarckstraße 86, 0211/356750 · Saturn Königsallee 56 · Saturn Am Wehrhahn 1  Essen  Müller Limbecker Straße 59–65 Frankfurt/main  Oscar Wilde Buchhandlung Alte Gasse 51, 069/281260 · Saturn Zeil 121  Hamburg  Buchladen Männerschwarm Lange Reihe 102, 040/436093 · Bruno’s Lange Reihe/Danziger Straße 70, 040/98238081 · Clemens Clemens-Schultz-Straße 77 · Empire Megastore Bahrenfelder Straße 242–244 · Media Markt Paul-Nevermann-Platz 15  Köln  Bruno’s Kettengasse 20, 0221/2725637 · Media Markt Hohe Straße 121 · Saturn Hansaring 97 · Saturn Hohe Straße 41–53 · Videotaxi Hohenzollernring 75–77  leipzig  Lehmanns Buchhandlung Grimmaische Straße 10  Mannheim  Der Andere Buchladen M2 1, 0621/21755  München  Bruno’s Thalkirchner Straße 4, 089/97603858 · Lillemor’s Frauenbuchladen Barerstraße 70, 089/2721205 · Max & Milian Ickstattstraße 2, 089/2603320 · Saturn Schwanthalerstraße 115 · Saturn Neuhauser Straße 39  nürnberg  Müller Königstraße 26  Stuttgart  Buchladen Erlkönig Nesenbachstraße 52, 0711/639139  trier  media markt Ostallee 3–5  Tübingen  Frauenbuchladen Thalestris Bursagasse 2, 07071/26590  Wien  Buchhandlung Löwenherz Berggasse 8, + 43/1/13172982  Würzburg  Müller Dominikanerplatz 4

Impressum Herausgeber  Björn Koll Verlag

Salzgeber & Co. Medien GmbH Mehringdamm 33 · 10961 Berlin Telefon 030 / 285 290 90 · Telefax 030 / 285 290 99

Redaktion

Jan Künemund, presse@salzgeber.de

Art Director

Johann Peter Werth, werth@salzgeber.de

Autoren

Richard Dyer, Michael Eckhardt, Jessica Ellen, Richard Garay, Gunther Geltinger, Patrick Heidmann, Jan Künemund, Dietrich Kuhlbrodt, Gerhard Midding, Angelika Nguyen, Jana Papenbroock, Bert Rebhandl, Maike Schultz, Paul Schulz, Michael Sollorz, Hannt Stecher, Philipp Wagner, André Wendler, Sascha Westphal

Anzeigen

Jan Nurja, nurja@salzgeber.de Es gilt die Anzeigenpreisliste 2/2010 (www.sissymag.de/media).

Druck

Möller Druck, Berlin

Rechte

Digitale oder analoge Vervielfältigung, Speicherung, Weiterverarbeitung oder Nutzung sowohl der Texte als auch der Bilder zu kommerziellen Zwecken bedürfen einer schriftlichen Genehmigung des Herausgebers.

Verteilung

deutschlandweit in den schwul-lesbischen Buchläden, in den CinemaxXKinos in Augsburg, Berlin, Bielefeld, Bremen, Dresden, Essen, Freiburg, Hamburg, Hannover, Kiel, Magdeburg, Mannheim, München, Offenbach, Oldenburg, Stuttgart, Wuppertal. Außerdem hier: Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ (Potsdam), Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin, Orlando (Bochum), Birdcage (Kiel), Café Gnosa (Hamburg), Café ERA (Köln), Kunsthochschule für Medien Köln. Wenn Sie die SISSY ebenfalls auslegen möchten: Kurze Mail genügt!

Nicht-heterosexuelle Filme können Sie unter anderem in den folgenden Kinos sehen. Die Auswahl wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!

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Für gelistete Termine und Preise können wir keine Garantie geben. Die Angaben entsprechen dem Stand des Drucklegungstages.

aalen  Kino am Kocher Schleifbrückenstraße 15, 07361/5559994  Aschaffenburg  Casino filmtheater Ohmbachsgasse 1, 06021/4510772  Augsburg  CinemaxX Willy-Brandt-Platz 2, 01805/24636299  Berlin  arsenal Potsdamer Straße 2, 030/26955100 · Kino International Karl-Marx-Allee 33, 030/24756011 · Xenon Kino Kolonnenstraße 5–6, 030/78001530 · Cinemaxx Potsdamer Platz Potsdamer Straße 5, 01805/24636299 · eiszeit Zeughofstraße 20, 030/6116016 · FSK am Oranienplatz Segitzdamm 2, 030/6142464  Bielefeld  CinemaxX Ostwestfalenplatz 1, 0521/5833583  bochum  Endstation Kino im Bhf. Langendreer Wallbaumweg 108, 0234/6871620 Bremen  Kino 46 Waller Heerstraße 46, 0421/3876731 · CinemaxX Breitenweg 27, 01805/24636299  dortmund  schauburg Brückstraße 66, 0231/9565606  Dresden  Kid – Kino im Dach Schandauer Straße 64, 0351/3107373 · CinemaxX Hüblerstraße 8, 01805/24636299  Essen  CinemaxX Berliner Platz 4–5, 01805/24636299  Esslingen  Kommunales Kino Maille 4–9, 0711/31059510  Frankfurt/Main  Mal Seh’n Adlerflychtstraße 6, 069/5970845 · Orfeos Erben Hamburger Allee 45, 069/70769100 Freiburg  Kommunales Kino Urachstraße 40, 0761/709033 · CinemaxX Bertholdstraße 50, 01805/24636299  Göttingen  Kino Lumière Geismar Landstraße 19, 0551/484523  Hamburg  Metropolis Kino Steindamm 52–54, 040/342353 · CinemaxX wandsbek Quarree 8–10, 01805/24636299  Hannover  Apollo Studio Limmerstraße 50, 0511/452438 · cinemaxx Nikolaistraße 8, 01805/24636299 · kino im künstlerhaus Sophienstraße 2, 0511/16845522  karlsruhe  Kinemathek Karlsruhe Kino im Prinz-Max-Palais Karlstraße 10, 0721/25041   Kiel  Die Pumpe – Kommunales Kino Haßstraße 22, 0431/2007650 · CinemaxX Kaistraße 54–56, 01805/24636299 · Traum Kino Grasweg 48, 0431/544450  Köln filmpalette Lübecker Straße 15, 0221/122112 · Kölner Filmhaus Maybachstraße 111, 0221/2227100   Konstanz  Zebra Kino Joseph-Belli-Weg 5, 07531/60162  Leipzig  Passage Kino Hainstraße 19 a, 0341/2173865  magdeburg  Cinemaxx Kantstraße 6, 01805/24636299   Mannheim  Cinema Quadrat Collinistraße 5, 0621/1223454  Marburg  Cineplex Biegenstraße 1a, 06421/17300  München  Neues Arena Filmtheater Hans-SachsStraße 7, 089/2603265 · City Kino Sonnenstraße 12, 089/591983 · CinemaxX Isartorplatz 8, 01805/24636299  Münster  Cinema Filmtheater Warendorfer Straße 45–47, 0251/30300  Nürnberg  Kommkino Königstraße 93, 0911/2448889  Offenbach  CinemaxX Berliner Straße 210, 01805/24636299  Oldenburg  Cine K Bahnhofstraße 11, 0441/2489646 · CinemaxX Stau 79–85, 01805/24636299  Potsdam Thalia Arthouse Rudolf-Breitscheid-Straße 50, 0331/7437020  Regensburg Wintergarten Andreasstraße 28, 0941/2980963 · CinemaxX Friedenstraße 25, 01805/24636299  Saarbrücken  kino achteinhalb Nauwieser Straße 19, 0681/3908880 · Kino im Filmhaus Mainzer Straße 8, 0681/372570  Schweinfurt KuK – Kino und Kneipe Ignaz-SchönStraße 32, 09721/82358  Stuttgart Cinemaxx an der Liederhalle Robert-Bosch-Platz 1, 01805/24636299  Trier Broadway Filmtheater Paulinstraße 18, 0651/96657200  Weiterstadt  Kommunales Kino Carl-Ulrich-Straße 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185  Wuppertal  CinemaxX Bundesallee 250, 01805/24636299 1181  Würzburg CinemaxX Veitshöchheimer Straße 5a, 01805/24636299

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Auch das noch …

Eine 16mm-Filmkopiebüchse, ganz frisch aus unserem Keller. Nach 23 Jahren schicken wir „5 Ways To Kill Yourself“ an Gus van Sant zurück – seine eigene Kopie war ihm abhanden gekommen. 46


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